ZWEI UHR NULL NULL, Dunkelheit, die Gunnar Myrdal: Rings um den alten Mann sang Wasser in metallenen Rohren ein geheimnisvolles Lied. Während das Schiff das schwarze Meer östlich von Neuschottland aufschlitzte, stampfte es leicht vom Bug zum Heck, als wäre es trotz seiner enormen stählernen Befähigung unsicher und könnte das Problem flüssiger Hügel nur lösen, indem es sie rasch durchstieß; als hinge seine Stabilität davon ab, die Schrecken, die das Schwimmenkönnen barg, auf diese Weise zu vertuschen. Es gab noch eine Welt darunter — die war das Problem. Eine Welt, die Volumen hatte, aber keine Form. Am Tag war das Meer blaue Oberfläche und weiße Gischt, eine reale navigatorische Herausforderung, und das Problem ließ sich überschauen. In der Nacht aber gingen die Gedanken auf Reisen und tauchten hinab in das nachgiebige — das barbarisch einsame — Nichts, auf dem das schwere stählerne Schiff fuhr, und jede heranrollende Welle zeigte sich als Zerrbild eines Koordinatennetzes, zeigte, wie wahrhaft und für immer verloren ein Mensch dort unten, in sechs Faden Tiefe, wäre. Das Land hatte keine z-Achse. Trockenes Land war wie Wachsein. Selbst in wegloser Wüste konnte man auf die Knie fallen und mit der Faust aufs Land trommeln, und das Land gab nicht nach. Natürlich hatte auch der Ozean eine bewegliche Schale. Aber jeder Punkt auf dieser Schale war ein Punkt, an dem man sinken und, indem man sank, verschwinden konnte. Wie die Dinge stampften, so zitterten sie. Ein Beben durchlief das Gerippe der Gunnar Myrdal, ein endloses Vibrieren den Boden, die Koje und die birkenholzgetäfelten Wände. Ein synkopischer Tremor, dem Schiff so eigen und, da er stetig anschwoll und nie schwächer zu werden schien, dem Parkinson'schen Zittern so ähnlich, dass Alfred das Problem in sich selbst geortet hatte, bis er jüngere, gesündere Passagiere davon sprechen hörte.
Er lag in Kabine B11, annähernd wach. Wach in einer Metallkiste, die stampfte und zitterte, einer dunklen Metallkiste, die irgendwo durch die Nacht trieb.
Ein Bullauge gab es nicht. Eine Kabine mit Aussicht hätte einige hundert Dollar mehr gekostet, und Enid hatte behauptet, eine Kabine werde schließlich in erster Linie zum Schlafen genutzt, wozu brauche man da, noch dazu bei dem Preis, ein Bullauge? Auf der ganzen Reise werde sie da vielleicht sechsmal rausgucken. Das mache fünfzig Dollar pro Blick.
Jetzt schlief sie, lautlos, wie ein Mensch, der sich schlafend stellt. Der schlafende Alfred war eine Symphonie aus Schnarchern, Schnaufern und Röchlern, ein Epos aus Eszett. Enid war ein Haiku. Stundenlang lag sie still, um dann mit einem Mal die Augen aufzuschlagen, als würde ein Licht angeknipst. Manchmal im Morgengrauen in St. Jude, in der langen Minute, die der Radiowecker brauchte, um zur nächsten Ziffer zu springen, war das Einzige, was sich im ganzen Haus bewegte, Enids Auge.
Am Morgen von Chips Empfängnis hatte sie nur so ausgesehen, als stelle sie sich schlafend, doch sieben Jahre später, am Morgen, als sie Denise empfing, hatte sie Alfred wirklich etwas vorgemacht. Solche lässlichen Täuschungsmanöver hatte Alfred im mittleren Alter provoziert. Nach gut zehn Ehejahren war er zu einem jener übermäßig gezähmten Raubtiere geworden, wie es sie im Zoo gibt — dem Bengalischen Tiger, der das Töten verlernt hat, dem vor lauter Niedergeschlagenheit faul gewordenen Löwen. Um Anziehungskraft auszuüben, musste Enid ein regloser, unblutiger Kadaver sein. Streckte sie die Hand nach ihm aus, ja warf sie gar einen Schenkel über den seinen, igelte er sich ein und verbarg sein Gesicht; trat sie auch nur nackt aus dem Badezimmer, wandte er die Augen ab, wie es die goldene Regel dem Mann gebot, der es hasste, selbst gesehen zu werden. Nur frühmorgens, beim Aufwachen, wenn er ihre schmale weiße Schulter erspähte, wagte er sich aus seinem Bau. Ihre Stille und Selbstbeherrschung, ihre langsamen kleinen Atemzüge, ihre reine Verletzlichkeit als Objekt machten ihn sprungbereit. Und kaum spürte sie seine gepolsterte Pranke auf ihren Rippen und seinen fleischlüsternen Atem an ihrem Hals, wurde sie schlaff wie Beute, die sich instinktiv ergibt («Bringen wir das Sterben schnell hinter uns»), während ihre Passivität in Wahrheit doch berechnet war, denn dass Passivität ihn entflammte, wusste sie. Er nahm Enid, und in gewisser Weise wollte sie das auch, wie ein Tier: in der stummen, geteilten Intimität der Gewalt. Auch sie ließ die Augen geschlossen. Drehte sich oft nicht einmal von der Seite, auf der sie gelegen hatte, zu ihm um, sondern stellte nur die Hüfte aus, zog in vage proktologischem Reflex ein wenig das Knie an. Danach ging er, ohne ihr sein Gesicht zu zeigen, ins Bad, wusch und rasierte sich, und wenn er wieder herauskam, sah er das bereits gemachte Bett und hörte die Kaffeemaschine gurgeln. Enid, da unten in der Küche, mochte es wohl scheinen, ein Löwe und nicht ihr Ehemann hätte sich wollüstig über sie hergemacht, oder einer der Männer in Uniform, von denen sie besser einen hätte heiraten sollen, wäre in ihr Bett geschlüpft. Es war kein herrliches Leben, aber von solchen Selbsttäuschungen und von ihren Erinnerungen (die jetzt merkwürdig wie Selbsttäuschungen wirkten), Erinnerungen an die ersten Jahre, als Alfred verrückt nach ihr gewesen war und ihr in die Augen gesehen hatte, konnte eine Frau schon zehren. Wichtig war, Stillschweigen zu bewahren. Wenn nie von dem Akt gesprochen wurde, gab es keinen Grund, ihn nicht mehr zu vollziehen, bis Enid ganz sicher wieder schwanger war, und auch nach der Schwangerschaft keinen Grund, nicht damit fortzufahren, solange nur nie die Sprache darauf kam.
Sie hatte sich immer drei Kinder gewünscht. Je länger die Natur ihr ein Drittes verwehrte, umso weniger erfüllt fühlte sie sich im Vergleich zu ihren Nachbarinnen. Bea Meisner, dicker und dümmer als Enid, knutschte in aller Öffentlichkeit mit ihrem Mann Chuck; zweimal im Monat nahmen sich die Meisners einen Babysitter und gingen tanzen. Jeden Oktober, wirklich jeden, reiste Dale Driblett mit seiner Frau Honey zur Feier ihres Hochzeitstags an irgendeinen extravaganten Ort jenseits der Staatsgrenze, und die vielen kleinen Dribletts hatten alle im Juli Geburtstag. Sogar Esther und Kirby Root konnte man dabei beobachten, wie sie sich auf Grillpartys die gut durchwachsenen Pobacken tätschelten. Dass andere Paare so liebevoll, so reizend miteinander umgingen, ängstigte und beschämte Enid. Sie war eine intelligente junge Frau und gute Wirtschafterin, die, nachdem sie Bettwäsche und Tischtücher in der Pension ihrer Mutter gebügelt hatte, nahtlos dazu übergegangen war, Bettwäsche und Tischtücher chez Lambert zu bügeln. In den Augen jeder Nachbarin las sie die stumme Frage: Hat Al es wenigstens geschafft, ihr das Gefühl zu geben, sie sei in dieser speziellen Hinsicht superspeziell?
Sobald sie wieder sichtbar schwanger war, hatte sie darauf eine stumme Antwort. Die Veränderungen in ihrem Körper waren nicht zu leugnen, und sie malte sich derart lebhaft aus, was für schmeichelhafte Rückschlüsse auf ihr Liebesleben Bea und Esther und Honey daraus ziehen mochten, dass sie diese Schlüsse bald selbst zog.
Glücklich, wie die Schwangerschaft sie machte, wurde sie nachlässig und sprach Alfred auf das Falsche an. Natürlich nicht auf Sex oder Erfüllung oder Fairness. Es gab noch andere, kaum weniger verbotene Themen, und in ihrem Leichtsinn ging Enid eines Morgens zu weit. Sie meinte, er solle Aktien eines gewissen Unternehmens kaufen. Alfred sagte, der Aktienmarkt sei gefährlicher Unfug, den man am besten reichen Männern und faulen Spekulanten überlasse. Enid meinte, er solle trotzdem Aktien eines gewissen Unternehmens kaufen. Alfred sagte, er erinnere sich an den Schwarzen Dienstag, als sei der gestern gewesen. Enid meinte, er solle trotzdem Aktien eines gewissen Unternehmens kaufen. Alfred sagte, es gehöre sich nicht, diese Aktien zu kaufen. Enid meinte, er solle sie trotzdem kaufen. Alfred sagte, sie hätten kein Geld übrig, schon gar nicht jetzt, da sich ein drittes Kind ankündige. Enid meinte, sie könnten sich Geld leihen. Alfred sagte nein. Er sagte es mit wesentlich lauterer Stimme und stand vom Frühstückstisch auf. Er sagte so laut Nein, dass eine Kupferschale, die das Küchenregal zierte, flüchtig summte, und verließ, ohne Enid einen Abschiedskuss gegeben zu haben, für elf Tage und zehn Nächte das Haus.
Wer hätte geahnt, dass so ein kleiner Fehler alles verändern könnte?
Im August hatte Midland Pacific Alfred zum zweiten Chefingenieur der Abteilung Gleis und Bau gemacht, und nun war er in den Osten geschickt worden, um jeden Kilometer der Erie Belt Railroad zu überprüfen. Bezirksleiter der Erie Belt kutschierten ihn mit rührenden benzingetriebenen Waggons herum, die wie Insekten auf Nebengleise schossen, sooft Erie-Belt-Megalosaurier vorbei donnerten. Die Erie Belt war ein regionales Eisenbahnunternehmen, dessen Frachtgeschäft durch Lastwagen geschädigt und dessen Passagiergeschäft durch private Automobile in die roten Zahlen getrieben worden war. Zwar befanden sich die Haupttrassen im Großen und Ganzen noch in gutem Zustand, doch die mittleren und kleinen Nebenstrecken verrotteten, wie man es kaum für möglich hielt. Auf Schienensträngen, kein bisschen gerader als schlaffe Bänder, krochen die Züge mit 20 km/h voran. Kilometer für Kilometer hoffnungslos verzogenen Geleises. Alfred sah Schwellen, die besser zum Mulchen geeignet waren als zum Halten von Bolzen; Schienennägel, die ihre Köpfe bereits an den Rost verloren hatten, während ihre Körper unter einer Kruste aus Rostfraß zerfielen wie Shrimps in einer Fritteuse; Schotter, der so ausgewaschen war, dass die Schwellen an den Gleisen hingen, anstatt sie zu stützen; Träger, die sich schälten und pellten wie ein Kuchen mit Schokoladenglasur — dunkle Flocken, Gebrösel überall.
Wie bescheiden — verglichen mit der rasenden Lokomotive — sich ein Stück zugewuchertes Gleis ausnehmen konnte, das an einem Feld später Mohrenhirse entlangführte. Doch ohne dieses Gleis war ein Zug ein zehntausend Tonnen schweres, unlenkbares Nichts. Der Wille steckte im Gleis. Wo Alfred im Hinterland der Erie Belt auch hinkam, immer hörte er junge Erie-Belt-Angestellte einander zurufen: «Lass dir Zeit!»
«Bis später, Sam. Immer mit der Ruhe.»
«Lass dir Zeit.»
«Du auch, Kumpel. Lass dir Zeit.»
Die Phrase erschien Alfred wie eine Fäule, die den Osten befallen hatte, ein passendes Epitaph für den einstmals großen Staat Ohio, den parasitäre Gewerkschafter beinahe ausgesaugt hatten. Niemand in St. Jude hätte je gewagt, ihm zu sagen, er solle sich Zeit lassen. In der hohen Prärie, wo er aufgewachsen war, galt einer, der sich Zeit ließ, nicht als richtiger Mann. Nun war eine neue, verweichlichte Generation nachgekommen, die es für rühmlich hielt, «sich Zeit zu lassen». Alfred hörte, wie Gleisbautrupps der Erie Belt mitten in der Arbeitszeit herumblödelten, er sah in Signalfarben gekleidete Angestellte zehnminütige Kaffeepausen einlegen, er beobachtete Grünschnäbel von Konstruktionszeichnern, die genüsslich Zigaretten rauchten, während eine einstmals solide Bahn rings um sie in Stücke ging. «Lass dir Zeit» war die Parole dieser allzu freundlichen jungen Männer, das Unterpfand ihrer allzu großen Unbekümmertheit, die trügerische Beschwörungsformel, die es ihnen ermöglichte, über den ganzen Schlamassel um sie herum hinwegzusehen.
Die Midland Pacific dagegen war sauberer Stahl und weißer Beton. Schwellen, die so neu waren, dass sich Kreosot in ihrer Maserung sammelte. Die angewandte Wissenschaft von Vibrationsdämmung und Spannbetonpfeilern,
Bewegungsmeldern und geschweißter Schiene. Die Midpac hatte ihren Hauptsitz in St. Jude und versorgte eine härter arbeitende, weniger östliche Region des Landes. Anders als die Erie Belt setzte sie ihren ganzen Stolz daran, den Betrieb pflichtgemäß auch auf ihren Nebenstrecken, und zwar ohne Abstriche, aufrechtzuerhalten. Tausend Städte und Kleinstädte, weit über die mittleren Staaten verstreut, waren auf die Midpac angewiesen.
Je mehr Alfred von der Erie Belt sah, umso deutlicher spürte er die Größe, Kraft und moralische Vitalität der Midland Pacific in den eigenen Gliedern, im eigenen Auftreten. Mit Schlips und Kragen und bestem Schuhwerk überquerte er behände die Eisenbahnbrücke über den Maumee River, fünfzehn Meter hoch über Schlackenkähnen und trübem Wasser, packte den untersten Strang des Geländers und lehnte sich kopfüber hinaus, um dem Hauptträger des Brückenbogens einen Schlag mit seinem Lieblingshammer zu versetzen, den er stets in seiner Aktentasche bei sich trug; Farb- und Rostplacken, so groß wie Platanenblätter, segelten in den Fluss. Eine Rangierlok kam mit lautem Gebimmel auf die Brücke gekrochen, und Alfred, der keine Höhenangst kannte, lehnte sich gegen eine Strebe der Aufhängung und stellte die Füße auf die streichholzdünnen Balken, die über den Fluss hinausragten. Während die Schwellen wackelten und hüpften, notierte er auf seinem Klemmbrett ein vernichtendes Urteil über den Zustand der Brücke.
Möglich, dass die eine oder andere Frau, die in ihrem Auto auf der nahen Cherry-Street-Brücke über den Maumee fuhr, ihn dort oben thronen sah, mit flachem Bauch und breiten Schultern und vom Wind um die Knöchel gewickelten Hosensäumen, möglich, dass sie dachte, was auch Enid gedacht hatte, als sie ihm zum ersten Mal gegenüberstand: Das ist ein Mann. Obwohl er sich ihrer Blicke nicht bewusst war, empfand Alfred in seinem Innern das Gleiche, was die Frauen von außen sahen. Am Tage fühlte er sich als Mann, und er machte daraus keinen Hehl, ja man könnte fast sagen, er stellte es zur Schau, indem er freihändig auf hohen, schmalen Simsen balancierte und zehn, zwölf Stunden ohne Pause arbeitete und über die Verweichlichungssymptome einer östlichen Eisenbahn Buch führte.
In der Nacht war das anders. Nachts lag er wach auf Matratzen, die wie aus Pappe waren, und führte Buch über die Unzulänglichkeiten der Menschheit. In jedem Motel schien er Nachbarn zu haben, die Unzucht trieben, als gebe es kein Morgen — Männer mit schlechten Manieren und mangelnder Disziplin, Frauen, die kicherten und schrien. Um ein Uhr nachts in Erie, Pennsylvania, lärmte und stöhnte ein Mädchen im Zimmer nebenan wie eine Dirne. Irgendein schmieriger, nichtsnutziger Kerl, der mit ihr machte, was er wollte. Alfred verübelte es der Frau, dass sie es hinnahm. Er verübelte es dem Mann, dass er — lass dir Zeit — solch eine gelassene Dreistigkeit besaß. Er verübelte es beiden, dass sie nicht einmal rücksichtsvoll genug waren, ihre Stimmen zu senken. Wie war es möglich, dass sie nicht ein einziges Mal an ihren Nachbarn dachten, der wach im Nebenzimmer lag? Er verübelte es Gott, dass er solche Menschen existieren ließ. Er verübelte es der Demokratie, dass sie ihn mit solchen Menschen behelligte. Er verübelte es dem Motelarchitekten, dass er einer einzigen Schicht Löschbeton zutraute, die Nachtruhe zahlender Gäste zu gewährleisten. Er verübelte es der Motelleitung, dass sie kein Zimmer für leidende Gäste bereithielt. Er verübelte es den frivolen, leichtlebigen Footballfans aus Washington, Pennsylvania, dass sie 250 Kilometer gefahren waren, um sich ein Highschool-Meisterschaftsspiel anzuschauen, und alle Motelzimmer in Nordwest-Pennsylvania belegt hatten. Er verübelte es den anderen Motelgästen, dass sie die Hurerei so gleichgültig ertrugen, er verübelte es der gesamten Menschheit, dass sie so unsensibel war; er fand es dermaßen ungerecht. Er fand es ungerecht, dass die Welt imstande war, nicht die geringste Rücksicht auf einen Mann zu nehmen, der so viel Rücksicht auf sie nahm. Niemand arbeitete härter als er, niemand gab einen ruhigeren Motelgast ab, niemand stand mehr seinen Mann als er, und dennoch war es den Windhunden dieser Welt erlaubt, ihm mit ihren unanständigen Machenschaften den Schlaf zu rauben…
Er wollte auf keinen Fall weinen. Er glaubte, wenn er sich selbst um zwei Uhr nachts, in einem nach Rauch riechenden Motelzimmer, weinen hörte, wäre das das Ende der Welt. Disziplin wenigstens hatte er. Die Kraft zu widerstehen: Die hatte er.
Doch dass er sich dann übte, wurde ihm nicht gedankt. Das Bett im Nachbarzimmer polterte gegen die Wand, während der Mann wie ein Schmierenkomödiant stöhnte und das Mädchen jaulend nach Luft japste. Und jede Kellnerin in jeder Stadt hatte kugelförmige, unzureichend in eine mit Monogramm bestickte Bluse eingeknöpfte Brüste und beugte sich mit voller Absicht über ihn.
«Noch Kaffee, mein Hübscher?»
«Äh, ja bitte.»
«Wirst ja rot, Herzblatt, oder is das nur, weil grad die Sonne aufgeht?»
«Ich würde jetzt gern zahlen, danke.»
Und im Olmsted-Hotel in Cleveland ertappte er einen Portier und ein Zimmermädchen dabei, wie sie im Treppenhaus laszive Küsse tauschten. Und die Gleise, die er sah, wenn er die Augen zumachte, waren ein Reißverschluss, den er unablässig öffnete, und die Signale sprangen, sobald er sie passiert hatte, hinter seinem Rücken von abweisendem Rot auf williges Grün, und in einem durchhängenden Bett in Fort Wayne fielen schaurige Sukkuben über ihn her, Frauen, deren ganze Körper — auch die Kleider, die lächelnden Münder, die übereinander geschlagenen Beine — , etwas Provozierendes ausdünsteten, als wären es Vaginen, und bis an die Oberfläche seines Bewusstseins (bloß nicht das Bett beschmutzen!) trieb er den Embolus seines aufsteigenden Samens, sodass, als er bei Sonnenaufgang in Fort Wayne erwachte, ein kochend heißes Nichts in seine Pyjamahose sickerte; alles in allem ein Sieg, hatte er doch den Sukkuben immerhin seine Befriedigung verweigert. Aber in Buffalo hatte der Bahnhofsvorsteher ein Poster von Brigitte Bardot an seiner Bürotür hängen, und im Motel in Youngstown fand Alfred eine schmutzige Illustrierte unter dem Telefonbuch, und in Hammond, Indiana, saß er auf einem Nebengleis fest, während ein Güterzug vorbeifuhr, und unmittelbar zu seiner Linken übten College-Cheerleader auf dem Spielfeld Spagat, wobei das blondeste Mädchen im Schritt regelrecht wippte, als habe es vor, den von Spikes zerfressenen Rasen mit ihrer baumwollbedeckten Vulva zu küssen, und der Dienstwaggon schaukelte kess, als der Güterzug endlich auf dem Gleis verschwand: Anscheinend hatte es die ganze Welt darauf angelegt, einen tugendhaften Mann zu quälen.
In einem eigens für leitende Angestellte bestimmten Waggon, der an einen Intercity-Güterzug angehängt wurde, kehrte er nach St. Jude zurück, und von der Union Station aus nahm er den Nahverkehrszug hinaus in die Vororte. In den Straßen zwischen dem Bahnhof und seinem Haus fielen bereits die letzten Blätter von den Bäumen. Es war die Jahreszeit, in der alles wirbelte, auf den Winter zuwirbelte. Kavallerien von Laub schwenkten auf den strapazierten Rasenflächen hierhin und dorthin. Er blieb auf der Straße stehen und betrachtete das Haus, das ihm und einer Bank gehörte. Die Rinnsteine waren mit Zweigen und Eicheln verstopft, die Chrysanthemenbeete vom Mehltau vernichtet. Ihm fiel ein, dass seine Frau wieder schwanger war. Die Monate trieben ihn auf ihrem starren Gleis vorwärts, brachten ihn dem Tag näher, an dem er Vater dreier Kinder sein würde, dem Jahr, in dem er seine Hypothek abbezahlt hätte, der Zeit seines Todes.
«Schöner Koffer», sagte Chuck Meisner durch das Fenster seines Fairlane, während er auf der Straße neben ihm abbremste.
«Eine Sekunde lang dachte ich, du wärst der Bürstenverkäufer.»
«Chuck», sagte Alfred überrascht. «Hallo.»
«Der eine Eroberung plant. Weil der Ehemann ständig verreist ist.»
Alfred lachte, weil man darauf nicht anders reagieren konnte. Er und Chuck trafen sich oft auf der Straße, der Ingenieur in Habtachtstellung, der Bankier bequem hinterm Steuer. Alfred im Anzug, Chuck in Golfkleidung. Alfred schlank und streng frisiert. Chuck glanzköpfig, schlaffbrüstig. In der Zweigstelle, die er leitete, verbrachte Chuck nicht allzu viele Stunden; dennoch betrachtete Alfred ihn als Freund. Chuck hörte ihm wirklich zu, schien beeindruckt von der Arbeit, die er leistete, und achtete ihn als einen Mann mit einzigartige n Fähigkeiten.
«Hab Enid am Sonntag in der Kirche gesehen», sagte Chuck. «Sie hat mir erzählt, du wärst schon seit einer Woche weg.»
«Elf Tage war ich unterwegs.»
«Ein Notfall?»
«Eigentlich nicht», sagte Alfred stolz. «Ich habe jeden einzelnen Gleiskilometer der Erie Belt Railroad inspiziert.»
«Erie Belt. Hm.» Chuck, die Hände im Schoß, hakte seine Daumen am Lenkrad ein. Er war der lässigste und zugleich wachsamste Autofahrer, den Alfred kannte. «Du machst deine Arbeit gut, Al», sagte er. «Du bist ein fabelhafter Ingenieur. Es muss also einen Grund geben, warum ausgerechnet die Erie Belt.»
«Gibt es auch», sagte Alfred. «Die Midpac wird sie kaufen.»
Der Motor des Fairlane nieste einmal, so ähnlich wie ein Hund. Chuck war auf einer Farm in der Nähe von Cedar Rapids aufgewachsen, und sein optimistisches Naturell wurzelte in dem tiefen, gut bewässerten Mutterboden Ost-Iowas. Farmer in Ost-Iowa lernten gar nicht erst, der Welt zu misstrauen. Wohingegen jeder Boden, der irgendeine Hoffnung in Alfred hätte nähren können, bei der einen oder anderen Dürre in West-Kansas verweht war.
«Aha», sagte Chuck. «Dann wird's wohl auch eine offizielle Mitteilung gegeben haben.»
«Nein. Keine Mitteilung.»
Chuck nickte und schaute an Alfred vorbei zum Lambert'schen Haus. «Enid wird sich freuen, dich wieder zu sehen. Ich glaube, sie hat eine schwere Woche hinter sich. Die Jungen waren krank.»
«Du behältst das bitte für dich.»
«Al, Al, Al.»
«Ich würde niemandem außer dir davon erzählen.»
«Nett von dir. Du bist ein guter Freund und ein guter Christ. Und mir bleibt ungefähr für vier Löcher Tageslicht, wenn ich vorher noch die Hecke da zurückschneiden will.»
Der Fairlane setzte sich in Bewegung, und Chuck lenkte ihn, als wähle er seinen Broker an, mit einem Zeigefinger in die Einfahrt.
Alfred hob seinen Koffer und seine Aktentasche auf. Seine Enthüllung, gerade eben, war zugleich spontan und alles andere als spontan gewesen. Eine jähe Anwandlung von Wohlwollen und Dankbarkeit gegenüber Chuck, ein berechnetes Herauslassen der Wut, die seit elf Tagen in ihm angeschwollen war. Da reist ein Mann dreitausend Kilometer weit und kann die letzten zwanzig Schritte nicht gehen, ohne etwas zu tun das -
Aber es war doch unwahrscheinlich, dass Chuck diese Information missbrauchen würde -
Als er durch die Küchentür ins Haus trat, sah Alfred rohe Kohlrübenstücke in einem Topf Wasser, ein mit Gummiband zusammengehaltenes Bündel Mangold und irgendein rätselhaftes Fleisch in braunem Schlachterpapier. Und eine gewöhnliche Zwiebel, die offenbar gebraten und als Beilage serviert werden sollte, nur wozu — Leber?
Auf dem Boden neben der Kellertreppe war ein Nest aus Zeitschriften und Marmeladengläsern.
«Al?», rief Enid aus dem Keller.
Er stellte den Koffer und die Aktentasche hin, bückte sich nach den Zeitschriften und Marmeladengläsern und trug sie die Treppe hinunter.
Enid stellte das Eisen auf dem Bügelbrett ab und kam aus der Waschküche. Sie hatte Schmetterlinge im Bauch — ob vor Freude oder vor Angst, dass Als Zorn sie treffen oder sie selbst zornig werden könnte, wusste sie nicht.
Ohne Umschweife rief er sie zur Ordnung. «Worum hatte ich dich gebeten, bevor ich wegfuhr?»
«Du bist früh dran», sagte sie. «Die Jungen sind noch im Y.»
«Welchen einen Gefallen solltest du mir während meiner Abwesenheit tun?»
«Ich bin mit der Wäsche im Hintertreffen. Die Jungen waren krank.»
«Erinnerst du dich nicht», sagte er, «dass ich dich gebeten hatte, das Gerumpel oben an der Treppe wegzuschaffen? Dass das der eine — der einzige — Gefallen war, den du mir während meiner Abwesenheit tun solltest?»
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er in sein Metallurgielabor und warf die Zeitschriften und Marmeladengläser in einen strapazierfähigen Mülleimer. Er nahm einen schlecht ausbalancierten Hammer aus dem Hammerregal, einen grob geschmiedeten Neandertalerknüppel, den er hasste und nur für Zerstörungszwecke aufbewahrte, und zertrümmerte systematisch jedes einzelne Marmeladenglas. Ein Splitter traf ihn an der Wange, woraufhin er noch wütender ausholte, um die Scherben in immer kleinere Scherben zu zerschmettern, doch sosehr er auch hämmerte, nichts konnte seine Indiskretion gegenüber Chuck Meisner oder die grasfeuchten Dreiecke der Cheerleader-Trikots ausmerzen.
Enid hörte von ihrem Standort am Bügelbrett aus zu. Sonderlich begeistert war sie nicht davon, wie sich ihr dieser Augenblick präsentierte. Dass ihr Mann elf Tage zuvor die Stadt verlassen hatte, ohne ihr einen Abschiedskuss zu geben, hatte sie immerhin halbwegs vergessen können. Solange der leibhaftige Al abwesend war, hatte sie ihre niederen Ressentiments alchimistisch in das Gold der Sehnsucht und Reue verwandelt. Ihr schwellender Bauch, die Freuden des vierten Monats, die Zeit allein mit ihren hübschen Jungen, der Neid ihrer Nachbarinnen, all dies waren farbenfrohe Tränke, über denen sie den Zauberstab ihrer Einbildungskraft schwang. Noch als Al die Treppe herunterkam, hatte sie sich Entschuldigungen ausgemalt, Wiedersehensküsse, einen Blumenstrauß vielleicht. Jetzt hörte sie zerbrochenes Glas quer schießen und Hammerschläge auf dickes, verzinktes Eisenblech treffen, die missmutigen, schrillen Schreie harter Materialien im Widerstreit. Die Zaubertränke mochten farbenfroh gewesen sein, doch leider (das merkte sie jetzt) waren sie, in chemischer Hinsicht, reaktionsträge. Nichts hatte sich wirklich geändert.
Es stimmte, dass Al sie gebeten hatte, die Gläser und Zeitschriften wegzuräumen, und vermutlich gab es irgendein Wort dafür, wie sie in den vergangenen elf Tagen an diesen Gläsern und Zeitschriften vorbeimarschiert, ja oft beinahe darüber gestolpert war; ein psychiatrisches Wort mit vielen Silben vielleicht, vielleicht auch ein einfaches Wort wie «Trotz». Aber ihr schien, sie habe ihm mehr als «einen einzigen Gefallen» tun sollen, während er fort war. Er hatte sie auch gebeten, den Jungen drei Mahlzeiten am Tag vorzusetzen und sie zu kleiden und ihnen vorzulesen und sie gesund zu pflegen und den Küchenfußboden zu schrubben und die Bettwäsche zu waschen und seine Hemden zu bügeln, und all dies ohne die Küsse und freundlichen Worte eines Ehemanns. Sooft sie versuchte, ein wenig Anerkennung für ihre Mühen zu bekommen, fragte Al sie nur, wessen Mühen es denn zu verdanken sei, dass sie das Haus und die Mahlzeiten und die Wäsche überhaupt bezahlen könnten? Unerheblich, dass seine Arbeit ihn erfüllte und er ihre Liebe daher gar nicht nötig hatte, während ihre Pflichten sie derart langweilten, dass sie seine Liebe doppelt brauchte. Bei jeder nüchternen Betrachtung wog seine Arbeit die ihre auf.
Vielleicht hätte sie ihn, da er sie um «einen einzigen Gefallen» zusätzlich gebeten hatte, der bloßen Gerechtigkeit halber ebenfalls um «einen einzigen Gefallen» zusätzlich bitten sollen. Sie hätte ihn zum Beispiel bitten können, sie ein einziges Mal von unterwegs aus anzurufen. Womöglich aber hätte er ihr entgegengehalten, dass «jemand über diese Zeitschriften stolpern und sich verletzen» könne, während schließlich niemand darüber stolpere, niemand sich verletze, wenn er nicht von unterwegs aus anrufe. Und der Firma seine Ferngespräche in Rechnung zu stellen sei außerdem ein Missbrauch seines Spesenkontos («Für Notfälle hast du meine Büronummer»), weswegen so ein Telefonat ihren Privathaushalt eine ganze Menge Geld kosten würde, während es keinen Penny koste, Müll in den Keller zu tragen, und darum hatte sie immer Unrecht, und es war demoralisierend, ewig in diesem Kellerloch des Unrechthabens zu hausen und ewig darauf zu warten, dass jemand sich ihrer in diesem Kellerloch erbarmte, und darum war es eigentlich kein Wunder, dass sie die Zutaten für ein Rachemahl bereits eingekauft hatte. Unterwegs in die Küche, wo sie dieses Mahl zubereiten wollte, hielt sie auf halber Treppe inne und seufzte.
Alfred hörte ihr Seufzen und nahm an, es habe mit «Wäsche» und «im vierten Monat schwanger» zu tun. Da aber seine eigene Mutter noch im achten Monat ihrer Schwangerschaft ein Gespann Ackergäule auf einem sieben Hektar großen Feld herumgetrieben hatte, hielt sich sein Mitgefühl in Grenzen. Er betupfte seine Wange mit blutstillendem Ammonium-Alummiumsulfat-Puder.
Von der Haustür kam ein Poltern kleiner Schritte, dann ein behandschuhtes Klopfen: Bea Meisner, die ihre Menschenfracht zurückbrachte. Enid eilte den Rest der Stufen hinauf, um die Lieferung in Empfang zu nehmen. Gary und Chipper, ihrem Fünft- und ihrem Erstklässler, haftete noch der Chlorgeruch des Y an. Mit ihrem feuchten Haar sahen sie ufertierhaft aus. Bisamrattig. Biberisch. Sie rief Beas Rücklichtern ein Danke nach.
So schnell sie, ohne zu rennen, konnten (Rennen war im Haus verboten), gingen die Jungen in den Keller, warfen ihre klitschnassen Frotteebündel in die Waschküche und trafen im Labor auf ihren Vater. Es lag in ihrer Natur, die Arme um ihn zu schlingen, doch diese Natur war aus ihnen herauskorrigiert worden. Sie blieben stehen und warteten, wie Untergebene in einer Firma, bis der Boss sprach.
«Nun!», sagte er. «Ihr wart also schwimmen.»
«Ich bin ein Delphin!», rief Gary. Er war ein rätselhaft fröhlicher Junge. «Ich hab das Delphinabzeichen geschafft!»
«Ein Delphin. Soso.» Zu Chipper, dem das Leben ungefähr seit seinem zweiten Lebensjahr in erster Linie tragische Perspektiven eröffnet hatte, sagte der Boss etwas sanfter: «Und du, Junge?»
«Wir haben Schwimmbretter benutzt», sagte Chipper.
«Er ist eine Kaulquappe», sagte Gary.
«So. Ein Delphin und eine Kaulquappe. Und welche besonderen Fähigkeiten hast du jetzt, wo du ein Delphin bist, der Arbeitswelt anzubieten?»
«Scherenschlag.»
«Ich wünschte, ich hätte in meiner Kindheit auch so ein schönes großes Schwimmbad gehabt», sagte der Boss, obwohl das Schwimmbad im Y, soviel er wusste, weder schön noch groß war. «Bis ich am Ufer des Platte River stand, habe ich, wenn ich mich recht erinnere, außer einer schlammigen Kuhschwemme kein Gewässer gesehen, das tiefer als einen Meter war. Und da muss ich schon fast zehn gewesen sein.»
Seine jugendlichen Untergebenen waren nicht bei der Sache. Sie traten von einem Fuß auf den anderen, Gary vorsichtig lächelnd, als hoffe er auf irgendeine glückliche Wendung des Gesprächs, während Chipper ungeniert das Labor begaffte, das Sperrgebiet war, solange sich der Boss nicht selbst darin aufhielt. Die Luft hier schmeckte nach Stahlwolle.
Alfred betrachtete seine beiden Untergebenen mit ernster Miene. Verbrüderungen fielen ihm von jeher schwer. «Habt ihr eurer Mutter schon in der Küche geholfen?», fragte er.
