EIN LETZTES WEIHNACHTEN

UNTEN IM KELLER, am östlichen Ende der Tischtennisplatte, war Alfred dabei, einen Maker's-Mark- Whiskeykarton auszupacken, in dem die elektrischen Lichterketten für den Weihnachtsbaum aufbewahrt wurden. Er hatte schon verschreibungspflichtige Medikamente und Utensilien für einen Einlauf auf der Platte liegen. Er hatte ein von Enid frisch gebackenes Plätzchen, dessen Form an einen Terrier erinnerte, aber ein Rentier sein sollte. Er hatte einen Sirupkarton der Firma Log Cabin, in dem sich die großen bunten Lichter befanden, die er früher immer draußen in die Eiben gehängt hatte. Er hatte eine halb automatische Schrotflinte in einer Segeltuchhülle mit Reißverschluss und eine Schachtel zwanzigkalibriger Patronen. Er hatte einen selten klaren Kopf und den Willen, ihn auch zu nutzen, solange die Klarheit vorhielt.

Ein schattiges Spätnachmittagslicht war in den Fensterschächten eingesperrt. Der Heizkessel sprang häufig an, das Haus war undicht. Als wäre Alfred ein Holzklotz oder ein Stuhl, so hing sein roter Pullover, asymmetrische Falten und Wülste bildend, an ihm. Seine grauen Wollhosen waren von Flecken befallen, die er dulden musste, denn die einzige Alternative hieß, den Verstand zu verlieren, und ganz so weit war er noch nicht.

Zuoberst im Maker's-Markkarton fand er ein sehr langes, unförmig um ein Stück Pappe gewundenes Kabel mit weißen elektrischen Weihnachtskerzen. Das Kabel stank nach dem Schimmel aus dem Geräteschuppen unter der Veranda, und als er den Stecker in die Dose steckte, sah er sofort, dass nicht alles in Ordnung war. Die meisten Lichter brannten hell, doch in der Nähe der Spule gab es einen Abschnitt Glühbirnen, die nicht leuchteten — eine Substantia nigra tief im Innern des Knäuels. Er wickelte das Kabel von der Spule und fierte es auf die Tischtennisplatte. Ganz am Ende war eine unansehnliche Reihe kaputter Glühbirnen.

Er wusste, was die moderne Welt jetzt von ihm erwartete. Die moderne Welt erwartete, dass er zu einem großen Verbrauchermarkt fuhr und die schadhafte Lichterkette gegen eine neue auswechselte. Doch die Verbrauchermärkte waren zu dieser Zeit des Jahres heillos überfüllt; er würde zwanzig Minuten lang Schlange stehen müssen. Ihm machte Anstehen ja nichts aus, aber Enid ließ ihn nicht mehr Auto fahren, und Enid machte Anstehen eine Menge aus. Sie war oben und peitschte sich über die Zielgerade der Weihnachtsvorbereitungen.

Viel besser, dachte Alfred, wenn er sich gar nicht erst blicken ließ und im Keller blieb, wenn er mit dem arbeitete, was er hatte. Eine zu neunzig Prozent funktionierende Lichterkette wegzuwerfen verletzte sein Gefühl für die Verhältnismäßigkeit und Ökonomie der Dinge. Ja, es verletzte sein Selbstwertgefühl, weil er ein Individuum eines Individuenzeitalters war, und eine Lichterkette war genauso individuell wie er. Egal, wie wenig sie gekostet hatte, sie wegzuwerfen hieß, ihren Wert und, noch einen Schritt weitergedacht, den Wert des Individuums an sich zu leugnen: etwas eigenmächtig als Müll zu definieren, obwohl man genau wusste, dass es keiner war.

Die moderne Welt erwartete eine solche Definition, und Alfred verweigerte sie ihr.

Leider wusste er nicht, wie man die Lichter reparierte. Er begriff nicht, wie es möglich war, dass ganze fünfzehn Glühbirnen am Stück den Geist aufgaben. Als er sich den Übergang von Licht zu Dunkelheit genauer ansah, konnte er zwischen der letzten brennenden und der ersten kaputten Birne keinen Unterschied feststellen. Es gelang ihm nicht, die drei Drähte, aus der das Kabel bestand, durch all ihre Windungen und Verflechtungen hindurch zu verfolgen. Die Schaltung des Stromkreises war auf irgendeine komplexe Weise, deren Sinn sich ihm entzog, semiparallel.

