Jonathan Franzen Die Korrekturen Roman

Für David Means und Geneve Patterson

ST. JUDE

Der Irrsinn einer herbstlichen Prärie-Kaltfront, näher kommend. Es war deutlich zu spüren: Etwas Furchtbares würde geschehen. Die Sonne tief am Himmel, ein winziges Licht, ein erkaltender Stern. Windstoß auf Windstoß der Unordnung. Die Bäume rastlos, die Temperaturen fallend, die ganze nördliche Religion der Dinge aufs Ende gerichtet. Keine Kinder in den Gärten. Länger werdende Schatten auf gelblichem Zoysia-Gras. Aus Roteichen, Nadeleichen, weißen Sumpfeichen regnete es Eicheln auf Häuser ohne Hypothek. Sturmfenster zitterten in den leeren Schlafzimmern. Dazu das Summen und Hicksen eines Kleidertrockners, das näselnde Gezänk eines Laubsaugers, das Reiferwerden heimischer Äpfel in einer Papiertüte, der Geruch des Benzins, das Alfred Lambert, nach dem Streichen des kleinen Korbsofas am Morgen, zum Reinigen des Pinsels benutzt hatte.

Drei Uhr am Nachmittag war eine Zeit der Gefahr in den gerontokratischen Vororten von St. Jude. Alfred hatte seit dem Mittagessen in seinem großen blauen Sessel geschlafen und war gerade aufgewacht. Nun lag sein Nickerchen hinter ihm, und die nächsten Lokalnachrichten kamen erst um fünf. Zwei leere Stunden waren eine Nebenhöhle, in der Infektionen keimten. Er rappelte sich hoch und stand neben der Tischtennisplatte, vergebens horchend, ob Enid sich oben regte.

Überall im Haus läutete eine Alarmglocke, die außer Alfred und Enid niemand hörte. Es war die Alarmglocke der Angst. Sie klang wie eine jener schweren schmiedeeisernen Schüsseln mit elektrischem Klöppel, die Schulkinder bei Feueralarmübungen nach draußen treiben. Mittlerweile läutete sie seit so vielen Stunden, dass die Lamberts die Botschaft «Glocke läutet» schon gar nicht mehr hörten — so, wie man bei jedem Geräusch, wenn es nur lange genug anhält, schließlich sämtliche Bestandteile einzeln wahrnimmt (und bei jedem Wort, wenn man es nur lange genug anstarrt, nichts als eine Reihe toter Buchstaben sieht), hörten sie bloß noch einen Klöppel, der wie rasend auf einen Metallkörper hieb, hörten keinen reinen Ton, sondern ein grobkörniges Nacheinander von Schlägen, über den sich ein Bogen klagender Obertöne wölbte; sie läutete seit so vielen Tagen, dass sich der Klang für gewöhnlich im Hintergrund verlor, nur manchmal nicht, in den frühen Morgenstunden, wenn sie im Wechsel, mal der eine, mal der andere, schweißgebadet erwachten und erkannten, dass eine Glocke in ihren Köpfen läutete, solange sie zurückdenken konnten; sie läutete seit so vielen Monaten, dass das Geräusch zu einer Art Metageräusch geworden war, dessen An- und Abschwellen nichts mehr mit dem Rhythmus von Schallwellen zu tun hatte, sondern allein mit dem viel, viel langsamer zu- und abnehmenden Bewusstsein dieses Geräuschs, einem Bewusstsein, das immer dann besonders geschärft war, wenn das Wetter selbst von Angst gepeinigt schien. Dann hatten Enid und Alfred — sie auf Knien vor den geöffneten Schubladen im Esszimmer, er unten im Keller, den katastrophalen Zustand der Tischtennisplatte inspizierend — jeder für sich das Gefühl, sie müssten vor Angst zerspringen.

Der Angst etwa, die von den Rabattmarken kam, dort in der Schublade neben den Kerzen in Designer-Herbstfarben. Die Marken wurden von einem Gummiband zusammengehalten, und Enid hatte gerade entdeckt, dass die Fristen (vom Hersteller oft schwungvoll mit Rot umrandet) schon vor Monaten, wenn nicht gar Jahren abgelaufen waren: dass diese hundert und so viel Rabattmarken, deren Gesamtwert mehr als sechzig Dollar betrug (im Chiltsville-Supermarkt, wo sie den Markenwert verdoppelten, theoretisch sogar 120 Dollar), samt und sonders nutzlos geworden waren. Tilex, sechzig Cent Rabatt. Excedrin PM, einen Dollar Rabatt. Und die Fristen bezogen sich nicht auf die jüngere Vergangenheit: Sie waren historisch. Die Alarmglocke läutete seit Jahren.