Wenn Chipper irgendetwas nicht interessierte, wie zum Beispiel jetzt, dachte er an Mädchen, und wenn er an Mädchen dachte, verspürte er eine Woge der Hoffnung. Auf den Schwingen dieser Hoffnung schwebte er aus dem Labor und die Treppe hinauf.
«Frag mich, was neun mal dreiundzwanzig ist», forderte Gary den Boss auf.
«Na schön», sagte Alfred. «Wie viel ist neun mal dreiundzwanzig?»
«Zweihundertsieben. Frag mich noch was.»
«Wie viel ist dreiundzwanzig im Quadrat?»
In der Küche wälzte Enid das prometheische Fleisch in Mehl und legte es in eine elektrische Westinghouse-Pfanne, die groß genug war, dass man drei mal drei Eier in Tic-Tac-Toe-Formation gleichzeitig darin braten konnte. Ein Aluminiumdeckel klapperte, als das Kohlrübenwasser abrupt zu kochen begann.
Früher am Tag hatte ein halbes Paket Speck im Kühlschrank sie auf Leber gebracht, die graubraune Leber hatte sie auf eine leuchtend gelbe Beilage gebracht, und so hatte das Mahl Gestalt angenommen. Dummerweise waren, als sie den Speck herausholte, anstelle der sechs oder acht Streifen, die sie vor Augen gehabt hatte, nur drei da gewesen. Nun versuchte sie angestrengt zu glauben, dass drei Streifen Speck für die ganze Familie reichen würden.
«Was ist das?», fragte Chipper alarmiert.
«Leber mit Speck!»
Chipper ging rückwärts aus der Küche und schüttelte mit heftigem Widerwillen den Kopf. Manche Tage waren gleich vom ersten Augenblick an scheußlich; seine Frühstücksflocken waren mit Dattelstücken übersät, die wie zerhackte Küchenschaben aussahen; bläuliche Inhomogenitätswirbel in seiner Milch; nach dem Frühstück ein Arzttermin. Andere Tage, wie der hier, offenbarten ihre ganze Scheußlichkeit erst, wenn sie schon fast vorbei waren.
Er wankte durchs Haus und sagte immer wieder: «iih, furchtbar, iih, furchtbar, iih, furchtbar…»
«In fünf Minuten gibt's Essen, Hände waschen!», rief Enid.
Durchgebratene Leber roch nach Fingern, die schmutzige Geldstücke angefasst hatten.
Im Wohnzimmer kam Chipper zur Ruhe, und in der Hoffnung, einen Blick auf Cindy Meisner in ihrem Esszimmer zu erhaschen, drückte er sein Gesicht an die Fensterscheibe. Auf dem Rückweg vom Y hatte er neben Cindy gesessen und das Chlor an ihr gerochen. Ein durchnässtes Pflaster hatte an ein paar Klebstoffresten von ihrem Knie gehangen.
Tschucker-tschucker-tschucker ging Enids Quetsche im Topf mit den süßen, bitteren, wässrigen Kohlrüben herum.
Alfred wusch sich im Badezimmer die Hände, gab Gary die Seife und trocknete sich mit einem kleinen Handtuch ab.
«Stell dir ein Quadrat vor», sagte er.
Enid wusste, dass Alfred Leber verabscheute, aber das Fleisch steckte voll gesundem Eisen, und was Alfred sonst als Ehemann auch zu wünschen übrig ließ, niemand konnte behaupten, dass er sich nicht an die Spielregeln hielt. Die Küche war ihr Reich, und dort ließ er sie walten.
«Chipper, hast du dir die Hände gewaschen?»
Chipper dachte, dass er vor diesem Essen gerettet wäre, wenn er Cindy nur noch einmal einen Augenblick sehen könnte. Er malte sich aus, bei ihr im Haus zu sein und mit ihr nach oben zu gehen. Er malte sich ihr Zimmer als eine Zuflucht vor aller Gefahr und Verantwortung aus.
«Chipper?»
«Du quadrierst A, du quadrierst B und addierst dann zweimal die Summe von A und B», erklärte Alfred Gary, als sie sich an den Tisch setzten.
«Chipper, wasch dir lieber die Hände», warnte Gary.
Alfred stellte sich ein Quadrat vor:
«Tut mir Leid, der Speck ist ein bisschen knapp», sagte Enid. «Ich dachte, ich hätte mehr.»
Im Badezimmer widerstrebte es Chipper, sich die Hände nass zu machen; er hatte Angst, sie nie wieder trocken zu bekommen. Er ließ das Wasser laufen, hörbar, während er sich mit einem Handtuch die Hände abrubbelte. Dass es ihm nicht gelungen war, einen Blick auf Cindy zu erhaschen, hatte ihn ziemlich aus der Fassung gebracht.
«Wir hatten beide hohes Fieber», berichtete Gary. «Und Chipper taten auch noch die Ohren weh.»
Braune, fettgetränkte Mehlflocken pappten auf den Eisenleberlappen wie eine Korrosionsschicht. Auch der Speck, das bisschen, was noch da war, hatte die Farbe von Rost.
Chipper stand zitternd in der Badezimmertür. Wenn man es gegen Ende des Tages mit etwas Grässlichem zu tun bekam, brauchte man eine Weile, um dessen volles Ausmaß zu erfassen. Manche Grässlichkeiten hatten eine scharfe Kurve, die man rasch nehmen konnte. Andere hatten fast überhaupt keine Kurve, und es war von vornherein klar, dass es Stunden dauern würde, um die Ecke zu biegen. Riesige, mordsmäßige, planetengroße Grässlichkeiten. Dieses Rachemahl war so eine.
«Wie war deine Reise», fragte Enid Alfred, denn irgendwann musste das ja sein.
«Anstrengend.»
«Chipper, Herzchen, wir sitzen alle schon am Tisch.»
«Ich zähle bis fünf», sagte Alfred.
«Es gibt Speck, Speck magst du doch», sang Enid. Das war Betrug, ein zynischer Notbehelf, einer der hundert täglichen Momente, in denen ihr bewusst war, dass sie als Mutter versagte.
«Zwei, drei, vier», sagte Alfred.
Chipper rannte zu seinem Platz am Tisch. Sinnlos, Prügel zu riskieren.
«Kommer Jesus seiunsergas un segneas duuns beschered has. Amen», sagte Gary.
Ein Fladen zerstampfter Kohlrüben, der auf einer Platte ruhte, sonderte eine klare gelbliche Flüssigkeit ab, Blutplasma oder dem Inhalt einer Brandblase ähnlich. Aus den gekochten Mangoldblättern sickerte Kupfernes, Grünliches. Der Kapillareffekt und die durstige Mehlkruste saugten beide Flüssigkeiten unter die Leber. Als die Leber hochgenommen wurde, schmatzte es leise. Die aufgeweichte untere Kruste war unbeschreiblich.
Chipper malte sich ein Leben als Mädchen aus. Sacht durchs Leben zu gehen, eine Meisner zu sein, in jenem Haus zu spielen und wie ein Mädchen geliebt zu werden.
«Willst du das Gefängnis sehen, das ich aus Eisstielen gebaut habe?», fragte Gary.
«Ein Gefängnis, soso», sagte Alfred.
Weder aß der vorausschauende junge Mensch seinen Speck sofort, noch ließ er zu, dass die Gemüsesäfte ihn aufweichten. Der vorausschauende junge Mensch evakuierte den Speck, legte ihn, ein wenig erhöht, auf den Tellerrand und bewahrte ihn dort als Ansporn auf. Der vorausschauende junge Mensch aß, um sich vorab etwas zu gönnen, seinen Happen gebratener Zwiebeln, die nicht gerade köstlich, aber auch nicht schlecht waren.
«Wir hatten gestern ein Pfadfindertreffen», sagte Enid. «Gary, Herzchen, wir können uns dein Gefängnis nach dem Essen anschauen.»
«Er hat einen elektrischen Stuhl gebaut», sagte Chipper. «Für sein Gefängnis. Ich hab ihm dabei geholfen.»
«Ah, ja? Soso.»
«Mom hat solche riesigen Kisten mit Eisstielen gekauft»,
sagte Gary.
«Das haben wir dem Rudel zu verdanken», sagte Enid. «Das Rudel bekommt Rabatt.»
Alfred hielt nicht viel vom Rudel. Ein Haufen Väter, die sich immer schön Zeit ließen. Die Aktivitäten, die das Rudel sponserte, waren harmlos: Wettbewerbe, in denen Flugzeuge aus Balsaholz gebastelt wurden, Autos aus Kiefernholz oder Züge aus Papier, mit Güterwaggons aus alten Büchern.
(Schopenhauer: Um allezeit einen sichern Kompass zur Orientierung im Leben bei der Hand zu haben, und um dasselbe, ohne je irre zu werden, stets im richtigen Lichte zu erblicken, ist nichts tauglicher, als dass man sich angewöhne, diese Welt zu betrachten als einen Ort der Buße, also gleichsam als eine Strafanstalt.)
«Gary, was bist du noch mal?», fragte Chipper, für den Gary ein Muster an Schneid war. «Bist du ein Wolf?»
«Noch eine gute Tat, und ich bin ein Bär.»
«Aber was bist du jetzt, ein Wolf?»
«Ein Wolf, aber eigentlich schon ein Bär. Ich muss nur noch Umweltschmutz machen.»
«Umweltschutz», korrigierte ihn Enid. «Ich brauche nur noch Umweltschutz zu machen.»
«Nicht Umweltschmutz?»
«Steve Driblett hat eine Gijotine gebaut, aber die hat nicht funktioniert», sagte Chipper.
«Driblett ist ein Wolf.»
«Brent Person hat ein Flugzeug gebaut, aber das ist zusammengekracht.»
«Person ist ein Bär.»
«Sag gebrochen, Liebling, nicht gekracht.»
«Gary, was ist der größte Feuerwerkskörper, den es gibt?», fragte Chipper.
«Kanonenschlag. Dann Blitzbomben.»
«Wäre es nicht toll, einen Kanonenschlag zu kaufen und damit dein Gefängnis in die Luft zu jagen?»
«Junge», sagte Alfred, «ich habe dich noch keinen Bissen essen sehen.»
Chipper wurde zeremonienmeisterlich weitschweifig; für den Moment war das Essen gar nicht real. «Oder sieben Kanonenschläge» sagte er, «die könnte man dann alle gleichzeitig losgehen lassen, oder einen nach dem anderen, wäre das nicht toll?»
«Ich würde in jede Ecke eine Sprengladung tun und ganz viel Zündschnur nehmen», sagte Gary. «Dann würde ich die Zündschnüre verbinden und alles gleichzeitig explodieren lassen. Dad, das wäre doch das Beste, oder? Die Sprengladung teilen und mehr Zündschnur nehmen.»
«Siebentausendhundert Millionen Kanonenschläge», rief Chipper. Er machte Explosionsgeräusche, um die Megatonnensprengkraft anzudeuten, die ihm vorschwebte.
«Chipper», sagte Enid, elegant ablenkend, «erzähl Dad doch mal, was wir nächste Woche alle zusammen vorhaben.»
«Die Pfadfinder gehen nächste Woche ins Verkehrsmuseum, und ich darf mit», trug Chipper vor.
«Ach, Enid.» Alfred machte ein säuerliches Gesicht. «Warum nimmst du sie denn da mit hin?»
«Bea sagt, für Kinder ist das sehr interessant und spannend.»
Alfred schüttelte ungehalten den Kopf. «Was weiß Bea Meisner schon über Verkehr?»
«Für einen Pfadfinderausflug ist es genau das Richtige», sagte Enid. «Es gibt dort eine echte Dampflok, in die sich die Jungen setzen können.»
«Was sie da haben», sagte Alfred, «ist eine dreißig Jahre alte Mohawk von der New York Central Station. Das ist kein Liebhaberstück. Nicht einmal eine Rarität. Das ist reiner Schrott.
Wenn die Jungen sehen wollen, was eine richtige Eisenbahn ist — »
«Man könnte am elektrischen Stuhl eine Batterie und zwei Elektroden anbringen», sagte Gary.
«Oder einen Kanonenschlag!»
«Nein, Chipper, man lässt Strom fließen, und der Strom tötet den Gefangenen.»
«Was ist Strom?»
Strom floss, wenn man Elektroden aus Zink und Kupfer in eine Zitrone steckte und sie miteinander verband.
In was für einer säuerlichen Welt Alfred lebte. Wenn sein Blick zufällig in einen Spiegel fiel, stellte er erschrocken fest, wie jung er noch aussah. Der verkniffene Mund hämorrhoidengeplagter Lehrer, die permanent missmutig geschürzten Lippen arthritischer Männer: Manchmal schmeckte er diese Züge, obwohl er körperlich in Bestform war, in seinem eigenen Mund, schmeckte das Saurerwerden des Lebens.
Deshalb mochte er üppige Nachtische. Pekannusstorte. Apfelstreusel. Ein wenig Süße in der Welt.
«Sie haben da zwei Lokomotiven und einen echten Dienstwaggon!», sagte Enid.
Alfred hatte den Eindruck, dass das Echte und das Wahre zu einer Minderheit gehörten, die bald ausgelöscht wäre. Es ärgerte ihn schwarz, dass Romantiker wie Enid nicht zwischen echt und unecht unterscheiden konnten: zwischen einem minderwertigen, dürftig bestückten kommerziellen «Museum» und einer echten, redlichen Eisenbahn «Man muss mindestens ein Fisch sein.»
«Die Jungen freuen sich schon alle darauf.»
«Ich könnte ein Fisch sein.»
Die Mohawk, der Stolz des neuen Museums, war offensichtlich ein romantisches Symbol. Heutzutage schien man es der Eisenbahn zu verübeln, dass sie die romantische Dampfkraft zugunsten von Diesel aufgegeben hatte. Die Leute hatten keinen blassen Dunst davon, was es hieß, eine Eisenbahn zu betreiben. Eine Diesellok war vielseitig einsetzbar, effizient und pflegeleicht. Die Leute dachten, die Eisenbahn sei dazu da, ihnen einen romantischen Gefallen zu tun, aber wenn dann die Bahn nicht schnell genug fuhr, bekamen sie sofort Bauchschmerzen. Genau so waren die meisten Leute — dumm.
(Schopenhauer: "Zu den Übeln einer Strafanstalt gehört denn auch die Gesellschaft, welche man daselbst antrifft.)
Zugleich fand Alfred es unerträglich, zu sehen, wie die gute alte Dampflok in Vergessenheit geriet. Sie war ein wunderschönes Stahlross, und indem das Verkehrsmuseum die Mohawk ausstellte, erlaubte es den leichtlebigen Müßiggängern aus den Vororten von St. Jude, auf ihrem Grab zu tanzen. Stadtmenschen hatten kein Recht, das alte Stahlross so zu vereinnahmen. Sie standen nicht auf vertrautem Fuß mit ihm wie Alfred. Sie hatten sich nicht wie er dort oben im nordwestlichen Winkel von Kansas, wo es die einzige Verbindung zur Außenwelt war, in dieses Stahlross verliebt. Er verachtete das Museum und seine Besucher für all ihre Ignoranz.
«Es gibt dort auch eine Modelleisenbahn, die einen ganzen Raum einnimmt!», sagte Enid unerbittlich. Und die gottverdammten Modellbahner, ja, all die verdammten Freizeitbastler. Enid wusste ganz genau, was er von diesen Dilettanten und ihren unnützen, unglaubwürdigen Modellanlagen hielt.
«Einen ganzen Raum?», fragte Gary skeptisch. «Wie groß?»
«Wäre es nicht toll, wenn man ein paar Kanonenschläge auf eine, ähm, eine, ähm, eine Modellbahnbrücke legen würde? Kraa-WUMMHM! Ziong! Ziong!»
«Chipper, iss jetzt, was auf deinem Teller ist. Sofort», sagte Alfred.
«Groß groß groß», sagte Enid. «Das Modell ist viel viel viel viel größer als das, das euer Vater euch gekauft hat.»
«Sofort», sagte Alfred. «Hörst du mich? Sofort.»
Zwei Seiten des quadratischen Tisches waren guter Dinge, die beiden anderen nicht. Gary erzählte eine belanglose, nette Geschichte über einen Jungen in seiner Klasse, der drei Kaninchen hatte, während Chipper und Alfred, Zwillingsstudien in Sachen Trübsal, die Blicke auf ihre Teller richteten. Enid marschierte in die Küche, um mehr Kohlrüben zu holen.
«Ich weiß ja, wen ich nicht zu fragen brauche, ob er noch einen Nachschlag will», sagte sie, als sie zurückkehrte.
Alfred warf ihr einen warnenden Blick zu. Sie hatten sich zum Wohle der Kinder geeinigt, nie etwas von Alfreds Abneigung gegen Gemüse und gewisse Fleischsorten verlauten zu lassen.
«Ich nehm noch was», sagte Gary.
Chipper hatte einen Kloß im Hals, eine derart festsitzende Verzweiflung, dass er sowieso nicht viel hinuntergebracht hätte. Aber als er seinen Bruder frohgemut einen zweiten Teller des Rachemahls verspeisen sah, wurde er wütend und begriff einen Augenblick lang, dass er sein ganzes Essen in null Komma nichts verdrückt haben könnte, seiner Pflichten entbunden wäre und seine Freiheit wieder hätte, und so nahm er tatsächlich seine Gabel in die Hand und machte sich an den runzligen Haufen Kohlrüben heran, verwickelte ein kleines bisschen davon in die Gabelzacken und führte es zum Mund. Doch die Kohlrüben rochen kariös und waren schon kalt — sie hatten die Beschaffenheit und Temperatur nassen Hundedrecks an einem kühlen Morgen — , und in einem Würgereflex, der ihm das Rückgrat krümmte, krampften sich seine Eingeweide zusammen.
«Ich liebe Kohlrüben», sagte Gary unfassbarerweise.
«Ich könnte mich allein von Gemüse ernähren», behauptete Enid.
«Mehr Milch», sagte Chipper, schwer atmend.
«Chipper, halt dir doch einfach die Nase zu, wenn's dir nicht schmeckt», sagte Gary.
Alfred steckte sich Bissen für Bissen der abscheulichen Rache in den Mund, kaute rasch und schluckte mechanisch, wobei er sich sagte, dass er schon Schlimmeres durchgemacht hatte.
«Chip», sagte er, «du nimmst von allem einen Bissen. Vorher stehst du nicht vom Tisch auf.»
«Mehr Milch.»
«Erst isst du etwas. Hast du verstanden?»
«Milch.»
«Zählt es auch, wenn er sich die Nase zuhält?», fragte Gary.
«Mehr Milch, bitte.»
«Es reicht jetzt gleich», sagte Alfred.
Chipper verstummte. Sein Blick wanderte im Kreis auf seinem Teller herum, doch er war nicht vorausschauend gewesen, und nun herrschte dort nichts als das blanke Elend. Er hielt sein Glas schräg und half schweigend einem sehr kleinen Tropfen warmer Milch nach, in seinen Mund zu rinnen. Streckte ihm zur Begrüßung die Zunge entgegen.
«Chip, stell das Glas hin.»
«Vielleicht könnte er sich die Nase zuhalten und dafür zwei Bissen von allem essen.»
«Das Telefon klingelt. Gary, du darfst abnehmen.»
«Was gibt's zum Nachtisch?», fragte Chipper.
«Ich habe schöne frische Ananas für euch.»
«Also, um Himmels willen, Enid — »
«Was denn?» Sie zwinkerte unschuldig oder gespielt unschuldig.
«Du kannst ihm wenigstens einen Keks oder ein Eskimo — Törtchen geben, wenn er seinen Teller — »
«Es ist ganz süße Ananas. Sie wird euch auf der Zunge zergehen.»
«Dad, Mr. Meisner ist dran.»
Alfred beugte sich über Chippers Teller und spießte im Handumdrehen bis auf einen Bissen alle Kohlrüben auf seine Gabel. Er liebte diesen Jungen, deshalb nahm er den kalten, giftigen Haufen selber in den Mund und würgte ihn mit Schaudern hinunter. «Iss den letzten Bissen», sagte er, «und einen Bissen von dem da, dann kannst du Nachtisch haben.» Er stand auf. «Wenn es sein muss, kaufe ich den Nachtisch.»
Als er auf dem Weg zur Küche an Enid vorbeikam, zuckte sie zurück und lehnte sich zur Seite.
«Ja», sagte er ins Telefon.
Durch den Hörer drangen Schwüle und Schlamperei, Wärme und Wirrnis des Meisner-Reichs.
«Al», sagte Chuck, «ich gucke hier gerade in die Zeitung, du weißt schon, wegen der Erie-Belt-Aktien, ähm. Fünf fünf achtel kommen mir fürchterlich niedrig vor. Bist du sicher, was die Midpac-Geschichte betrifft?»
«Mr. Replogle hat mich von Cleveland aus im Triebwagen begleitet. Er hat angedeutet, dass der Aufsichtsrat nur noch einen abschließenden Bericht über Gleise und Bauten abwartet. Ich liefere ihnen diesen Bericht am Montag.»
«Die Midpac hat sich sehr bedeckt gehalten.»
«Chuck, ich kann dir kein bestimmtes Vorgehen empfehlen, und du hast Recht, es gibt da ein paar offene Fragen, ich — »
«Al, Al», sagte Chuck. «Gewissenhaft wie immer, das schätzen wir alle an dir. Ich lass dich jetzt weiter zu Abend essen.»
Alfred legte auf und hasste Chuck, wie er ein Mädchen hassen würde, mit dem er aus lauter Mangel an Disziplin etwas angefangen hätte. Chuck war Bankier und ein Streber. Da wollte man sich in aller Unschuld jemandem anvertrauen, der dessen würdig war, und wer, bitte schön, kam dafür eher in Frage als ein guter Nachbar, aber nein: Niemand konnte dessen würdig sein. Seine Hände waren mit Exkrementen besudelt.
«Gary: Ananas?», fragte Enid.
«Ja, bitte!»
Dass das Wurzelgemüse von seinem Teller so gut wie verschwunden war, hatte Chipper leicht manisch gestimmt. Die Dinge sahen jetzt viiiiel besser aus! Gekonnt pflasterte er einen Quadranten seines Tellers mit dem verbliebenen Bissen Kohlrüben und ebnete den gelben Asphalt mit seiner Gabel. Warum in der grässlichen Gegenwart von Leber und Mangold verweilen, wenn man sich eine Zukunft ausmalen konnte, in welcher der eigene Vater auch diese bereits hinuntergeschlungen hätte?
Traget die Kekse auf! sagt euch Chipper. Bringet das Eskimo-Törtchen herbei!
Enid ging mit drei leeren Tellern in die Küche.
Alfred, noch immer beim Telefon, betrachtete die Uhr über dem Spülbecken. Es war jene heimtückische Zeit um fünf herum, wenn der Grippekranke aus seinen spätnachmittäglichen Fieberträumen erwacht. Eine Zeit kurz nach fünf, die der Fünf Hohn sprach. Die Erleichterung, dass Ordnung herrschte — zwei Zeiger, die genau auf Zahlen wiesen — , wurde dem Zifferblatt nur einmal pro Stunde zuteil. So wie jeder andere Moment diese Genauigkeit vermissen ließ, barg jeder Moment die Gefahr grippeähnlichen Leids.
Und so zu leiden ohne jeden Grund. Zu wissen, dass in der Grippe keine moralische Ordnung lag, keine Gerechtigkeit in den Säften der Pein, die sein Kopf produzierte. Die Welt nichts als die Materialisierung eines blinden, ewigen Willens.
(Schopenhauer: "Zur Plage unsers Daseins trägt nicht wenig auch dieses bei, dass stets die Zeit uns drängt, uns nicht zu Atem kommen lässt und hinter jedem her ist wie ein Zuchtmeister mit der Peitsche.)
«Du möchtest ja sicher keine Ananas», sagte Enid. «Du kaufst dir deinen Nachtisch ja selber.»
«Enid, lass es gut sein. Ich wünschte, du würdest einmal in deinem Leben etwas gut sein lassen.»
Die Ananas im Arm wiegend, fragte sie, warum Chuck angerufen habe.
«Darüber sprechen wir später», sagte Alfred und ging ins Esszimmer zurück.
«Daddy?», begann Chipper.
«Junge, ich habe dir eben einen Gefallen getan. Jetzt tu du mir einen Gefallen und hör auf, mit deinem Essen zu spielen, und iss deinen Teller leer. Auf der Stelle. Hast du mich verstanden? Du isst jetzt auf der Stelle deinen Teller leer, oder es gibt keinen Nachtisch und auch sonst keine Vergünstigungen, weder heute Abend noch morgen Abend, und du wirst hier sitzen bleiben, bis du aufgegessen hast.»
«Aber Daddy, kannst du nicht — ?»
«AUF DER STELLE. HAST DU VERSTANDEN, ODER WILLST DU EINE TRACHT PRÜGEL?»
Die Mandeln sondern einen Ammoniakschleim ab, wenn sich Tränen echter Verzweiflung sammeln. Chippers Mund verzog sich hierhin und dorthin. Er sah den Teller vor sich in einem neuen Licht. Ihm war, als sei das Essen ein unerträglicher Begleiter, dessen Gesellschaft ihm, wie er felsenfest geglaubt hatte, dank seiner Verbindungen nach oben, dank der Fäden, die für ihn gezogen werden konnten, erspart bleiben würde. Jetzt erkannte er, dass er und das Essen einen langen Marsch vor sich hatten.
Jetzt beklagte er das Ableben seines Specks, wie armselig er auch gewesen sein mochte, in tiefer, aufrichtiger Trauer.
Aber richtig weinen musste er, komischerweise, nicht.
Alfred verschwand polternd und türenschlagend im Keller.
Gary saß mucksmäuschenstill und multiplizierte im Kopf kleine glatte Zahlen.
Enid stieß ein Messer in den gelbsüchtigen Bauch der Ananas. In ihren Augen war Chipper genau wie sein Vater — hungrig und doch unmöglich zufriedenzustellen. Er verwandelte Essen in Schmach. Eine anständige Mahlzeit zuzubereiten und dann zu sehen, wie sie mit effektvollem Ekel verschmäht wurde, ja den Jungen an seinen Frühstücksflocken würgen zu sehen: Das schlug einer Mutter auf den Magen. Alles, was Chipper wollte, waren Milch und Kekse, Milch und Kekse. Der Kinderarzt sagte: «Geben Sie nicht nach. Irgendwann wird er Hunger bekommen und etwas anderes essen.» Also übte sich Enid in Geduld, doch Chipper setzte sich an den Tisch und verkündete: «Das riecht nach Kotze!» Man konnte ihm dafür einen Klaps aufs Handgelenk geben, doch dann sagte es sein Gesicht, und dafür, dass er Grimassen zog, konnte man ihm den Hintern versohlen, doch dann sagten es seine Augen, und es gab Grenzen der Korrektur — gab, letzten Endes, keine Möglichkeit, hinter die blauen Iris vorzudringen und den Ekel auszumerzen, den so ein Junge empfand.
Neuerdings war sie dazu übergegangen, ihm den ganzen Tag getoastete Käsesandwiches vorzusetzen, während sie die für eine ausgewogene Ernährung notwendigen gelben und blättrigen grünen Gemüse für das Abendessen aufbewahrte und Alfred ihre Schlachten schlagen ließ.
Es hatte etwas beinahe Köstliches, beinahe Erregendes, wenn der aufmüpfige Junge von ihrem Mann bestraft wurde. Wenn sie schuldlos dabeistand, während der Junge dafür büßen musste, sie gekränkt zu haben.
Was man über sich selbst lernte, wenn man Kinder großzog, war nicht immer erfreulich oder angenehm.
Sie trug zwei Portionen Ananas ins Esszimmer. Chipper hielt den Kopf gesenkt, doch der Sohn, der gern aß, griff begierig nach einem Teller.
Gary schlürfte und gurgelte, wortlos Ananas vertilgend.
Das hundedreckgelbe Kohlrübenfeld; die Leber, die sich beim Braten verzogen hatte und unfähig war, platt auf dem Teller zu liegen; das Knäuel holziger Mangoldblätter, eingefallen und verdreht, wenn auch noch unversehrt, wie ein feucht zu-sammengepresster Vogel in seiner Eierschale oder ein angewinkelter Leichnam im Moor: Die räumlichen Beziehungen zwischen diesen Speisen erschienen Chipper nicht mehr zufällig, sondern nahmen allmählich dauerhafte, endgültige Züge an.
Das Essen rückte aus seinem Blickfeld, vielleicht wurde es auch von einer neuen Melancholie überschattet. Chipper ekelte sich etwas weniger; er hörte sogar auf, ans Essen zu denken. Tiefere Quellen der Verweigerung steuerten ihren Teil dazu bei.
Bald war der Tisch bis auf sein Platzdeckchen und seinen Teller abgeräumt. Das Licht wurde härter. Er hörte Gary und seine Mutter über Nichtigkeiten reden, während sie Geschirr spülte und Gary abtrocknete. Dann Garys Schritte auf der Kellertreppe. Metronomisches Pingpongball-Geklacker. Das trostlosere Geschepper großer Töpfe, die bearbeitet und ins Wasser getaucht wurden.
Seine Mutter kam noch einmal an den Tisch. «Chipper, nun iss endlich auf. Sei ein großer Junge.»
Er war an einem Ort angekommen, wo sie ihm nichts anhaben konnte. Fast war er heiter, ganz Verstand, kein Gefühl. Selbst sein Hintern war vom langen Sitzen taub geworden.
«Dad möchte, dass du hier sitzen bleibst, bis du aufgegessen hast. Nun mach schon. Dann hast du den ganzen Abend für dich.»
Wenn er den Abend wirklich für sich gehabt hätte, vielleicht hätte er dann stundenlang am Fenster gesessen und Cindy Meisner beobachtet.
«Anredenominativ», sagte seine Mutter, «imperatives Verb Adverb Verbzusatz. Konjunktion betontes Personalpronomen Personalpronomen konjunktivisches Verb, würde ich das jetzt einfach runterschlucken und temporales Adverb konditionales Hilfsverb Personalpronomen — »
Seltsam, wie wenig er sich genötigt fühlte, die Wörter zu verstehen, die zu ihm gesagt wurden. Seltsam seine Erleichterung, selbst von dieser minimalen Last, gesprochene Sprache zu entschlüsseln, befreit zu sein.
Enid quälte ihn nicht weiter, sondern ging in den Keller, wo Alfred in seinem Labor verschwunden war und Gary aufeinander folgende Schläge («siebenunddreißig, achtunddreißig») auf seine Kelle scheffelte.
«Tock tock?», sagte sie und wackelte auffordernd mit dem Kopf.
Da sie durch ihre Schwangerschaft oder zumindest die Idee ihrer Schwangerschaft gehandicapt war, hätte Gary sie leicht haushoch schlagen können, doch es machte ihr so offenkundig Spaß, mit ihm zu spielen, dass er seinen Ehrgeiz ruhen ließ und lieber im Stillen die Spielstände multiplizierte oder sich selbst vor kleine Herausforderungen stellte wie die, den Ball abwechselnd in verschiedene Felder zu retournieren. Jeden Abend nach dem Essen feilte er an der Kunst, etwas Langweiliges zu ertragen, das einem Elternteil Freude bereitete. Eine lebensrettende Kunst, fand er. Er glaubte, ihm würde Schreckliches zustoßen, wenn er die Illusionen seiner Mutter nicht mehr nähren könnte.
Und heute Abend sah sie so verletzlich aus. Die Mühen des Essenmachens und Abwaschens hatten den eingedrehten Locken ihrer Haartracht den Halt genommen. Kleine Schweißflecken blühten durch das Baumwollmieder hindurch auf ihrem Kleid. Ihre Hände hatten in Gummihandschuhen gesteckt und waren rot wie Zungen.
Er schlug einen unerreichbaren Slice die Außenlinie entlang an ihr vorbei, sodass der Ball bis vor die geschlossene Tür des Metallurgielabors flog. Dort sprang er hoch und klopfte an, bevor er liegen blieb. Enid ging ihm vorsichtig nach. Welch eine Stille, welch eine Dunkelheit herrschten hinter dieser Tür. Al schien kein Licht gemacht zu haben.
Es gab Dinge, die selbst Gary nicht essen mochte — Rosenkohl, gedünstetes Okragemüse — , und Chipper hatte beobachtet, wie sein pragmatischer Bruder sie, im Sommer, in der hohlen Hand sammelte und von der Hintertür aus ins dichte Gebüsch schleuderte oder, im Winter, am Körper verbarg und in die Toilette warf. Jetzt, da Chipper im Erdgeschoss allein war, wäre es ein Leichtes für ihn gewesen, seine Leber und sein Mangoldgemüse verschwinden zu lassen. Die Schwierigkeit: Sein Vater würde denken, er hätte sie gegessen, und sie zu essen war genau das, was zu tun er sich weigerte. Essensreste auf dem Teller waren als Beweis seiner Weigerung unerlässlich.
Minutiös schälte und kratzte er die Mehlkruste von der Leber und aß sie. Das dauerte zehn Minuten. Die bloßliegende Oberfläche der Leber schaute man sich lieber nicht an.
Er faltete die Mangoldblätter ein wenig auseinander und arrangierte sie neu.
Er untersuchte das Gewebe des Platzdeckchens.
Er lauschte dem hüpfenden Ball, dem übertriebenen Stöhnen seiner Mutter und ihrem enervierenden Beifallsgeschrei («Jaaah, das war gut, Gary!»). Schlimmer als eine Tracht Prügel oder sogar Leber waren die Geräusche anderer beim Tischtennisspiel. Nur Stille war akzeptabel, weil sie die Möglichkeit barg, endlos zu sein. Der Punktestand hüpfte auf die Einundzwanzig zu, und dann war der Satz zu Ende, und dann waren zwei Sätze zu Ende, und dann waren drei zu Ende, und für die Spieler war das in Ordnung, weil sie ihren Spaß gehabt hatten, aber für den Jungen oben am Tisch war es nicht in Ordnung. Er hatte sich in die Geräusche des Spiels versenkt, hatte so viele Hoffnungen in sie gesetzt, dass er wünschte, sie würden niemals aufhören. Aber sie hörten auf, und er saß immer noch am Tisch, nur dass inzwischen eine halbe Stunde vergangen war. Der Abend sinnlos sich selbst verzehrend. Schon im Alter von sieben ahnte Chipper: dieses Gefühl der Sinnlosigkeit würde ein Fixpunkt seines Lebens sein. Ein dumpfes Warten, dann ein gebrochenes Versprechen und ein panisches Erkennen, wie spät es war.
Diese Sinnlosigkeit hatte, sagen wir mal, ein Aroma.
Wenn er sich am Kopf kratzte oder die Nase rieb, blieb etwas an seinen Fingern haften. Der Geruch des eigenen Ich.
Oder, erneut, der Geschmack aufsteigender Tränen.
Sich vorzustellen, dass die Geruchsnerven Stichproben von sich selber nahmen, dass Rezeptoren ihre eigene Molekularstruktur registrierten.
Der Geschmack selbst auferlegten Leids, eines aus Trotz vertanen Abends, verschaffte eigentümliche Befriedigung. Andere Menschen waren nicht mehr wirklich genug, um die Schuld daran zu tragen, wie es einem ging. Übrig blieben nur man selbst und die eigene Verweigerung. Und genau wie Selbstmitleid oder wie das Blut, das sich in der Mundhöhle sammelte, wenn einem ein Zahn gezogen wurde — die salzigen, eisenhaltigen Säfte, die man hinunterschluckte und heimlich genoss — , hatte auch die Verweigerung ein Aroma, an dem man Geschmack finden konnte.
