Diesmal schlichen sie durch die Gänge des Kosmos. Mit Hilfe des Wahrnehmungsvermögens des Pegasons konnte Corson die Zeit sehen. Die Fühler des Biests waren um seine Handgelenke geschlungen und streichelten seine Schläfen. Ab und zu fühlte er einen Anfall von Übelkeit. Veran, der auf der anderen Seite des Pegasons hing, hatte darauf bestanden, daß Corson lernen mußte, die Zeit zu beherrschen. Er hoffte, daß Corson ihn nicht nur durch das Labyrinth der unterirdischen Stadt führen konnte, sondern auch durch Ngal R’ndas Leben.
Das Pegason blieb immer nur für Bruchteile von Sekunden in der jeweiligen Gegenwart, gerade lange genug, daß Veran und Corson sich orientieren konnten. Für sie waren Wände, Säulen oder Einrichtungsgegenstände nur nebelhaft sichtbar. Lebewesen und alles, was sich bewegte, blieben unsichtbar. Das war die Kehrseite der Medaille. Man kann kaum spionieren ohne das Risiko, gesehen zu werden, andererseits sieht man nichts, wenn man sich zu gut versteckt.
»Es ist schade, daß Sie nicht versucht haben, diesen Stützpunkt besser zu erforschen«, meinte Veran.
»Ich habe um ein oder zwei Wochen Zeit gebeten«, protestierte Corson.
Veran zuckte mit den Schultern. »Einige Risiken gehe ich ein, andere nicht. Ich hänge doch nicht eine Woche tatenlos in meinem Lager herum, während Sie und diese Vögel mir eine hübsche Falle stellen.«
»Was ist, wenn uns jemand entdeckt?«
»Das ist schwer zu sagen. Vielleicht geschieht nichts, vielleicht kommt es zu einer Zeitschwankung. Ngal R’nda könnte merken, was vorgeht, und Ihnen nicht mehr trauen. Oder er könnte beschließen, Ihnen zuvorzukommen und seinen Angriff sofort starten. Es ist besser, wenn uns niemand sieht. Wir dürfen nichts dem Zufall überlassen, sonst könnte die Geschichte sich so entwickeln, daß wir Schaden erleiden. Wir werden alles alleine machen, ohne meine Männer.«
»Können wir den überhaupt in der Vergangenheit eine Falle stellen?«
Veran grinste breit und zeigte die Metallspange, die seine Zähne ersetzte.
»Ich werde mir schon etwas Nettes einfallen lassen. Sie sind ein sehr nützlicher Mann, Corson. Sie haben mir Ngal R’ndas schwache Stelle gezeigt.«
»Und ich muß mitkommen?«
»Denken Sie, ich bin so verrückt und lasse Sie zurück? Außerdem kennen nur Sie den Ort, wo wir hinmüssen.«
»Aber die Urianer werden merken, daß ich nicht mehr da bin«, warf Corson ein.
»Wir werden nur ein paar Sekunden weg sein. Wie alt ist dieser Vogel?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Corson. »Für seine Rasse ist er sehr alt. Urianer leben länger als Menschen — zumindest war das zu meiner Zeit so gewesen. Er könnte etwa zweihundert Jahre alt sein, vielleicht aber auch zweihundertundfünfzig.«
»Ich werde alles auf eine Karte setzen«, meinte Veran.
Und nun jagten sie durch die Zeit. Sie waren in die unterirdische Stadt eingedrungen, durch kilometerdicke Felsen geschlüpft, die wie Nebelfelder aussahen, und erschienen nun wie Geister.
Veran flüsterte: »Wie erkenne ich ihn?«
»An seiner blauen Tunika«, entgegnete Corson. »Aber denken Sie daran, daß er nicht oft hier ist.«
»Das macht nichts. Wenn das Pegason ihn bemerkt, wird es ihm folgen bis zum Augenblick seiner Geburt.«
Ein blauer Schatten, das war Ngal R’nda. Sie folgten seinem Leben wie Lachse, die in einem Fluß zur Quelle streben. Mehr blaue Schatten tauchten auf. Es waren andere Prinzen von Uria, die ebenfalls Rachepläne geschmiedet hatten wie Ngal R’nda. Dieser hatte die Wahrheit gesagt. Er war in der Tat der letzte Prinz von Uria.
Plötzlich verschwand Ngal R’nda.
»Ist das seine Geburt, he?« fragte Veran verwirrt.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, antwortete Corson. »Aber ich nehme es an. Ngal R’nda ist eine viel zu wichtige Persönlichkeit, um weit vom Heiligtum seiner Rasse aus dem Ei zu schlüpfen.«
Einen Augenblick später tauchte der blaue Schatten wieder auf. Corson konnte ihn nicht genau erkennen, aber das Pegason gab ihm ein Signal.