Sie schob die Marken wieder zwischen die Kerzen und schloss die Schublade. Was sie suchte, war ein Brief, der einige Tage zuvor als Einschreiben gebracht worden war. Alfred hatte den Postboten an die Tür klopfen hören und so laut «Enid! Enid!» gerufen, dass er gar nicht mitbekam, wie sie «Ich gehe schon, Al!» antwortete. Weiter ihren Namen rufend, war er immer näher gekommen, aber da der Absender des Briefs die Axon Corporation, 24 East Industrial Serpentine, Schwenksville, PA, war und es gewisse Aspekte der wirtschaftlichen Lage des Axon-Unternehmens gab, über die Enid Bescheid wusste, Alfred hingegen, wie sie inständig hoffte, nicht, hatte sie den Brief rasch irgendwo, und zwar nicht mehr als fünf Meter von der Haustür entfernt, versteckt. Dann war Alfred aus dem Keller aufgetaucht, hatte mit der Lautstärke eines Bulldozers «Da ist jemand an der Tür!» gebrüllt, und sie hatte, fast schreiend, geantwortet: «Der Postbote! Der Postbote!», woraufhin er den Kopf schüttelte, weil das Ganze so verworren war.

Enid war sicher, dass sie selber einen klareren Kopf bekommen würde, wenn sie sich nicht alle fünf Minuten fragen müsste, was Alfred im Schilde führte. Aber sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihn einfach nicht dazu bringen, sich für das Leben zu interessieren. Wenn sie ihn ermunterte, sich doch wieder einmal seinem Labor zuzuwenden, sah er sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Wenn sie ihn fragte, ob es nicht irgendetwas im Garten zu tun gebe, sagte er, die Beine täten ihm weh. Wenn sie ihn darauf aufmerksam machte, dass die Männer ihrer Freundinnen allesamt Hobbys hatten (Dave Schumpert seine Glasmalerei, Kirby Root seine raffinierten Chalets als Nistkästen für Rotfinken, Chuck Meisner die stündliche Überprüfung seines Aktiendepots), tat er so, als wolle sie ihn von einer wichtigen Arbeit abhalten, und worin bestand die?

Darin, die Gartenmöbel zu streichen? Mit dem Korbsofa war er nun schon seit dem Labor Day beschäftigt. Das letzte Mal, als er die Garten-Möbel gestrichen hatte, war er, wenn sie sich recht erinnerte, nach zwei Stunden mit dem Sofa fertig gewesen. Jetzt verschwand er Morgen für Morgen in seiner Werkstatt, und als sie sich nach einem Monat einmal zu ihm hineingewagt hatte, um nachzusehen, wie es voranging, hatte sie entdeckt, dass er über die Beine des Sofas nicht hinausgekommen war.

Es schien, als wollte er lieber allein sein. Er sagte, der Pinsel sei ihm zwischendurch eingetrocknet, deshalb dauere es so lange. Er sagte, Korbmöbel abschmirgeln sei wie eine Blaubeere schälen. Er sagte, es gebe hier unten Grillen. Da verspürte sie leichte Atemnot, aber vielleicht war es auch nur der Geruch des Benzins oder die Feuchtigkeit in der Werkstatt, die wie Urin roch (und doch unmöglich Urin sein konnte). Sie flüchtete die Treppe hinauf, um den Brief von Axon zu suchen.