Im Labor unter dem Esszimmer saß Alfred mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen in der Dunkelheit. Interessant, wie erpicht er darauf gewesen war, allein zu sein, mit welch abscheulicher Klarheit er das allen um sich herum zu verstehen gegeben hatte; und nun, da er sich endlich zurückgezogen hatte, saß er hier und hoffte, jemand würde kommen und ihn stören. Er wollte, dass dieser Jemand sah, wie sehr er litt. Auch wenn er Enid mit Kälte begegnete, fand er es unfair, dass sie ihm mit Kälte antwortete: unfair, dass sie fröhlich Tischtennis spielen und vor seiner Tür herumturnen konnte, ohne je zu klopfen und zu fragen, wie es um ihn stand.
Drei gängige Kriterien für die Güte eines Materials waren seine Widerstandsfähigkeit gegenüber Druck, Spannung und Schub.
Jedes Mal wenn die Schritte seiner Frau näher kamen, nahm er sich zusammen, um sich von ihr trösten zu lassen. Dann hörte er das Spiel zu Ende gehen und dachte, sicher werde sie jetzt Erbarmen mit ihm haben. Es war der eine Gefallen, um den er sie bat, der einzige Gefallen (Schopenhauer: Das Weib trägt die Schuld des Lebens nicht durch Tun, sondern durch Leiden ab, durch die Wehen der Geburt, die Sorgfalt für das Kind, die Unterwürfigkeit unter den Mann, dem es eine geduldige und aufheiternde Gefährtin sein soll.)
Doch keine Rettung nahte. Durch die geschlossene Tür hörte er Enid in die Waschküche entschwinden. Er hörte das leise Summen eines Transformators — Gary, der unter der Tischtennisplatte mit der Modelleisenbahn spielte.
Ein viertes Gütekriterium, wichtig für Hersteller von Eisenbahnmaterial und — maschinenteilen, war Härte.
Mit unsäglicher Willensanstrengung machte Alfred Licht und schlug sein Labornotizbuch auf.
Selbst die äußerste Langeweile kannte gnädige Grenzen. Der Esstisch zum Beispiel hatte eine Unterseite, die Chipper erforschte, indem er das Kinn auf die Oberfläche legte und die Arme ausstreckte. Ganz hinten, dort, wo er gerade noch hinkam, ertastete er Ablenkplatten, durchbohrt von straffem Draht, der wiederum zu Ringvorrichtungen führte, an denen man ziehen konnte. Komplizierte Schnittstellen grob bearbeiteter Blöcke und Winkel waren hier und da von tief versenkten Schrauben durchsetzt, die in kleinen zylindrischen Bohrlöchern saßen mit kratzigen Holzfaserspänen an den Rändern, unwiderstehlich für den sondierenden Finger. Noch lohnender waren die Popel, die er während früherer Sitzungen hinterlassen hatte. Ihre getrockneten Krusten hatten die Beschaffenheit von Reispapier oder Fliegenflügeln. Sie ließen sich angenehm leicht abziehen und zerbröseln.
Je länger Chipper sein kleines Königreich der Unterseite befühlte, desto mehr widerstrebte es ihm, es in Augenschein zu nehmen. Instinktiv wusste er, dass die sichtbare Wirklichkeit dürftig wäre. Er würde Ritzen sehen, die er mit den Fingern bisher nicht ertastet hatte, das Geheimnis der Welten, die jenseits seiner Reichweite lagen, wäre entzaubert, die Schraubenlöcher würden ihre abstrakte Sinnlichkeit verlieren, und die Popel wären ihm peinlich, und eines Abends dann, wenn es nichts mehr gab, was er auskosten oder erkunden konnte, würde er vor Langeweile sterben.
Wohldosierte Unwissenheit war eine Überlebenskunst, vielleicht die größte.
Enids alchimistisches Labor direkt unter der Küche beherbergte eine Maytag-Waschmaschine mit darüber angebrachter Mangel, doppelten Gummiwalzen, die wie riesige schwarze Lippen aussahen. Bleichmittel, Waschblau, destilliertes Wasser, Stärke. Eine klobige Lokomotive von einem Bügeleisen, dessen Stromkabel in einen gemusterten Stoff gekleidet war. Berge weißer Hemden in drei Größen.
Um ein Hemd zum Plätten vorzubereiten, besprengte sie es mit Wasser und rollte es in ein Handtuch. Wenn es wieder durch und durch feucht war, bügelte sie zuerst den Kragen, dann die Schultern und arbeitete sich dann nach unten vor.
Während und nach der Großen Depression hatte sie viele Überlebenskünste erlernt. Ihre Mutter führte damals eine Pension in der Talsohle zwischen der Innenstadt von St. Jude und der Universität. Enid hatte eine mathematische Begabung, und so wusch sie nicht nur Bettwäsche und putzte Badezimmer und servierte Mahlzeiten, sondern kümmerte sich, um ihrer Mutter zu helfen, auch um die Zahlen. Als sie mit der High-School fertig und der Krieg zu Ende war, übernahm sie die gesamte Buchhaltung des Hauses, schrieb Rechnungen und machte die Steuererklärung. Von all den Vierteldollars und Dollars, die sie sich nebenbei verdiente — Einkünften vom Babysitten, Trinkgeldern von Studenten und anderen Langzeitmietern — , bezahlte sie die Abendschule und rückte in winzigen Schritten einem Abschluss in Buchhaltung näher, den sie niemals zu brauchen hoffte. Zwei Männer in Uniform hatten bereits um ihre Hand angehalten, leidliche Tänzer, aber keiner von ihnen ein ausgesprochener Verdiener, und auf beide konnte noch geschossen werden. Ihre Mutter hatte einen Mann geheiratet, der nichts verdiente und früh starb. Einem solchen Ehemann aus dem Weg zu gehen hatte für Enid höchste Priorität. Sie wollte beides im Leben haben, Wohlstand und Glück.
Ein paar Jahre nach dem Krieg kam ein junger Stahlingenieur in die Pension, der eben nach St. Jude versetzt worden war, um eine Gießerei zu leiten. Er war ein volllippiges, dicht behaartes, kräftig bemuskeltes Bübchen in Männergestalt und Männerkleidern. Seine Anzüge waren verschwenderisch mit Bügelfalten ausgestattete wollene Prachtstücke. Ein- oder zweimal am Abend, wenn sie an dem großen runden Tisch das Essen auftrug, warf Enid einen Blick über ihre Schulter, ertappte ihn beim Herüberspähen und trieb ihm die Röte ins Gesicht. Al stammte aus Kansas. Nach zwei Monaten fand er den Mut, sie zum Schlittschuhlaufen einzuladen. Sie tranken Kakao, und er erklärte ihr, die Menschen seien zum Leiden geboren. Er nahm sie mit zu einer Weihnachtsfeier der Stahlfabrik und erklärte ihr, die Klugen seien dazu verdammt, von den Dummen gequält zu werden. Immerhin war er ein guter Tänzer und ein guter Verdiener, und so gab sie ihm im Fahrstuhl einen Kuss. Bald waren sie verlobt und fuhren züchtig mit dem Nachtzug nach Mc-Cook, Nebraska, um seine alten Eltern zu besuchen. Sein Vater hielt sich eine Sklavin, mit der er verheiratet war.
Beim Saubermachen von Als Zimmer in St. Jude fand sie einen abgegriffenen Band Schopenhauer, in dem einige Passagen unterstrichen waren. Zum Beispiel diese: Wer die Behauptung, dass in der Welt der Genuss den Schmerz überwiegt oder wenigstens sie einander die Waage halten, in der Kürze prüfen will, vergleiche die Empfindung des Tieres, welches ein anderes frisst, mit der dieses andern.
Was sollte sie von Al Lambert halten? Da war das Altmännerhafte seiner Reden und das Jungmännerhafte seines Aussehens. Enid hatte sich dafür entschieden, der Verheißung seines Aussehens Glauben zu schenken. Das Leben wurde zum Warten darauf, dass seine Persönlichkeit sich änderte.
Während sie wartete, bügelte sie zwanzig Hemden die Woche plus ihre eigenen Röcke und Blusen.
Fuhr mit der Nasenspitze des Bügeleisens um die Knöpfe. Glättete die Falten, ließ die Knicke verschwinden.
Ihr Leben wäre einfacher gewesen, wenn sie ihn nicht so geliebt hätte, doch sie wusste sich nicht zu helfen. Ihn nur anzuschauen hieß, ihn zu lieben.
Jeden Tag mühte sie sich, die Ausdrucksweise der Jungen zu glätten, ihre Manieren auszubügeln, ihre moralischen Grundsätze weißzuwaschen, ihre Haltungen aufzuhellen, und jeden Tag sah sie sich mit einem neuen Haufen schmutziger, zerknitterter Wäsche konfrontiert.
Selbst Gary war mitunter anarchisch. Sein Schönstes war es, die elektrische Eisenbahn in die Kurven rasen und entgleisen zu lassen, zu beobachten, wie der schwarze Metallklotz hilflos schlitterte und schlingerte und missmutig Funken sprühte. Am zweitschönsten fand er, Plastikkühe und — autos auf die Schienen zu setzen und kleine Tragödien einzufädeln.
Was ihm allerdings einen regelrechten Technokick verpasste, war der Gedanke an ein ferngesteuertes Spielzeugauto, das im Fernsehen seit kurzem permanent beworben wurde und das einfach überall fahren konnte. Um Missverständnissen vorzubeugen, wollte er es als Einziges auf seine Weihnachtswunschliste setzen.
Wer Acht gab, konnte von der Straße aus das Licht in den Fenstern schwächer werden sehen, wenn Garys Eisenbahn oder Enids Bügeleisen oder Alfreds Experimente Strom aus dem Netz zapften. Doch wie leblos das Haus ansonsten wirkte! In den hell erleuchteten Häusern der Meisners und Schumperts, der Persons und Roots waren die Menschen eindeutig daheim — ganze Familien um Tische versammelt, junge Köpfe über Schulaufgaben gebeugt, flimmernde Fernseher in Nebenräumen, umhertapsende Kleinkinder, Großeltern, die mit einem dritten Aufguss die Ergiebigkeit eines Teebeutels testeten. Das waren lebendige, unbefangene Häuser.
Ob jemand daheim war, bedeutete alles für ein Haus. Es war mehr als wesentlich: Es war das Einzige, was zählte.
Die Familie war die Seele des Hauses.
Der wache Geist war wie das Licht in einem Haus.
Die Seele war wie der Ziesel in seinem Bau.
Bewusstsein verhielt sich zu Gehirn wie Familie zu Haus.
Aristoteles: Angenommen, das Auge wäre ein Tier — dann wäre das Augenlicht dessen Seele.
Um den Geist zu begreifen, half es, sich häusliches Treiben vorzustellen, das Summen verwandten Lebens auf verschiedenen Gleisen, das elementare Flackern des heimischen Herds. Von «Gegenwart», «Unordnung» und «Geschäftigkeit» zu sprechen. Oder, umgekehrt, von «Leere» und «Verschlossenheit». Von «Ruhestörung». Vielleicht glich das sinnlos erleuchtete Haus, in dem drei Menschen, jeder für sich, im Keller ihren Dingen nachgingen und einer, ein kleiner Junge, allein im Erdgeschoss saß und auf einen Teller mit kaltem Essen starrte, dem Geist eines Depressiven.
Gary war der Erste, dem es im Keller langweilig wurde. Er tauchte an die Oberfläche, mied das zu helle Esszimmer, als warte dort das Opfer einer scheußlichen Entstellung, und stieg in den ersten Stock, um sich die Zähne zu putzen.
Kurz darauf folgte Enid mit sieben warmen weißen Hemden. Auch sie mied das Esszimmer. Ihre Gedanken gingen so: Wenn sie für das Problem im Esszimmer die Verantwortung trug, dann war es entsetzlich pflichtvergessen von ihr, es nicht zu lösen, eine liebende Mutter wäre nie und nimmer so pflichtvergessen, und da sie eine liebende Mutter war, konnte sie auch nicht dafür die Verantwortung tragen. Irgendwann würde Alfred auftauchen und sehen, was für ein Ungeheuer er gewesen war, und es würde ihm sehr, sehr Leid tun. Falls er es wagte, ihr die Schuld für das Problem in die Schuhe zu schieben, konnte sie sagen: «Du warst es doch, der gesagt hat, er soll hier sitzen, bis er fertig ist.»
Während sie sich ein Bad einlaufen ließ, steckte sie Gary ins Bett. «Bleib du nur immer mein kleiner Löwe», sagte sie.
«Ja.»
«Ist er wwwild? Ist er gefffährlich? Ist er mein wwwilder wwwuscheliger Lllöwe?»
Diese Fragen beantwortete Gary nicht. «Mom», sagte er. «Chipper sitzt immer noch am Tisch, und es ist schon fast neun.»
«Das ist eine Sache zwischen Dad und ihm.»
«Mom? Er mag dieses Essen wirklich nicht. Er tut nicht nur so.»
«Ich bin froh, dass du so ein guter Esser bist.»
«Mom, das ist nicht fair.»
«Herzchen, das ist bloß eine Phase, die dein Bruder da gerade durchmacht. Aber es ist wunderbar, dass du dich für ihn einsetzt. Es ist wunderbar, so lieb und gut zu sein. Bleib du nur immer so lieb und gut.»
Sie eilte hinaus, um das Wasser abzudrehen, und versenkte sich darin.
In einem dunklen Schlafzimmer nebenan stellte sich Chuck Meisner in dem Moment, als er in Bea eindrang, vor, sie sei Enid. Während er zum Samenerguss tuckerte, spekulierte er.
Er fragte sich, ob es an irgendeiner Börse einen Markt für Erie-Belt-Optionen gab. Fünftausend Aktien sofort, mit dreißig Verkaufsoptionen für den Fall eines Downside Hedge. Oder noch besser: einhundert Kaufoptionen, wenn jemand ihm einen Kurs stellte.
Sie war schwanger, und Chuck spekulierte auf wachsende Körbchengrößen, erst A, dann B und schließlich, wenn das Baby kam, vermutlich sogar C. Wie Kommunalobligationen kurz vor der Fälligkeit.
In St. Jude gingen, eins nach dem anderen, die Lichter aus.
Und wer lange genug am Abendbrottisch saß, sei es, dass er bestraft wurde oder dickköpfig oder einfach gelangweilt war, hörte nie auf, dort zu sitzen. Ein Teil von ihm blieb das ganze Leben dort sitzen.
Als könnte anhaltender und allzu direkter Kontakt mit dem nackten Ablauf der Zeit die Nerven dauerhaft schädigen, wie In-die-Sonne-Starren.
Als wäre allzu intime Kenntnis gleich welchen Innenraums ein Wissen, das zwangsläufig Schaden anrichtete. Ein Wissen, das sich nie mehr abwaschen ließ.
(Wie mürbe, wie zermürbt ein Haus, das im Übermaß bewohnt wurde.)
Chipper hörte Dinge und sah Dinge, aber alle waren in seinem Kopf. Nach drei Stunden hatten die Gegenstände, die ihn umgaben, wie ein alter Kaugummi jedes Aroma verloren. Seine mentale Erregung, vergleichsweise stark, hatte es ausgelöscht. Es hätte einer Willensanstrengung, eines Wiedererwachens bedurft, um den Begriff «Platzdeckchen» zu finden und ihn auf das Feld anzuwenden, das Chipper so eingehend betrachtet hatte, dass dessen Wirklichkeit allmählich zerfasert war, oder das Wort «Heizkessel» auf das Rauschen in den Rohren zu beziehen, das, weil es immer wiederkehrte, das Wesen eines Gefühlszustands angenommen hatte oder eines Schauspielers in seinem Kopf, einer Verkörperung der «bösen Zeit». Diss das Licht leicht flackerte, weil jemand bügelte und jemand spielte und jemand Experimente machte und der Kühlschrank sich ein- und wieder ausschaltete, war Teil des Traums gewesen. Dieses Schwanken, obschon kaum merklich, hatte etwas Quälendes gehabt. Aber jetzt hatte es aufgehört.
Jetzt war nur noch Alfred im Keller. Er untersuchte ein Eisenacetat-Gel mit den Polen eines Amperemeters.
Ein jüngst erzielter Fortschritt in der Metallurgie: die Formung von Metallen nach Maß bei Zimmertemperatur. Der Gral war eine Substanz, die gegossen oder geschmiedet werden konnte, nach der Bearbeitung (etwa mit elektrischem Strom) jedoch die überragenden Eigenschaften von Stahl besaß — Festigkeit, Leitvermögen und Ermüdungsresistenz. Eine Substanz, die biegsam war wie Plastik und hart wie Metall.
Die Angelegenheit war dringend. Ein Zivilisationskrieg war im Gange, und die Plastikstreitmächte gewannen. Alfred hatte bereits Marmeladen- und Geleegläser mit Plastikdeckeln gesehen. Autos mit Plastikdächern.
Unseligerweise stellte Metall in seiner reinen Form — ein schöner Stahlpfosten oder ein Kerzenleuchter aus massivem Messing — eine hohe Ordnungsstufe dar, während die Natur schlampig war und Unordnung vorzog. Rostkrümel. Die Promiskuität freischwebender Moleküle. Das Chaos warmer Dinge. Unordnung an sich entstand mit erheblich größerer Wahrscheinlichkeit spontan als ein perfekter Kubus aus Eisen. Nach dem Zweiten Gesetz der Thermodynamik war viel Arbeit erforderlich, um dieser Tyrannei des Wahrscheinlichen Einhalt zu gebieten — die Atome eines Metalls zu zwingen, sich zu benehmen.
Alfred war überzeugt, dass Elektrizität dieser Aufgabe gewachsen war. Der Strom, der aus dem Netz kam, war nichts anderes als von fern geliehene Ordnung. In Kraftwerken wurde aus einem wohlorganisierten Stück Kohle ein Gebläh nutzloser heißer Gase; ein erhöht liegendes, selbstgenügsames Wasserbecken verwandelte sich in einen entropischen Schwall, der irgendwo in ein Delta mündete. Solche Opfer des Geordneten erzeugten die nützlichen elektrischen Ladungen, die er zu Hause arbeiten ließ.
Er war auf der Suche nach einem Material, das die Fähigkeit besaß, sich selbst zu elektroplattieren. Er bildete Kristalle in ungewöhnlichen Materialien und setzte sie elektrischen Strömen aus.
Es war keine harte Wissenschaft, sondern primitiver Probabilismus auf der Basis von Versuch und Irrtum, ein blindes Tasten nach Zufällen, von denen er eventuell profitieren konnte. Einer seiner Kommilitonen aus dem College hatte mit den Ergebnissen einer solchen Zufallsentdeckung bereits die erste Million verdient.
Dass er sich irgendwann keine Sorgen mehr ums Geld machen müsste: Das war ein Traum, der jenem Traum glich, von einer Frau getröstet, wahrhaft getröstet zu werden, wenn ihn das Elend überkam.
Der Traum von der radikalen Verwandlung: eines Tages aufzuwachen und ein gänzlich anderer (selbstbewussterer, gelassenerer) Mensch zu sein, dem Gefängnis des Gegebenen zu entfliehen, göttliche Schaffenskraft zu verspüren.
Er hatte Ton und Silikatgel. Er hatte Silikonkitt. Er hatte schlammige Eisensalze, die in sich selbst zerflossen. Ambivalente Acetylacetonate und Tetrakarbonyle mit niedrigen Schmelzpunkten. Ein Stück Gallium, so groß wie eine Damaszenerpflaume.
Der Chefchemiker von Midland Pacific, ein Schweizer Akademiker, der über einer Million Messungen von Maschinenölviskositäten und Brinellhärten vor Langeweile schwermütig geworden war, versorgte Alfred mit allem Nötigen. Ihre Vorgesetzten wussten von dem Arrangement — Alfred hätte nie riskiert, sich bei irgendeiner Heimlichkeit erwischen zu lassen — , und man hatte sich informell darauf verständigt, dass die Midpac, sollte er je ein patentierbares Verfahren entwickeln, Anspruch auf einen Anteil etwaiger Einnahmen hätte.
Heute Abend verhielt sich das Eisenacetat-Gel ungewöhnlich. Alfreds Messungen des Leitvermögens schwankten heftig, je nachdem, wo genau er die Sonde des Ammeters hineinsteckte. In der Annahme, die Sonde könnte verschmutzt sein, tauschte er sie gegen eine schmale Nadel aus und bohrte diese in das Gel. Nun maß er überhaupt kein Leitvermögen mehr. Als er die Nadel an einer anderen Stelle hineinsteckte, war der Wert hingegen hoch.
Was ging hier vor?
Die Frage ließ ihn nicht los, sie tröstete ihn und hielt den Zuchtmeister in Schach, bis er um zehn Uhr die Lampe des Mikroskops löschte und in sein Notizbuch schrieb: FÄRBEMITTEL BLAUES CHROMAT 2 %. SEHR, SEHR INTERESSANT.
In dem Moment, als er aus dem Labor trat, überfiel ihn die Erschöpfung wie mit Hammerschlägen. Er fummelte am Schloss, so plump und ungeschickt waren auf einmal seine analytischen Finger. Für die Arbeit hatte er grenzenlose Energie, doch sobald er damit aufhörte, konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten.
Seine Erschöpfung nahm noch zu, als er nach oben ging. Küche und Esszimmer waren hell erleuchtet, und es hatte den Anschein, als sei ein kleiner Junge, das Gesicht auf dem Platzdeckchen, über dem Esstisch zusammengesackt. Die Szene war so falsch, so krank vor Rache, dass Alfred einen Augenblick lang ernsthaft glaubte, der Junge am Tisch sei ein Gespenst aus seiner eigenen Kindheit.
Er tastete nach Lichtschaltern, als ob das Licht ein Giftgas wäre, dessen Ausströmen er verhindern müsse.
Im weniger bedrohlichen Dämmerlicht hob er den Jungen hoch und trug ihn nach oben. Der Junge hatte den Abdruck vom Gewebe des Platzdeckchens auf einer Wange. Er murmelte Unsinn. Er war nur halb da und wehrte sich dagegen, ganz wach zu werden. Er ließ den Kopf hängen, während Alfred ihn auszog und im Schrank einen Pyjama für ihn fand.
Sobald der Junge, mit einem Kuss versehen und fest schlafend, im Bett lag, rann unvorstellbar viel Zeit durch die Beine des Stuhls, auf dem Alfred am Bettrand saß und kaum etwas anderes wahrnahm als das Elend zwischen seinen Schläfen. Seine Müdigkeit schmerzte so, dass sie ihn wach hielt.
Aber vielleicht hatte er doch geschlafen, denn plötzlich richtete er sich auf und fühlte sich marginal erfrischt. Er verließ Chippers Zimmer und schaute bei Gary nach dem Rechten.
Gleich hinter Garys Tür stand, stark nach Kleister riechend, ein Gefängnis aus Eisstielen. Das Gefängnis hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der raffinierten Besserungsanstalt, die Alfred vorgeschwebt hatte. Es war ein grobes Viereck ohne Dach, grob unterteilt. Der Grundriss entsprach tatsächlich genau dem binomischen Quadrat, von dem er vor dem Essen gesprochen hatte.
Und das hier, im größten Raum des Gefängnisses, dieses verhunzte Gebilde aus halbweichem Leim und zerbrochenen Eisstielen, war das ein — Puppenschubkarren? Eine Miniaturtrittleiter?
Ein elektrischer Stuhl.
In einem bewusstseinsverändernden Nebel der Erschöpfung kniete sich Alfred hin und betrachtete ihn. Er merkte, wie schmerzlich es ihn berührte, dass dieser Stuhl überhaupt angefertigt worden war — dass Gary den Impuls gehabt hatte, einen Gegenstand zu basteln, der vielleicht die Anerkennung seines Vaters finden würde — und, irritierender noch, wie unmöglich es war, diesen groben Gegenstand mit dem präzisen Bild eines elektrischen Stuhls zur Deckung zu bringen, das er beim Abendessen vor Augen gehabt hatte. Wie eine widersinnige weibliche Traumgestalt, die zugleich Enid und nicht Enid war, war auch der Stuhl, den er sich vorgestellt hatte, ganz ein elektrischer Stuhl und ganz ein Haufen Eisstiele gewesen. Auf einmal erschien ihm der Gedanke, dass vielleicht jedes «reale» Ding auf der Welt im Kern genauso niederträchtig proteisch war wie dieser elektrische Stuhl, zwingender denn je. Vielleicht stellte sein Bewusstsein mit dem scheinbar realen Hartholzboden, auf dem er kniete, in diesem Moment genau das Gleiche an, was es, Stunden zuvor, mit dem ungesehenen Stuhl angestellt hatte.
Vielleicht wurde ein Boden erst wirklich ein Boden, wenn man ihn im Geiste rekonstruierte. Die Natur des Bodens war bis zu einem gewissen Grad unstrittig, gewiss; das Holz existierte zweifellos und hatte messbare Eigenschaften. Aber es gab einen zweiten Boden, der in seinem Kopf gespiegelt wurde, und Alfred fürchtete, dass die bedrängte «Realität», die er verteidigte, nicht die eines tatsächlichen Bodens in einem tatsächlichen Schlafzimmer war, sondern die eines Bodens in seinem Kopf, eine Idealisierung und daher keinen Deut mehr wert als eine von Enids dummen Phantastereien.
Der Verdacht, dass alles relativ war. Dass das «Reale» und «Authentische» nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern von vornherein fiktiv sein könnten. Dass sein Gefühl, im Recht zu sein, einzig für das Reale einzutreten, eben nur ein Gefühl war. Dies waren die bösen Ahnungen, die in den vielen Motelzimmern auf der Lauer gelegen hatten. Dies waren die bodenlosen Schrecknisse unter den klapprigen Betten.
Und wenn die Welt sich weigerte, mit seiner Version der Realität konform zu gehen, dann war sie notwendig eine gleichgültige Welt, eine bittere und abscheuliche Welt, eine Strafkolonie, in der er dazu verurteilt war, barbarisch einsam zu sein.
Er beugte den Kopf bei dem Gedanken, wie viel Kraft ein Mann brauchen würde, um ein ganzes Leben in so einer Einsamkeit auszuhalten.
Er stellte den kümmerlichen, schiefen elektrischen Stuhl wieder auf den Boden des größten Raums in Garys Gefängnis. Sobald er ihn losließ, fiel der Stuhl auf die Seite. Bilder vom Kurz-und-klein-Schlagen des Gefängnisses gingen Alfred durch den Kopf, Momentaufnahmen von hochgerafften Röcken und heruntergerissenen Unterhosen, Bilder von zerfetzten BHs und schwingenden Hüften, doch sie führten zu nichts.
Gary schlief vollkommen ruhig, genau wie seine Mutter.
Zwecklos zu hoffen, dass er das implizite Versprechen seines Vaters, sich das Gefängnis nach dem Abendessen anzusehen, vergessen hatte. Gary vergaß nie etwas.
Trotzdem tue ich mein Bestes, dachte Alfred.
Als er ins Esszimmer zurückkehrte, fiel ihm auf, dass sich das Essen auf Chippers Teller verändert hatte. Die gut gebräunten Ränder der Leber waren vorsichtig abgekratzt und gegessen worden, ebenso jedes Fitzelchen Kruste. Außerdem gab es Indizien, dass Kohlrüben verspeist worden waren; das Häuflein, das noch dalag, wies klitzekleine Zinkenspuren auf. Und mehrere Mangoldblätter waren seziert, die weicheren abgetrennt und gegessen, die holzigen rötlichen Stiele an die Seite gelegt worden. Offenbar hatte Chipper schließlich doch den vertragsgemäßen Bissen von jedem Bestandteil des Essens hinuntergeschluckt, vermutlich gegen großen inneren Widerstand, und war ins Bett gebracht worden, ohne den verdienten Nachtisch bekommen zu haben.
An einem Novembermorgen fünfunddreißig Jahre zuvor hatte Alfred den blutigen Vorderlauf eines Koyoten zwischen den Zacken einer Stahlfalle gefunden, Beweis einiger verzweifelter Stunden in der vorausgegangenen Nacht.
Ein Kummer stieg in ihm auf, so groß, dass er die Kiefer aufeinander pressen und sich an seine Philosophie halten musste, damit keine Tränen daraus wurden.
(Schopenhauer: Nur eine Betrachtung mag dazu taugen, das Leiden der Tiere zu erklären: dass der Wille zum Leben, der der ganzen Welt der Erscheinungen zugrunde liegt, in ihrem Fall Befriedigung erlangt, indem er sich selbst verzehrt.)
Er löschte das letzte Licht im Erdgeschoss, ging ins Badezimmer und zog sich einen frischen Pyjama an. Er musste seinen Koffer öffnen, um die Zahnbürste herauszuholen.
Im Bett, dem Museum antiker Verkehrsmittel, legte er sich, so weit wie möglich von Enid entfernt, an den äußersten Rand.
Sie schlief auf ihre Schlaf vortäuschende Weise. Er warf einen Blick auf den Wecker, den Radiumschmuck der beiden Zeiger — näher an der Zwölf als an der Elf — und machte die Augen zu.
Kam die Frage in einer Zwölf-Uhr-Mittags-Stimme: «Worüber hast du mit Chuck gesprochen?»
Seine Erschöpfung verdoppelte sich. Hinter seinen geschlossenen Lidern sah er Becher und Sonden und die zitternde Nadel des Ammeters.
«Hörte sich an wie Erie Belt», sagte Enid. «Weiß Chuck davon? Hast du es ihm erzählt?»
«Enid, ich bin sehr müde.»
«Ich bin nur überrascht, das ist alles. Wenn man bedenkt.»
«Es war ein Versehen, und ich bedaure es.»
«Ich finde es bloß interessant», sagte Enid, «dass Chuck eine Anlage machen darf, die uns nicht erlaubt sein soll.»
«Wenn Chuck so unfair sein will, andere Anleger zu übervorteilen, ist das seine Sache.»
«Viele Erie-Belt-Aktionäre wären froh, wenn sie morgen fünf drei viertel bekommen könnten. Was ist daran unfair?»
Ihre Worte klangen nach einer stundenlang einstudierten Rede, nach einem im Dunkel genährten Gram.
«Diese Aktien werden in drei Wochen neuneinhalb Dollar wert sein», sagte Alfred. «Ich weiß das, und die meisten Leute wissen es nicht. Das daran ist unfair.»
«Du bist klüger als andere Leute», sagte Enid, «du warst besser in der Schule, und jetzt hast du einen besseren Job. Das ist auch unfair, oder? Müsstest du dich nicht möglichst dumm stellen, um ganz und gar fair zu sein?»
Man biss sich nicht leichtfertig oder halbherzig selbst ein Bein ab. Wann war es so weit gewesen, und was hatte passieren müssen, dass der Koyote schließlich die Zähne ins eigene Fleisch schlug? Vermutlich kam zuerst eine Phase des Wartens und Abwägens. Aber dann?
«Ich werde nicht mit dir darüber diskutieren», sagte Alfred. «Aber da du nun mal wach bist, würde ich gern wissen, warum Chip nicht ins Bett gebracht wurde.»
«Du warst es doch, der gesagt hat — »
«Du bist lange vor mir hochgegangen. Es war nicht meine Absicht, ihn fünf Stunden dort sitzen zu lassen. Du benutzt ihn gegen mich, und das gefällt mir überhaupt nicht. Er hätte um acht ins Bett gehört.»
Enid siedete in dem ihr angetanen Unrecht.
«Können wir uns darauf einigen, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt?», fragte Alfred.
«Ja.»
«Na schön. Dann lass uns schlafen.»
Wenn es im Haus sehr, sehr dunkel war, konnte das ungeborene Kind genauso deutlich sehen wie jeder andere. Es hatte Ohren und Augen, Finger und ein Vorderhirn und ein Kleinhirn, und es schwamm an einem zentralen Ort. Die wesentlichen Triebe kannte es bereits. Tagaus, tagein köchelte seine Mutter in einem Gebräu aus Begehren und Schuld vor sich hin, und nun lag das Objekt ihrer Begierde einen Meter von ihr entfernt. Alles in ihr war bereit, bei der geringsten zärtlichen Berührung ihres Körpers dahinzuschmelzen und abzuschalten.
Es wurde viel geatmet. Viel geatmet, aber nichts berührt.
Selbst Alfred entzog sich der Schlaf. Sooft er kurz davor war einzunicken, durchbohrte ein nebenhöhliges Schnaufen aus Enids Richtung sein Ohr.
Nach einer Pause, die, wenn er richtig geschätzt hatte, zwanzig Minuten lang gewesen war, erschütterten schlecht unterdrückte Schluchzer das Bett.
Alfred brach, jammernd fast, sein Schweigen: «Was ist denn nun schon wieder?»
«Nichts.»
«Enid, es ist sehr, sehr spät, der Wecker ist auf sechs gestellt, und ich bin völlig zerschlagen.»
Sie weinte stürmisch. «Du hast mir nicht mal einen Abschiedskuss gegeben!»
«Das ist mir bewusst.»
«Hab ich denn kein Recht darauf? Ein Mann lässt seine Frau zwei Wochen lang allein zu Hause?»
«Das ist Schnee von gestern. Und offen gesagt: Ich habe schon Schlimmeres ausgehalten.»
«Und kommt nach Hause und sagt nicht mal hallo? Macht mir bloß Vorwürfe?»
«Enid, ich habe eine furchtbare Woche hinter mir.»
«Und steht vom Tisch auf, bevor die anderen fertig sind?»
«Eine furchtbare Woche, und ich bin außerordentlich müde — »
«Und schließt sich für fünf Stunden im Keller ein? Obwohl er angeblich so müde ist?»
«Wenn du so eine Woche gehabt hättest wie — »
«Du hast mir keinen Abschiedskuss gegeben.»
«Werde erwachsen! Herrgott noch mal! Werde erwachsen!»
«Nicht so laut!»
(Nicht so laut, das Baby könnte dich hören.)
(Hörte ihn in der Tat und saugte jedes Wort auf.)
«Meinst du, ich war auf einer Vergnügungsfahrt?», fragte Alfred im Flüsterton. «Alles, was ich tue, tue ich für dich und die Jungen. Seit zwei Wochen habe ich keine Minute für mich gehabt. Ich denke, ich habe durchaus Anspruch auf ein paar Stunden im Labor. Du würdest es nicht verstehen, und wenn, dann würdest du es nicht glauben, aber ich habe etwas wirklich Interessantes entdeckt.»
«Ach, wie interessant», sagte Enid. Sie hörte das kaum zum ersten Mal.
«Ja, es ist interessant.»
«Etwas, das sich vermarkten lässt?»
«Weiß man nie. Denk nur daran, was Jack Callahan passiert ist. Am Ende können wir damit vielleicht die Ausbildung der Jungen finanzieren.»
«Du hast doch gesagt, Jack Callahans Entdeckung war Zufall.»
«Mein Gott, du solltest dich mal reden hören. Du wirfst mir vor, ein Miesmacher zu sein, aber wenn ich an etwas arbeite, das mir wichtig ist, wer ist dann der Miesmacher?»
«Ich verstehe nur nicht, warum du nicht wenigstens in Betracht ziehen willst — »
«Genug.»
«Wenn es darum geht, Geld zu verdienen — »
«Genug. Genug! Was andere machen, ist mir schnurz. Ich bin nicht so einer, Punkt.»
Am letzten Sonntag in der Kirche hatte Enid zweimal den Kopf gewandt und Blicke von Chuck Meisner aufgefangen. Sie war obenherum ein bisschen fülliger als sonst, das war wahrscheinlich alles. Aber Chuck war beide Male rot geworden.
«Warum bist du so hartherzig?», fragte sie.
«Dafür gibt es Gründe», sagte Alfred, «aber ich werde sie dir nicht sagen.»
«Warum bist du so unglücklich? Warum sagst du sie mir nicht?»
«Lieber sinke ich ins Grab, bevor ich das tue. Ins Grab.»
«Oh, oh, oh!»