In alten Zeiten hatte es Weihnachtsbaumlichter an kurzen Kabeln mit Serienschaltung gegeben. Wenn auch nur eine einzige Glühbirne durchbrannte oder sich in ihrer Fassung lockerte, war der Stromkreis sofort unterbrochen, und alle Lichter gingen aus. Für Gary und Chip war es ein Weihnachtsritual gewesen, jede kleine messingfüßige Glühbirne an der erloschenen Kette festzuschrauben und, wenn das nichts nützte, eine Birne nach der anderen auszuwechseln, bis der Übeltäter gefunden war. (Und wie hatten sich die Jungen über die Wiederauferstehung einer Kette gefreut!) Als später Denise dazukam und mithelfen wollte, war die Technik schon fortgeschritten. Es gab Parallelschaltungen, und die Glühbirnen hatten Klemmsockel aus Plastik. Ein einziges schadhaftes Licht zog nicht die ganze Korona in Mitleidenschaft, sondern bekannte sich auf der Stelle schuldig, sodass es auf der Stelle ausgewechselt werden konnte…

Alfreds Hände rotierten an ihren Gelenken wie die Zwillingsarme eines Schneebesens. So gut es irgend ging, bewegte er seine Finger an dem Kabel entlang, drückte und zwirbelte an den Drähten — und der dunkle Abschnitt leuchtete wieder auf! Die Lichterkette war vollständig!

Wie hatte er das geschafft?

Er legte das Kabel der Länge nach auf die Tischtennisplatte. Fast augenblicklich erlosch das defekte Stück. Er versuchte, es durch Drücken und Klopfen wieder zu beleben, doch diesmal hatte er kein Glück.

(Man steckte sich den Lauf der Schrotflinte in den Mund und griff nach dem Schalter.)

Erneut besah er sich den olivgrauen Drahtzopf. Selbst jetzt, an dieser äußersten Grenze seines Gebrechens, glaubte er noch, dass er sich mit Bleistift und Papier hinsetzen und die Grundlagen der Elektrizität neu erfinden könnte. Für den Moment war er überzeugt, dazu imstande zu sein; doch die Aufgabe, die Funktionsweise einer Parallelschaltung auszuknobeln, war weit beängstigender als, sagen wir, die Aufgabe, zu einem Verbrauchermarkt zu fahren und Schlange zu stehen. Zur Bewältigung der intellektuellen Aufgabe hätten gewisse Gesetzmäßigkeiten induktiv wieder hergeleitet, hätten die Schaltungen in seinem Gehirn neu aufgebaut werden müssen. Was für ein Wunder, dass so etwas überhaupt denkbar war — dass ein vergesslicher alter Mann in seinem Keller, mit seiner Schrotflinte und seinem Plätzchen und seinem großen blauen Sessel, organische Schaltungen, die komplex genug waren, um Elektrizität zu verstehen, einfach so wieder beleben könnte — , doch die Energie, die diese Umkehrung der Entropie ihn kosten würde, überstieg bei weitem die Energie, die ihm in Form seines Plätzchens zu Gebote stand. Wenn er eine ganze Dose Plätzchen auf einmal essen würde, dann wäre er vielleicht in der Lage, Parallelschaltungen wieder begreifen zu lernen und sich einen Reim auf das seltsame dreidrähtige Flechtwerk dieser teuflischen Lichter zu machen. Aber, gütiger Gott, ein Mensch konnte so müde sein.

Er schüttelte die Kette, und die Lichter gingen an. Er schüttelte sie und schüttelte sie, und sie gingen nicht aus. Kaum hatte er die Kette jedoch auf die behelfsmäßige Spule gewickelt, wurde es tief im Innern wieder dunkel. Zweihundert Glühbirnen leuchteten hell, und die moderne Welt bestand darauf, dass er das ganze Ding in den Müll warf.

Er argwöhnte, dass die neue Technik an irgendeiner Stelle, auf irgendeine Weise dumm oder faul war. Irgendein junger Ingenieur hatte ein Schnellverfahren gewählt und die Konsequenzen, unter denen Alfred jetzt zu leiden hatte, nicht bedacht. Doch da er die Technik nicht durchschaute, hatte er keine Möglichkeit, ihre Fehler zu erkennen, geschweige denn Maßnahmen zu ergreifen, um sie zu beheben.

Und so führten die gottverdammten Lichter ihn am Gängelband, und es blieb ihm verdammt noch mal nichts anderes übrig als loszufahren und Geld auszugeben.