Sechs Tage die Woche kamen mehrere Pfund Post durch den Schlitz in der Haustür, und da sich im Erdgeschoss nichts Nebensächliches anhäufen durfte — der Eindruck, den diese Wohnräume hervorrufen sollten, war ja gerade, dass niemand hier wohnte — , hatte Enid eine taktische Aufgabe von beträchtlicher Schwierigkeit zu bewältigen. Sie selbst hätte sich niemals als Guerillera bezeichnet, doch genau das war sie: eine Guerillera. Tagsüber verbrachte sie Material von Depot zu Depot, der regierenden Macht oft nur einen winzigen Schritt voraus. Abends dann, im Licht einer hübschen, doch zu schwachen Wandlampe und an einem viel zu kleinen Tisch, der in der Frühstücksnische stand, führte sie alle möglichen Manöver durch: beglich Rechnungen, prüfte Kontoauszüge, versuchte, die Jahresabrechnung der Krankenversicherung zu entziffern und sich einen Reim auf die dritte, in drohendem Ton gehaltene Mahnung eines medizinischen Labors zu machen, das die unverzügliche Begleichung von ausstehenden $ 0,22 einforderte, während der ausgewiesene Kontostand von $ 0,00 eindeutig besagte, dass sie nicht das Geringste schuldig geblieben war, und sich im Übrigen auch nirgends eine Adresse fand, an die man den Scheck hätte senden können. Schon möglich, dass die erste und zweite Mahnung irgendwo vergraben waren, aber angesichts der widrigen Bedingungen, unter denen Enid ihren Feldzug unternahm, hatte sie kaum mehr als eine schemenhafte Vorstellung davon, wo sich die anderen Mahnungen an einem bestimmten Abend befanden. Vielleicht in dem Schrank, der im Familienzimmer stand, das war denkbar, aber dann schaute sich die regierende Macht in Person Alfreds dort gerade eine Nachrichtensendung an und ließ den Fernseher in einer Lautstärke laufen, die dröhnend genug war, ihn wach zu halten, ja hatte zudem alle Lichter eingeschaltet, und es war nicht gänzlich auszuschließen, dass beim Öffnen der Schranktür, einem Wasserfall gleich, diverse Kataloge und House Beautiful- Hefte und Merrill-Lynch-Rechenschaftsberichte heraus¬geschossen und — gerutscht kämen und Alfreds Zorn entfachen würden. Ebenso wenig war auszuschließen, dass die Mahnungen gar nicht dort waren, immerhin führte die regierende Macht willkürliche Razzien ihrer Depots durch und drohte, «den ganzen Krempel wegzuwerfen», falls Enid dort nicht endlich einmal aufräumte. Aber da Enid zu sehr damit beschäftigt war, besagte Razzien zu hintertreiben, um je richtig zum Aufräumen zu kommen, ging infolge erzwungener Standortwechsel und Deportationen jeglicher Anschein von Ordnung verloren, auch das allerletzte bisschen, und so konnte es passieren, dass irgendeine Nordstrom-Einkaufstüte mit halb abgerissenem Plastikgriff, die vorübergehend hinter einem Staubwedel verstaut gewesen war, das ganze vielgestaltige Elend einer Flüchtlingsexistenz enthielt: vereinzelte Good Housekeeping-Ausgaben, Schwarz-weiß-Schnappschüsse von Enid aus den vierziger Jahren, an welken Salat erinnernde Rezepte auf stark säurehaltigem, braunstichigem Papier, die Telefon- und Gasrechnungen des laufenden Monats, eine detaillierte erste Mahnung des medizinischen Labors, in der alle Selbstzahler angewiesen wurden, künftige Buchungen von unter 50 Cent zu ignorieren, ein Gratisfoto von ihrer Kreuzfahrt — Enid und Alfred mit Blumenkränzen auf dem Kopf, aus hohlen Kokosnüssen irgendein Getränk schlürfend — sowie die letzten noch vorhandenen Kopien der Geburtsurkunden von zweien ihrer Kinder.

Enids scheinbarer Feind war Alfred, doch zur Guerillera machte sie das Haus. Es nahm sie beide in die Pflicht. Die Einrichtung war von der Art, die kein Durcheinander duldete. Stühle und Tische von Ethan Allen. Blümchengeschirr und Kristall hinter gläsernen Schranktüren. Unvermeidliche Ficusbäume, unvermeidliche Norfolkkiefern. Hefte von Architectural Digest, auf der Glasplatte des Wohnzimmertischs aufgefächert. Touristischer Krimskrams: Porzellan aus China, eine Wiener Spieluhr, die Enid aus Pflichtgefühl und Erbarmen von Zeit zu Zeit aufzog und öffnete. Sie spielte «Strangers in the Night».