Es war ein schlechter Ehemann, den sie da abgekriegt hatte, ein schlechter, schlechter, schlechter Ehemann, der ihr niemals geben würde, was sie brauchte. Immer fand er einen Grund, ihr vorzuenthalten, was sie zufriedengestellt hätte. Und so lag sie, eine Tantala, neben der trägen Illusion eines Festgelages. Der kleinste Finger irgendwo hätte… Gar nicht zu reden von seinen Pflaumenfleischlippen. Aber Alfred war unnütz. Ein Haufen Geld, das in einer Matratze vor sich hin gammelte und stetig an Wert verlor, das war er. Die Depression im Herzland hatte ihn genauso kleingekriegt wie ihre Mutter, die nicht begriff, dass Zinsen bringende Bankkonten mittlerweile staatlich abgesichert waren oder dass Aktien großer Unternehmen, sofern man sie nur langfristig hielt und die Dividenden reinvestierte, ihr mit hoher Wahrscheinlichkeit im Alter ein Auskommen bescherten. Er war ein schlechter Investor.
Sie aber nicht. Das eine oder andere Mal, wenn es in einem Raum ganz dunkel gewesen war, hatte sie sogar wirklich etwas riskiert, und jetzt tat sie es wieder. Drehte sich um und kitzelte mit Brüsten, die ein gewisser Nachbar bestaunt hatte, seinen Schenkel. Legte ihre Wange an seine Rippen. Sie konnte fühlen, wie er darauf wartete, dass sie wieder den Rückzug antrat, doch vorher musste sie, wie im Gleitflug, die Ebene seines muskulösen Bauches streicheln, Haare berührend, aber keine Haut. Zu ihrer gelinden Überraschung fühlte sie seinen seinen seinen zum Leben erwachen, als ihre Finger sich ihm näherten. Sein Becken versuchte ihr auszuweichen, doch ihre Finger waren flinker. Sie fühlte, wie er unter dem Schlitz seiner Pyjamahose zum Mann wurde, und in einem Anfall von aufgestauter Begierde machte sie etwas, was er ihr noch nie zuvor erlaubt hatte. Sie beugte sich zur Seite und nahm ihn in den Mund. Ihn: den rasch heranwachsenden Jungen, das schwach urinös riechende Bürschchen. Mit ihren geschickten Händen und ihrem schwellenden Busen fühlte sie sich begehrenswert und zu allem fähig.
Der Mann unter ihr bebte vor Widerstreben. Kurz machte sie ihren Mund frei: «Al? Liebling?»
«Enid. Was hast du — ?»
Erneut schloss sich ihr Mund um den fleischigen Zylinder. Sie hielt einen Moment inne, lange genug, um zu spüren, wie das Fleisch an ihrem Gaumen Pulsschlag für Pulsschlag härter wurde. Dann hob sie den Kopf. «Wir könnten schon ein bisschen zusätzliches Geld auf der Bank gebrauchen — was meinst du? Und mit den Jungen nach Disneyland fahren. Was meinst du?»
Und tauchte wieder ab. Zunge und Penis verständigten sich langsam, und Alfred schmeckte jetzt wie das Innere ihres Mundes. Wie eine häusliche Pflicht und alles, was in dem Wort mitschwang. Vielleicht unbeabsichtigt stieß er ihr sein Knie in die Rippen, und sie rückte ein wenig von ihm ab, doch das Gefühl, begehrenswert zu sein, blieb. Sie stopfte sich den Mund bis zum Hals voll. Tauchte auf, um Luft zu schnappen, und nahm einen weiteren großen Schluck.
«Und wenn wir bloß zweitausend anlegen», murmelte sie. «Mit einem Vier-Dollar-Potenzial — autsch!»
Alfred war wieder zur Besinnung gekommen und drängte den Sukkubus von sich fort.
(Schopenhauer: Die Erwerber des Vermögens sind die Männer, nicht die Weiber: diese sind daher auch nicht zum unbedingten Besitze desselben berechtigt, wie auch zur Verwaltung desselben nicht befähigt?)
Der Sukkubus rückte ihm wieder zu Leibe, doch Alfred packte ihn am Handgelenk und schob ihm mit der anderen Hand das Nachthemd hoch.
Vielleicht war der Genuss, den man beim Wippen, oder beim Fallschirmspringen und Tiefseetauchen empfand, ein Nachhall aus jener Zeit, als die Gebärmutter einen vor den Belastungen des Auf und Nieder schützte. Jener Zeit, als man noch gar nicht über die mechanischen Voraussetzungen verfügte, Schwindel zu empfinden. Sich noch sicher in einem warmen Binnensee aalte.
Einzig und allein dieses Schaukeln war unheimlich, nur dieses Schaukeln ging mit einem Adrenalinstoß einher, der durch das Blut jagte, denn die Mutter schien sich in einer Art Notlage zu befinden «Al, ist das wirklich eine gute Idee, hör mal, ich glaube nicht — »
«In dem Buch steht, es spricht nichts dagegen — »
«Aber mir ist doch ein bisschen mulmig dabei. Ooooh. Hörst du? Al?»
Er war ein Mann, der rechtmäßigen Geschlechtsverkehr mit seiner rechtmäßigen Ehefrau hatte.
«Al, vielleicht lieber nicht. Du weißt doch.»
Er wehrte sich gegen das Bild der jungen FOTZE im Gymnastikanzug. Und gegen all die anderen MÖSEN mit ihren TITTEN und ÄRSCHEN, die ein Mann gern FICKEN würde, wehrte sich dagegen, obwohl es im Zimmer dunkel war, und im Dunkeln war vieles erlaubt.
«Oh, mir ist so unwohl dabei!», wimmerte Enid leise.
Am schlimmsten war das Bild des kleinen Mädchens, das sich in ihrem Bauch zusammenrollte, ein Mädchen, nicht viel größer als ein großer Käfer und doch schon Zeugin solchen Unrechts. Zeugin eines stramm geschwollenen kleinen Hirns, das jenseits des Gebärmutterhalses herein- und hinausglitt, und dann, begleitet von einem raschen, kaum als angemessene Warnung zu bezeichnenden Doppelspasmus, dicke alkalische Spermagespinste in ihr Privatgemach spritzte. Noch nicht einmal geboren und schon starrend vor klebrigem Wissen.
Alfred lag schwer atmend da und bereute, dass er das Baby geschändet hatte. Ein letztes Kind gab zum letzten Mal Gelegenheit, aus den eigenen Fehlern zu lernen und ein paar Korrekturen anzubringen, und er war entschlossen, diese Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen. Vom Tag ihrer Geburt an würde er sie sanfter anfassen, als er Gary oder Chipper angefasst hatte. Würde die Gesetze ihretwegen lockern, ja sie sogar verwöhnen und nicht ein einziges Mal von ihr verlangen, am Tisch sitzen zu bleiben, wenn alle anderen schon aufgestanden waren.
Aber er hatte sie mit solchem Dreck besudelt, als sie wehrlos war. Sie hatte solche Eheszenen miterlebt, da war es doch klar, dass sie ihn, als sie älter wurde, verriet.
Was Korrekturen möglich machte, vereitelte sie zugleich.
Die empfindliche Sonde, die Werte am oberen Rand des roten Bereichs ausgewiesen hatte, zeigte jetzt null an. Er ließ von seiner Frau ab und straffte die Schultern. Unter dem Bann des sexuellen Instinkts (wie Arthur Schopenhauer es nannte) hatte er ganz aus dem Blick verloren, wie grausam bald er sich rasieren und den Zug erwischen musste, doch jetzt war dieser Instinkt befriedigt, und das Wissen um die verbleibende Kürze der Nacht lastete auf Alfreds Brust wie ein 50-m-Standard-Gleissegment, und Enid hatte wieder angefangen zu weinen, wie Ehefrauen es taten, wenn es psychotisch spät in der Nacht war und den Wecker zu manipulieren nicht in Frage kam. Vor Jahren, als sie frisch verheiratet waren, hatte sie in den frühen Morgenstunden auch manchmal geweint, doch damals war Alfred für die Lust, die er ihr geraubt, und die Stöße, die sie erduldet hatte, so dankbar gewesen, dass er nie zu fragen versäumt hatte, warum sie weinte.
Heute Nacht, das war bemerkenswert, verspürte er weder Dankbarkeit noch die leiseste Verpflichtung, sie zu befragen. Er war nur müde.
Warum weinten Ehefrauen immer nachts? In der Nacht zu weinen mochte ja angehen, wenn man nicht vier Stunden später in den Zug steigen musste und sich nicht, wenige Augenblicke zuvor, einer Schändung schuldig gemacht hatte, noch dazu um einer Befriedigung willen, deren Bedeutung sich einem jetzt vollkommen entzog.
Vielleicht war all dies nötig — zehn durchwachte Nächte in schlechten Motels, gefolgt von einem Abend emotionalen Achterbahnfahrens und schließlich das Nichts-wie-raus-und- schieß-dir-eine-Kugel-durch-den-Mund-Geschniefe und — Gewimmere einer Frau, die sich um zwei Uhr morgens in den verdammten Schlaf zu weinen versuchte — , um zu erkennen, dass a) der Schlaf eine Frau war und b) sie Tröstungen bereithielt, die zu verschmähen er nicht die mindeste Verpflichtung hatte.
Für einen Mann, der sein Leben lang gegen außerplanmäßige Nickerchen angekämpft hatte wie gegen jedes andere verderbliche Vergnügen, war dies eine umwälzende Einsicht — auf ihre Weise nicht weniger folgenschwer als, ein paar Stunden zuvor, seine Entdeckung der elektrischen Anisotropie in einem Gel aus vergitterten Eisenacetaten. Mehr als dreißig Jahre mussten vergehen, ehe die Entdeckung im Keller finanzielle Früchte trug; die Entdeckung im Schlafzimmer hingegen machte das Leben bei den Lamberts von Stund an erträglicher.
Ein Pax somnis hat sich auf den Haushalt gesenkt. Alfreds neue Freundin besänftigte das Biest, das in ihm steckte, was auch immer es für eines sein mochte. Wie viel leichter war es doch, anstatt zu toben oder zu schmollen, einfach die Augen zu schließen. Bald hatten alle verstanden, dass er eine unsichtbare Geliebte hatte, der er sich Samstagnachmittags, wenn seine Arbeitswoche bei der Midpac zu Ende war, im Familienzimmer hingab, eine Geliebte, die er auf jede Geschäftsreise mitnahm und der er in Betten, die ihm nicht mehr so unbequem, und in Motelzimmern, die ihm nicht mehr so laut erschienen, in die Arme sank, eine Geliebte, der er im Laufe eines am Schreibtisch zugebrachten Abends regelmäßig seine Aufwartung machte, eine Geliebte, mit der er auf den Sommerausflügen der Familie nach dem Mittagessen ein Reisekissen teilte, während Enid im Schlingerkurs den Wagen lenkte und die Kinder auf der Rückbank still sein mussten. Der Schlaf war eine Frau, die sich ideal mit der Arbeit vereinbaren ließ und die er von vornherein hätte heiraten sollen. Vollendet unterwürfig, grenzenlos verzeihend und so ehrbar, dass man sie in die Kirche, ins Symphoniekonzert und ins Repertoiretheater von St. Jude mitnehmen konnte. Nie hielt sie ihn mit ihren Tränen wach. Sie forderte nichts und schenkte ihm alles, was er für einen langen Arbeitstag brauchte. Es gab nichts Schmutziges in ihrer Affäre, keine romantische Oskulation, keine Lecks oder undichte Stellen, keine Scham. Er konnte Enid in ihrem eigenen Bett betrügen, ohne ihr die Spur eines juristisch verwertbaren Beweises zu liefern, und solange er diskret genug war, wenigstens nicht einzudösen, wenn sie irgendwo eingeladen waren, duldete Enid seine Affäre, wie kluge Ehefrauen es stets getan hatten, und so war dies eine Untreue, für die er, während die Jahrzehnte ins Land gingen, nie zur Rechenschaft gezogen zu werden schien…
«Psst! Arschloch!»
Mit einem Ruck wachte Alfred auf und spürte das Zittern und träge Krängen der Gunnar Myrdal. War noch jemand in der Kabine?
«Arschloch!»
«Wer ist da?», fragte er halb herausfordernd, halb ängstlich.
Dünne skandinavische Bettdecken fielen von ihm ab, als er sich aufsetzte und ins Halbdunkel spähte, angestrengt über die Grenzen seines Selbst hinauslauschend. Schwerhörige sind wie Gefängnisinsassen mit den Frequenzen vertraut, auf denen ihre Köpfe klingen. Sein treuester Begleiter war ein Alt, wie das mittlere A einer Orgelpfeife, ein schmetternder Clarinoton irgendwo in seinem linken Ohr. Er kannte ihn, in steigender Lautstärke, seit dreißig Jahren; der Ton war eine so feste Größe, dass es schien, als würde er Alfred überdauern. Er hatte jene ursprüngliche Bedeutungslosigkeit ewiger oder unendlicher Dinge. War so real wie ein Herzschlag, entsprach aber nichts Realem außerhalb von Alfred. War ein Ton, der von nichts erzeugt wurde.
Darunter waren die schwächeren, flüchtigeren Töne am Werk. Zirrusartige Ballungen sehr hoher Frequenzen, weit weg, in stratosphärischer Tiefe hinter seinen Ohren. Mäandernde leise Klänge, beinahe geisterhaft, als würden sie von einer fernen Kalliope gespielt. Hier und da ein schriller mittellagiger Ton, der wie Grillenzirpen im Zentrum seines Schädels an- und abschwoll. Ein dunkles, fast grollendes Dröhnen, wie verwässerter Dieselmotorenlärm, dem das Ohrenbetäubende noch anzuhören war, ein Geräusch, das ihm nie ganz real — mithin: irreal — erschienen war, bis er sich von der Midpac hatte pensionieren lassen und nicht mehr mit Lokomotiven in Berührung kam. Dies waren die Geräusche, die sein Gehirn zugleich schuf und vernahm, die Geräusche, mit denen es gut Freund war.
Außerhalb seiner selbst konnte er das Psch, Psch zweier Hände hören, die an ihren Gelenken sacht auf den Laken hin- und herschwangen.
Und das geheimnisvolle Rauschen von Wasser rings um ihn, in den verborgenen Kapillargefäßen der Gunnar Myrdal.
Und jemanden, der da unten, in dem zweifelhaften Raum unter dem Bettzeughorizont, kicherte.
Und den Wecker, der sich jedes Ticken einzeln abzwackte. Es war drei Uhr morgens, und Alfreds Geliebte hatte ihn im Stich gelassen. Gerade jetzt, wo er ihre Tröstungen mehr denn je brauchte, machte sie sich aus dem Staub, um mit jüngeren Schläfern zu huren. Dreißig Jahre lang war sie ihm gefügig gewesen, hatte jeden Abend um Viertel nach zehn die Arme ausgebreitet und die Beine gespreizt. Sie war die Zuflucht gewesen, die er gesucht hatte, der Schoß. Am Nachmittag oder frühen Abend, da fand er sie noch, nicht aber nachts in einem Bett. Sobald er sich hinlegte, begann er in den Laken zu wühlen und kriegte vielleicht, für einige Stunden, knöcherne Gliedmaßen von ihr zu fassen, an die er sich klammern konnte. Doch verlässlich um eins oder zwei oder drei zog sie sich zurück, so weit, dass es ihm nicht einmal mehr gelang, sich einzureden, sie würde ihm noch gehören.
Angstvoll spähte er über den rostorangen Teppichboden hinweg zu den Umrissen von Enids nordisch heller Holzkoje. Enid schien tot zu sein.
Das rauschende Wasser in Millionen Rohren.
Und das Zittern; er hatte eine Vermutung, was dieses Zittern betraf: dass es von den Maschinen herrührte, dass man beim Bau eines Luxuskreuzfahrtschiffs alle Maschinengeräusche dämpfte oder tarnte, eins nach dem anderen, bis zur niedrigsten hörbaren Frequenz und noch niedriger, aber ganz bis auf null ging es nicht. Es blieb dieses subauditive Zwei-Hertz-Beben, dieser nicht zu reduzierende Rest, die Erinnerung daran, dass etwas Mächtigem Ruhe aufgezwungen worden war.
Ein kleines Tier, eine Maus, huschte in die Schattenschichten am Fuß von Enids Bett. Einen Augenblick lang dachte Alfred, der ganze Boden bestehe aus umherhuschenden Korpuskeln. Dann lösten sich die Mäuse auf, wurden eine einzige, gut entwickelte Maus, schreckliche Maus, zermatschbare Exkretkügelchen, Nagegewohnheiten, achtloses Gepinkel.
«Arschloch, Arschloch!», höhnte der Besucher und trat aus der Dunkelheit in die Bettranddämmerung.
Mit Bestürzung erkannte Alfred ihn. Zuerst sah er die eingesackten Konturen, dann stieg ihm ein Hauch von bakteriellem Verfall in die Nase. Das war keine Maus. Das war der Scheißhaufen.
«Auch noch Urinprobleme, he, he!», sagte der Scheißhaufen.
Es war ein soziopathischer Scheißhaufen, ein weicher Stuhl mit losem Maul. In der Nacht zuvor hatte er sich mit Alfred bekannt gemacht und ihn so in Erregung versetzt, dass nur Enids Fürsorge, helles elektrisches Licht und Enids beruhigende Hand auf seiner Schulter, die Nacht hatten retten können.
«Fort!», befahl Alfred streng.
Der Scheißhaufen aber huschte an der Seite der sauberen nordischen Koje entlang und zerlief wie ein Brie oder ein blättriger, nach Pferdeäpfeln riechender Cabrales auf dem Überwurf. «Denkste, Alter.» Und löste sich, buchstäblich, in einer Salve übermütiger Furzgeräusche auf.
Die Angst, den Scheißhaufen auf seinem Kissen anzutreffen, zitierte den Scheißhaufen prompt auf das Kissen, wo er es sich in verschiedenen Posen feucht glänzenden Wohlbehagens gemütlich machte.
«Geh weg, geh weg», sagte Alfred und setzte einen Ellbogen auf den Teppichboden, während er mit dem Kopf voran aus dem Bett kletterte.
«Nee, nee, Jose», sagte der Scheißhaufen. «Zuerst kriech ich in deine Kleider.»
«Nein!»
«O doch, Alter. Ich kriech in deine Kleider und mach die Polster dreckig. Schmier rum und hinterlass 'ne Spur. Und stinke erst mal kräftig!»
«Warum? Warum willst du so etwas tun?»
«Weil es mir entspricht», krächzte der Scheißhaufen. «So bin ich eben. Das Interesse anderer über mein eigenes stellen? In eine Kloschüssel hüpfen, um die Gefühle anderer zu schonen? Das würdest du vielleicht tun, Alter. Du machst alles farsch alschrum. Schau dir doch an, wo du damit gelandet bist.»
«Andere sollten mehr Rücksicht nehmen.»
«Nein — du solltest weniger Rücksicht nehmen. Alter, ich bin gegen alle Zwänge. Wenn dir nach was ist, leb's aus. Wenn du was willst, hol's dir. Immer schön zuerst an sich denken.»
«Die Zivilisation steht und fällt mit der Beherrschung der Triebe», sagte Alfred.
«Zivilisation? Überbewertet. Ich frag dich, was hat die schon je für mich getan? Mich im Klo runtergespült! Mich wie Scheiße behandelt!»
«Aber genau das bist du doch», protestierte Alfred, in der Hoffnung, der Scheißhaufen werde einsehen, wie logisch das war. «Dafür ist ein Klo doch schließlich da.»
«Wen bezeichnest du hier als Scheiße, Arschloch? Ich hab die gleichen Rechte wie alle anderen, oder? Leben, Freiheit, das Streben nach größtmösiger Glücksmösigkeit? So steht es in der Verfassung der Verunreinigten Staa-»
«Das stimmt nicht», sagte Alfred. «Du meinst die Unabhängigkeitserklärung.»
«Irgend so ein altes vergilbtes Stück Papier, was zum Rattenfurz kümmert's mich, wie das Scheißding genau heißt? Verkniffene Ärsche wie du haben mir schon, als ich noch soo klein war, jedes Scheißwort aus der Klappe rauskorrigiert. Du und all die an Verstopfung leidenden Fascholehrer und Nazibullen. Von mir aus können die Wörter auf ein Stück beschissenes Klopapier gedruckt sein. Ich sage, das hier ist ein freies Land, ich bin die Mehrheit, und du, Alter, bist in der Minderheit. Also Scheiß auf dich.»
Der Scheißhaufen hatte eine Einstellung, einen Ton, die Alfred gespenstisch vertraut vorkamen, ohne dass er sie zuordnen konnte. Er begann, sich auf Alfreds Kissen zu wälzen und hin- und herzurollen, wobei er einen glänzenden, grünlich braunen Film voll kleiner Klümpchen und Fasern darauf verteilte und dort, wo der Stoff sich bauschte, weiße Falten und Mulden hinterließ. Alfred, auf dem Boden neben dem Bett, hielt sich mit den Händen Nase und Mund zu, um den Gestank und das Grauen abzuschwächen.
Dann lief der Scheißhaufen am Bein seiner Pyjamahose hoch. Alfred spürte seine kitzelnden, mausähnlichen Füße.
«Enid!», rief er mit aller Kraft, die in ihm war.
Der Scheißhaufen war irgendwo in der Nähe seiner Oberschenkel. Mit Mühe beugte Alfred seine steifen Beine und hakte die nur halb funktionsfähigen Daumen in den Hosenbund, damit er den Pyjama hinunterstreifen konnte, um den Scheißhaufen im Stoff zu fangen. Auf einmal begriff er, dass der Scheißhaufen ein entflohener Häftling war, ein Stück menschlichen Abfalls, das ins Gefängnis gehörte. Dass es Gefängnisse genau hierfür gab: für Leute, die glaubten, sie, und nicht die Gesellschaft, bestimmten die Regeln. Und wenn das Gefängnis sie nicht abschreckte, verdienten sie den Tod! Den Tod! Aus seiner Wut Kraft schöpfend, gelang es Alfred, sich das Pyjamaknäuel von den Füßen zu zerren, und mit zitternden Armen rang er es zu Boden, bearbeitete es mit den Unterarmen und zwängte es tief zwischen die harte nordische Matratze und die nordischen Sprungfedern. Nach Luft schnappend, kniete er in seinem Pyjamaoberteil und seiner Erwachsenenwindel auf dem Teppich.
Enid schlief weiter. Etwas eindeutig Märchenhaftes in ihrer Haltung heute Nacht.
«Pfllaaatsch!», höhnte der Scheißhaufen. Er war an der Wand über Alfreds Koje wieder aufgetaucht und hing halsbrecherisch, als hätte ihn jemand dorthin geschleudert, neben einer gerahmten Radierung vom Osloer Hafen.
«Der Teufel soll dich holen!», sagte Alfred. «Du gehörst hinter Schloss und Riegel!»
Der Scheißhaufen keuchte vor Lachen, während er sehr langsam an der Wand hinabglitt und mit seinen klebrigen Pseudosaugnäpfen auf die Laken zu tropfen drohte. «Mir scheint», sagte er, «ihr analfixierten Typen hättet gern alles hinter Schloss und Riegel. Kleine Kinder zum Beispiel, absolute Katastrophe, Mann, die reißen dir deinen Plunder aus den Regalen, kleckern auf den Teppich, nölen im Kino, pinkeln daneben. Ab in den Knast mit ihnen! Und die Polynesier, Mann, die tragen Sand ins Haus und schmieren Fischsauce auf die Möbel, und all die geschlechtsreifen Puppen mit ihren entblößten Möpsen? Einsperren! Und wo wir schon mal dabei sind, wie wär's mit zehn oder zwanzig Jahren für jeden geilen kleinen Teenager, ich meine, apropos Unverschämtheit, apropos null Disziplin. Und Neger (heikles Thema, Fred?), ich höre Hottentotten-Geschrei und wilde Grammatik, ich rieche Alkohol von der malzigen Sorte und schweren, fettigen Schweiß, und dann all das Getanze und Auf-den-Putz-Gehaue, und Sänger, die säuseln und schmatzen wie bestimmte, mit Speichel und Gel befeuchtete Körperteile: Wozu sind Gefängnisse denn da, wenn nicht, um Neger reinzuwerfen? Und diese Kariben mit ihren Riesenjoints und ihren blähbäuchigen Gören und, also echt, ihrem täglichen Gegrille und den von Ratten übertragenen Hantaviren und zuckrigen Getränken mit Schweineblut unten im Glas? Zellentür zu, Schlüssel verschlucken. Und die Chinesen, Mann, diese arschkriechenden, komisch benamsten Weicheier, wie selbst gemachte Dildos, die einer nach dem Benutzen zu waschen vergessen hat, 'n Dolla, 'n Dolla, und diese schleimigen Karpfen und lebend gehäuteten Singvögel, und komm, also echt, Welpensuppe und Muschikatzenknödel und Baby-Mädchen sind da nationale Delikatessen, und Saudarm, will sagen Anus vom Schwein, wahrscheinlich 'ne ziemlich zähe und borstige Angelegenheit, dieser Saudarm, und die Schlitzaugen bezahlen Geld, um so was zu essen? Wie wär's, schmeißen wir doch einfach 'ne Atombombe auf alle eins Komma zwei Milliarden von denen, he? Der Teil der Welt wär dann schon mal sauber. Und vergessen wir nicht die Frauen im Allgemeinen, eine einzige Spur von Taschentüchern und Tampons, wo immer sie langgehen. Und diese Homos mit ihren kassenärztlich verschriebenen Gleitcremes, und diese Südeuropäer mit ihren Schnurrbärten und ihrem Knoblauch, und diese Franzosen mit ihren Strumpfhaltern und ihrem vergammelten Käse, und diese hodenkratzenden Arbeiter mit ihren aufgemotzten Schlitten und ihren Bierrülpsern, und diese Juden mit ihren beschnittenen Schwänzen und ihrem gefillte fisch, der wie eingemachte Scheiße aussieht, und eure weißen angelsächsischen Protestanten mit ihren ellenlangen Motorjachten und laufärschigen Polopferden und Geh-zum-Teufel-Zigarren? He, komisch, Fred, die einzigen Leute, die nicht in dem Gefängnis gehören, sind nordeuropäische Männer der oberen Mittelschicht. Und du hältst mir vor, dass ich die Dinge so haben möchte, wie ich will?»
«Was muss ich tun, damit du diesen Raum verlässt?», fragte Alfred.
«Locker den Schließmuskel, Alter. Lass es raus.»
«Niemals!»
«In dem Fall könnte ich ja deinem Kulturbeutel mal einen Besuch abstatten. Kleine Durchfallattacke auf der Zahnbürste. Paar schöne Kleckse in die Rasiercreme, dann schäumt's morgen früh leuchtend braun — »
«Enid», sagte Alfred mit gepresster Stimme, den Blick nicht von dem gerissenen Scheißhaufen wendend, «ich bin in Schwierigkeiten. Ich wäre dir dankbar, wenn du mir helfen würdest.»
Seine Stimme hätte sie wecken müssen, doch ihr Schlaf war schneewittchentief.
«Enid, Liiiebes», spottete der Scheißhaufen mit David-Niven-Akzent, «ich wäre dir zu aufrichtigem Dank verpflichtet, wenn du mir, sobald es dir irgend möglich ist, ein wenig zu Hilfe kommen könntest.»
Unbestätigten Meldungen der Nerven in Alfreds Hintern und Kniekehlen zufolge waren weitere Scheißhaufeneinheiten in der näheren Umgebung unterwegs. Kotrebellen, die verstohlen herumschnüffelten und Gestankspuren legten.
«Essen und Ficken, Alter», sagte der Anführer der Scheißhaufen, der sich jetzt nur noch mit einem Pseudosaugnapf aus fäkaler Mousse an die Wand klammerte, «darauf läuft's doch hinaus. Das ganze andere, und ich sag das in aller Bescheidenheit, ist pure Scheiße.»
Dann löste sich der Pseudosaugnapf, und der Anführer der Scheißhaufen plumpste — ein Klümpchen Fäulnis an der Wand hinterlassend — mit einem Freudenschrei auf eine Koje, die den Nordic Pleasurelines gehörte und in wenigen Stunden von einer reizenden jungen Finnin gemacht werden sollte. Die Vorstellung, dass dieses reinliche, liebenswürdige Zimmermädchen überall auf dem Laken Brocken seiner Exkremente finden würde, war beinahe mehr, als Alfred verkraften konnte.
Der Rand seines Blickfelds war jetzt belebt von sich windendem Stuhl. Er musste die Dinge zusammenhalten, zusammenhalten. Da er annahm, eine undichte Stelle in der Toilette könnte die Quelle seiner Not sein, kroch er auf Händen und Knien ins Badezimmer und trat die Tür hinter sich zu. Drehte sich mit einiger Leichtigkeit auf den glatten Fliesen um. Lehnte den Rücken an die Tür und stemmte die Füße gegen das Waschbecken. Einen Augenblick lachte er über die Absurdität seiner Lage. Da saß er, ein leitender amerikanischer Angestellter, in Windeln auf dem Boden eines schwimmenden Badezimmers und wurde von einem Geschwader Fäkalien belagert. Man kam schon auf die sonderbarsten Einfalle, so spät in der Nacht.
Im Badezimmer war das Licht besser. Es gab eine Wissenschaft der Reinlichkeit, eine Wissenschaft des Erscheinungsbildes, eine Wissenschaft der Ausscheidungen gar, wie der überdimensionale Schweizer Porzellaneierbecher von einer Kloschüssel bewies, ein fürstlich aufgesockeltes Ding mit fein gerändeltem Spülknopf. In dieser kongenialeren Umgebung gelang es Alfred, sich weit genug zu sammeln, um zu begreifen, dass die Kotrebellen seiner Einbildung entsprangen, dass er bis zu einem gewissen Grad geträumt hatte und dass die Quelle seiner Not ein einfaches Kanalisationsproblem war.
Leider arbeitete hier in der Nacht keiner. Und es war weder möglich, sich den Defekt mit eigenen Augen anzuschauen, noch eine Spirale oder gar Videokamera dort hinunterzulassen. Höchst unwahrscheinlich auch, dass ein Stördienst unter den gegebenen Umständen überhaupt seine Ausrüstung würde herschaffen können. Alfred war nicht einmal sicher, ob er selbst in der Lage wäre, seinen Standort auf der Karte zu bestimmen.
Er hatte keine andere Wahl, als bis zum Morgen zu warten. In Ermangelung einer ganzen Lösung waren zwei halbe Lösungen besser als gar keine Lösung. Man rücke dem Problem mit dem zu Leibe, was sich gerade bietet.
Ein paar Extrawindeln: Das sollte für einige Stunden reichen.
Und hier waren die Windeln ja auch schon, in einer Tüte gleich neben der Toilette.
Es war fast vier Uhr. Wenn der Bezirksleiter um sieben nicht an seinem Schreibtisch säße, wäre der Teufel los. Alfred konnte sich nicht genau an den Namen des Kerls erinnern; nicht, dass das wirklich wichtig war. Einfach im Büro anrufen und warten, wer abnahm.
Aber es war doch wieder typisch für die moderne Welt, oder etwa nicht, wie rutschig die verdammten Klebestreifen an den Windeln waren.
«Nun guck dir das mal an», sagte er in der Hoffnung, seine Wut auf die hinterhältige Moderne als weise Belustigung ausgeben zu können. Die Klebestreifen hätten ebenso gut mit Teflon beschichtet sein können. Die Folie davon abzuziehen, zumal mit seiner trockenen Haut und diesem Zittern, war wie eine Murmel mit zwei Pfauenfedern aufzuheben.
«Also, um Himmels willen.»
Er versuchte es fünf Minuten lang, und dann noch einmal fünf Minuten. Aber die Folie wollte nicht abgehen.
«Also, um Himmels willen.»
Über die eigene Unzulänglichkeit grinsen. Vor Verzweiflung und in dem übermächtigen Gefühl, beobachtet zu werden, grinsen.
«Also, um Himmels willen», sagte er erneut. Diese Redensart erwies sich oft als nützlich, um die Peinlichkeit kleinerer Missgeschicke zu überspielen.
Wie sich ein Raum in der Nacht verändern konnte! Als Alfred die Sache mit den Klebestreifen schließlich aufgegeben und sich einfach eine dritte Windel so weit wie möglich, was leider nicht sehr weit war, über den Oberschenkel gezerrt hatte, befand er sich nicht mehr im selben Badezimmer. Das Licht hatte eine neue klinische Intensität; er spürte die schwere Hand einer noch weiter vorgerückten Stunde.
«Enid!», rief er. «Kannst du mir helfen?»
Dank seiner fünfzig Jahre Erfahrung als Ingenieur sah er auf einen Blick, dass der Stördienst gepfuscht hatte. Eine der Windeln war fast ganz umgestülpt, und aus zwei Schichten einer zweiten stak ein leicht spastisches Bein, sodass sich ein Großteil ihrer Saugfähigkeit ungenutzt in einem Paket ballte und die Klebestreifen nirgendwo hafteten. Alfred schüttelte den Kopf. Er konnte dem Stördienst keinen Vorwurf machen. Er war selbst schuld. Nie hätte er unter solchen Bedingungen eine solche Arbeit übernehmen sollen. Schlechtes Augenmaß. Der Versuch, den Schaden zu begrenzen, während man noch im Dunkeln tappte, schuf oft mehr Probleme, als er löste.
«Tja, jetzt sitzen wir schön in der Tinte», sagte er mit einem bitteren Lächeln.
Und konnte das da auf dem Boden Flüssigkeit sein? Ach du liebe Güte, da war anscheinend Flüssigkeit auf dem Boden.
Auch durch die Myriaden Rohre der Gunnar Myrdal lief Flüssigkeit.
«Um Himmels willen, Enid, bitte. So hilf mir doch.»
Keine Antwort von der Bezirksleitung. Die waren alle auf irgendeinem Betriebsausflug. Irgendwas mit Herbstfarben und fallendem Laub.
Flüssigkeit auf dem Boden! Flüssigkeit auf dem Boden!
Na schön, andererseits bezahlten sie ihn ja dafür, dass er Verantwortung trug. Dass er die schwierigen Fälle übernahm.
Er holte tief, Kraft schöpfend Luft.
In einem solchen Notfall musste, das war ganz offensichtlich, zuallererst ein Ablauf gegraben werden. Solange kein Gefalle geschaffen war, konnte man die Gleisreparatur vergessen, sonst drohte eine wirklich massive Unterspülung.
Missmutig stellte er fest, dass er kein Vermessungsinstrument zur Hand hatte, nicht einmal eine primitive Senkschnur. Er würde sich auf sein bloßes Auge verlassen müssen.
Wie zum Teufel war er überhaupt hier draußen gelandet? Bestimmt noch nicht mal fünf Uhr in der Früh.
«Erinnern Sie mich daran, um sieben den Bezirksleiter anzurufen», sagte er.
Irgendwo mochte auch ein Fahrdienstleiter erreichbar sein, natürlich. Aber dann hieß es, ein Telefon zu finden, und schon verspürte er einen eigentümlichen Widerwillen, die Augen auch nur über den Rand der Toilette zu heben. Die Arbeitsbedingungen in dieser Gegend waren unmöglich. Es konnte Vormittag werden, bis er ein Telefon gefunden hatte. Und bis dahin.
«Ach! So viel Arbeit», sagte er.
Da schien eine leichte Vertiefung in der Duschkabine zu sein. Ja, tatsächlich, ein Abfluss, vielleicht von einem alten Straßenbauprojekt des Verkehrsministeriums, das nie verwirklicht worden war, vielleicht hatte auch das Armeekorps etwas damit zu tun. Einer dieser mitternächtlichen Zufallstreffer: ein echter Abfluss. Das stellte ihn allerdings vor das verflixt große Problem, den ganzen Laden so umzudirigieren, dass der Abfluss genutzt werden konnte.
«Wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, fürchte ich.»