Als Junge hatte man noch den Willen, Dinge eigenhändig zu reparieren, und Respekt vor jedem stofflichen Gegenstand, doch irgendwann wurden Teile der eigenen technischen Ausrüstung (einschließlich der geistigen Ausrüstung wie besagten Willens und Respekts) morsch, und dann sprach, selbst wenn andere Teile noch gut in Schuss waren, einiges dafür, die ganze menschliche Maschine zu verschrotten.

Was nichts anderes hieß, als dass er müde war.

Er steckte sich das Plätzchen in den Mund. Kaute sorgfältig und schluckte. Alt zu werden war die Hölle.

Zum Glück gab es noch Tausende anderer Lichterketten im Maker's-Markkarton. Alfred probierte sie systematisch, der Reihe nach, aus. Drei kürzere Kabel funktionierten gut, doch alle übrigen waren entweder aus unerfindlichen Gründen kaputt oder so alt, dass das Licht schwach und gelb geworden war; und drei kürzere Ketten reichten nun einmal nicht für den ganzen Baum.

Am Boden des Kartons fand er sorgfältig beschriftete Packungen mit Ersatzglühbirnen. Er fand geflickte Kabel, aus denen er die schadhaften Abschnitte einst herausgetrennt hatte. Er fand alte Kabel mit Serienschaltung, deren defekte Fassungen er mit kleinen Tropfen Lötzinn kurzgeschlossen hatte. Jetzt, im Nachhinein, war er erstaunt, dass ihm zwischen so vielen anderen Verpflichtungen Zeit für all diese Reparaturarbeiten geblieben war.

Ach, die Mythen und der kindliche Optimismus des Heilemachens! Die Hoffnung, dass ein Gegenstand sich niemals würde abnutzen müssen. Der stumme Glaube, dass es immer eine Zukunft geben würde, in der er, Alfred, nicht nur am Leben wäre, sondern auch genügend Energie hätte, um Reparaturen auszuführen. Die stille Überzeugung, dass sich all seine Sparsamkeit und all die Leidenschaft, mit der er Dinge zu bewahren suchte, später einmal auszahlen würden: dass er eines Tages, wenn er aufwachte, ein vollkommen anderer Mensch mit unbegrenzter Energie und unbegrenzter Zeit wäre, sodass er sich um all die Gegenstände, die er gerettet hatte, kümmern, dass er alles am Laufen, alles zusammenhalten könnte.

«Ich sollte den ganzen verflixten Kram wegschmeißen», sagte er laut.

Seine Hände wackelten. Sie wackelten immer.

Er trug die Schrotflinte in die Werkstatt und lehnte sie gegen den Labortisch.

Das Problem war nicht zu lösen. Da hatte er sich nun in extrem kaltem Salzwasser befunden, die Lungen halb gefüllt und die schweren Beine von Krämpfen geschüttelt und eine Schulter nutzlos in ihrer Gelenkpfanne, und es hätte gereicht, gar nichts zu tun. Loszulassen und zu ertrinken. Doch er hatte gestrampelt, es war ein Reflex gewesen. Er mochte die Tiefe nicht, deshalb hatte er gestrampelt, und dann hatte es von oben orange Rettungsringe geregnet. Er hatte seinen funktionierenden Arm in einen dieser Ringe gesteckt, kurz bevor er von einer wirklich beachtlichen Verbindung aus Welle und Sog — dem Kielwasser der Gunnar Myrdal — wie von Riesenhand in einen Spül- und Schleudergang befördert wurde. Wieder hätte er nur loszulassen brauchen. Aber noch während er dort im Nordatlantik trieb und beinahe ertrank, war ihm klar, dass es an jenem anderen Ort überhaupt keine Gegenstände mehr geben würde: dass dieser jämmerliche orange Rettungsring, durch den er eben seinen Arm gesteckt hatte, dieses im Kern unergründliche und nicht nachgebende stoffbezogene Stück Schaum, in der gegenstandslosen Welt des Todes, auf die er jetzt zusteuerte, ein GOTT, ja dass es in jenem Universum des Nichtseins das HÖCHSTE ICH-BIN-WAS-ICH-BIN sein würde. Für ein paar Minuten war der orange Rettungsring der einzige Gegenstand, den er noch hatte. Es war sein letzter Gegenstand, und darum liebte er ihn, instinktiv, und zog ihn an sich.