Unglücklicherweise fehlte Enid das nötige Temperament und Alfred das neurologische Rüstzeug, um ein solches Haus zu führen. Das wütende Geschrei, in das Alfred ausbrach, sooft er Hinweise auf Guerilla-Aktionen entdeckte — eine bei helllichtem Tag auf der Kellertreppe überraschte Nordstrom-Tüte zum Beispiel, die ihn beinahe zu Fall gebracht hätte — , war das Geschrei einer Regierung, die regierungsunfähig geworden war. Neuerdings hatte er eine Vorliebe dafür entwickelt, seine Rechenmaschine Kolonnen sinnloser achtstelliger Zahlen ausspucken zu lassen. Nachdem er den größten Teil eines Nachmittags damit zugebracht hatte, fünfmal hintereinander die Sozialversicherungsbeiträge der Putzfrau auszurechnen, wobei er vier verschiedene Ergebnisse ermittelt und sich schließlich für die einzige Zahl ($ 635,78) entschieden hatte, die am Ende zweimal dastand (das richtige Ergebnis lautete $ 70,00), hatte sich Enid ihrerseits zu einer nächtlichen Razzia in seinem Aktenschrank entschlossen und sämtliche dort deponierten Steuerunterlagen beschlagnahmt, was die Wirtschaftlichkeit des Haushalts durchaus hätte steigern können, wären die Unterlagen nicht zusammen mit einigen irreführend alten Good Housekeeping-Heften, die die einschlägigeren Dokumente unter sich begruben, in einer Nordstrom-Tüte gelandet, eine strategische Schlappe, die zur Folge hatte, dass die Putzfrau die Formulare selber ausfüllte, Enid nur noch die Schecks ausstellte und Alfred den Kopf schüttelte, weil das Ganze so verworren war.

Es ist das Schicksal der meisten Tischtennisplatten in privaten Kellerräumen, dass sie am Ende für andere, hoffnungslosere Spiele herhalten müssen. Seit seiner Pensionierung beanspruchte Alfred das östliche Ende der Platte für Bankangelegenheiten und Korrespondenz. Am westlichen Ende stand der tragbare Farbfernseher, denn ursprünglich hatte Alfred vorgehabt, sich hier unten, in seinem großen blauen Sessel sitzend, die täglichen Lokalnachrichten anzuschauen, aber mittlerweile verschwand der Apparat fast völlig zwischen Stapeln von Good Housekeeping-Heften, Weihnachtsplätzchendosen und barocken, doch stümperhaft gemachten Kerzenhaltern, die Enid aus purem Zeitmangel noch immer nicht zum Trödel gebracht hatte. Die Tischtennisplatte war das einzige Feld, auf dem der Bürgerkrieg in aller Offenheit tobte. Am östlichen Ende wurde Alfreds Rechenmaschine aus dem Hinterhalt von Topflappen mit Blumendruck, Souvenir-Untersetzern vom Epcot-Center und einem Kirschentkerner angegriffen, den Enid seit dreißig Jahren besaß und nie benutzte, während Alfred am westlichen Ende aus keinem für Enid auch nur entfernt begreiflichen Grund einen aus Kiefernzapfen und farbig besprühten Hasel- und Paranüssen geklebten Kranz in seine Einzelteile zerlegte.

Östlich der Tischtennisplatte befand sich die Werkstatt, die Alfreds metallurgisches Labor beherbergte. Sie war inzwischen zur Heimstatt einer Kolonie stummer, staubfarbener Grillen geworden, die sich, sobald man sie aufschreckte, wie eine Handvoll fallen gelassener Murmeln über den ganzen Raum verteilten, wobei manche kreuz und quer durcheinander schossen, andere wiederum, beschwert vom Gewicht ihres üppigen Protoplasmas, ins Schwanken kamen und zu Boden stürzten. Sie zerplatzten allzu leicht, und zum Aufwischen war mehr als ein Kleenex nötig. Enid und Alfred waren mit zahllosen Unbilden geschlagen, die sie für außergewöhnlich, übergroß, ja für beschämend hielten, und die Grillen gehörten dazu.