Am besten ging man gleich an die Arbeit. Die Müdigkeit wurde schließlich nicht geringer. Dachte an die Holländer mit ihrem Delta-Projekt. Vierzig Jahre Kampf gegen das Meer. Die Dinge ein bisschen zurechtrücken — eine schlechte Nacht. Er hatte schon Schlimmeres durchgestanden.
Den Versuch unternehmen, mit ein bisschen Sicherheitsmarge zu bauen, das war der Plan. Er würde sich auf gar keinen Fall darauf verlassen, dass so ein kleiner Abfluss mit all dem Wasser fertig wurde. Sonst gab es später nur weitere Verstopfungen.
«Und dann sitzen wir in der Klemme», sagte er. «Dann sitzen wir richtig in der Klemme.»
Hätte aber verdammt viel schlimmer kommen können. Die hatten Glück, dass gerade im Moment des Wasserdurchbruchs ein Ingenieur zur Stelle gewesen war. Nicht auszudenken, was sie sonst erst für einen Schlamassel am Hals gehabt hätten.
«Hätte eine echte Katastrophe werden können.»
Zuallererst die undichte Stelle provisorisch abdichten, dann mit dem logistischen Albtraum fertig werden, der darin lag, den ganzen Laden zum Abfluss hin umzudirigieren, und schließlich hoffen, dass er alles im Griff behielt, bis die Sonne aufging.
«Und am Ende sehen wir weiter.»
Im trügerischen Licht sah er die Flüssigkeit über den Boden laufen und dann, langsam, zurückschwappen, als hätte die Horizontale den Verstand verloren.
«Enid!», rief er ohne große Hoffnung und machte sich an die grässliche Arbeit, das Leck abzudichten und sich wieder ins Gleis zu bringen, während das Schiff dahinfuhr.
Dank Aslan® — und Dr. Hibbard, einem fabelhaften, hochkarätigen jungen Mann — schlief Enid seit vielen Monaten zum ersten Mal durch.
Es gab tausenderlei Dinge, die sie sich vom Leben wünschte, und da mit Alfred zu Hause in St. Jude weniges davon zu haben war, hatte sie notgedrungen all ihr Wünschen auf die gezählten Tage, die Lebenszeit einer Maifliege, gelenkt, die ihre Luxuskreuzfahrt dauern würde. Monatelang war die Kreuzfahrt der sichere Parkplatz ihrer Seele gewesen, die Zukunft, die ihre Gegenwart erträglich machte, und nachdem der Nachmittag in New York sich in der Kategorie Vergnügen als mangelhaft erwiesen hatte, war sie mit doppelten Gelüsten an Bord der Gunnar Myrdal gegangen.
Hier vergnügte man sich stürmisch auf jedem Deck. Vor allem Cliquen von Senioren schienen ihren Ruhestand so zu genießen, wie Enid es sich von Alfred gewünscht hätte. Obwohl Nordic Pleasurelines nun ganz bestimmt keine Billiglinie war, hatten fast nur große Gruppen die Kreuzfahrt gebucht — der Ehemaligenverein der Universität von Rhode Island zum Beispiel, der Wohltätigkeitsclub American Hadassah aus Chevy Chase (Maryland), die 85. Luftlandedivision («Himmelsteufel») und die Senioren-Equipe der Paarturnier-Bridgeliga aus Dade County (Florida). Witwen bei bester Gesundheit geleiteten einander am Ellbogen zu speziellen Appellplätzen, wo Namensschilder und Informationsmappen verteilt wurden und das bevorzugte Zeichen gegenseitigen Wiedererkennens der glaszerschmetternde Schrei war. Bestrebt, jede Minute der wertvollen Kreuzfahrtzeit auszukosten, tranken manche Senioren bereits aus Kelchen, die man mit beiden Händen halten musste, den geeisten Cocktail du jour, einen Lappländischen Preiselbeer-Frappe. Andere drängten sich an den regengeschützten Relings der unteren Decks und suchten Manhattan nach einem Gesicht ab, dem sie zum Abschied winken konnten. Eine Combo in der Abba-Show-Lounge spielte Heavy-Metal-Polka.
Während Alfred im Badezimmer eine letzte Sitzung vor dem Abendessen abhielt, die dritte innerhalb einer Stunde, saß Enid in der «B» — Deck-Lounge und lauschte auf den langsamen Rums-Schlurf-Rhythmus von jemandem, der mit einer Gehhilfe die «A»-Deck-Lounge über ihr durchquerte.
Die Kreuzfahrtuniform der Bridgeligisten war offenbar ein T-Shirt mit dem Aufdruck: ALTE BRIDGESPIELER STERBEN NIE, SIE SCHNEIDEN NUR NICHT MEHR. Enid fand, der Witz vertrug keine allzu häufige Wiederholung.
Sie sah Pensionäre auf den Lappländischen Preiselbeer-Frappe zurennen, regelrecht die Füße vom Boden heben.
«Na ja», murmelte sie, darüber nachsinnend, wie alt hier alle waren, «wer sonst sollte sich auch so eine Kreuzfahrt leisten können?»
Der vermeintliche Dackel, den ein Mann an einer Leine hinter sich herzog, entpuppte sich als auf Rollschuhe montierte und in einen Haustierpullover gesteckte Sauerstoffflasche.
Ein sehr dicker Mann kam vorbei, auf dessen T-Shirt TITANIC: DAS WRACK stand.
Da war nun das ganze Leben ungeduldig auf einen gewartet worden, und jetzt dauerte ein einziger Badezimmeraufenthalt des ungeduldigen Ehemanns mindestens fünfzehn Minuten.
ALTE UROLOGEN STERBEN NIE, SIE VERSIEGEN NUR.
Selbst an Abenden mit legerer Kleiderordnung, wie heute, waren T-Shirts offiziell nicht gern gesehen. Enid trug einen wollenen Hosenanzug und hatte Alfred gebeten, einen Schlips anzulegen, obwohl seine Krawatten so, wie er in letzter Zeit mit dem Suppenlöffel umging, an der Abendessenfront kaum mehr als Kanonenfutter waren. Sie hatte dafür gesorgt, dass er ein Dutzend einpackte. Eine Nordic-Pleasurelines-Kreuzfahrt war Luxus, das stand ihr deutlich vor Augen. Sie erwartete — und hatte, zum Teil mit ihrem eigenen Geld, dafür bezahlt — Eleganz. Jedes T-Shirt, das sie sah, versetzte ihrer Phantasie, und folglich ihrem Vergnügen, einen kleinen Tritt.
Es wurmte sie, dass reichere Leute als sie ganz häufig weniger ehrenwert und ansehnlich waren. Ordinärer und rüpelhafter. Es konnte etwas Tröstliches darin liegen, wenn man ärmer war als schöne und kluge Menschen. Aber weniger wohlhabend zu sein als diese Witze reißenden T-Shirt-Fettbäuche-
«Ich bin soweit», verkündete Alfred, der eben in der Lounge aufgetaucht war. Er nahm Enids Hand, und gemeinsam fuhren sie mit dem Fahrstuhl zum S0ren-Kierkegaard-Speisesaal hinauf. Seine Hand haltend, fühlte sie sich verheiratet und, weil das so war, im Universum verankert und mit dem Alter versöhnt, doch sie konnte nicht umhin zu denken, wie viel es ihr all die Jahrzehnte, in denen er stets ein oder zwei Schritte vor ihr hergelaufen war, bedeutet hätte, seine Hand zu halten. Jetzt war seine Hand bedürftig und zahm. Selbst ein Zittern, das heftig aussah, fühlte sich in der ihren federleicht an. Allerdings konnte sie spüren, dass die Hand, sobald sie sie losgelassen hätte, wieder paddeln würde.
Kreuzfahrer ohne Gruppenanschluss bekamen Plätze an speziellen «Flottierer»-Tischen zugewiesen. Zur großen Freude von Enid, die kosmopolitische Gesellschaft genoss, solange sie nicht zu versnobt war, stammten zwei der «Flottierer» an ihrem Tisch aus Norwegen und zwei aus Schweden. Enid hatte europäische Länder gern klein. Man konnte einen interessanten schwedischen Brauch oder norwegischen Sachverhalt kennenlernen, ohne gleich darauf gestoßen zu werden, dass man nichts von deutscher Musik, französischer Literatur oder italienischer Kunst verstand. Die Verwendung des Wörtchens «skol» war ein gutes Beispiel. Ebenso die Tatsache, dass Norwegen Europas größter Rohölexporteur war, wie Mr. und Mrs. Nygren aus Oslo der Runde gerade erklärten, als sich die Lamberts auf den beiden letzten noch freien Plätzen niederließen.
Enid sprach als Erstes ihren Nachbarn zur Linken an, Mr. Söderblad, einen älteren Schweden mit beruhigend breitem Plastron und blauem Blazer. «Welchen Eindruck haben Sie bisher von dem Schiff?», fragte sie ihn. «Ist es wirklich absolut authentisch?»
«Nun, es scheint immerhin zu schwimmen», sagte Mr. Söderblad mit einem Lächeln, «trotz schwerer See.»
Enid hob die Stimme, um seiner Auffassungsgabe auf die Sprünge zu helfen. «Ich meine, ist es ECHT SKANDINAVISCH?»
«Aber ja, gewiss», sagte Mr. Söderblad. «Auch wenn gleichzeitig alles auf der Welt zunehmend amerikanisch wird, finden Sie nicht?»
«Aber finden Sie», sagte Enid, «dass dieses Boot WIRKLICH ABSOLUT AUTHENTISCH die Atmosphäre eines ECHTEN SKANDINAVISCHEN SCHIFFES einfängt?»
«Eigentlich ist es sogar besser als die meisten Schiffe in Skandinavien. Meine Frau und ich sind bisher sehr zufrieden.»
Enid gab ihre Befragung auf, keineswegs überzeugt, dass Mr. Söderblad deren Tragweite erfasst hatte. Ihr lag daran, dass Europa europäisch war. Sie hatte diesen Kontinent fünfmal im Urlaub und zweimal auf Geschäftsreisen mit Alfred besucht, insgesamt also ungefähr ein Dutzend Mal, und Freunden, die Reisen nach Spanien oder Frankreich planten, erklärte sie inzwischen gern und mit einem Seufzer, dass sie für ihren Teil genug davon habe. Es machte sie allerdings wahnsinnig, wenn ihre Freundin Bea Meisner ebenso unbeeindruckt tat und «Ich bin es leid, zu den Geburtstagen meiner Enkel nach Kitzbühel zu fliegen» und ähnliches sagte. Beas dümmliche und unverhältnismäßig hübsche Tochter Cindy hatte einen österreichischen Sportarzt geheiratet, irgendeinen von Sowieso, der im Riesenslalom olympische Bronze gewonnen hatte. Dass Bea überhaupt noch mit Enid verkehrte, war ein Triumph der Loyalität über unterschiedliche Vermögenslagen. Doch Enid vergaß nie, dass sich die Finanzierung des Meisner'schen Anwesens in Paradise Valley zu einem erheblichen Anteil Chucks Großinvestition in Erie-Belt-Aktien kurz vor dem Aufkauf der Midpac verdankte. Chuck war Vorstandsvorsitzender seiner Bank geworden, während Alfred bei der Midpac in der zweiten Reihe stecken geblieben war und seine Ersparnisse in inflationsanfälligen Rentenpapieren angelegt hatte, sodass die Lamberts sich auch jetzt noch keine Nordic-Pleasurelines-Qualität hätten leisten können, wenn Enid nicht an eigenes Kapital gegangen wäre, wozu sie sich entschlossen hatte, um nicht vor Neid verrückt zu werden.
«Meine beste Freundin in St. Jude verbringt ihren Urlaub häufig in Kitzbühel», rief sie, im Grunde ohne jeden Bezug, Mr. Söderblads hübscher Frau zu. «Ihr österreichischer Schwiegersohn ist ungeheuer erfolgreich und besitzt dort ein Chalet!»
Mrs. Söderblad hatte etwas von einem edelmetallenen Accessoire, das durch Mr. Söderblads Benutzung leicht abgestoßen und angelaufen war. Lippenstift, Haarfarbe, Lidschatten und Nagellack variierten ein Platinthema; ihr Abendkleid war aus Silberlame und gestattete einen guten Ausblick auf sonnengeröstete Schultern und Silikonhügel. «Kitzbühel ist sehr schön», sagte sie. «Ich bin oft in Kitzbühel aufgetreten.»
«SIE SIND KÜNSTLERIN?», rief Enid.
«Signe war so eine Art Unterhaltungskünstlerin», sagte Mr. Söderblad schnell.
«Manche dieser Urlaubsorte in den Alpen sind entsetzlich überteuert», bemerkte die Norwegerin, Mrs. Nygren, mit einem Schaudern. Ihre riesigen runden Brillengläser und die strahlenförmige Anordnung ihrer Gesichtsfalten ließen an eine Gottesanbeterin denken. Äußerlich waren sie und der blank polierte Söderblad eine wechselseitige Beleidigung. «Andererseits», fuhr sie fort, «ist es für uns Norweger leicht, wählerisch zu sein. Selbst in einigen unserer Stadtparks kann man hervorragend Ski fahren. Eigentlich gibt es nirgends etwas Vergleichbares.»
«Allerdings», sagte Mr. Nygren, der sehr groß war und Ohren wie rohe Kalbsschnitzel hatte, «muss man zwischen dem Abfahrtslauf und den Varianten Langlauf und nordische Kombination unterscheiden. Norwegen hat zwar manchen ausgezeichneten Abfahrtsläufer hervorgebracht — ich nenne nur den Namen Kjetil Andre Aamodt, der hier sicher alles andere als ein ‹unbeschriebenes Blatt› ist — , aber man muss zugeben, dass wir in dieser Disziplin nicht immer ganz oben mitgemischt haben. Beim Langlauf oder bei der nordischen Kombination ist das etwas vollkommen anderes. Da bringen wir, wie ich wohl ohne Übertreibung sagen darf, nach wie vor mehr als genug Medaillen nach Hause.»
«Norweger sind sagenhaft langweilig», flüsterte Mr. Söderblad Enid heiser ins Ohr.
Die beiden anderen «Flottierer» am Tisch, ein gepflegtes älteres Ehepaar namens Roth aus Chadds Ford, Pennsylvania, hatten Enid instinktiv den Gefallen getan, Alfred in ein Gespräch zu ziehen. Von der heißen Suppe, dem Theater mit seinem Löffel und vielleicht auch von der Anstrengung, nicht einen einzigen Blick auf das betörende Söderblad'sche Dekolleté zu werfen, war Alfreds Gesicht gerötet, während er den Roths die Stabilisierungstechnik eines Ozeandampfers erklärte. Mr. Roth, ein gescheit dreinschauender Mann mit Fliege und einer Hornbrille, die seine Augen hervorquellen ließ, löcherte ihn mit anspruchsvollen Fragen und lauschte den Antworten mit derart gespannter Aufmerksamkeit, dass er beinahe erschüttert wirkte.
Mrs. Roth achtete weniger auf Alfred als auf Enid. Sie war eine kleine Frau, ein niedliches Kind von Mitte sechzig. Mit den Ellbogen erreichte sie kaum die Tischplatte. Sie hatte einen weiß gefleckten schwarzen Pagenkopf, rosige Wangen und große blaue Augen, mit denen sie Enid unverhohlen anstarrte, wie jemand, der sehr klug oder sehr dumm ist. Solches Schwärmen ließ auf Sehnsüchte schließen. Enid spürte auf der Stelle, dass Mrs. Roth auf dieser Kreuzfahrt entweder ihre beste Freundin oder ihre schlimmste Rivalin werden würde, und so vermied sie es nicht ohne Koketterie, sie anzusprechen oder ihre Anwesenheit auf andere Weise zur Kenntnis zu nehmen. Während Steaks aufgetischt und verwüstete Hummer abgetragen wurden, platzierte Enid ein ums andere Mal und Mr. Söderblad parierte ein ums andere Mal Fragen nach seinem Beruf, der etwas mit Waffenhandel zu tun zu haben schien. Mrs. Roths blauäugigen Blick saugte sie ebenso begierig auf wie den Neid, den die «Flottierer» an anderen Tischen hervorrufen mussten. Sie vermutete, dass sich die «Flottierer» in den Augen des T-Shirt-Plebs ausgesprochen kontinental ausnahmen. Ein Hauch von Adel. Schönheit, Krawatten, ein Plastron. Ein gewisses Prestige.
«Manchmal freue ich mich so auf meinen Morgenkaffee», sagte Mr. Söderblad, «dass ich abends gar nicht einschlafen kann.»
Enids Hoffnung, dass Alfred mit ihr im Pippi-Langstrumpf-Ballsaal tanzen werde, zerschellte, als er aufstand und verkündete, er gehe jetzt ins Bett. Es war noch nicht einmal sieben. Wer hatte je von einem Erwachsenen gehört, der um sieben Uhr abends zu Bett ging?
«Setz dich wieder hin und warte auf den Nachtisch», sagte sie. «Die Nachtische sollen göttlich sein.»
Alfreds unansehnlich gewordene Serviette rutschte von seinen Schenkeln auf den Boden. Er schien überhaupt nicht zu ahnen, wie sehr er sie in Verlegenheit brachte und enttäuschte. «Bleib du ruhig hier», sagte er. «Ich habe genug.»
Und schon schlurfte er über den S0ren-Kierkegaard-Teppich davon, mit den Schieflagen der Horizontale kämpfend, die stärker geworden waren, seit das Schiff den New Yorker Hafen verlassen hatte. Wohlbekannte Wellen des Grams dämpften Enids Stimmung, als sie an all das Vergnügen dachte, das ihr mit einem solchen Ehemann entging, bis ihr klar wurde, dass sie nun einen langen Abend für sich hatte und kein Alfred ihr das Vergnügen verderben konnte.
Ihre Laune hellte sich auf, und hellte sich weiter auf, als Mr. Roth sich verabschiedete, um in den Knut-Hamsun-Lesesaal zu gehen, und seine Frau am Tisch zurückließ. Mrs. Roth rückte näher an Enid heran.
«Wir Norweger sind große Leser», bemerkte Mrs. Nygren, die Gelegenheit beim Schöpfe packend.
«Und große Quasselstrippen», murmelte Mr. Söderblad.
«Öffentliche Büchereien und Buchläden in Oslo haben enormen Zulauf», teilte Mrs. Nygren der Runde mit. «Ich glaube, das ist nicht überall so. Das Lesen ist weltweit im Niedergang begriffen. Aber nicht in Norwegen, hm. Mein Per liest in diesem Herbst das Gesamtwerk von John Galsworthy zum zweiten Mal. Auf Englisch.»
«Neiiiin, Inga, nein», wieherte Per Nygren. «Zum dritten Mal!»
«Großer Gott», sagte Mr. Söderblad.
«Wirklich.» Mrs. Nygren schaute Enid und Mrs. Roth an, als erwarte sie Ehrfurcht. «Per liest jedes Jahr von allen bisherigen Literaturnobelpreisträgern ein Buch und außerdem das Gesamtwerk des Preisträgers, den er im Vorjahr am besten fand. Und sehen Sie, die Aufgabe wird von Jahr zu Jahr ein bisschen schwieriger, weil ja immer ein weiterer Preisträger hinzukommt, nicht wahr.»
«Es ist ein wenig wie beim Hochsprung — die Latte wird immer höher gelegt», erklärte Per. «Jedes Jahr eine etwas größere Herausforderung.»
Mr. Söderblad, der nach Enids Zählung seine achte Tasse Kaffee trank, lehnte sich dicht zu ihr herüber und sagte: «Mein Gott, sind die langweilig!»
«Ich kann ohne Übertreibung sagen, dass ich weit mehr von Henrik Pontoppidan gelesen habe als die meisten anderen», sagte Per Nygren.
Mrs. Söderblad legte den Kopf schief und lächelte verträumt. «Wissen Sie», sagte sie, vielleicht zu Enid oder zu Mrs. Roth, «dass Norwegen bis vor einhundert Jahren eine schwedische Kolonie war?»
Die Norweger gingen hoch wie ein aufgescheuchtes Bienenvolk.
«Kolonie!? Kolonie??»
«Oh, oh», zischte Inga Nygren, «ich glaube, da gibt es eine Geschichte, die wir unseren amerikanischen Freunden nicht vorenthalten wollen.»
«Eine Geschichte strategischer Bündnisse!», erklärte Per.
«Wenn Sie ‹Kolonie› sagen, welches schwedische Wort haben Sie da genau im Sinn, Mrs. Söderblad? Da mein Englisch offenkundig um einiges besser ist als das Ihre, kann ich unseren amerikanischen Freunden vielleicht eine treffendere Übersetzung liefern, zum Beispiel ‹gleichberechtigte Partner in einem vereinigten Halbinsel-Königreich›»
«Signe», sagte Mr. Söderblad boshaft zu seiner Frau, «ich glaube, da hast du einen Nerv getroffen.» Er hob eine Hand. «Ober, nachschenken.»
«Wenn man das späte neunte Jahrhundert als Ausgangspunkt nimmt», sagte Per Nygren, «und ich denke, sogar unsere schwedischen Freunde werden mir zustimmen, dass die Thronbesteigung von Harald Schönhaar eine ganz brauchbare ‹Startrampe› für unsere Untersuchung der wechselhaften Beziehungen zweier konkurrierender Großmächte ist, oder sollte ich vielleicht sagen, dreier Großmächte, denn auch Dänemark spielt in unserer Geschichte eine recht faszinierende Rolle — »
«Wir würden das sehr gern hören, aber vielleicht ein andermal», unterbrach ihn Mrs. Roth und beugte sich vor, um Enids Hand zu berühren. «Wir hatten doch sieben Uhr gesagt, erinnern Sie sich?»
Enid stutzte nur kurz. Dann entschuldigte sie sich und folgte Mrs. Roth in die Haupthalle, wo sie es mit einem Gewühl von Senioren und einer Wolke gastrischer sowie keimtötender Aromen zu tun bekamen.
«Enid, ich heiße Sylvia», sagte Mrs. Roth. «Was halten Sie von Spielautomaten? Mich juckt's schon den ganzen Tag.»
«Oh, mich auch!», sagte Enid. «Ich glaube, die sind im Springberg-Saal.»
«Strindberg, ja.»
Enid bewunderte geistige Beweglichkeit, schrieb sich aber selten selbst welche zu. «Danke für die — na Sie wissen schon», sagte sie, als sie Sylvia Roth durch das Gewühl folgte.
«Rettung. Keine Ursache.»
Der Strindberg-Saal war rappelvoll mit Kiebitzen, kleinen Blackjackspielern und Freunden des einarmigen Banditen. Enid konnte sich nicht erinnern, wann ihr zuletzt etwas so viel Vergnügen gemacht hatte. Der fünfte Vierteldollar, den sie einwarf, bescherte ihr drei Pflaumen; als bringe so viel Obst die Verdauung der Maschine durcheinander, kam unten Hartgeld herausgeschossen. Enid schaufelte den Gewinn in einen Plastikeimer. Elf Vierteldollarmünzen später passierte es erneut: drei Kirschen, silberner Durchfall. Weißhaarige Spieler, die an benachbarten Spielautomaten unentwegt verloren, schauten böse zu ihr herüber. Ich schäme mich, sagte sie sich, dabei stimmte das gar nicht.
Jahrzehnte unzureichender Einkünfte hatten sie gelehrt, mit Bedacht zu investieren. Von ihrer Ausbeute zweigte sie den Betrag ihres ursprünglichen Einsatzes ab. Die Hälfte von jedem weiteren Gewinn legte sie ebenfalls auf die hohe Kante.
Ihre Geldvorräte zeigten jedoch keinerlei Anzeichen von Erschöpfung.
«So, mir reicht's jetzt», sagte Sylvia Roth nach fast einer Stunde und tippte Enid auf die Schulter. «Wollen wir uns das Streichquartett anhören?»
«Ja! Ja! Es ist im Krieg-Saal.»
«Grieg», sagte Sylvia und lachte.
«Ach, das ist ja lustig. Grieg. Ich bin so töricht heute Abend.»
«Wie viel haben Sie gewonnen? Sah ganz so aus, als hätten Sie Glück gehabt.»
«Keine Ahnung, ich hab nicht mitgezählt.»
Sylvia lächelte und schaute sie aufmerksam an. «Von wegen. Ich glaube, Sie haben genau mitgezählt.»
«Na ja, stimmt schon», sagte Enid und errötete, weil Sylvia ihr so sympathisch war. «Es waren einhundertdreißig Dollar.»
Ein Porträt Edvard Griegs hing in einem über und über mit Gold geschmückten Raum, der die Pracht des schwedischen Königshofs im achtzehnten Jahrhundert heraufbeschwor. Die große Zahl leerer Stühle bestätigte Enids Verdacht, dass viele der Kreuzfahrtteilnehmer einfache Leute waren. Sie hatte schon Kreuzfahrten erlebt, auf denen es bei klassischen Konzerten nur Stehplätze gab.
Sylvia schien nicht gerade überwältigt von den Musikern, doch Enid fand sie wunderbar. Sie spielten beliebte klassische Melodien wie die «Schwedische Rhapsodie» und Auszüge aus Finlandia und Peer Gynt — alles auswendig. Mitten in Peer Gynt wurde der zweite Geiger ganz grün im Gesicht und verließ für eine Minute den Raum (das Meer war wirklich ein bisschen stürmisch, aber Enid hatte einen robusten Magen und Sylvia ein Pflaster), und dann kehrte er an seinen Platz zurück und schaffte es sofort, als hätte er nicht einen Takt versäumt, an der richtigen Stelle wieder einzusetzen. «Bravo!», riefen die zwanzig Zuhörer.
Bei dem eleganten Empfang im Anschluss gab Enid 7,7 Prozent ihres Spielgewinns für eine Kassette aus, die das Quartett hatte aufnehmen lassen. Sie probierte ein Gratisglas Spögg, einen schwedischen Likör, dem gerade eine 15 Millionen Dollar teure Werbekampagne zuteil wurde. Spögg schmeckte wie Wodka, Zucker und Meerrettich, und das waren auch tatsächlich seine Ingredienzien. Während die anderen Gäste den Spögg eher überrascht und missvergnügt beäugten,
begannen Enid und Sylvia sofort zu kichern.
«Kleine Aufmerksamkeit des Hauses», sagte Sylvia. «Kostenloser Spögg. Probieren Sie!»
«Hmm!», sagte Enid prustend, halb tot vor Lachen. «Spögg!»
Weiter ging es zur Ibsen-Promenade, wo für zweiundzwanzig Uhr geselliges Eisessen angesetzt war. Im Fahrstuhl hatte Enid das Gefühl, dass das Schiff nicht nur an einem ständigen Auf und Nieder, sondern auch an einer Schräglage litt, als wäre sein Bug das Gesicht eines Menschen, der Widerwillen empfand. Kaum hatte sie den Fahrstuhl verlassen, stolperte sie beinahe über einen Mann auf Händen und Knien, der aussah wie die Hälfte eines Zwei-Mann-Sketches, bei dem einer den anderen umschubst. Hinten auf seinem T-Shirt stand: SIE VERLIEREN NUR IHR ZIEL AUS DEN AUGEN.
Enid nahm dankend ein Eiscremesoda, das eine Serviererin mit Toque ihr anbot. Dann fing sie an, mit Sylvia Familiendaten auszutauschen, was schon bald mehr ein Austausch von Fragen denn von Antworten war. Sobald Enid merkte, dass jemand auf das Thema Familie nicht mit Begeisterung ansprach, pflegte sie unerbittlich in der Wunde herumzustochern. Eher wäre sie gestorben, als zuzugeben, dass ihre eigenen Kinder sie enttäuschten, doch von den enttäuschenden Kindern anderer zu hören — ihren schmutzigen Scheidungen, ihrem Rauschgiftmissbrauch, ihren törichten Investitionen — , das tat ihr gut.
Vordergründig gab es nichts, wofür Sylvia Roth sich hätte schämen müssen. Ihre beiden Söhne lebten in Kalifornien, einer hatte mit Medizin, der andere mit Computern zu tun, und beide waren verheiratet. Dennoch schienen sie glühend heißer Gesprächssand zu sein, den es entweder zu meiden oder im Spurt zu überqueren galt. «Ihre Tochter war in Swarthmore?», sagte sie.
«Ja, kurz», sagte Enid. «Aha, und fünf Enkelsöhne. Alle Achtung. Wie alt ist der jüngste?»
«Ist letzten Monat zwei geworden. Und wie steht's bei Ihnen?», sagte Sylvia. «Haben Sie Enkelkinder?»
«Unser ältester Sohn Gary hat drei Jungs, also, das ist ja interessant, fünf Jahre Abstand zwischen dem jüngsten und dem zweitjüngsten?»
«Fast sechs sogar, aber von Ihrem Sohn in New York, von dem möchte ich auch etwas hören. Haben Sie ihn heute besucht?»
«Ja, er hat ein so nettes Mittagessen für uns zubereitet, aber sein Büro beim Wall Street Journal, wo er neuerdings arbeitet, haben wir uns nicht angeschaut, weil das Wetter so schlecht war, na ja, also, und fliegen Sie oft rüber nach Kalifornien? Um Ihre Enkelsöhne zu sehen?»
Irgendein Lebensgeist, die Bereitschaft, das Spiel weiter mitzuspielen, verließ Sylvia. Sie saß da und starrte in ihr leeres Sodaglas. «Enid, würden Sie mir einen Gefallen tun?», sagte sie schließlich. «Begleiten Sie mich auf einen Schlummertrunk nach oben.»
Enids Tag hatte um fünf Uhr morgens in St. Jude begonnen, doch eine attraktive Einladung schlug sie niemals aus. Oben im Lagerkvist-Schankraum wurden sie und Sylvia von einem Zwerg mit gehörntem Helm und Lederwams bedient, der sie überredete, Brombeeraquavit zu bestellen.
«Ich möchte Ihnen etwas erzählen», sagte Sylvia, «weil ich es irgendeinem auf dem Schiff erzählen muss, aber Sie dürfen es keinem verraten. Können Sie das, Geheimnisse für sich behalten?»
«Oh, darin bin ich gut.»
«Na schön», sagte Sylvia. «In drei Tagen findet in Pennsylvania eine Hinrichtung statt. Und zwei Tage später, am Donnerstag, feiern Ted und ich unseren vierzigsten Hochzeitstag. Und wenn Sie Ted fragen, wird er Ihnen sagen, dass wir deshalb die Kreuzfahrt machen, wegen des Hochzeitstags. Das wird er sagen, aber es ist nicht die Wahrheit. Oder nur seine Wahrheit und nicht meine.»
Enid wurde angst.
«Der Mann, der hingerichtet wird», sagte Sylvia Roth, «hat unsere Tochter umgebracht.»
«Nein.»
Die blaue Klarheit ihres Blick ließ Sylvia wie ein wunderschönes, sanftes Tier aussehen, aber eben auch nicht ganz menschlich. «Ted und ich», sagte sie, «sind hier, weil wir mit dieser Hinrichtung ein Problem haben. Wir haben miteinander ein Problem.»
«Nein! Was erzählen Sie mir da?» Enid schauderte. «Oh, ich will das nicht hören! Ich ertrage das nicht!»
Sylvia nahm diese allergische Reaktion auf ihre Eröffnung gelassen hin. «Es tut mir Leid», sagte sie. «Es ist nicht fair von mir, Sie so zu überfallen. Vielleicht sollten wir jetzt schlafen gehen.»
Doch Enid hatte sich schnell gefasst. Sie wollte die Chance, Sylvias Vertraute zu werden, auf keinen Fall verpassen. «Erzählen Sie mir alles, was Sie mir erzählen möchten», sagte sie. «Und ich werde zuhören.» Sie faltete die Hände im Schoß wie eine gute Zuhörerin. «Fangen Sie an. Ich höre.»
«Also, das andere, was ich Ihnen erzählen muss, ist, dass ich Schusswaffenkünstlerin bin», sagte Sylvia. «Ich zeichne Waffen. Wollen Sie das alles wirklich wissen?»
«Selbstverständlich.» Enid nickte so eifrig wie unbestimmt. Der Zwerg, fiel ihr auf, benutzte eine kleine Leiter, um Flaschen herunterzuholen. «Interessant.»
Viele Jahre lang, erzählte Sylvia, sei sie Amateurgraphikerin gewesen. Sie hatte ein sonnendurchflutetes Atelier in ihrem Haus in Chadds Ford, sie hatte einen seidenglatten Lithographiestein und ein zwanzigteiliges Set deutscher Holzschnittmeißel, und sie gehörte einem Künstlerverein in Wilmington an, auf dessen Halbjahresausstellungen sie, während ihr jüngstes Kind Jordan von einem Wildfang zu einer unabhängigen jungen Frau heranwuchs, dekorative Drucke zu Preisen von um die vierzig Dollar verkaufte. Dann wurde Jordan ermordet, und Sylvia druckte, zeichnete und malte fünf Jahre lang nichts als Schusswaffen. Jahraus, jahrein nur Schusswaffen.
«Schrecklich, schrecklich», sagte Enid mit unverhohlener Missbilligung.
Der Stamm des splittrigen Tulpenbaums vor Sylvias Atelier erinnerte sie an Schäfte und Läufe von Gewehren. Jede menschliche Gestalt wollte zu einem Hahn, einem Abzugsbügel, einer Trommel, einem Griff werden. Es gab keine abstrakte Form, die nicht eine Leuchtkugel oder eine schwarzpulvrige Schmauchspur oder die Schwefelblüte eines Dumdumgeschosses sein konnte. In der Fülle seiner Möglichkeiten war der Körper wie die Welt, und genauso, wie kein Teil dieser kleinen Welt vor dem Eindringen einer Kugel sicher war, gab es in der großen Welt keine Form, die nicht an eine Schusswaffe denken ließ. Sogar eine gefleckte Feldbohne war wie eine Derringer, sogar eine Schneeflocke wie ein Browning. Sylvia war nicht verrückt; sie konnte sich zwingen, einen Kreis zu zeichnen oder eine Rose zu skizzieren. Doch wonach es sie zu zeichnen verlangte, das waren Schusswaffen. Schusswaffen, Gewehrfeuer, Munition, Projektile. Stundenlang saß sie da und versuchte, mit dem Bleistift die Struktur des Schimmers auf Vernickeltem einzufangen. Manchmal zeichnete sie auch ihre Hände und Handgelenke und Unterarme, wie sie nach ihrer Vorstellung (denn sie selbst hatte noch nie eine Schusswaffe in der Hand gehalten) aussehen mochten, wenn sie mit einer.50er Desert Eagle, einer Neun-Millimeter-Glock, einem vollautomatischen M-16 samt klappbarem Aluminiumschaft oder mit irgendeiner anderen exotischen Waffe aus den Katalogen hantierten, die sie in braunen Versandtaschen in ihrem sonnendurchtränkten Atelier aufbewahrte. Sie gab sich ihrer Angewohnheit hin wie eine verlorene Seele ihrer höllengeeigneten Beschäftigung (obwohl Chadds Ford mit seinen zarten Grasmücken, die sich aus dem nahen Fluss, dem Brandywine, hervorwagten, und den Düften nach sonnenwarmen Teichkolben und gärenden Persimonen, die die Oktoberwinde aus nahe gelegenen Höhlen herübertrugen, sich standhaft weigerte, zur Hölle gemacht zu werden); sie war eine Sisypha, die jeden Abend ihre eigenen Schöpfungen vernichtete — sie zerriss, sie mit Mineralbeizen auslöschte. Ein fröhliches Feuer im Wohnzimmer entfachte.
«Schrecklich», murmelte Enid erneut. «Ich kann mir nichts Schlimmeres für eine Mutter vorstellen.» Sie signalisierte dem Zwerg, dass sie noch mehr Brombeeraquavit wollte.