»So, und welche Falle wollen Sie nun stellen?« fragte Corson.
»Das werden Sie schon sehen!« Mehr sagte Veran nicht.
Sie hatten den Augenblick erreicht, als Ngal R’nda ausschlüpfte. Hatte Veran vor, ihm bei der Geburt eine Spritze zu geben, die erst viele Jahre später wirken würde? Oder wollte er ihm etwas einpflanzen? Nein, solche Tricks wären zu unfein. Außerdem hätten sie zu Zeitschwankungen führen können.
Das Pegason wurde langsamer und hielt. Corson spürte eine Übelkeit, die langsam verschwand. Er schluckte.
»Er ist noch nicht ausgeschlüpft«, sagte Veran.
Corson benutzte die Sinne des Pegasons und erkannte einen großen, eiförmigen Raum, der dem ähnelte, in dem das Ei vorgestellt worden war. Nur ein paar Fühler des Pegasons ragten aus der Wand, in der sie sich versteckt hielten.
Es war nur wenig Licht in dem Raum. Einige Nischen glänzten in der Wand, in jeder lag ein Ei. In einer größeren Nische lag ein purpurfarbenes Ei. Nein, Corson korrigierte sich. Für das Pegason war das Ei purpurn, für Menschen oder Urianer war es blau.
Das mußte das Ei von Ngal R’nda sein. Die Nischen waren also eine Art Brutkästen.
»Wir müssen warten«, meinte Veran. »Wir sind etwas zu weit in die Vergangenheit geraten.«
Man hörte ein schwaches Geräusch, als würden Bergleute eine ferne Erzader ausbeuten. Corson erkannte bald was es war. Es waren die kleinen Urianer, die versuchten, die Schalen ihrer Eier aufzubrechen. Das Pegason schlich zu dem blauen Ei. Corson hatte nun schon gute Erfahrung darin, die Eindrücke des Tieres wahrzunehmen und zu deuten. Er sah, wie Veran einen Gegenstand an das Ei hielt.
Er sagte scharf: »Zerbrechen Sie es nicht!«
»Idiot!« antwortete Veran. »Ich messe es nur ab.«
Diese Beleidigung zeigte, daß Veran sehr nervös war. In diesem entscheidenden Moment in Ngal R’ndas Leben konnte der kleinste Schock eine große Veränderung der Vergangenheit bewirken. Schweißbäche liefen Corson das Gesicht hinunter. Veran spielt mit dem Feuer. Was würde geschehen, wenn sie etwas falsch machten?
Das blaue Ei wurde von Schlägen erschüttert, dann öffnete es sich. Einige Stücke der Schale fielen zur Erde. Eine Flüssigkeit quoll heraus. Die Kopfspitze des jungen Urianers erschien. Der junge Urianer würde gleich zum ersten Mal schreien, er öffnete bereits den Schnabel. Zweifellos warteten draußen bereits die Pfleger auf dieses Signal.
Die Schale zerbrach nun vollständig. Zu Corsons Überraschung war der Kopf des Kükens nicht größer als eine Männerfaust. Aber Ngal R’ndas Hirn mußte noch lange wachsen. Die Urianer kamen sehr unfertig zur Welt.
Veran sprang vom Pegason und zog einen Plastiksack aus seiner Tasche. Schnell warf er die Eierschalen hinein. Dann bestieg er das Pegason wieder und lenkte es in eine andere Zeit.
»Ende der ersten Phase«, zischte er durch die Zähne.
»Sie werden merken, daß die Schale weg ist!« sagte Corson.
»Sie haben immer noch nicht kapiert«, grunzte Veran. »Sie bekommen eine andere Schale. Wenn ich Ihnen glauben kann, heben sie nur die blauen Schalen auf und werfen die anderen weg.«
Sie sprangen wieder durch die Zeit. Plötzlich waren sie in einer einsamen Schlucht. Veran hielt das Pegason an. Corson stieg ab, erfühlte sich schwindlig.
»Passen Sie auf, wo Sie hintreten. Wir sind immer noch in der Vergangenheit. Niemand weiß, ob ein zerbrochener Zweig nicht eine Zeitschwankung auslösen kann.«
Er öffnete den Sack und prüfte sorgfältig die Eierschalen.
»Das sind keine gewöhnlichen Eier«, murmelte er. »Sie gleichen eher Stücken einer Hirnschale. Schauen Sie sich die Nahtstellen an. Sie liegen eng an, wie die Ränder von festen Verschlüssen.«
Er brach ein kleines Stück ab und legte es in einen Apparat, den er am Gürtel getragen hatte. Er betrachtete es durch eine Art Lupe.