Der graue Staub böser Flüche und die Spinnweben der Zauberei bildeten eine dicke Schicht auf dem alten elektrischen Lichtbogenofen, den Gefäßen mit exotischem Rhodium, finsterem Kadmium und kräftigem Wismut, den handbedruckten, von Dämpfen, die aus einer Glasstöpselflasche voll aqua regia entwichen, braun gewordenen Etiketten und dem Notizblock mit kleinen Karos, dessen jüngster Eintrag in Alfreds Handschrift fünfzehn Jahre zurücklag, also aus der Zeit stammte, bevor allenthalben der Verrat begonnen hatte. Ein so alltägliches und freundliches Ding wie ein Bleistift befand sich noch immer an jener Stelle der Werkbank, an der Alfred es in einem anderen Jahrzehnt zufällig abgelegt hatte; die vielen Jahre, die seither vergangen waren, erfüllten ihn nun mit einer Art Feindseligkeit. Asbesthandschuhe hingen an einem Nagel zwischen den Urkunden zweier US-amerikanischer Patente, deren Rahmen durch die Feuchtigkeit verzogen und gesprungen waren. Auf der Abdeckhaube des Binokularmikroskops lagen große Stücke abgeplatzter Farbe. Die einzigen staubfreien Gegenstände im Raum waren das Korbsofa, eine Büchse Rost-Oleum mit ein paar Pinseln darin sowie mehrere Yuban-Kaffeedosen, die sich, wie Enid trotz immer stärkerer Geruchsindizien zu glauben beschlossen hatte, gewiss nicht mit dem Urin ihres Mannes füllten, denn was um alles in der Welt sollte ihn, dem keine zehn Schritt entfernt ein hübsches kleines Badezimmer zur Verfügung stand, dazu bringen, in eine Yuban-Dose zu pinkeln?

Westlich der Tischtennisplatte stand Alfreds großer blauer Sessel. Der Sessel wirkte, überpolstert, wie er war, ein wenig gouverneurshaft. Er war aus Leder, roch aber wie der Innenraum eines Honda der Luxusklasse. Wie etwas Modernes und Medizinisches und Undurchlässiges, von dem man den Geruch des Todes mit einem feuchten Tuch mühelos abwischen konnte, bevor der Nächste Platz nahm, um darin zu sterben.

Der Sessel war die einzige größere Anschaffung, die Alfred jemals ohne Enids Einverständnis gemacht hatte. Als er nach China fuhr, um mit chinesischen Eisenbahningenieuren zu verhandeln, hatte Enid ihn begleitet, und sie hatten gemeinsam eine Teppichfabrik besucht, um sich einen Teppich für ihr Familienzimmer zu kaufen. Nicht gewohnt, Geld für sich selber auszugeben, wählten sie einen der billigsten Teppiche, mit einem schlichten blauen Muster aus dem Buch der Wandlungen auf gleichmäßig beigefarbenem Hintergrund. Einige Jahre später, kurz nachdem er bei der Midland Pacific Railroad aufgehört hatte, beschloss Alfred, den alten, nach Kuh riechenden schwarzen Lederarmstuhl, in dem er fernsah und zu Mittag schlief, durch einen neuen zu ersetzen. Er wollte etwas Bequemes, natürlich, doch da er sein Leben lang für andere gesorgt hatte, brauchte er mehr als das: Er brauchte ein Denkmal für sein Bedürfnis nach Bequemlichkeit. Also machte er sich allein auf den Weg in ein teures Möbelgeschäft und wählte einen Sessel fürs Leben. Einen Ingenieurssessel. Einen Sessel, der so wuchtig war, dass selbst ein wuchtiger Mann sich darin verlor; einen Sessel, der starker Beanspruchung standhalten würde. Und da das blaue Leder so ungefähr zum Blau des chinesischen Teppichs passte, blieb Enid nichts anderes übrig, als die Aufstellung des Sessels im Familienzimmer hinzunehmen.