Zu den Rätseln ihrer Obsession, sagte Sylvia, gehörte, dass sie als Quäkerin erzogen worden war und immer noch zu den Versammlungen in Kennett Square ging; dass die Werkzeuge, mit denen Jordan gefoltert und ermordet worden war, eine Rolle nylonverstärktes Heftpflasterband, ein Geschirrhandtuch, zwei Kleiderbügel aus Draht, ein Light-'n-Easy-Bügeleisen der Firma General Electric und ein dreißig Zentimeter langes gezacktes WMF-Brotmesser von Williams-Sonoma gewesen waren, also: keine Schusswaffen; dass der Mörder, ein Neunzehnjähriger namens Khellye Withers, sich der Polizei in Philadelphia gestellt hatte, wobei (abermals) keine Schusswaffe gezogen worden war; dass sie selbst mit einem Ehemann, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Vorstandsvorsitzender bei Du Pont ein Riesengehalt bezog, und einem Geländewagen, der so wuchtig war, dass ein Frontalzusammenstoß mit einem VW Cabriolet ihm nicht die kleinste Delle zugefügt hätte, und einer Sechs-Schlafzimmer-Villa im Queen-Anne-Stil, in deren Küche und Speisekammer Jordans gesamtes Apartment in Philadelphia bequem Platz gefunden hätte, ein geradezu sinnlos unbeschwertes und komfortables Leben führte, in dem ihre einzige Aufgabe, einmal davon abgesehen, dass sie Ted bekochte, ja buchstäblich ihre einzige Aufgabe darin bestand, mit Jordans Tod fertig zu werden; dass sie dennoch bei dem Bemühen, die Beschaffenheit eines Revolvergriffs oder die Adern in ihrem Arm wiederzugeben, häufig so sehr die Zeit vergaß, dass sie aberwitzig schnell fahren musste, um ihre dreimal wöchentlich stattfindende Therapie bei einer Dr. med. Dr. phil. in Wilmington nicht zu versäumen; dass es ihr, indem sie mit der Dr. med. Dr. phil. sprach und jeden Mittwochabend an den Treffen anderer Eltern von Gewaltopfern und jeden Donnerstagabend an den Zusammenkünften ihres Gesprächskreises älterer Frauen teilnahm und die Gedichte und Romane und Memoiren und Lebenshilfebücher las, die ihre Freundinnen ihr empfahlen, und sich beim Yoga und Reiten entspannte und im Kinderkrankenhaus ehrenamtlich den Krankengymnasten zur Hand ging, sehr wohl gelang, ihre Trauer zu verarbeiten, selbst wenn sich ihr Zwang, Schusswaffen zu zeichnen, dabei noch verstärkte; dass sie niemandem von diesem Zwang erzählte, nicht einmal der Dr. med. Dr. phil. in Wilmington; dass ihre Freundinnen und Ratgeber sie permanent ermahnten, sich durch ihre «Kunst» selbst zu «heilen»; dass sie mit «Kunst» ihre dekorativen Holzschnitte und Lithographien meinten; dass sie selbst sich, wenn sie zufällig einen ihrer früheren Holzschnitte im Bade- oder Gästezimmer einer Freundin hängen sah, vor Scham über ihre Unaufrichtigkeit wand; dass sie sich, sooft sie im Fernsehen oder im Kino Schusswaffen sah, ganz ähnlich und aus ähnlichen Gründen krümmen musste; dass sie, mit anderen Worten, insgeheim überzeugt war, eine wahre Künstlerin geworden zu sein, eine wahrhaft gute Schusswaffenkünstlerin; dass es der Beweis für dieses Künstlertum war, den sie Abend für Abend vernichtete; dass sie inzwischen fest überzeugt war, dass Jordan, obwohl sie ein Diplom in Malerei und einen Magister in Kunsttherapie gemacht und zwanzig Jahre lang Fördergelder und Stipendien bekommen hatte, keine gute Künstlerin gewesen war; dass sie, selbst nachdem sie zu diesem objektiven Urteil über ihre tote Tochter gelangt war, fortfuhr, Schusswaffen und Munition zu zeichnen; und dass sie trotz der Wut und des Rachedursts, von denen ihre andauernde Obsession offenkundig zeugte, in den fünf Jahren nicht ein einziges Mal das Gesicht von Khellye Withers gezeichnet hatte.
An dem Oktobermorgen, als ihr diese Rätsel en bloc bewusst geworden waren, hatte Sylvia es nach dem Frühstück so eilig, dass sie die Treppen zu ihrem Atelier regelrecht hinaufrannte. Auf einem Blatt feinstem Cansonpapier zeichnete sie ihre linke Hand, wobei sie einen Spiegel verwendete, damit die Hand wie ihre rechte aussah, der Daumen nach oben weisend, die Finger gekrümmt, das Profil um sechzig Grad gedreht, eine Rückansicht beinahe. Diese Hand füllte sie mit einem stupsnasigen.38er-Revolver, fachmännisch perspektivisch verkürzt, dessen Lauf zwischen einem Paar grinsender Lippen steckte, über die sie, aus dem Gedächtnis, völlig exakt die höhnischen Augen von Khelley Withers zeichnete, dessen in letzter Instanz gerade gescheiterte Berufung kaum jemandem Tränen entlockt hatte. Und damit — ein Lippenpaar, ein Augenpaar — hatte Sylvia ihren Bleistift aus der Hand gelegt.
«Es war Zeit für einen Schritt nach vorn», sagte Sylvia zu Enid. «Das wurde mir plötzlich klar. Ob es mir nun gefiel oder nicht, die Weiterlebende und die Künstlerin war ich, nicht sie. Wir sind doch alle darauf getrimmt zu glauben, unsere Kinder seien wichtiger als wir, wissen Sie, und wie aus zweiter Hand durch sie zu leben. Auf einmal war ich diese Art zu denken leid. Ich könnte schon morgen tot sein, sagte ich mir, aber heute lebe ich. Und ich kann bewusst leben. Ich habe den vollen Preis bezahlt, ich habe getan, was ich konnte, und da ist nichts, wofür ich mich schämen müsste. Wenn aber der Wendepunkt, die große Veränderung im eigenen Leben, bloß eine Erkenntnis ist — ist das nicht sonderbar? Wenn sich absolut nichts ändert, nur dass man die Dinge plötzlich mit anderen Augen sieht und weniger ängstlich und weniger angespannt und deshalb insgesamt stärker ist, finden Sie das nicht erstaunlich: dass einem etwas völlig Unsichtbares im eigenen Kopf realer vorkommt als alles, was man je vorher erlebt hat? Sie sehen die Dinge klarer, und gleichzeitig wissen Sie, dass Sie sie klarer sehen. Und mit einem Mal kommen Sie darauf: Das ist sie, die Liebe zum Leben, nichts anderes meinen die, die ernsthaft von Gott sprechen. Solche Momente.»
«Einen vielleicht noch?», sagte Enid zu dem Zwerg und hob ihr Glas. Sie hörte Sylvia fast überhaupt nicht zu, sondern schüttelte den Kopf und murmelte «Ach!» und «Oh!», während ihr Bewusstsein durch Wolken aus Alkohol in vollkommen absurde Sphären stolperte und Spekulationen darüber anstellte, wie sich der Zwerg bei einer Umarmung wohl an ihren Hüften und ihrem Bauch anfühlen mochte. Sylvia entpuppte sich als sehr intellektuell, und Enid sah sich unter nicht ganz richtigen Voraussetzungen zur Freundin erkoren, aber es war dumm, dass sie nicht zuhörte, sie müsste zuhören, sonst verpasste sie bestimmte Schlüsselfakten wie die, ob Khelley Withers schwarz war und ob er Jordan brutal vergewaltigt hatte.
Sylvia war von ihrem Atelier direkt zu einem WaWa-Lebensmittelmarkt aufgebrochen und hatte von jeder schmutzigen Zeitschrift, die dort in den Regalen auslagen, eine gekauft. Doch nichts, was sie in den Zeitschriften fand, war hart genug. Sie müsste die eigentliche Rohrlegerarbeit sehen, den ungeschönten Akt. Sie kehrte nach Chadds Ford zurück und schaltete den Computer ein, den ihr jüngerer Sohn ihr geschenkt hatte, um in dieser Zeit des Verlusts Nähe zu stiften. Ihre Mailbox enthielt einen einmonatigen Überhang von Grußbotschaften ihres Sohnes, die sie nicht weiter beachtete. In weniger als fünf Minuten hatte sie die gesuchten Waren aufgetrieben — eine Kreditkarte war nötig, mehr nicht — , und schon jagte sie die Maus durch ein virtuelles Daumenkino, bis sie den notwendigen Akt mit den notwendigen Akteuren aus der notwendigen Perspektive gefunden hatte: schwarzer Mann und weißer Mann beim Oralsex, Kamera filmt über linke Hüfte, Profil um sechzig Grad gedreht, starker, sichelmondförmiger Lichteinfall überm Gesäß, darunter dämmerig sichtbare Knöchel schwarzer Finger, die die dunkle Seite des Mondes erforschen. Sie lud das Bild herunter und betrachtete es bei hoher Auflösung.
Sie war fünfundsechzig Jahre alt und hatte eine solche Szene noch nie gesehen. Ihr Leben lang hatte sie Bilder gestaltet und war sich des Mysteriums, das von ihnen ausging, nie bewusst gewesen. Hier war es nun. All die Betriebsamkeit in Bits und Bytes, all die Einsen und Nullen, die an irgendeiner Universität im Mittleren Westen durch die Server strömten. So viel offenkundiges Treiben in so viel offenkundigem Nichts. Eine ganze Bevölkerung, die an Bildschirmen und Zeitschriften klebte.
Sie fragte sich: Wie konnte man sich von diesen Bildern angesprochen fühlen, wenn Bilder nicht insgeheim den gleichen Status genossen wie reale Dinge? Nicht, dass Bilder so mächtig waren, vielmehr war die Welt so schwach. Sie konnte in ihrer Schwäche zwar lebendig sein, das schon, etwa wenn die Sonne in den Obstgärten die abgefallenen Äpfel briet und das Tal nach Cidre duftete, oder wenn Jordan an kalten Abenden zum Essen nach Chadds Ford gekommen war und die Reifen ihres Cabriolets auf der Kieseinfahrt geknirscht hatten; aber die Welt ließ sich nur in Bildern fassen. Nichts gelangte in den Kopf, ohne Bild geworden zu sein.
Und dennoch, Sylvia war bestürzt, wie enorm das pornographische Online-Foto und ihre unfertige Zeichnung von Withers sich unterschieden. Anders als gewöhnliche Lust, die durch Bilder oder bloße Phantasie befriedigt werden konnte, ließ sich die Rachelust nicht täuschen. Auch das plastischste Bild reichte ihr nicht aus. Diese Lust verlangte den Tod eines bestimmten Individuums, das Ende einer bestimmten Geschichte. Ganz im Sinn der Computermenüs: ERSETZEN NICHT MÖGLICH. Sylvia konnte ihr Verlangen zeichnen, nicht aber dessen Erfüllung. Und so gestand sie sich schließlich die Wahrheit ein: Sie wollte, dass Khelley Withers starb.
Sie wollte, dass er starb, obwohl sie kürzlich in einem Interview mit dem Philadelphia Inquirer gesagt hatte, davon, dass man das Kind anderer töte, werde ihr eigenes nicht wieder lebendig. Sie wollte, dass er starb, obwohl Dr. med. Dr. phil. ihr mit religiösem Eifer verboten hatte, Jordans Tod religiös zu deuten — als göttliches Gericht über ihre eigenen liberalen politischen Ansichten oder ihre liberalen Erziehungsmethoden oder ihren sinnlosen Wohlstand. Sie wollte, dass er starb, obwohl sie glaubte, dass Jordans Tod eine zufällige Tragödie war und die Erlösung nicht in der Rache lag, sondern in der Verringerung der Anzahl zufälliger Tragödien im ganzen Land. Sie wollte, dass er starb, obwohl sie sich eine Gesellschaft ausmalte, die für junge Männer wie ihn ordentlich bezahlte Jobs bereithielt (sodass er seine frühere Kunsttherapeutin nicht an Händen und Füßen hätte fesseln und nötigen müssen, die Geheimnummern ihrer Scheck- und Kreditkarten preiszugeben), eine Gesellschaft, die nicht zuließ, dass illegale Drogen in städtische Wohnviertel gelangten (sodass Withers das gestohlene Geld nicht für Crack hätte ausgeben können und bei klarerem Verstand gewesen wäre, als er in die Wohnung seiner früheren Kunsttherapeutin zurückkam, und das Zeug nicht einfach weiter geraucht und sie nicht, mit Unterbrechungen, dreißig Stunden lang gefoltert hätte), eine Gesellschaft, die außer Markennamen noch mehr zu bieten hatte, an das junge Männer glauben konnten (sodass Withers weniger auf das Cabriolet seiner früheren Kunsttherapeutin fixiert gewesen wäre und ihr geglaubt hätte, als sie sagte, sie habe den Wagen über das Wochenende einer Freundin geliehen, und ihm die Tatsache, dass sie im Besitz zweier Schlüssel war, weniger vielsagend vorgekommen wäre — «Wollt mir einfach nich in'n Schädel», erklärte er in seinem teilweise erzwungenen, aber rechtlich zulässigen Geständnis, «die ganzen Schlüssel da direkt vor mir aufm Küchentisch, verstehn Sie, was ich meine? Wollt mir einfach nich in die Scheißbirne» — , und seinem Opfer nicht immer von neuem das Light 'n Easy-Bügeleisen an die nackte Haut gehalten und die Temperatur von Seide bis Baumwolle/Leinen hochgedreht hätte, während er wissen wollte, wo sie das Cabriolet geparkt habe, und ihr nicht, als ihre Freundin am Sonntagabend vorbeikam, um ihr den Wagen mitsamt dem dritten Schlüssel zurückzugeben, in Panik die Kehle durchgeschnitten hätte), eine Gesellschaft, die der körperlichen Misshandlung von Kindern ein für alle Mal ein Ende setzte (sodass es absurd gewesen wäre, wenn ein für schuldig befundener Mörder gegen Ende seines Prozesses behauptet hätte, sein Stiefvater habe ihn, als er klein gewesen sei, mit einem elektrischen Bügeleisen verbrannt — obwohl eine solche Aussage im Falle von Withers, der keinerlei Brandmale vorzuweisen hatte, in erster Linie seinen mangelnden Einfallsreichtum als Lügner zu unterstreichen schien). Sie wollte, dass er starb, obwohl sie im Zuge ihrer Therapie verstanden hatte, dass sein Grinsen eine Schutzmaske war, die sich ein einsamer Junge, umgeben von Menschen, die ihn hassten, einst aufgesetzt hatte und die er, wenn er von ihr wie von einer nachsichtigen Mutter angelächelt worden wäre, vielleicht abgenommen hätte, um in aufrichtiger Reue zu weinen. Sie wollte, dass er starb, obwohl sie wusste, dass ihr Wunsch all jenen Konservativen gefallen würde, für die der Begriff «persönliche Verantwortung» bedeutete, dass man sich um soziale Ungerechtigkeit nicht zu kümmern brauchte. Sie wollte, dass er starb, obwohl sie aus diesen politischen Gründen außerstande war, der Hinrichtung beizuwohnen und mit ihren eigenen Augen das zu beobachten, wofür kein Bild ein Ersatz sein konnte.
«Aber das ist alles nicht der Grund», sagte sie, «warum wir diese Kreuzfahrt machen.»
«Nein?», fragte Enid, als wache sie gerade auf.
«Nein. Wir sind hier, weil Ted nicht zugeben kann, dass Jordan ermordet wurde.»
«Ist er…?»
«Oh, er weiß es natürlich», sagte Sylvia. «Er weigert sich nur, darüber zu reden. Jordan war ihm sehr nah, in vielerlei Hinsicht näher, als ich ihm je gewesen bin. Und er hat getrauert, das muss ich ihm zugute halten. Wirklich getrauert. Er hat so viel geweint, dass er kaum noch gehen konnte. Doch dann, eines Morgens, war er darüber hinweg. Er hat gesagt, Jordan sei nicht mehr da, und er habe nicht vor, in der Vergangenheit zu leben. Und er hat gesagt, vom Labor Day an werde er vergessen, dass sie ein Opfer sei. Und den ganzen August hat er mich jeden Tag daran erinnert: Vom Labor Day an werde er nicht mehr zugeben, dass Jordan ermordet worden sei. Ted ist ein Kopfmensch, wissen Sie. Er vertritt den Standpunkt, dass Menschen schließlich schon immer Kinder verloren haben und dass zu viel Trauer dumm und wehleidig ist. Es kümmert ihn auch nicht, was mit Withers geschieht. Er hat gesagt, den Prozess zu verfolgen zeige doch nur, dass man mit dem Mord nicht fertig werde.
Und am Labor Day hat er dann zu mir gesagt: ‹Du findest das vielleicht komisch, aber ich werde nie wieder über ihren Tod sprechen, und bitte vergiss nicht, dass ich dir das gesagt habe. Wirst du das nicht vergessen, Sylvia? Damit du später nicht denkst, ich sei verrückt?) Und ich habe gesagt: ‹Mir gefällt das nicht, Ted, ich kann das nicht akzeptieren) Und er hat gesagt, es tue ihm Leid, aber er müsse nun mal so handeln. Und als er am nächsten Abend nach Hause gekommen ist, da habe ich ihm, wenn ich mich recht erinnere, erzählt, Withers Anwalt habe behauptet, dass das Geständnis erzwungen gewesen sei und der wahre Mörder noch frei herumlaufe. Na, und da hat Ted mich angegrinst, ungefähr so, wie er grinst, wenn er jemanden auf den Arm nimmt, und hat gesagt: ‹Ich weiß nicht, wovon du sprichst.) Und da habe ich doch tatsächlich gesagt: ‹Ich spreche von der Person, die deine Tochter ermordet hat.› Und er hat gesagt: ‹Niemand hat unsere Tochter ermordet, ich möchte das aus deinem Mund nicht noch einmal hören.› Und ich habe gesagt: ‹Ted, so geht das nicht.› Und er hat gesagt: ‹Was geht so nicht?› Und ich habe gesagt: ‹Dass du so tust, als wäre Jordan nicht tot.› Und er hat gesagt: ‹Wir hatten eine Tochter, und jetzt haben wir keine mehr, also ist sie wohl tot, aber ich warne dich, Sylvia, erzähl mir nicht, sie sei umgebracht worden, verstehst du?› Und von Stund an, Enid, hat er diese Haltung nicht ein einziges Mal aufgegeben, egal, wie stark ich ihm zusetze. Ehrlich, ich bin bloß Millimeter davon entfernt, mich scheiden zu lassen. Ständig. Wenn er nur nicht in jeder anderen Hinsicht so lieb zu mir wäre. Nie wird er böse, wenn ich über Withers spreche, er geht nur mit so einem Lachen darüber hinweg, als wäre das Ganze eine merkwürdig fixe Idee von mir. Irgendwie erinnert er mich an unsere Katze, wenn sie eine tote Grasmücke anschleppt. Die Katze weiß ja nicht, dass wir keine toten Grasmücken im Haus haben wollen. Ted möchte, dass ich genauso rational damit umgehe, wie er das macht, er denkt, er tut mir einen Gefallen, und unternimmt diese vielen Reisen und Kreuzfahrten mit mir, und alles ist gut, außer dass die schlimmste Sache in unserem Leben für ihn gar nicht geschehen ist und für mich schon.»
«Ist sie denn geschehen?», fragte Enid.
Sylvia zuckte erschrocken zurück. «Danke», sagte sie, obwohl Enid diese Frage gestellt hatte, weil sie einen Augenblick verwirrt gewesen war, und nicht, weil sie Sylvia einen Gefallen hatte tun wollen. «Danke, dass Sie ehrlich genug sind, mich das zu fragen. Manchmal glaube ich schon, ich bin verrückt. Meine ganze Arbeit spielt sich in meinem Kopf ab. Ich schiebe Millionen kleiner Teile Nichts, Millionen Gedanken und Gefühle und Erinnerungen darin herum, Tag für Tag, seit Jahren, da ist dieses gewaltige Gerüst und Bauvorhaben, als wollte ich in meinem Kopf eine Kathedrale aus Zahnstochern errichten. Und es hilft nicht einmal, Tagebuch zu führen, weil die Wörter auf den Seiten einfach nicht die geringste Wirkung auf mein Gehirn haben wollen. Sobald ich etwas niederschreibe, bleibt es hinter mir zurück. Als würde ich Pennys über Bord werfen. Ich leiste also all diese Gedankenarbeit ohne jede Hoffnung auf Hilfe von außen, abgesehen von den etwas ungepflegten Leuten in meinen Mittwochs- und Donnerstagsgruppen, und die ganze Zeit tut mein eigener Mann so, als sei der Kern dieser enormen Geistesarbeit — nämlich, dass meine Tochter ermordet wurde — gar nicht existent. Und deshalb sind, mehr und mehr, die einzigen Wegweiser in meinem Leben, mein einziges Nord und Süd und Ost und West, meine Gefühle.
Und genau da hakt Ted ein, er findet, unsere Kultur nimmt Gefühle zu wichtig, er sagt, alles sei außer Kontrolle geraten, und nicht der Computer mache das Leben virtuell, sondern unsere Geisteshaltung. Er sagt, alle versuchten, ihre Gedanken zu korrigieren und ihre Gefühle zu verfeinern und an ihren Beziehungen und erzieherischen Fähigkeiten zu feilen, anstatt einfach nur zu heiraten und Kinder zu kriegen wie früher. Und was er auch noch sagt, ist, dass wir uns auf die nächste Stufe der Abstraktion katapultiert hätten, weil wir in Zeit und Geld schwämmen, und damit wolle er nichts zu tun haben. Er möchte ‹echte› Nahrung zu sich nehmen und ‹echte› Orte besuchen und über ‹echte› Dinge reden, Wirtschaft und Forschung zum Beispiel. Und so sind wir uns inzwischen überhaupt nicht mehr einig, worauf es im Leben eigentlich ankommt.
Und dann, Enid, hat er meine Therapeutin an der Nase herumgeführt. Ich habe sie zum Essen eingeladen, damit sie ihn sich mal anschaut, und Sie kennen doch diese Menüs, von denen es in den Zeitschriften heißt, dass man sie besser nicht für Gäste zubereitet, weil man vor jedem Gang zwanzig Minuten in der Küche steht, nicht? Genau so eins habe ich gemacht, zuerst Risotto Milanese, dann kurz gebratene Steaks mit einer doppelt reduzierten Soße, und die ganze Zeit über hat meine Therapeutin draußen im Esszimmer gesessen und Ted ausgefragt. Und als ich am nächsten Tag bei ihr war, hat sie gesagt, sein Zustand sei absolut typisch für Männer, er habe seine Trauer offenbar gut genug verarbeitet, um funktionieren zu können, und sie glaube nicht, dass er sich ändern werde; es sei jetzt an mir, das zu akzeptieren.
Wissen Sie, ich sollte mich ja eigentlich keinen magischen oder religiösen Gedanken hingeben, aber eine Überlegung, die ich nicht loswerde, ist die, dass dieser wahnsinnige Rachedurst, den ich all die Jahre lang verspürt habe, gar nicht mein eigener ist. Es ist Teds. Er weigert sich, damit umzugehen, aber einer muss ja damit umgehen, also tue ich es, als wäre ich eine Leihmutter, nur dass ich nicht mit einem Kind schwanger gehe, sondern mit Gefühlen. Wenn Ted mehr zu seinen Gefühlen gestanden und es weniger eilig gehabt hätte, wieder an seinen Arbeitsplatz bei Du Pont zurückzukehren, vielleicht wäre ich dann so geblieben, wie ich immer war, und hätte jede Weihnachten beim Künstlerverein meine Holzschnitte verkauft. Vielleicht bin ich ja nur übergeschnappt, weil Ted sich so nüchtern und geschäftsmäßig benimmt. Und vielleicht ist deshalb die Moral dieser langen Geschichte, die Sie sich liebenswürdigerweise angehört haben, Enid, dass ich nicht aufhören kann, eine Moral dafür zu suchen, wie sehr ich mich auch bemühe, es bleiben zu lassen.» Enid hatte in diesem Moment eine Vision von strömendem Regen. Sie sah sich selbst in einem Haus ohne Wände; um Wind und Wetter abzuhalten, hatte sie nichts als Papiertaschentücher zur Hand. Und schon kam von Osten her Regen, und sie hängte eine Taschentuchversion von Chip und seiner großartigen neuen Stellung als Reporter auf. Dann kam er von Westen, und das Taschentuch zeigte, wie hübsch und intelligent Garys Jungen waren und wie sehr sie sie liebte. Dann drehte der Wind erneut, und sie rannte mit den Taschentuchfetzen, die Denise anzubieten hatte, zur Nordseite des Hauses: Denise, die nach einer zu frühen Heirat jetzt reifer und klüger geworden war, eine sehr erfolgreiche Gastronomin und zuversichtlich, bald dem richtigen jungen Mann zu begegnen! Und dann kam der Regen von Süden hereingefegt, und noch während sie darauf beharrte, dass Als gesundheitliche Probleme harmlos seien und es ihm besser ginge, wenn er nur an seiner Einstellung arbeiten und die Dosis seiner Medikamente anpassen lassen würde, zerfiel das Taschentuch, und der Regen wurde stärker und stärker, und sie war so müde, und alles, was sie hatte, waren Papiertaschentücher «Sylvia?», sagte sie.
«Ja?»
«Ich muss Ihnen auch etwas erzählen. Etwas über meinen Mann.»
Eifrig, vielleicht um sich dafür zu revanchieren, dass Enid ihr so freundlich zugehört hatte, nickte Sylvia mit dem Kopf. Doch auf einmal meinte Enid, Katharine Hepburn vor sich zu haben. Die Hepburn, das sah man schon an ihrem Blick, war sich ihrer Privilegien so durch und durch unbewusst gewesen, dass eine ehemals mittellose Frau wie Enid Lust bekam, ihr mit den härtesten, spitzesten Pumps, die sie hatte, gegen die aristokratischen Schienbeine zu treten. Es wäre ein Fehler, spürte sie, dieser Frau etwas anzuvertrauen.
«Ja?», half Sylvia nach.
«Nichts. Entschuldigen Sie.»
«Nein, sagen Sie.»
«Nichts, wirklich, nur dass ich jetzt unbedingt ins Bett muss. Morgen gibt es bestimmt eine Menge zu tun!»
Sie stand, ein wenig wacklig, auf und ließ Sylvia die Getränkerechnung unterschreiben. Schweigend fuhren sie mit dem Fahrstuhl nach oben. Nach der allzu schnellen Vertraulichkeit war jetzt eine Art schmutziger Betretenheit eingekehrt. Als Sylvia auf dem Oberdeck ausstieg, folgte Enid ihr jedoch. Sie konnte es nicht ertragen, in Sylvias Augen eine «B»-Deck-Person zu sein.
Sylvia blieb vor der Tür einer großen Außenkabine stehen. «Wo ist Ihre Kabine?»
«Gleich hier den Gang hinunter», sagte Enid. Sie wusste, dass sich diese Behauptung nicht aufrechterhalten ließ. Morgen würde sie erklären müssen, sie sei verwirrt gewesen.
«Dann gute Nacht», sagte Sylvia. «Noch einmal danke fürs Zuhören.»
Sie wartete mit einem sanften Lächeln darauf, dass Enid weiterging. Aber Enid ging nicht weiter. Unsicher sah sie sich um. «Entschuldigen Sie. Welches Deck ist das hier?»
«Das Oberdeck.»
«Ach du liebe Güte, dann bin ich ja ganz falsch. Entschuldigen Sie.»
«Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Möchten Sie, dass ich Sie nach unten begleite?»
«Nein, ich bin bloß durcheinander gekommen, jetzt sehe ich's selber, das hier ist das Oberdeck, und ich muss auf ein niedrigeres. Ein viel niedrigeres Deck. Na ja, entschuldigen Sie.»
Sie machte kehrt, entfernte sich aber immer noch nicht. «Mein Mann…» Sie schüttelte den Kopf. «Nein, unser Sohn vielmehr. Wir haben heute gar nicht mit ihm zu Mittag gegessen. Das war es, was ich Ihnen erzählen wollte. Er hat uns am Flughafen abgeholt, und eigentlich sollten wir mit ihm und seiner Freundin zu Mittag essen, aber dann sind sie einfach — gegangen, ich verstehe das gar nicht, und er ist auch nicht wiedergekommen, und wir fragen uns immer noch, wo er abgeblieben ist. Na ja, egal.»
«Das ist merkwürdig», stimmte Sylvia zu.
«Na ja, ich möchte Sie nicht langweilen — »
«Nein, nein, Enid, ich bitte Sie.»
«Ich wollte das nur klarstellen, und jetzt muss ich ins Bett, na ja, aber ich bin so froh, dass wir uns kennengelernt haben! Morgen gibt's eine Menge zu tun. Na ja. Wir sehen uns beim Frühstück!»
Ehe Sylvia sie aufhalten konnte, schlich sie den Korridor entlang (sie musste an der Hüfte operiert werden, aber man stelle sich einmal vor, wie es wäre, Al allein zu Hause zu lassen, solange sie im Krankenhaus war — man stelle sich das bloß einmal vor) und hätte sich ohrfeigen können, dass sie einen Gang entlangstolperte, auf den sie gar nicht gehörte, und mit beschämendem Unsinn über ihren Sohn herausgeplatzt war. Sie steuerte eine gepolsterte Sitzbank an, ließ sich darauf fallen und brach, erst jetzt, in Tränen aus. Gott hatte sie mit der Phantasie ausgestattet, die traurigen Aufsteiger zu beweinen, die auf einem Luxuskreuzfahrtschiff die allerbilligsten «B»-Deck-Innenkabinen buchten; doch eine Kindheit ohne Geld hatte es auch ihr unmöglich gemacht, die 300 Dollar pro Person hinzublättern, die es kostete, eine Kategorie aufwärts zu springen; und so beweinte sie sich selbst. Sie hatte das Gefühl, sie und Al seien die einzigen intelligenten Menschen ihrer Generation, die es geschafft hatten, nicht reich zu werden.
Dies war eine Folter, die die griechischen Erfinder von Festmahl und Stein aus ihrem Hades ausgespart hatten: der Mantel der Selbsttäuschung. Ein schöner warmer Mantel, sofern er die gepeinigte Seele zudeckte, aber er deckte nie alles zu. Und die Nächte wurden merklich kühler.
Sie erwog, zu Sylvias Kabine zurückzukehren und ihr Herz auszuschütten.
Doch dann sah sie, durch ihre Tränen, etwas Liebliches neben sich auf der Bank liegen. Es war ein Zehn-Dollar-Schein. Einmal gefaltet. Sehr lieblich.
Ein rascher Blick in den Gang, und sie griff danach. Die Oberflächenstruktur fühlte sich herrlich an.
Getröstet fuhr sie zum «B»-Deck hinunter. Hintergrundmusik flüsterte in der Lounge, irgendetwas Flottes mit Akkordeons. Sie bildete sich ein, ihren Namen zu hören, geplärrt, irgendwo in der Ferne, als sie ihre Schlüsselkarte ins Schloss schob und gegen die Tür drückte.
Sie spürte einen Widerstand und drückte fester.
«Enid», plärrte Alfred auf der anderen Seite.
«Schsch, Al, was in aller Welt?»
Kaum hatte sie sich durch die halb offene Tür gezwängt, hörte das Leben, wie sie es kannte, auf. Das Tagmaß wich einem rohen Kontinuum von Stunden. Alfred hockte nackt, mit dem Rücken zur Tür, auf einer Schicht Laken, die über Teilen der Morgenzeitung aus St. Jude ausgebreitet waren. Hosen, ein Sportsakko und ein Schlips lagen auf seiner Koje, die er bis auf die Matratze abgezogen hatte. Die Decken hatte er in einem Haufen auf das andere Bett gelegt. Auch nachdem sie das Licht eingeschaltet und sich so hingestellt hatte, dass er sie sehen konnte, rief er immer weiter ihren Namen. Als Allererstes wollte sie ihn beruhigen und ihm einen Pyjama anziehen, aber das brauchte Zeit, denn er war entsetzlich aufgewühlt und brachte seine Sätze nicht zu Ende, ja schaffte es nicht einmal, seine Verben und Substantive in Person und Numerus aufeinander abzustimmen. Er glaubte, es sei früh am Morgen und er müsse baden und sich anziehen und der Boden neben der Tür sei eine Badewanne und die Klinke ein Wasserhahn und nichts funktioniere. Dennoch bestand er darauf, alles so zu machen, wie er es wollte, es gab ein Geziehe und Gezerre, sogar einen Hieb auf Enids Schulter. Er tobte, und sie weinte und schimpfte mit ihm. Obwohl seine Hände irrwitzig zappelten, knöpfte er sein Pyjamaoberteil genauso schnell wieder auf, wie sie es zuknöpfen konnte. Noch nie hatte sie ihn die Wörter «Sch***» und «A***» in den Mund nehmen hören, aber die Leichtigkeit, mit der sie ihm jetzt über die Lippen kamen, warf ein Licht auf Jahre stummen Gebrauchs in seinem Kopf. Während sie seine Koje in Ordnung brachte, machte er ihre wieder unordentlich. Sie flehte ihn an, still zu sitzen. Er jammerte, es sei sehr spät und er sei sehr verwirrt. Selbst jetzt konnte sie nicht anders, als ihn zu lieben. Vielleicht gerade jetzt. Vielleicht hatte sie schon immer gewusst, fünfzig Jahre lang, dass dieser kleine Junge in ihm schlummerte. Vielleicht war all die Liebe, die sie Chipper und Gary gegeben hatte, all die Liebe, für die sie so wenig zurückbekommen hatte, nur Übung für dieses forderndste ihrer Kinder gewesen. Sie besänftigte und schalt ihn, und eine Stunde oder länger verfluchte sie im Stillen die Medikamente, die ihn derart benebelten, und irgendwann war er eingeschlafen, und ihr Reisewecker zeigte 5:10, dann 7:30 an, und Alfred ließ seinen Rasierapparat surren. Auch wenn sie gar nicht sehr tief abgetaucht war, fiel es ihr leicht aufzustehen und leicht, sich anzuziehen, und katastrophal schwer, zum Frühstücken zu gehen, denn ihre Zunge fühlte sich an wie ein Staubwedel und ihr Kopf wie aufgespießt.
Selbst für ein großes Schiff war das Meer heute ein schlechter Untergrund. Das Klatschen des hochschießenden Wassers außen am Kierkegaard-Saal war beinahe rhythmisch, eine Art Zufallsmusik, und Mrs. Nygren gab wiehernd Wissenswertes über die Übel des Koffeins und das Quasi-Zweikammersystem des Storting zum Besten, und die Söderblads erschienen, noch feucht von gründlichen schwedischen Anwendungen, und wundersamerweise zeigte Al sich der Konversation mit Ted Roth gewachsen. Enid und Sylvia, deren Gefühlsmuskeln von den Strapazen der letzten Nacht überdehnt waren und schmerzten, näherten sich einander etwas steif wieder an. Sie sprachen übers Wetter. Eine Programm-Koordinatorin namens Suzy Ghosh brachte Informationsmaterial und Anmeldeformulare für die nachmittäglichen Aktivitäten in Newport, Rhode Island. Mit strahlendem Lächeln und Geräuschen der Vorfreude trug sich Enid für eine Besichtigung der historischen Gebäude der Stadt ein, um dann bestürzt zu beobachten, wie alle anderen mit Ausnahme der sozial aussätzigen Norweger das Klemmbrett weiterreichten, ohne sich anzumelden. «Sylvia!», schalt sie, und ihre Stimme zitterte, «kommen Sie denn nicht mit?» Sylvia warf ihrem bebrillten Mann, der mit dem Kopf nickte, als wäre er McGeorge Bundy beim Entsenden von Bodentruppen nach Vietnam, einen Blick zu, und für einen Moment schienen ihre blauen Augen nach innen zu schauen; offenbar besaß sie die Fähigkeit der Beneidenswerten, der nicht aus dem Mittelwesten Stammenden, der Begüterten, ihre Bedürfnisse unabhängig von gesellschaftlichen Erwartungen oder moralischen Vorgaben abzuwägen. «Na gut», sagte sie, «vielleicht komme ich mit.» Normalerweise hätte Enid sich bei der bloßen Andeutung eines Almosens gewunden, aber heute befreite sie den geschenkten Gaul von der mündlichen Prüfung. Sie brauchte alle Almosen, die sie kriegen konnte. Und so quälte sie sich den steilen Hang des Tages hinauf, machte vom Angebot einer kostenlosen schwedischen Probemassage Gebrauch, beobachtete von der Ibsen-Promenade aus, wie das Küstenlaub alterte, und spülte sechs Ibuprofen mit einem Viertelliter Kaffee hinunter, um für den Nachmittag im bezaubernden und historischen Newport gerüstet zu sein! In dessen vom Regen sauber gewaschenen Hafen Alfred verkündete, seine Füße täten zu weh, als dass er sich an Land wagen könne, und Enid ihm das Versprechen abnahm, ja kein Nickerchen zu machen, weil er sonst nachts kein Auge zutun werde, und lachend (denn wie hätte sie zugeben können, dass es um Leben und Tod ging?) Ted Roth bat, ihn wach zu halten, woraufhin Ted erwiderte, wenn sie die Nygrens erst vom Schiff hätten, sei das kein Problem.