»Die Färbung geht durch die ganze Dicke der Schale«, berichtete er. »Das ist wirklich seltsam! Aber es macht nichts. Es wird leicht sein, eine Farbe mit der gleichen Schattierung zu finden, wenn auch nicht so dauerhaft.«
»Wollen Sie das Ei färben?«
Veran schnaufte. »Mein lieber Corson, Sie sind unheilbar blöde. Ich werde diese Schalen mit anderen vertauschen. Die neuen Schalen werden dann gefärbt. Ich nehme dafür eine Substanz, die ich neutralisieren kann, wenn ich will. Die ganze Macht von Ngal R’nda hängt von der Farbe des Eies ab. Darum zeigt er es ab und zu vor. Darum darf wahrscheinlich auch niemand im Raum sein, wenn die Küken ausschlüpfen. Es darf keine Möglichkeit zu irgendeiner Manipulation geben. Aber wir haben das Pegason. Ich glaube nicht, daß irgend jemand den Tausch bemerkt, oder daß er eine Zeitschwankung bewirkt. Ich nehme eine Eierschale, die die gleiche Größe hat und die von einem Küken stammt, das gleichzeitig mit Ngal R’nda ausschlüpft. Die einzige Schwierigkeit ist, den Tausch so schnell auszuführen, daß niemand Zeit hat, um in den Saal zu kommen und uns zu bemerken.«
»Das ist unmöglich«, meinte Corson.
»Oh, es gibt Drogen, die die Reaktionsgeschwindigkeit eines Menschen verzehnfachen.«
»Aber sie sind gefährlich«, warf Corson ein.
»Sie brauchen ja keine zu nehmen.«
Veran begann, die Eierschalen wieder in den Sack zu tun, dann überlegte er.
»Es ist wohl sicherer, wenn ich diese Schalen bleiche und sie an die Stelle der Schalen lege, die ich wegnehme. Man kann nie wissen.«
Er machte noch einige Tests und sprühte dann eine Flüssigkeit über die Schalen. In wenigen Sekunden waren sie elfenbeinfarbig.
»Zurück auf das Pegason!« rief er zufrieden.
Wieder tauchten sie in die Zeit. Bald waren sie wieder in dem Raum, wo Dutzende von leeren Eierschalen herumlagen. Veran stoppte das Pegason und prüfte die verschiedenen Bruchstücke. Schließlich entschied er sich für die Bruchstücke eines Eies, das die richtige Größe hatte. Auch diese wurden besprüht und nahmen alsbald eine blaue Farbe an. Sie nahmen die Stelle der gebleichten Schalen ein. Dann zog Veran eine Pille hervor und schluckte sie.
»Die Droge wird innerhalb von drei Minuten wirken. Sie macht meine Reaktion schnell genug, um alles zu erledigen.«
Er wandte sich lächelnd an Corson: »Das Lustige ist, daß Sie nicht mehr wegkönnen, falls mir etwas geschieht. Ich frage mich, was die Urianer denken würden, wenn sie in ihrem Brutraum zwei Menschen fänden, einen toten und einen lebenden. Vom Pegason ganz zu schweigen, falls sie nur wilde kennen. Oh, Sie müßten diesen Vögeln eine hübsche Geschichte erzählen.«
»Wir würden doch sofort verschwinden«, meinte Corson. »Ihr Tod würde sicher eine Zeitschwankung hervorrufen. Die ganze Geschichte dieses Teils der Galaxis könnte betroffen sein.«
»Sie lernen anscheinend schnell, wenn es Ihnen in den Kram paßt«, meinte Veran gutgelaunt. »Ja, der eigentliche Trick besteht darin, daß wir den richtigen Augenblick erwischen. Ich habe keine Lust, mir selbst zu begegnen. Und vor allem möchte ich nicht das Gesetz der Nicht-rückgängigen-Information durchbrechen.«
Alles geschah nun so schnell, daß Corson sich später kaum noch erinnern konnte. Verans Schatten bewegte sich so rasend schnell, daß man kaum Konturen sah. Das blaue Ei, die schlüpfenden Küken und die Tür, die sich öffnete, waren ein Bild. Veran sprach so schnell, daß er ihn nicht verstand. Corson hatte das Gefühl, in die Ecken des Kosmos geschleudert zu werden …
»Ende der Phase zwei«, schrie Veran triumphierend.
Die Falle war vorbereitet. Es würden noch zweihundert oder zweihundertfünfzig Jahre vergehen, bevor Ngal R’nda in dieser Falle gefangen würde.
Zeit, dachte Corson, als er vom Pegason stieg, ist die geduldigste von allen Gottheiten.