Bald jedoch begannen Alfreds Hände, entkoffeinierten Kaffee auf den beigen Flächen des Teppichs zu verschütten, und herumtobende Enkelkinder hinterließen Beeren- und Buntstiftspuren, und Enid beschlich das Gefühl, dass der Teppich ein Fehler gewesen war. Ihr schien, dass sie in ihrem lebenslangen Bemühen, Geld zu sparen, etliche solcher Fehler gemacht hatte. Irgendwann meinte sie sogar, es wäre besser gewesen, sie hätten überhaupt keinen Teppich gekauft. Schließlich, als Alfreds Mittagsschläfchen tiefer und einer Verzauberung immer ähnlicher wurden, fasste sie sich ein Herz. Von ihrer Mutter hatte sie vor Jahren eine kleine Summe geerbt. Zum Kapital waren Zinsen gekommen, manche Aktien hatten sich ziemlich vorteilhaft entwickelt, und jetzt verfügte sie über ein eigenes Einkommen. Sie überlegte, wie sich das Familienzimmer neu gestalten ließe, und entschied sich für Grün- und Gelbtöne. Sie bestellte Stoffe. Ein Tapezierer kam, und Alfred, der seinen Mittagsschlaf vorübergehend im Esszimmer hielt, sprang auf, als hätte er schlecht geträumt.

«Dekorierst du schon wieder alles um?»

«Es ist mein eigenes Geld», sagte Enid. «Und jetzt geb ich es aus.»

«Und was ist mit dem Geld, das ich verdient habe? Was ist mit der Arbeit, die ich geleistet habe?»

Früher hatte dieses Argument stets gewirkt — es war, sozusagen, die verfassungsmäßige Grundlage für die Rechtfertigung seiner Tyrannei gewesen — , jetzt aber zog es nicht mehr. «Der Teppich ist fast zehn Jahre alt, und die Kaffeeflecken kriegen wir nie wieder raus», entgegnete Enid.

Alfred wies auf den blauen Sessel, der unter dem Plastiküberwurf des Tapezierers aussah wie etwas, das im Kipplader zu einem Kraftwerk transportiert werden sollte. Er zitterte, ungläubig, fassungslos, dass Enid diesen vernichtenden Einwand gegen ihre Anschauungen, jene eine Sache, die so überwältigend offensichtlich gegen ihre Pläne sprach, einfach vergessen haben sollte. Es war, als wäre die ganze Unfreiheit, in der er seine sieben Lebensjahrzehnte verbracht hatte, in jenem sechs Jahre alten, im Grunde jedoch brandneuen Sessel verkörpert. Er grinste, und sein Gesicht glühte, so grässlich, so unentrinnbar vollkommen war seine Logik.

«Und was passiert mit dem Sessel?», fragte er. «Was passiert mit dem Sessel?»

Enid schaute den Sessel an. Ihr Gesichtsausdruck war gequält, mehr nicht. «Ich habe den Sessel noch nie gemocht.»

Das war vermutlich das Schlimmste, was sie Alfred sagen konnte. Der Sessel war der einzige Hinweis, den er je auf seine eigenen Vorstellungen von der Zukunft gegeben hatte. Enids Worte erfüllten ihn mit solcher Traurigkeit — er empfand so viel Mitleid, so viel Solidarität mit dem Sessel, so viel verblüfften Kummer über Enids Verrat — , dass er die Folie abzog, in die Arme des Sessels sank und einschlief.

(Daran konnte man Orte der Verzauberung erkennen: an Menschen, die auf diese Weise einschliefen.)

Als feststand, dass beides verschwinden musste, der Teppich ebenso wie Alfreds Sessel, wurden sie den Teppich ohne Mühe los. Enid hatte in der kostenlosen Lokalzeitung inseriert, und schon ging ihr eine nervöse, vogelhafte Frau ins Netz, die immer noch Fehler machte und ihre schlampig zusammengerollten Fünfziger aus der Handtasche hervorholte, sie mit zittrigen Fingern auseinander pulte und glatt strich.

Aber der Sessel? Der Sessel war ein Denkmal und ein Symbol und durfte nicht von Alfred getrennt werden. Man konnte ihn nur umstellen, und darum landete er im Keller, und Alfred folgte ihm. So kam es, dass im Haus der Lamberts, wie in St. Jude, wie im ganzen Land, das Leben unterirdisch gelebt wurde.

Enid hörte, wie Alfred oben Schubladen auf- und zumachte. Immer wenn sie ihre Kinder besuchen wollten, wurde er unruhig. Ihre Kinder zu besuchen, das war offenbar das Einzige, was ihm noch am Herzen lag.

Vor den schlierenlos sauberen Fenstern des Esszimmers herrschte das Chaos. Der rasende Wind, die verneinenden Schatten. Enid hatte überall nach dem Brief der Axon Corporation gesucht, aber sie konnte ihn nicht finden.