Gerüche von sonnenerwärmtem Teer und kalten Muscheln, von Schiffsöl, Football-Feldern und trocknendem Riementang und eine fast genetische wehmutsvolle Sehnsucht nach allem Maritimen und Herbstlichen fielen Enid an, als sie von der Gangway zum Reisebus humpelte. Der Tag war gefährlich schön. Starke Windböen und Wolkenscharen und ein wilder Löwe von einer Sonne bliesen den Blick umher und ließen Newports weiße Schindeln und gemähte Grünflächen flimmern, sodass man sie zuerst gar nicht richtig sehen konnte. «Herrschaften», beschwor sie die Reiseleiterin, «lehnen Sie sich zurück, und betrinken Sie sich daran.» Doch was getrunken werden kann, kann auch ertränken. Enid hatte von den vergangenen fünfundfünfzig Stunden sechs geschlafen, und noch als Sylvia ihr dankte, sie zum Mitkommen aufgefordert zu haben, merkte sie, dass ihr für eine Besichtigungstour die Kraft fehlte. Die Astors und die Vanderbilts, deren Freudentempel und Geld: Sie hatte es satt. Den ewigen Neid genauso wie sich selbst. Sie verstand nichts von alten Gemäuern und Architektur, sie konnte nicht zeichnen wie Sylvia, sie las nicht wie Ted, sie hatte wenige Interessen und keinerlei Fachkenntnisse. Die Fähigkeit zu lieben war das Einzige, was sie je besessen hatte. Und so blendete sie die Reiseleiterin aus und achtete auf den Einfallswinkel des gelben Oktoberlichts, auf alles, was an dieser Jahreszeit so herzzerfleischend intensiv war. In dem Wind, der Wellen über die Bucht trieb, konnte sie das Nahen der Nacht riechen. Rasch kam es auf Enid zu: Geheimnis und Schmerz und eine seltsam sehnsuchtsvolle Ahnung vom Möglichen, als ob es ein gebrochenes Herz wäre, was man suchen und finden müsse.
Im Bus zwischen Rosecliff und dem Leuchtturm bot Sylvia Enid an, Chip von ihrem Handy aus anzurufen. Enid lehnte ab — Handys fraßen Dollars, und sie dachte, man brauche bloß eins anzufassen, um Gebühren zu verursachen — , aber immerhin fügte sie hinzu: «Es ist Jahre her, Sylvia, dass wir ihm nahe gestanden haben. Ich glaube nicht, dass alles stimmt, was er uns so von seinem Leben erzählt. Einmal hat er gesagt, er würde beim Wall Street Journal arbeiten. Vielleicht habe ich mich verhört, aber ich glaube, das hat er gesagt, und trotzdem glaube ich nicht, dass er wirklich dort arbeitet. Ich weiß nicht genau, womit er tatsächlich sein Geld verdient. Sie müssen es furchtbar von mir finden, dass ich mich darüber beklage, ich meine, wo Sie doch so viel Schlimmeres durchgemacht haben.» Während Sylvia beteuerte, dass sie das keineswegs furchtbar finde, ganz und gar nicht, sah Enid flüchtig, wie es sein könnte, ihr vielleicht das eine oder andere noch beschämendere Detail zu gestehen, wie schmerzhaft, aber auch wie erleichternd, sich auf diese Weise den öffentlichen Sphären auszusetzen. Doch wie so viele Phänomene, die aus der Ferne wunderschön waren — Gewitterwolken, Vulkanausbrüche, die Sterne und Planeten — , erwies sich auch dieser verlockende Schmerz bei näherem Hinsehen als unmenschlich in seinem Ausmaß.
Von Newport aus segelte die Gunnar Myrdal Richtung Osten in saphirblauen Dunst. Nach einem Nachmittag unter weiten Himmeln und in den tankergroßen Laufställen der Steinreichen meinte Enid, auf dem Schiff ersticken zu müssen, und obwohl sie im Springberg-Saal abermals sechzig Dollar gewann, fühlte sie sich inmitten des mechanischen Blinkens und Gurgelns wie ein Versuchstier, das mit anderen Tieren, die an Hebeln rissen, in einen Käfig gesperrt war, und schnell kam die Schlafenszeit, und als Alfred sich zu regen begann, war sie bereits wach und lauschte der Angstglocke, die so laut läutete, dass Enids Koje vibrierte und ihr Laken an ihrem Körper schabte, und da machte Alfred auch schon Lichter an und schimpfte, und ein Kabinennachbar schlug gegen die Wand und schimpfte zurück, und Alfred hörte stocksteif zu, das Gesicht zu einer Grimasse der Paranoia verzerrt, und flüsterte dann verschwörerisch, dass er einen Sch*** zwischen den Betten habe entlanglaufen sehen, und dann das Machen und wieder Unordentlichmachen besagter Betten, das Anlegen einer Windel, das Anlegen einer zweiten Windel, um einer halluzinierten Notlage zu begegnen, und das Bocken von Alfreds nervengeschädigten Beinen und das Plärren des Wortes «Enid», bis es nahezu abgenutzt war, und die Frau mit dem wund gescheuerten Namen, von der furchtbarsten Angst und Verzweiflung heimgesucht, die sie je empfunden hatte, begann in der Dunkelheit zu schluchzen, bis sie endlich — als wäre sie über Nacht gereist und käme an einem Bahnhof an, der sich von den trostlosen anderen Bahnhöfen nur durch die Morgendämmerung, die kleinen Wunder wiederhergestellter Sicht, unterschied: eine kalkweiße Pfütze auf einem Kiesparkplatz, Rauch, der sich aus einem Blechschornstein emporringelte — einen Entschluss fasste.
Auf ihrem Plan vom Schiff war an der Heckseite des «D»- Decks das universale Symbol der Hilfe für Menschen in Not eingezeichnet. Nach dem Frühstück ließ sie ihren Mann, der sich mit den Roths unterhielt, am Tisch zurück und machte sich auf den Weg zu diesem roten Kreuz. Die materielle Entsprechung des Symbols war eine Milchglastür, auf der drei in Blattgold geschriebene Wörter standen. «Alfred» hieß das erste Wort und «Krankenstation» das dritte; der Sinn des mittleren Wortes ging in den Schatten, die «Alfred» warf, verloren. Sie studierte es vergeblich. No. Bei. No-bel. No Bell. Keine Glocke?
Alle drei Wörter wichen zurück, als die Tür von einem muskulösen jungen Mann geöffnet wurde, der ein Namensschild am weißen Revers trug: Dr. med. Mather Hibbard. Er hatte ein großes, etwas rauhäutiges Gesicht, wie dieser italo- amerikanische Filmstar, der so beliebt war und einmal einen Engel, ein anderes Mal einen Discotänzer gespielt hatte. «Hi, wie geht's heute Morgen?», fragte er und zeigte perlweiße Zähne. Enid folgte ihm durch einen Vorraum in das eigentliche Behandlungszimmer, wo er sie zu einem Stuhl neben seinem Schreibtisch führte.
«Ich bin Mrs. Lambert», sagte sie. «Enid Lambert, aus der B11. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir vielleicht helfen.»
«Das hoffe ich auch. Wo drückt der Schuh?»
«Ich habe gewisse Schwierigkeiten.»
«Psychische Schwierigkeiten? Emotionale Schwierigkeiten?»
«Na ja, es geht um meinen Mann — »
«Entschuldigen Sie. Moment? Moment?» Dr. Hibbard duckte sich ein wenig und lächelte spitzbübisch. «Haben Sie nicht gesagt, Sie hätten Schwierigkeiten?»
Sein Lächeln war die Anbetungswürdigkeit selbst. Es nahm jenen Teil von Enid, der beim Anblick von Robbenbabys und kleinen Kätzchen dahinschmolz, in Geiselhaft und weigerte sich, ihn freizulassen, bis sie, wenn auch ein wenig unwillig, zurückgelächelt hatte. «Mein Problem», sagte sie, «sind mein Mann und meine Kinder — »
«Entschuldigen Sie noch einmal, Edith. Kurze Pause?» Dr. Hibbard duckte sich sehr tief, legte die Hände auf den Kopf und spähte zwischen seinen Armen hindurch zu ihr nach oben. «Damit wir ganz klar sehen: Sind Sie diejenige mit den Schwierigkeiten?»
«Nein. Mir geht es gut. Nur dass alle anderen in meiner — »
«Haben Sie Angstzustände?»
«Ja, aber — »
«Schlafen Sie schlecht?»
«Genau. Wissen Sie, mein Mann — »
«Edith? Sagten Sie Edith?»
«Enid. Lambert. L-A-M-»
«Enith, wie viel ist vier mal sieben weniger drei?»
«Wie? Ach so. Na ja, fünfundzwanzig.»
«Und welcher Wochentag ist heute?»
«Heute ist Montag.»
«Und welchen historischen Erholungsort in Rhode Island haben wir gestern besucht?»
«Newport.»
«Und nehmen Sie im Augenblick irgendwelche Medikamente gegen Depressionen, Angstzustände, manisch-depressives Syndrom, Schizophrenie, Epilepsie, Parkinson oder irgendeine andere psychische oder neurologische Störung ein?»
«Nein.»
Dr. Hibbard nickte und setzte sich gerade hin, zog eine tiefe Schublade im Schrank hinter sich auf und entnahm ihr eine Handvoll rasselnder Packungen aus Plastik und Silberfolie. Er zählte acht davon ab und legte sie vor Enid auf den Schreibtisch. Sie hatten einen teuren Glanz, der Enid nicht behagte.
«Dies ist ein ausgezeichnetes neues Medikament, das Ihnen enorm helfen wird», trug Dr. Hibbard mit monotoner Stimme vor. Er blinzelte ihr zu.
«Bitte?»
«Haben wir uns missverstanden? Ich dachte, Sie hätten von Schwierigkeiten) gesprochen. Von Angstzuständen und Schlafstörungen?»
«Ja, aber was ich meinte, war, dass mein Mann — »
«Der Mann, klar. Oder die Frau. Es ist oft der weniger gehemmte Ehepartner, der zu mir kommt. Eine lähmende Angst, um Aslan zu bitten, ist in der Tat genau der Zustand, bei dem Aslan in erster Linie indiziert ist. Das Medikament hat eine bemerkenswerte blockierende Wirkung auf ‹tiefe› oder ‹krankhafte› Scham.» Hibbards Lächeln war wie eine frische Delle in einer weichen Frucht. Er hatte die dichten Wimpern eines Welpen, einen Kopf, der zum Streicheln einlud. «Interessiert Sie das?», sagte er. «Sind sie voll und ganz bei der Sache?»
Enid senkte den Blick und fragte sich, ob Menschen an Schlafmangel sterben konnten.
Ihr Schweigen als Zustimmung deutend, fuhr Hibbard fort: «Wir glauben, ein klassisches ZNS-Beruhigungsmittel wie Alkohol unterdrücke ‹Scham› oder ‹Hemmungen›. Doch das ‹beschämende› Geheimnis, das man unter dem Einfluss von drei Martinis ausplaudert, verliert dadurch, dass man es ausplaudert, nicht den beschämenden Charakter; denken Sie an die tiefe Reue, die sich einstellt, sobald die Wirkung der Martinis nachgelassen hat. Was auf der molekularen Ebene abläuft, wenn Sie diese Martinis trinken, Edna, ist, dass der Äthylalkohol die Aufnahme von überschüssigem Faktor 28A, d. h. dem Faktor für ‹tiefe› oder ‹krankhafte› Scham, beeinträchtigt. Dabei wird 28A am Rezeptor nicht richtig umgewandelt oder resorbiert, sondern bleibt in vorübergehender, instabiler Verwahrung beim Transmitter. Wenn der Äthylalkohol dann abgebaut ist, wird der Rezeptor mit 28 A regelrecht überschwemmt. Die Angst vor Demütigung und die Sehnsucht, gedemütigt zu werden, sind eng miteinander verknüpft: Psychologen wissen das, russische Romanciers wissen das. Und es ist nicht nur ‹wahr›, sondern wirklich wahr. Wahr auf der molekularen Ebene. Wie dem auch sei, Aslans Wirkung auf die Chemie der Scham ist eine vollkommen andere als die eines Martinis. Wir reden hier von der vollständigen Vernichtung der 28A-Moleküle. Aslan ist ein wildes Tier.»
Offenkundig war jetzt Enid mit dem Sprechen an der Reihe, doch sie hatte ihr Stichwort verpasst. «Doktor», sagte sie, «entschuldigen Sie, aber ich habe nicht geschlafen, und ich bin ein bisschen verwirrt.»
Der Arzt runzelte allerliebst die Stirn. «Verwirrt? Oder verwirrt!»
«Bitte?»
«Sie haben mir erzählt, Sie hätten Schwierigkeiten. Sie haben einhundertfünfzig US-Dollar in bar oder als Reiseschecks dabei. Auf der Grundlage Ihrer klinischen Reaktionen habe ich subklinische Dysthymie ohne erkennbare Demenz diagnostiziert, und ich gebe Ihnen, gratis, acht unverkäufliche Muster Aslan ‹Kreuzfahrt›, die jeweils drei Dreißig-
Milligramm-Kapseln enthalten, sodass Sie den Rest Ihrer Reise entspannt genießen und hinterher dem empfohlenen Dreißig-zwanzig-zehn-Rückführ-Programm folgen können. Aber ich muss Sie warnen, Elinor, wenn Sie nicht bloß verwirrt, sondern wirklich verwirrt sind, könnte mich das zwingen, meine Diagnose zu revidieren, was Ihren Zugang zu Aslan möglicherweise gefährdet.»
Hier zog Hibbard die Augenbrauen hoch und pfiff ein paar Takte einer Melodie, der sein aufgesetzt arglistiges Lächeln die Harmonie nahm.
«Ich bin nicht verwirrt», sagte Enid. «Mein Mann ist verwirrt.»
«Wenn Sie mit ‹verwirrt› verwirrt meinen, dann lassen Sie mich mit allem gebotenen Ernst klarstellen, dass Sie Aslan hoffentlich für sich und nicht für Ihren Mann gedacht haben. Bei Demenz ist Aslan streng kontraindiziert. Theoretisch muss ich deshalb darauf bestehen, dass Sie das Medikament nur nach Vorschrift und unter meiner strengen Überwachung einnehmen. Aber ich bin nicht naiv. Ich weiß, dass eine so wirkungsvolle, segensreiche Arznei, die man noch dazu auf dem Festland bisher gar nicht bekommen kann, in der Praxis oft in andere Hände gelangt.»
Erneut pfiff Hibbard, die Karikatur eines Menschen, der sich aus den Angelegenheiten anderer heraushält, ein paar unmelodische Takte, während er Enid musterte, um sicherzugehen, dass er sie gut unterhielt.
«Mein Mann ist in der Nacht manchmal so sonderbar», sagte sie und wandte die Augen ab. «So aufgewühlt und schwierig, dass ich nicht schlafen kann. Dann bin ich den ganzen Tag todmüde und völlig durcheinander. Und dabei gibt es so vieles, was ich gern tun möchte.»
«Aslan wird Ihnen helfen», versicherte ihr Hibbard, plötzlich nüchterner. «Für viele Urlauber ist es eine wichtigere Investition als die Reiserücktrittskosten-Versicherung. Bei all dem Geld, das Sie dafür bezahlt haben, hier sein zu dürfen, Enith, haben Sie das Recht, sich jede Sekunde in Bestform zu fühlen. Ein Streit mit Ihrem Mann, Sorgen um ein Haustier, das Sie daheim gelassen haben, eine vermeintliche Brüskierung, obwohl niemand Sie brüskieren wollte: Solche negativen Gefühle können Sie sich nicht leisten. Sehen Sie es so — wenn Aslan verhindert, dass Sie wegen Ihrer subklinischen Dysthymie auch nur eine einzige im Voraus bezahlte Pleasurelines-Veranstaltung versäumen, hat es sich bereits rentiert, womit ich sagen will, dass sich dann das Pauschalhonorar für Ihren Besuch bei mir, an dessen Ende Sie acht unverkäufliche Muster Dreißig-Milligramm-Kapseln Aslan ‹Kreuzfahrt› in der Hand halten werden, gelohnt hat.»
«Was ist Asthman?»
Es klopfte an der Tür zum Gang, und Hibbard schüttelte sich, als wolle er einen klaren Kopf bekommen. «Edie, Eden, Edna, Enid, entschuldigen Sie mich einen Moment. Ich beginne zu begreifen, dass Sie, was den neuesten Stand der globalen Psychopharmakologie betrifft, den Pleasurelines seiner anspruchsvollen Klientel zu bieten vermag, wirklich verwirrt sind. Ich sehe, man muss Ihnen ein bisschen mehr erklären als den meisten unserer Gäste, wenn Sie mich also nur für einen Moment entschuldigen würden…»
Hibbard nahm acht unverkäufliche Muster Aslan aus seinem Schrank, machte sich tatsächlich die Mühe, ihn abzuschließen und den Schlüssel einzustecken, und trat hinaus in den Vorraum. Enid hörte sein Gemurmel und die heisere Stimme eines älteren Mannes, der «fünfundzwanzig», «Montag» und «Newport» antwortete. In weniger als zwei Minuten kam der Arzt mit ein paar Reiseschecks in der Hand zurück.
«Ist das wirklich in Ordnung, was Sie da tun?», fragte Enid. «Ist das legal, meine ich?»
«Gute Frage, Enid, aber ich verrate Ihnen was: Es ist geradezu phantastisch legal.» Ein wenig abwesend betrachtete er einen der Schecks und stopfte sie dann allesamt in seine Hemdtasche. «Dennoch, ausgezeichnete Frage. Eins-a-Frage, wirklich. Mein Berufsethos verbietet es mir, die Arzneimittel, die ich verschreibe, zu verkaufen, also beschränke ich mich darauf, unverkäufliche Muster zu verteilen, was zum Glück der tutto e incluso-Politik der Pleasurelines entspricht. Da Aslan jedoch von den amerikanischen Behörden erst noch zugelassen werden muss und die meisten unserer Gäste Amerikaner sind und es für Aslans Entwickler und Hersteller Farmacopea S.A. darum keinen Anreiz gibt, mir genügend unverkäufliche Muster zur Verfügung zu stellen, um den außergewöhnlichen Bedarf zu decken, sehe ich mich bedauerlicherweise gezwungen, die Muster in großen Mengen selbst zu kaufen. Das zur Erklärung meines Beratungshonorars, das dem einen oder anderen sonst vielleicht überhöht vorkommen könnte.»
«Was ist der genaue Geldwert der acht Muster?», fragte Enid.
«Da sie gratis und unverkäuflich sind, haben sie keinen genauen Geldwert, Eartha. Aber wenn Sie wissen wollen, was es mich kostet, Ihnen diesen Service anzubieten, lautet die Antwort: ungefähr achtundachtzig US-Dollar.»
«Vier Dollar pro Pille!»
«Korrekt. Die Dosis für Patienten, die normal darauf ansprechen, beträgt dreißig Milligramm pro Tag. Mit anderen Worten, eine Kapsel. Jeden Tag vier Dollar, damit Sie sich blendend fühlen: Die meisten Gäste finden das günstig.»
«Und sagen Sie, wofür steht das? Ashram?»
«Aslan. Der Name kommt, wie man mir sagte, von einem mythischen Wesen aus der antiken Mythologie. Mithraismus, Sonnenkult und so weiter. Ich müsste lügen, wenn ich noch weiter ausholen wollte. Aber soweit ich weiß, war Aslan ein großer, gutmütiger Löwe.»
Enids Herz hüpfte in seinem Käfig. Sie nahm ein unverkäufliches Muster vom Schreibtisch und betrachtete die Pillen durch die Hartplastikbläschen. Jede gelbgoldene Kapsel war zweimal gekerbt, damit sie sich leichter teilen ließ, und mit einer vielstrahligen Sonne verziert — oder war es die Silhouette eines Löwenkopfs mit üppiger Mähne? Die Aufschrift lautete ASLAN® Kreuzfahrt™.
«Und was bewirkt es?», fragte sie.
«Überhaupt nichts», erwiderte Hibbard, «vorausgesetzt, Sie sind psychisch vollkommen gesund. Aber seien wir ehrlich: Wer ist das schon?»
«Ach, und wenn man es nicht ist?»
«Aslan leistet eine Faktorenregulierung, die auf dem allerneuesten Stand der Wissenschaft ist. Die besten heute in Amerika zugelassenen Medikamente sind wie zwei Marlboros und eine Rum-Cola, nur zum Vergleich.»
«Ist es ein Antidepressivum?»
«Unschöner Begriff. ‹Persönlichkeitsoptimierer› ist das Wort, das ich bevorzuge.»
«Und ‹Kreuzfahrt›?»
«Aslan optimiert in sechzehn chemischen Dimensionen», erklärte Hibbard geduldig. «Ich verrate Ihnen was. Für jemanden, der eine Luxuskreuzfahrt genießen möchte, ist ‹optimal› nicht dasselbe wie für jemanden, der am Arbeitsplatz funktionieren muss. Die chemischen Unterschiede sind ziemlich subtil, aber wenn Feinabstimmungen möglich sind, warum sie dann nicht anbieten? Neben Aslan ‹Basic› verkauft Farmacopea acht Mischungen nach Maß. Aslan ‹Ski›, Aslan ‹Hacker›, Aslan ‹Höchstform›, Aslan ‹Teen›, Aslan ‹Club Med›, Aslan ‹Goldene Jahre› — was noch? Ach ja, Aslan ‹Kalifornien›. In Europa sehr beliebt. Geplant ist, die Anzahl der Mischungen innerhalb von zwei Jahren auf zwanzig zu erhöhen. Aslan ‹Examen›, Aslan ‹Romantik›, Aslan ‹Schlaflose Nächte›, Aslan ‹Leseleistung›,
Aslan ‹Connoisseur› und und und. Die Zulassung durch amerikanische Kontrollbehörden würde den Prozess beschleunigen, aber ich halte nicht so lange die Luft an. Wenn Sie mich fragen, was an ‹Kreuzfahrt› besonders ist? Hauptsächlich, dass es Ihre Angst ausschaltet. Den kleinen Zeiger ganz auf null dreht. Aslan ‹Basic› tut das nicht, denn ein gewisses Angstlevel ist wünschenswert, wenn man Tag für Tag zu funktionieren hat. Ich zum Beispiel nehme im Augenblick ‹Basic›, weil ich arbeite.»
«Wie — »
«Weniger als eine Stunde. Das ist das Prachtvolle daran. Es wirkt sofort und absolut zuverlässig. Während einige vom Staat zugelassenen Dinosaurier vier Wochen brauchen, um zu wirken. Nehmen Sie heute Zoloft, und seien Sie froh, wenn es Ihnen Freitag in einer Woche besser geht.»
«Nein, aber wie kann ich das Rezept zu Hause erneuern?»
Hibbard schaute auf seine Uhr. «Aus welchem Teil des Landes sind Sie, Andie?»
«Aus dem Mittelwesten. St. Jude.»
«Aha. Für Sie wird ‹Mexican Aslan› das Beste sein. Oder falls Sie Freunde haben, die nach Argentinien oder Uruguay reisen — vielleicht können Sie sich mit denen absprechen. Wenn Ihnen das Mittel zusagt und Sie ganz und gar unkomplizierten Zugang wünschen, hofft Pleasurelines natürlich, dass Sie wieder mal eine Kreuzfahrt buchen.»
Enid machte ein finsteres Gesicht. Dr. Hibbard war sehr gut aussehend und charismatisch, und die Idee einer Pille, die ihr helfen würde, die Kreuzfahrt zu genießen und besser für Alfred zu sorgen, gefiel ihr durchaus, aber der Arzt kam ihr doch ein kleines bisschen oberflächlich vor. Außerdem hieß sie Enid. E-N-I-D.
«Und Sie sind ganz, ganz sicher, dass es mir helfen wird?», fragte sie. «Sind Sie wirklich absolut sicher, dass es das Beste für mich ist?»
«Ich ‹garantiere› es», sagte Hibbard mit einem Augenzwinkern.
«Was heißt eigentlich ‹optimieren›?», fragte Enid.
«Sie werden sich emotional weniger angreifbar fühlen», sagte Hibbard. «Flexibler, zuversichtlicher, zufriedener mit sich selbst. Ihre Angst und Überempfindlichkeit werden verschwinden, und es wird Ihnen nicht mehr so krankhaft wichtig sein, was andere Leute von Ihnen denken. Alles, wofür Sie sich jetzt schämen — »
«Ja», sagte Enid. «Ja.»
«‹Wenn es zur Sprache kommt, rede ich darüber; wenn nicht, warum es erwähnen?› Das wird Ihre Haltung sein. Die tückische Ambivalenz der Scham, dieses schnelle Hin- und Herspringen zwischen Geständnis und Verheimlichung — ist das ein Problem für Sie?»
«Ich glaube, Sie verstehen mich.»
«Chemische Abläufe in Ihrem Gehirn, Elaine. Ein starker Drang zu gestehen, ein starker Drang zu verheimlichen: Was ist überhaupt ein starker Drang? Was kann er anderes sein als Chemie? Was ist Erinnerung? Eine chemische Veränderung! Vielleicht auch eine strukturelle Veränderung, aber ich verrate Ihnen was: Strukturen bestehen aus Proteinen! Und woraus bestehen Proteine? Aus Aminen!»
Enid hatte die unbestimmte Sorge, dass ihre Kirche etwas anderes lehrte — irgendetwas von Christus, der beides war, ein großes Stück Fleisch an einem Kreuz und Gottes Sohn — , doch Glaubensfragen hatte sie schon immer erschreckend komplex gefunden, und Reverend Anderson in ihrer Gemeinde hatte ein so gütiges Gesicht und erzählte in seinen Predigten oft Witze oder zitierte New Former-Cartoons oder weltliche Schriftsteller wie John Updike, und nie tat er etwas Verstörendes, indem er der Gemeinde etwa sagte, sie sei verdammt, was ohnehin absurd gewesen wäre, wo doch alle in der Kirche so nett und freundlich waren, und außerdem hatte Alfred über ihren Glauben immer die Nase gerümpft, und es war leichter, mit dem Glauben einfach aufzuhören (wenn sie überhaupt jemals gläubig gewesen war), als Alfred in einem philosophischen Streitgespräch schlagen zu wollen. Mittlerweile glaubte Enid, dass man, wenn man tot war, wirklich tot war, und Dr. Hibbards Sicht der Dinge leuchtete ihr ein.
Dennoch, da sie eine hartgesottene Käuferin war, sagte sie: «Ich bin bloß eine dumme alte Frau aus dem Mittelwesten, na ja, aber die Persönlichkeit verändern, das hört sich für mich irgendwie nicht richtig an.» Sie machte ein langes, säuerliches Gesicht, damit ihr Missfallen auch bestimmt nicht übersehen wurde.
«Was spricht gegen Veränderung?», sagte Hibbard. «Sind Sie glücklich so, wie Sie sich im Augenblick fühlen?»
«Das nicht, nein, aber wenn ich ein anderer Mensch bin, nachdem ich die Pille genommen habe, wenn ich hinterher anders bin, dann kann das doch nicht richtig sein, und — »
«Edwina, ich verstehe Sie vollkommen. Wir alle empfinden eine irrationale Zuneigung zu den besonderen chemischen Koordinaten unseres Charakters und Temperaments. Das hat mit der Angst vorm Tod zu tun, meinen Sie nicht? Ich weiß nicht, wie es sein wird, nicht mehr ich zu sein. Aber ich verrate Ihnen was. Wenn ‹ich› nicht mehr da bin, um den Unterschied zu bemerken, was kümmert es ‹mich› dann? Tot zu sein ist nur ein Problem, wenn man weiß, dass man tot ist, was nie der Fall sein wird, schließlich ist man ja tot!»
«Aber es hört sich so an, als würde das Mittel alle gleichmachen.»
«Mh-mh. Biep-biep. Falsch. Ich verrate Ihnen was: Zwei Menschen können die gleiche Persönlichkeit haben und trotzdem Individuen sein. Zwei Menschen mit dem gleichen IQ können vollkommen verschiedene Kenntnisse und Erinnerungen haben. Richtig? Zwei ausgesprochen liebevolle Menschen können ihre Liebe auf vollkommen unterschiedliche Gegenstände richten. Zwei gleichermaßen risikoscheue Individuen können vollkommen verschiedene Risiken meiden. Vielleicht macht Aslan uns alle ein bisschen gleicher, aber ich verrate Ihnen was, Enid: Wir alle sind immer noch Individuen.»
Der Arzt entfesselte ein besonders liebreizendes Lächeln, und Enid, die sich ausrechnete, dass er pro Gespräch einen Reingewinn von $ 62 erzielte, fand, dass sie nun für ihr Geld genug von seiner Zeit und Aufmerksamkeit bekommen hatte, und sie tat, wozu sie im Grunde entschlossen war, seit ihr Blick zum ersten Mal auf die sonnigen, die löwenköpfigen Kapseln gefallen war. Sie griff in ihre Handtasche, nahm ein Bündel Bargeld aus dem Pleasurelines-Kuvert, in dem ihre Spielgewinne steckten, und zählte $ 150 ab.
«Viel Zeitvertreib von dem Löwen», sagte Hibbard mit einem Augenzwinkern, als er den Stapel unverkäuflicher Muster über seinen Schreibtisch schob. «Brauchen Sie eine Tüte?»
Mit klopfendem Herzen trat Enid den Rückweg zum «B»- Deck an. Nach dem Albtraum des vergangenen Tages und der letzten beiden Nächte hatte sie nun wieder etwas, auf das sie sich freuen konnte; und wie süß die Zuversicht einer Frau, die ein eben ergattertes Mittel bei sich trägt, das ihr Denken zu wandeln verheißt; wie universal die Sehnsucht, den Gegebenheiten des Selbst zu entfliehen. Keine größere Anstrengung, als die Hand zum Mund zu führen, kein gewaltigerer Akt, als zu schlucken, kein religiöses Gefühl, kein Glaube an etwas anderes, Mystischeres als Ursache und Wirkung — nichts von alledem war nötig, um die umwälzenden Segnungen dieser Pille zu erfahren. Sie konnte es nicht erwarten, sie einzunehmen. Den ganzen Weg bis zur B11 ging sie wie auf Wolken. Glücklicherweise war dort von Alfred keine Spur. Als wolle sie dem Verbotenen ihres Vorhabens Rechnung tragen, schob sie den Riegel vor die Außentür. Schloss sich, darüber hinaus, im Badezimmer ein. Hob die Augen zu deren gespiegelten Zwillingen empor und erwiderte in einem feierlichen Impuls ihren Blick, wie sie es seit Monaten oder vielleicht Jahren nicht mehr getan hatte. Drückte eine goldene Aslan durch die Folie auf der Rückseite eines der unverkäuflichen Muster. Legte sie sich auf die Zunge und spülte sie mit Wasser hinunter.
Ein paar Minuten lang hantierte sie mit Zahnbürste und Zahnseide, ein bisschen Hausarbeit im Mund, damit die Zeit verstrich. Dann stieg sie, mit einem Schauder aufwogender Müdigkeit, in ihre Koje, um zu warten.
Goldenes Sonnenlicht fiel auf die Bettdecken im fensterlosen Raum.
Er rieb seine warme Samtschnauze an ihrem Handgelenk. Er leckte ihre Augenlider mit einer sandpapierenen, zugleich glatten Zunge. Sein Atem war süß und beißend.
Als sie aufwachte, war das kühle Halogenlicht in der Kabine nicht mehr künstlich. Es war das kühle Leuchten der hinter einer flüchtigen Wolke verborgenen Sonne.
Ich habe das Medikament genommen, sagte sie sich. Ich habe das Medikament genommen. Ich habe das Medikament genommen.
Ihre neue emotionale Flexibilität wurde am nächsten Morgen auf eine harte Probe gestellt, als sie um sieben aufstand und sah, dass Alfred sich in der Duschkabine zusammengerollt hatte und tief und fest schlief.
«Al, du liegst in der Dusche», sagte sie. «Da schläft man nicht.»
Sie begann sich die Zähne zu putzen. Alfred öffnete von Wahnsinn ungetrübte Augen und machte eine Bestandsaufnahme. «Ah, bin ich steif», sagte er.
«Was um Himmels willen tust du da?», gluckste Enid, den Mund voller Fluoridschaum, während sie fröhlich vor sich hin putzte.
«Bin heute Nacht ganz durcheinander gewesen», sagte er. «Hatte so seltsame Träume.»
Sie merkte, dass sie in Aslans Armen neue Reserven der Geduld für den handgelenkstrapazierenden Witsch-Watsch- Bürstenstrich entdeckte, den ihr Zahnarzt ihr für die Seiten der Backenzähne angeraten hatte. Mit geringem bis mittlerem Interesse sah sie zu, wie Alfred über einen mehrstufigen Prozess des Sichaufstützens, — hochstemmens, — aufrappelns, — anspannens und Kontrolliert-nach-vorne-Kippens in die aufrechte Position gelangte. Ein irrwitziger Dhoti aus zerknüllten und zerfledderten Windeln hing ihm von den Lenden. «Nun guck dir das mal an», sagte er kopfschüttelnd. «Würdest du dir das bitte mal angucken.»
«Ich habe die ganze Nacht herrlich geschlafen», antwortete sie.
«Und wie geht es unseren Flottierern heute Morgen?», fragte die fliegende Programmkoordinatorin Suzy Ghosh mit einer Stimme, die wie Haar in einer Shampoo-Werbung war, in die Runde.
«Jedenfalls sind wir gestern Nacht nicht untergegangen, falls Sie das meinen», sagte Sylvia Roth.
Die Norweger nahmen Suzy sofort in Beschlag und unterzogen sie einer komplizierten Befragung zum Bahnenschwimmen im größeren der beiden Pools auf der Gunnar Myrdal.
«Sieh an, sieh an, Signe», sagte Mr. Söderblad indiskret laut zu seiner Frau, «das ist ja eine Überraschung. Die Nygrens haben heute Morgen eine längere Frage an Miss Ghosh.»
«Ja, Stig, sie scheinen eigentlich immer eine längere Frage zu haben, nicht wahr? Sie sind sehr gründlich, unsere Nygrens.»
Ted Roth drehte eine halbe Pampelmuse wie ein Töpfer und kratzte dabei das Fruchtfleisch heraus. «Die Geschichte des Kohlenstoffs», sagte er, «ist die Geschichte des Planeten. Wissen Sie über den Treibhauseffekt Bescheid?»