Alfred stand im Elternschlafzimmer und fragte sich, warum die Schubladen seiner Kommode offen waren, wer sie geöffnet hatte, ob er selbst es gewesen war. Er konnte nicht anders, als Enid die Schuld an seiner Verwirrung zu geben. Daran, dass sie ihr durch bloße Zeugenschaft zur Existenz verhalf. Daran, dass sie selber existierte, als eine Person, die diese Schubladen womöglich geöffnet hatte.

«Al? Was machst du da?»

Er drehte sich zur Tür um, in der sie aufgetaucht war. Dann begann er einen Satz: «Ich habe — », doch wenn er überrumpelt wurde, war jeder Satz ein Abenteuer im Wald, und sobald er die Lichtung, an der er den Wald betreten hatte, nicht mehr sah, bemerkte er, dass die Brotkrumen, die er zu seiner Orientierung hatte fallen lassen, von Vögeln aufgepickt worden waren, leisen, flinken, pfeilgeschwinden Dingern, die er in der Dunkelheit nicht recht ausmachen konnte, obwohl sie ihn in ihrem Hunger so zahlreich umschwärmten, dass es schien, als wären sie die Dunkelheit, als wäre die Dunkelheit nicht gleichförmig, keine Abwesenheit von Licht, sondern etwas Wimmelndes, Korpuskelhaftes, und in der Tat hatte er als emsiger Teenager in McKay's Treasury of English Verse für «dämmrig» das Wort «crepuscular» gefunden, woraufhin die Korpuskeln der Biologie, die Blutkörperchen nämlich, für immer in sein Verständnis dieses Wortes eingeflossen waren, sodass er sein gesamtes Erwachsenenleben hindurch die Dämmerung als Korpuskularität wahrgenommen hatte, vergleichbar der Körnigkeit eines hochempfindlichen Films, wie man ihn benutzte, wenn man bei schummriger Innenbeleuchtung fotografieren wollte, vergleichbar auch einer Art düsteren Verfalls; daher die Panik eines Mannes, den man, verraten und verkauft, tief im Wald allein gelassen hatte, wo die Dunkelheit eine Dunkelheit von Staren war, die den Sonnenuntergang verfinsterten, oder von schwarzen Ameisen, die ein totes Opossum stürmten, eine Dunkelheit, die nicht einfach nur da war, sondern die Wegmarkierungen, die er vernünftigerweise ausgelegt hatte, um sich nicht zu verlaufen, regelrecht verschlang; in der Sekunde jedoch, da er begriff, dass er die Orientierung verloren hatte, wurde die Zeit wunderbar langsam, und er entdeckte bis dahin nie geahnte Ewigkeiten im Abstand zwischen einem Wort und dem nächsten oder, besser gesagt: Er war gefangen in den Lücken zwischen den Wörtern und konnte bloß dastehen und zusehen, wie die Zeit ohne ihn weitereilte, wobei der gedankenlose, jungenhafte Teil von ihm blindlings durch den Wald davonstürzte, bis er außer Sichtweite war, während er, gefangen, der erwachsene Al, mit sonderbar unpersönlicher Spannung abwartete, ob der von panischem Schrecken erfüllte kleine Junge, auch wenn er nun nicht mehr wusste, wo er war oder an welcher Stelle er den Wald dieses Satzes betreten hatte, es vielleicht trotzdem schaffen würde, auf die Lichtung zu stolpern, auf der Enid, ohne irgendwelche Wälder wahrzunehmen, auf ihn wartete — «meinen Koffer gepackt», hörte er sich sagen. Das klang richtig. Possessivpronomen, Substantiv, Verb. Vor ihm stand ein Koffer, eine wichtige Bestätigung. Er hatte nichts verraten.

Aber Enid hatte schon wieder etwas gesagt. Der Ohrenarzt hatte behauptet, er sei leicht schwerhörig. Alfred runzelte die Stirn, weil er sie nicht verstanden hatte.

«Heute ist Donnerstag», sagte sie, lauter. «Wir fahren doch erst Samstag.»

«Samstag!», echote er.

Da schimpfte sie mit ihm, und für eine Weile zogen sich die Vögel der Dämmerung zurück, aber draußen hatte der Wind die Sonne ausgeblasen, und es wurde sehr kalt

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