«Sie sind dreifach steuerfrei», sagte Enid.
Alfred nickte. «Ja, ich weiß über den Treibhauseffekt Bescheid.»
«Man muss die Rabattmarken aber auch wirklich abschneiden, das vergesse ich manchmal», sagte Enid.
«Vor vier Milliarden Jahren war die Erde sehr heiß», sagte Dr. Roth. «An Atmen nicht zu denken. Methan, Kohlendioxyd, Wasserstoffsulfid.»
«In unserem Alter ist ein regelmäßiges Einkommen natürlich wichtiger als Kapitalzuwachs.»
«Die Natur hatte noch nicht gelernt, Cellulose aufzuspalten. Wenn ein Baum umfiel, lag er auf dem Boden und wurde vom nächsten Baum, der umfiel, begraben. Das war das Karbon. Die Erde eine einzige verschwenderische Orgie. Und im Laufe von Millionen und Abermillionen von Jahren, in denen Bäume auf Bäume fielen, wurde der Luft fast der gesamte Kohlenstoff entzogen und anschließend begraben. Und dort, unter der Erde, ist er, geologisch gesprochen, bis gestern geblieben.»
«Bahnenschwimmen, Signe. Glaubst du, man kann dabei auch auf die schiefe Bahn kommen?»
«Manche Menschen sind einfach unausstehlich», sagte Mrs. Nygren.
«Wenn heute ein Baumstamm umfällt, wird er von Pilzen und Mikroben zersetzt, und der ganze Kohlenstoff gelangt wieder in die Luft. Ein Karbon kann es nie wieder geben. Nie. Weil man die Natur nicht bitten kann zu verlernen, wie Cellulose abgebaut wird.»
«Es heißt jetzt Orfic Midland», sagte Enid.
«Säugetiere gibt es erst, seit die Welt sich abgekühlt hat. Frost auf dem Kürbis. Pelzige Wesen in Höhlen. Bloß jetzt haben wir da ein sehr cleveres Säugetier, das allen Kohlenstoff wieder aus der Erde holt und ihn in die Atmosphäre zurückschleust.»
«Ich glaube, wir besitzen sogar ein paar Aktien von Orfic Midland», sagte Sylvia.
«In der Tat», sagte Per Nygren, «besitzen auch wir Orfic- Midland-Aktien.»
«Per muss es wissen», sagte Mrs. Nygren.
«Daran habe ich keinen Zweifel», sagte Mr. Söderblad.
«Wenn wir erst mal alle Kohle-, Öl- und Gasvorräte verbrannt haben», sagte Dr. Roth, «werden wir die alte Atmosphäre wiederbekommen. Eine heiße, garstige Atmosphäre, wie es sie seit dreihundert Millionen Jahren nicht mehr gegeben hat. Wenn wir den Kohlenstoffgeist erst mal aus seiner mineralischen Flasche gelassen haben.»
«Norwegen hat ein hervorragendes Rentenversicherungssystem, ähm, aber trotzdem ergänzen wir unseren staatlichen Versicherungsschutz durch einen privaten Fonds. Jeden Morgen überprüft Per den Wert jeder einzelnen Aktie, die dazugehört. Sind eine ganze Menge amerikanischer Aktien darunter. Wie viele, Per?»
«Im Augenblick sechsundvierzig», sagte Per Nygren. «Wenn ich mich nicht irre, ist ‹Orfic› ein Akronym, gebildet aus Oak Ridge Fiduciary Investment Corporation. Die Aktie hat ihren Wert ziemlich stabil gehalten und wirft eine hübsche Dividende ab.»
«Faszinierend», sagte Mr. Söderblad. «Wo bleibt mein Kaffee?»
«Hör mal, Stig», sagte Signe Söderblad, «ich bin ziemlich sicher, dass wir diese Orfic-Midland-Aktie auch haben, oder?»
«Wir haben eine Unmenge Aktien. Ich kann mir nicht jeden Namen merken. Noch dazu, wo die Schrift in den Zeitungen so winzig ist.»
«Die Moral von der Geschichte ist: kein Plastik-Recycling. Bringt euer Plastik auf die Müllhalde. Befördert den Kohlenstoff unter die Erde.»
«Wenn es nach Al gegangen wäre, hätten wir immer noch jeden Penny auf dem Sparbuch.»
«Vergrabt ihn, vergrabt ihn. Sperrt den Geist in die Flasche.»
«Ich habe nämlich ein Augenleiden, das mir das Lesen sehr erschwert», sagte Mr. Söderblad.
«Ach ja?», sagte Mrs. Nygren spitz. «Und wie lautet die medizinische Bezeichnung für dieses Leiden?»
«Ich mag kühle Herbsttage», sagte Dr. Roth.
«Na ja», sagte Mrs. Nygren, «das Problem ist natürlich, dass sich die genaue Bezeichnung des Leidens wiederum nur durch mühevolles Lesen herausfinden lässt.»
«Die Erde ist ein kleiner Planet.»
«Es gibt natürlich das so genannte schwache Auge, aber gleich zwei schwache Augen auf einmal zu haben — »
«Das ist praktisch unmöglich», sagte Mr. Nygren. «Bei der ‹Schwachsichtigkeit› oder Amblyopie übernimmt das eine Auge die Arbeit des anderen. Wenn also ein Auge schwachsichtig ist, ist das andere per definitionem — »
«Per, halt den Mund», sagte Mrs. Nygren.
«Inga!»
«Ober, nachschenken.»
«Stellen Sie sich die obere Mittelschicht Usbekistans vor», sagte Dr. Roth. «Eine der Familien hatte den gleichen Ford Stomper wie wir. Der einzige Unterschied zwischen der oberen Mittelschicht bei uns und der oberen Mittelschicht bei denen ist tatsächlich, dass dort niemand, nicht einmal die reichste Familie der Stadt, sanitäre Anlagen im Haus hat.»
«Mir ist durchaus bewusst», sagte Mr. Söderblad, «dass ich als Nichtleser allen Norwegern moralisch unterlegen bin. Damit kann ich leben.»
«Jede Menge Fliegen, wie über einem vier Tage alten Kadaver. Ein Eimer voll Asche, die man in die Grube streut. Sehr weit kann man nicht reingucken, aber das ist schon weiter, als einem lieb ist. Und ein funkelnder Ford Stomper vor der Haustür. Und sie filmen mit der Videokamera, wie wir sie mit der Videokamera filmen.»
«Andererseits gelingt es mir trotz meiner Behinderung, dem Leben die eine oder andere Freude abzutrotzen.»
«Aber wie schal, Stig», sagte Signe Söderblad, «müssen unsere Freuden sein, verglichen mit denen der Nygrens.»
«Ja, sie scheinen sich an den tiefen und dauerhaften Wonnen des Geistes zu laben. Andererseits, Signe, hast du heute Morgen ein sehr vorteilhaftes Kleid an. Und sogar Mr. Nygren hat das Kleid bewundert, trotz der tiefen und dauerhaften Wonnen, die er woanders findet.»
«Komm mit, Per», sagte Mrs. Nygren. «Man beleidigt uns.»
«Stig, hast du das gehört? Die Nygrens wurden beleidigt und verlassen uns.»
«Wie schade. Es ist so lustig mit ihnen.»
«Unsere Kinder leben inzwischen alle an der Ostküste», sagte Enid. «Niemand scheint sich im Mittelwesten mehr wohl zu fühlen.»
«Ich pass hier nur den richtigen Zeitpunkt ab, Alter», sagte eine vertraute Stimme.
«Die Kassiererin im Speisesaal der Geschäftsleitung von Du Pont war Usbekin. Wahrscheinlich habe ich auch bei IKEA in Plymouth Meeting Usbeken gesehen. Wir reden hier nicht von Außerirdischen. Usbeken tragen Bifokalbrillen. Sie fliegen mit Flugzeugen.»
«Auf dem Rückweg machen wir einen Zwischenstopp in Philadelphia, damit wir in ihrem neuen Restaurant essen können. Es heißt › Der Generator‹?»
«Enid, meine Güte, das ist ihr Lokal? Ted und ich waren vor zwei Wochen dort.»
«Die Welt ist klein», sagte Enid.
«Das Essen war fabelhaft. Wirklich bemerkenswert gut.»
«Im Endeffekt haben wir also sechstausend Dollar bezahlt, um daran erinnert zu werden, wie ein Plumpsklo riecht.»
«Ich werde das nie vergessen», sagte Alfred.
«Und sind noch dankbar für das Plumpsklo! Weil das der eigentliche Zweck von Fernreisen ist. Weil Fernsehen und Bücher einem das nicht vermitteln können. So was muss man schon selbst erleben. Nehmen Sie das Plumpsklo weg, und wir hätten das Gefühl, sechstausend Dollar zum Fenster rausgeworfen zu haben.»
«Sollen wir aufs Sonnendeck gehen und uns das Gehirn durchbraten lassen?»
«O ja, Stig, bitte. Ich bin intellektuell völlig erschöpft.»
«Dank sei Gott für die Armut. Dank sei Gott für das Linksfahren. Dank sei Gott für Babel. Dank sei Gott für andere Voltzahlen und seltsam geformte Steckdosen.» Dr. Roth schob seine Brille den Nasenrücken herunter und spähte darüber hinweg, den schwedischen Exodus fest im Blick. «Kleine Bemerkung am Rande: Jedes Kleid, das diese Frau besitzt, ist so geschneidert, dass man es schnell wieder ausziehen kann.»
«Ich habe noch nie erlebt, dass Ted derart wild darauf war, zum Frühstücken zu gehen», sagte Sylvia. «Und zum Mittagessen. Und zum Abendessen.»
«Fabelhafte nordische Aussichten», sagte Roth. «Dafür sind wir doch hier, oder?»
Alfred senkte betreten den Blick. Auch in Enids Hals steckte eine kleine Gräte der Prüderie. «Glauben Sie, dass er wirklich etwas an den Augen hat?», brachte sie heraus.
«Zumindest in einer Hinsicht hat er ein exzellentes Auge.»
«Ted, jetzt hör aber mal auf.»
«Dass die schwedische Sexbombe ein müdes Klischee ist, ist selbst schon ein müdes Klischee.»
«Hör bitte auf.»
Der pensionierte Vorstandsvorsitzende schob seine Brille wieder hoch und wandte sich Alfred zu. «Ich frage mich, ob wir depressiv geworden sind, weil es kein unerforschtes Land mehr gibt. Weil wir nicht mehr so tun können, als gäbe es irgendwo noch einen Ort, an dem bisher keiner war. Ich frage mich, ob sich da eine kollektive Depression anbahnt, weltweit.»
«Mir geht's ganz wunderbar heute Morgen. Ich habe so gut geschlafen.»
«Laborratten werden teilnahmslos, wenn zu viele in einem Käfig sind.»
«Stimmt, Enid, Sie wirken wie verwandelt. Erzählen Sie mir jetzt bloß nicht, das hätte etwas mit dem Arzt vom ‹D›-Deck zu tun. Ich hab da ein paar Geschichten gehört.»
«Geschichten?»
«Bleibt höchstens noch der so genannte Cyberraum», sagte Dr. Roth, «aber wo ist da die Wildnis?»
«Von einem Mittel, das Aslan heißt», sagte Sylvia.
«Aslan?»
«Oder der Weltraum», sagte Dr. Roth, «aber mir gefällt diese Erde. Sie ist ein guter Planet. Was sie zu bieten hat, ist ein Mangel an Zyanid, Schwefelsäure und Ammoniak in der Atmosphäre. Womit sich keineswegs jeder Planet brüsten kann.» «‹Großmutters kleiner Helfer› nennen sie es, glaube ich.»
«Aber selbst im eigenen großen, stillen Haus fühlt man sich doch beengt, wenn es auf der anderen Seite der Erde und überall dazwischen ebenfalls große, stille Häuser gibt.»
«Alles, was ich möchte, ist ein bisschen Privatsphäre», sagte Alfred.
«Kein Strand zwischen Grönland und den Falkland-Inseln, der nicht von Erschließungsplänen bedroht ist. Kein Stück Land, das ungerodet bleibt.»
«Ach herrje, wie spät ist es?», fragte Enid. «Wir wollen doch diesen Vortrag nicht verpassen.»
«Sylvia ist anders. Sie mag das Gewimmel an den Kais.»
«Stimmt, Gewimmel mag ich», sagte Sylvia.
«Gangways, Bullaugen, Schauerleute. Sie mag das Tuten des Signalhorns. Für mich ist das hier ein schwimmender Freizeitpark.»
«Man muss sich eben mit einem gewissen Maß an Verklärung abfinden», sagte Alfred. «Daran ist nichts zu ändern.»
«Usbekistan ist meinem Magen nicht bekommen», sagte Sylvia.
«Mir gefällt die ganze Verschwendung hier», sagte Dr. Roth. «Es tut gut zu sehen, wie Hunderte von Meilen sinnlos zurückgelegt werden.»
«Sie romantisieren die Armut.»
«Wie bitte?»
«Wir waren in Bulgarien», sagte Alfred. «Usbekistan kenne ich nicht, aber in China waren wir auch. Soweit ich es von der Eisenbahn aus sehen konnte, würde ich — also, wenn es nach mir ginge, würde ich alles abreißen. Abreißen und noch mal von vorn anfangen. Die Häuser müssen nicht hübsch sein, nur solide. Sanitäre Anlagen rein in die Häuser. Eine vernünftige Betonmauer und ein Dach, das nicht leckt — das ist es, was die Menschen dort brauchen. Kanalisation. Schauen Sie sich die Deutschen an, wie die alles wieder aufgebaut haben. Geradezu vorbildlich.»
«Würde allerdings nicht so gern Fisch aus dem Rhein essen. Falls man überhaupt welchen darin findet.»
«Das ist alles Umweltschützer-Geschwafel.»
«Alfred, Sie sind ein zu kluger Mann, um das Geschwafel zu nennen.»
«Ich muss jetzt mal verschwinden.»
«Al, wenn du fertig bist, nimm doch ein Buch mit nach draußen und lies ein bisschen. Sylvia und ich hören uns den Investment-Vortrag an. Setz du dich einfach irgendwo hin. In die Sonne. Und entspann dich, hörst du, entspann dich.»
Er hatte gute Tage und schlechte Tage. Es war, als flössen, wenn er eine Nacht im Bett verbrachte, bestimmte Körpersäfte, wie die Säfte einer Marinade, in die man ein Hüftsteak legt, an die richtigen oder falschen Stellen und als hätten seine Nervenenden am Morgen entweder genug von dem, was sie brauchten, oder eben nicht; als hinge seine geistige Klarheit von etwas so Banalem ab wie davon, ob er in der vergangenen Nacht auf der Seite oder auf dem Rücken gelegen hatte; oder, beunruhigender noch, als wäre er ein beschädigtes Transistorradio, das nach heftigem Schütteln entweder wieder laut und deutlich funktionierte oder nichts als statisches Rauschen ausspuckte, durchbrochen von Satzfetzen und gelegentlichen Takten Musik.
Trotzdem, noch der schlimmste Morgen war besser als die beste Nacht. Am Morgen beschleunigten sich alle Prozesse und katapultierten Alfreds Medikamente an ihre Bestimmungsorte: das kanariengelbe spindelförmige Ding gegen Inkontinenz, die kleine runde rosafarbene Kugel gegen das Zittern, das weiße Oval gegen Übelkeit, die blassblaue Tablette zur Bekämpfung der Halluzinationen, die von der kleinen runden rosafarbenen Kugel kamen. Am Morgen herrschte in seinem Blut dichter Pendlerverkehr,
Glukoseboten, Lakto- und Urinhygienespezialisten, Hämoglobinspediteure, die in ihren zerdellten Lieferwagen Mengen frisch aufbereiteten Sauerstoffs transportierten, unerbittliche Vorarbeiter wie das Insulin, das enzymische mittlere Management und die leitenden Epinephrine, Leukozytenpolizisten und Notfallwagenteams, teure Berater, die in ihren rosafarbenen und weißen und kanariengelben Limousinen herbeigefahren kamen, den Aorta-Fahrstuhl nahmen und über die Arterien ausschwärmten. Vor zwölf Uhr am Mittag war die Quote der Arbeitsunfälle gering. Die Welt war neugeboren.
Er hatte Schwung. Vom Kierkegaard-Saal aus schwankte er federnden Schritts einen mit rotem Teppich ausgelegten Gang entlang, der ihm schon einmal mit einem stillen Örtchen aufgewartet hatte, doch heute Morgen schien hier alle Welt Geschäfte zu machen, kein H oder D in Sicht, nur Frisörsalons und Boutiquen und das Ingmar-Bergman-Kino. Das Problem war, dass er sich nicht mehr darauf verlassen konnte, ob sein Nervensystem die Dringlichkeit seines Austretenmüssens richtig einschätzte. In der Nacht löste er es, indem er einen Schutz trug, am Tage, indem er stündlich eine Toilette aufsuchte und stets seinen alten schwarzen Regenmantel bei sich hatte, für den Fall, dass er einmal ein Missgeschick verbergen musste. Ein weiterer Vorzug des Regenmantels war, dass er Enids romantische Gefühle verletzte, ein weiterer Vorzug der stündlichen Gänge zur Toilette, dass sie seinem Leben eine Struktur gaben. Lediglich alles im Griff zu behalten — lediglich den Ozean der nächtlichen Schrecken daran zu hindern, dass er auch das letzte Schott durchbrach — , das war jetzt sein ganzes Streben.
Unzählige Frauen strömten in Richtung Langstrumpf-Ballsaal. Ein starker Strudel trieb Alfred in einen Gang, an dem die Kabinen der mitreisenden Referenten und Entertainer lagen. Am Ende des Gangs winkte ein Herren-WC.
Ein Offizier mit Epauletten stand vor einem der beiden Urinbecken. Aus Furcht, unter Beobachtung zu versagen, betrat Alfred eine Toilettenkabine, schob den Riegel vor und fand sich einer Kloschüssel gegenüber, die unter Kotbeschuss genommen worden war, glücklicherweise aber nichts erzählte, sondern nur stank. Er ging wieder hinaus und probierte es mit der nächsten, doch hier huschte etwas über den Boden — ein wendiger Scheißhaufen, der in Deckung ging — , und er wagte nicht einzutreten. Inzwischen hatte der Offizier gespült, und als er sich zu ihm umwandte, erkannte Alfred die blauen Wangen und rosa getönten Brillengläser und vulvapinken Lippen wieder. Aus seinem noch geöffneten Reißverschluss hingen zwanzig Zentimeter oder mehr eines schlaffen braunen Rohrs. Ein gelbes Grinsen tat sich zwischen seinen blauen Wangen auf. Er sagte: «Ich habe eine kleine Kostbarkeit in Ihrem Bett hinterlegt, Mr. Lambert. Anstelle derer, die ich mitgenommen habe.»
Alfred taumelte aus der Toilette und floh die Treppen hinauf, höher und höher, sieben Stockwerke hoch, bis zum Sportdeck unter freiem Himmel. Hier fand er eine Bank in heißem Sonnenschein. Er zog eine Karte von Kanadas Küstenprovinzen aus der Tasche seines Regenmantels und versuchte, seine Position im Gitternetz zu bestimmen, ein paar Landmarken auszumachen.
Drei alte Männer in Gore-Tex-Jacken standen an der Reling.
Ihre Stimmen waren in einem Augenblick unhörbar, im nächsten vollkommen klar. Der Wind schien in seiner veränderlichen Masse Luftlöcher zu haben, kleine Räume der Stille, durch die der eine oder andere Satz schlüpfen konnte.
«Da ist jemand mit einer Karte», sagte einer der Männer. Er kam zu Alfred herüber und sah so glücklich aus wie alle Männer auf der Welt, außer Alfred. «Entschuldigen Sie, Sir. Was, meinen Sie, sieht man da vorn zu unserer Linken?»
«Das ist die Gaspe-Halbinsel», antwortete Alfred entschieden.
«Dahinter müsste eigentlich gleich eine große Stadt auftauchen.»
«Danke vielmals.»
Der Mann kehrte zu seinen Kameraden zurück. Als wäre die Position des Schiffs für sie von großer Bedeutung, als hätte sie überhaupt nur das Verlangen nach dieser Information auf das Sportdeck geführt, machten sich alle drei unverzüglich auf den Weg nach unten und ließen Alfred ganz oben auf der Welt allein. Der schützende Himmel war dünner in diesen Breiten nördlichen Gewässers. Wolken zogen gemeinschaftlich ihre Bahnen, an Furchen auf einem Feld erinnernd, und glitten unter der umschließenden Kuppel des auffallend niedrigen Himmels dahin. Man kam hier Ultima Thule nahe. Alles Grüne hatte eine rote Korona. Den Wäldern, die sich im Westen bis an die Grenze des Sichtbaren erstreckten, auch dem ziellosen Davoneilen der Wolken und der übernatürlichen Klarheit der Luft haftete nichts Irdisches an.
Seltsam, das Unendliche ausgerechnet in einer endlichen Krümmung, das Ewige ausgerechnet im jahreszeitlich Bedingten aufscheinen zu sehen.
Alfred hatte in dem blauwangigen Mann aus der Herrentoilette den Mann von der Abteilung Signale wiedererkannt, den personifizierten Verrat. Doch der blauwangige Mann von der Abteilung Signale konnte sich unmöglich eine Luxuskreuzfahrt leisten, und das beunruhigte Alfred. Der blauwangige Mann kam aus ferner Vergangenheit, sprach und handelte aber in der Gegenwart, und der Scheißhaufen war ein Geschöpf der Nacht, lief aber am helllichten Tag herum, und das beunruhigte Alfred sehr.
Ted Roth zufolge bildeten sich die Löcher in der Ozonschicht zuerst an den Polen. In der langen arktischen Nacht gab die Erdhülle zuerst nach, doch sobald sie porös geworden war, breitete sich der Schaden aus, griff sogar auf die sonnigen Tropen über — sogar auf den Äquator — , und schon bald war kein Fleck auf dem Erdball mehr sicher.
Inzwischen hatte ein Observatorium in den entlegenen unteren Regionen ein schwaches Signal ausgesandt, eine zweideutige Botschaft.
Alfred empfing das Signal und fragte sich, was er tun sollte. Er hatte eine Scheu vor Toiletten, neuerdings, aber er konnte ja seine Hosen nicht gut hier im Freien herunterlassen. Möglich, dass die drei Männer jeden Moment zurückkamen.
Hinter einem Schutzgeländer zu seiner Rechten waren mehrere dick lackierte flache und zylinderförmige Gegenstände, zwei sphärische zu Navigationszwecken, ein umgekehrter Kegel. Da er schwindelfrei war, hielt ihn nichts davon ab, die unmissverständliche Warnung in vier Sprachen in den Wind zu schlagen, sich an der Brüstung vorbeizuzwängen und auf die raue Metallfläche hinauszutreten, um sich, sozusagen, einen Baum zu suchen, hinter dem er pinkeln konnte. Er war hoch über allem und nicht zu sehen.
Aber zu spät.
Beide Hosenbeine waren durchnässt, das linke beinahe bis zum Knöchel. Warm-kalte Feuchtigkeit überall.
Und wo an der Küste eine Stadt hätte auftauchen müssen, entfernte sich das Land. Graue Wellen marschierten durch seltsames Gewässer, und das Beben der Maschinen wurde angestrengter, war weniger leicht zu ignorieren. Das Schiff hatte die Gaspe-Halbinsel entweder noch nicht erreicht oder bereits passiert. Die Daten, die er den Männern in den Jacken übermittelt hatte, waren falsch. Er hatte die Orientierung verloren.
Und vom Deck direkt unter ihm trug ihm der Wind ein Kichern zu. Da war es noch einmal, ein trällernder Schrei, eine nordische Lerche.
Er rückte langsam von den Kugeln und Zylindern ab und beugte sich über die äußere Reling. Ein paar Meter weiter achtern war eine kleine «nordische» Sonnenbadezone, versteckt hinter einem Zedernholzzaun, und ein Mann, der dort stand, wo kein Passagier stehen durfte, konnte über den Zaun schauen und Signe Söderblad erblicken, ihre gänsehäutigen Arme und Schenkel, ihren Bauch, die zwei drallen Brombeeren, zu denen ein plötzlich grauer Winterhimmel ihre Brustwarzen zusammengezogen hatte, das zitternde rötlich braune Fell zwischen ihren Beinen.
Die Tagwelt schwamm auf der Nachtwelt, und die Nachtwelt versuchte, die Tagwelt zu überschwemmen, und Alfred mühte und mühte sich, dafür zu sorgen, dass die Tagwelt wasserdicht blieb. Doch ein schlimmer Riss hatte sich aufgetan.
Herauf zog eine weitere Wolke, größer, dichter, und machte den Abgrund unter ihm grünlich schwarz. Kollision von Schiff und Schatten.
Und Scham und Verzweiflung. Oder war es der Wind, der in das Segel seines Regenmantels griff?
Oder war es das Krängen des Schiffs?
Oder der Tremor in seinen Beinen?
Oder der korrespondierende Tremor der Maschinen?
Oder ein Ohnmachtsanfall?
Oder die ewig lockende Tiefe?
Oder die relative Wärme, mit der das Wasser jemanden einlud, der durchnässt und frierend im Wind stand?
Oder lehnte er sich absichtlich weiter vor, um noch einmal den rötlich braunen Schamhügel zu sehen?
«Wie passend es doch ist», sagte der international renommierte Anlageberater Jim Crolius, «auf einer Luxus-Herbstfarben-Kreuzfahrt der Nordic Pleasurelines über Geld zu reden. Herrschaften, ist heute nicht ein phantastisch sonniger Tag?»
Crolius stand an einem Rednerpult neben einer Tafel, auf der in roter Schrift der Titel seines Vortrags — «Wie man die Korrekturen überlebt» — zu lesen war. In den vorderen Reihen, wo jene saßen, die früh erschienen waren, um sich gute Plätze zu sichern, wurde zustimmendes Gemurmel laut. Irgendjemand sagte sogar: «Ja, Jim!»
Enid ging es heute Morgen um so vieles besser, aber ein paar atmosphärische Störungen machten sich in ihrem Kopf noch bemerkbar, eine Gewitterfront zum Beispiel, bestehend aus a) Groll gegen die Frauen, die lächerlich früh in den Langstrumpf-Ballsaal gekommen waren, als würde die potenzielle Lukrativität der Ratschläge, die Jim Crolius gab, mit wachsender Entfernung zu ihm abnehmen; b) besonderem Groll gegen den Typus aufdringliche New Yorkerin, die sich an allen anderen vorbeidrängelte, um mit einem Referenten von Anfang an per du zu sein (sie war sicher, dass Jim Crolius die Anmaßung und hohlen Schmeicheleien solcher Frauen sofort durchschaute, aber vielleicht war er zu höflich, sie zu übergehen und sein Augenmerk auf die weniger aufdringlichen, achtbareren Frauen aus dem Mittelwesten wie Enid zu richten); und c) heftigem Ärger auf Alfred, der auf dem Weg zum Frühstück zweimal eine Toilette aufgesucht hatte, sodass sie den Kierkegaard-Saal nicht beizeiten hatte verlassen können, um selbst einen guten Platz in den vorderen Reihen zu ergattern.
Aber die Gewitterfront verschwand beinahe so schnell, wie sie aufgezogen war, und schon strahlte wieder die Sonne.
«Also, ich will kein Spielverderber sein», sagte Jim Crolius gerade, «aber von hier, wo ich stehe, hier vorn bei den Fenstern, sehe ich ein paar Wolken am Horizont. Es könnten freundliche weiße Wölkchen sein. Oder aber dunkle Regenwolken. Womöglich trügt der Schein! Von hier aus könnte ich meinen, dass wir auf sicherem Kurs sind, aber ich bin kein Experte. Ich könnte das Schiff direkt auf ein Riff steuern. Also, auf einem Schiff ohne Kapitän würden Sie nicht gern fahren, oder? Ohne einen Kapitän, der die Karten und Instrumente hat, die Glocken und Apparate, das ganze Drum und Dran. Stimmt's? Wir haben das Radar, wir haben das Sonar, wir haben das GPS.» Jim Crolius zählte jedes Instrument an seinen Fingern ab. «Wir haben unsere Satelliten da oben im Weltraum! Alles hoch technisiert. Aber irgendjemand muss mit diesen Informationen ja umgehen können, sonst würden wir alle in ziemliche Schwierigkeiten geraten. Stimmt's? Das da ist ein tiefer Ozean. Es geht um Ihr Leben. Ich will damit sagen, dass Sie froh sein können, wenn Sie den ganzen technischen Kram nicht persönlich beherrschen müssen, all die Glocken und Apparate, das ganze Drum und Dran. Besser ist es, Sie verlassen sich auf einen guten Kapitän, wenn Sie auf der hohen See der Hochfinanz kreuzen.»
Applaus in den vorderen Reihen.
«Der muss wirklich denken, wir wären acht Jahre alt», flüsterte Sylvia Roth Enid zu.
«Das ist bloß seine Einführung», flüsterte Enid zurück.
«Nun, noch etwas anderes ist passend», fuhr Jim Crolius fort. «Wir alle sind hier, um das herbstliche Farbenspiel der Blätter zu betrachten. Das Jahr hat seine Rhythmen — Winter, Frühling, Sommer, Herbst. Das Ganze läuft zyklisch ab. Da sind die Aufschwünge im Frühling, da sind die Abschwünge im Herbst. Genau wie am Markt. Zyklische Angelegenheit, stimmt's? Sie können über fünf, zehn oder sogar fünfzehn Jahre einen stabilen Markt haben. Hat's ja in unserer Zeit schon gegeben. Aber wir haben auch Korrekturen erlebt. Kann sein, dass ich wie ein junger Spund aussehe, aber ich habe bereits einen regelrechten Markteinbruch miterlebt. Ganz schön unheimlich. Zyklische Angelegenheit. Herrschaften, im Moment haben wir da draußen jede Menge Grün. Es war ein langer, glorreicher Sommer. Ja, kommen Sie, lassen Sie mich ein paar Handzeichen sehen: Wie viele von Ihnen bestreiten diese Kreuzfahrt, sei es ganz oder zum Teil, von Investitionserträgen?»
Ein Wald emporgereckter Hände.
Jim Crolius nickte zufrieden. «Nun, meine Herrschaften, ich will kein Spielverderber sein, aber die Blätter beginnen sich zu verfärben. Egal, wie grün die Dinge im Augenblick für Sie sind, den Winter überdauern sie nicht. Klar, jedes Jahr ist anders, jeder Zyklus ist anders. Man weiß nie genau, wann das Grün sich verfärbt. Aber wir sind hier, und zwar jeder Einzelne von uns, weil wir vorausschauende Menschen sind. Jeder von Ihnen hat mir allein durch seine Anwesenheit bewiesen, dass er ein kluger Investor ist. Wissen Sie, warum? Weil es noch Sommer war, als Sie zu Hause losgefahren sind. Jeder hier im Raum war vorausschauend genug zu wissen, dass sich auf dieser Kreuzfahrt etwas verändern wird. Und die Frage, die wir uns alle stellen — ich spreche hier metaphorisch — , ist die: Wird all das prachtvolle Grün da draußen zu prachtvollem Gold werden? Oder wird es, im Winter unseres Missvergnügens, am Zweig verwelken?»
Der ganze Langstrumpf-Ballsaal war jetzt elektrisiert. Hier und da wurde «Großartig! Großartig!» gemurmelt.
«Mehr Inhalt, weniger Schnörkel», sagte Sylvia Roth trocken.
Tod, dachte Enid. Er hat vom Tod geredet. Und all die klatschenden Leute sind so alt.
Aber wo war der Stachel dieser Erkenntnis? Aslan hatte ihn fortgenommen.
Jim Crolius wandte sich nun zur Tafel um und schlug das erste der zeitungspapiergroßen Blätter nach hinten. Die folgende Seite war mit «Wenn sich das Klima ändert» überschrieben, und die Gliederungspunkte — Fonds, Wertpapiere, einfache Aktien etc. - lösten in der ersten Reihe ein Keuchen aus, das in keinem Verhältnis zum Informationsgehalt stand. Einen Augenblick lang schien es Enid, als liefere Jim Crolius eine jener technischen Marktanalysen, denen keinerlei Beachtung zu schenken ihr Börsenmakler in St. Jude ihr dringend geraten hatte. Etwas Werthaltiges, das «abstürzte» (also in «freien Fall» geriet), erfuhr, vernachlässigte man die minimalen Auswirkungen des Windwiderstands bei niedrigen Geschwindigkeiten, aufgrund der Erdanziehungskraft eine Beschleunigung von 9,81 Metern pro Sekunde im Quadrat, und da die Beschleunigung die zweite Ableitung des Weges war, konnte der Analyst über die Strecke, die das fallende Objekt zurückgelegt hatte (ungefähr neun Meter), einmal integrieren, um auszurechnen, welche Geschwindigkeit es gehabt haben musste, als es sich im Zentrum eines drei Meter hohen Fensters befand (nämlich dreizehn Meter pro Sekunde), woraus sich dann, angenommen, das Objekt sei ungefähr zwei Meter lang, und der Einfachheit halber ferner angenommen, die Geschwindigkeit sei über die ganze sichtbare Strecke konstant geblieben, ableiten ließ, dass das Objekt ungefähr vier Zehntelsekunden vollständig oder teilweise zu sehen gewesen war. Vier Zehntelsekunden waren nicht viel. Wenn man zur Seite blickte und im Geist die Stunden bis zur Hinrichtung eines jungen Mörders zählte, registrierte man nicht mehr als etwas Dunkles, das vorbeigeschossen kam. Schaute man aber rein zufällig gerade auf das besagte Fenster und war überdies rein zufällig so ruhig wie nie zuvor, dann waren vier Zehntelsekunden mehr als genug, um in dem fallenden Objekt den Mann zu erkennen, mit dem man seit siebenundvierzig Jahren verheiratet war; genug, um zu bemerken, dass er den grässlichen schwarzen Regenmantel trug, der völlig aus der Form geraten war und niemals in der Öffentlichkeit hätte getragen werden dürfen, den er jedoch starrsinnig in seinen Koffer gepackt hatte und starrsinnig überallhin mitnahm; genug, um nicht nur die Gewissheit zu haben, dass etwas Entsetzliches geschehen war, sondern sich zugleich als Eindringling zu fühlen, als wäre man Zeuge eines Vorgangs geworden, für den die Natur einen niemals als Zeugen vorgesehen hatte, eines Vorgangs vergleichbar mit dem Aufprall eines Meteoriten oder der Kopulation von Walen; ja sogar genug, um den Ausdruck auf dem Gesicht dieses Ehemannes wahrzunehmen, die beinahe jugendliche Schönheit, den sonderbaren Frieden, denn wer hätte je geahnt, mit welcher Anmut der wütende Mann fallen würde?
Er dachte an die Abende, an denen er mit einem oder beiden seiner Jungen oder mit seiner Tochter im Arm oben gesessen hatte, ihre feuchten, nach Schaumbad riechenden Köpfe hart an seinen Rippen, während er ihnen aus Black Beauty oder den Narnia-Chroniken vorlas. Wie schon seine bloße Stimme, deren fühlbarer Klang, sie schläfrig gemacht hatte. Das waren Abende, und es gab Hunderte, vielleicht Tausende davon, an denen nichts die Keimzelle der Familie befallen hatte, was traumatisch genug gewesen wäre, eine Narbe zu hinterlassen. Abende schlichter, nach Vanille duftender Innigkeit in seinem schwarzen Ledersessel; süße Abende des Zweifels zwischen Nächten düsterer Gewissheit. Jetzt kamen sie ihm wieder in den Sinn, all die vergessenen Gegenbeispiele, denn am Ende, wenn man ins Wasser fiel, war da nichts, an dem man sich festhalten konnte, außer den eigenen Kindern.