Dann hatten sie ihn aus dem Wasser gefischt und abgetrocknet und warm eingepackt. Wie ein Kind hatten sie ihn behandelt, und da waren ihm Zweifel gekommen, ob sein Entschluss, am Leben zu bleiben, so klug gewesen war. Abgesehen von der Blindheit auf einem Auge und der steifen Schulter und ein paar anderen Kleinigkeiten stimmte ja alles mit ihm, gleichwohl taten sie, als wäre er ein Idiot, ein kleiner Junge, ein Kretin. In ihrer gespielten Sorge, ihrer kaum verhohlenen Verachtung sah er die Zukunft gespiegelt, für die er sich im Wasser entschieden hatte. Es war eine Pflegeheim-Zukunft, und sie brachte ihn zum Weinen. Er hätte mal bloß ertrinken sollen.

Er schloss die Tür seines Labors und sperrte ab, denn das Entscheidende war doch, dass man seine Privatsphäre behielt, oder etwa nicht? Ohne Privatsphäre war es völlig sinnlos, ein Individuum zu sein. Und in einem Pflegeheim würden sie ihm keine Privatsphäre zugestehen. Sie würden sich wie die Leute im Hubschrauber benehmen und ihn nicht in Frieden lassen.

Er machte seine Hose auf, holte den Lumpen heraus, der zusammengefaltet in seiner Unterhose lag, und pinkelte in eine Yuban-Dose.

Das Gewehr hatte er ein Jahr vor seiner Pensionierung gekauft. Er hatte sich vorgestellt, dass die Pensionierung jenen radikalen Wandel bewirken würde. Er hatte sich vorgestellt, dass er jagen und fischen gehen würde, hatte sich vorgestellt, in Kansas und Nebraska bei Sonnenaufgang in einem kleinen Boot zu sitzen, hatte sich ein lächerliches und unrealistisches Freizeitleben für sich vorgestellt.

Die Mechanik des Gewehrs war samtweich und einladend, doch kurz nach dem Kauf, als Alfred gerade beim Essen saß, war ein Star gegen das Küchenfenster geflogen und mit gebrochenem Genick am Boden liegen geblieben. Alfred hatte keinen Bissen mehr herunterbekommen und später kein einziges Mal mit dem Gewehr geschossen.

Der Menschheit war die Herrschaft über die Welt anvertraut worden, und sie hatte die Gelegenheit genutzt, um andere Arten auszulöschen und die Atmosphäre zu erwärmen und allgemein Verderben über alles Irdische zu bringen; das allerdings war der Preis für ihre Privilegien: dass der endliche und spezifisch tierische Körper dieser Gattung ein Gehirn besaß, welches imstande war, das Unendliche zu denken und selbst unendlich sein zu wollen.

Es kam aber eine Zeit, da einem der Tod nicht mehr wie der Vollstrecker der Endlichkeit erschien, sondern mehr und mehr wie die letzte Gelegenheit zu radikalem Wandel, wie das einzige Tor zur Unendlichkeit.

Als endlicher Kadaver in einem Meer von Blut und Knochensplittern und grauer Masse gesehen zu werden — anderen Menschen diese Version seiner selbst zuzumuten — war jedoch eine so tief greifende Verletzung der Privatsphäre, dass sie ihn vermutlich überdauern würde.

Außerdem hatte er Angst, dass es wehtun könnte.

Und da war eine überaus wichtige Frage, deren Beantwortung er noch abwarten wollte. Seine Kinder kamen, Gary und Denise, und vielleicht sogar Chip, sein gelehrter Sohn. Es war möglich, dass Chip, sofern er denn kam, die überaus wichtige Frage beantworten konnte.

Und die Frage lautete:

Die Frage lautete:

Enid hatte sich überhaupt nicht, nicht das kleinste bisschen, geschämt, als die Sirenen aufheulten und vom Zurückschalten der Maschinen ein Zittern durch die Gunnar Myrdal ging und Sylvia Roth sie aus dem überfüllten Pippi-Langstrumpf-Ballsaal zerrte und rief: «Hier ist seine Frau, lassen Sie uns durch!» Es war Enid nicht peinlich gewesen, Dr. Hibbard wieder zu sehen, als er auf dem Boden des Deckgolfplatzes kniete und ihrem Mann mit einer zierlichen Chirurgenschere die nassen Kleider vom Leib schnitt. Ja nicht einmal, als der stellvertretende Kreuzfahrtleiter, der ihr half, Alfreds Taschen zu packen, eine gelbliche Windel in einem Eiskübel fand, nicht einmal, als Alfred die Krankenschwestern und Pfleger auf dem Festland beschimpfte, nicht einmal, als sie in Alfreds Krankenhauszimmer das Gesicht von Khellye Withers im Fernsehen sah und ihr klar wurde, dass sie am Vorabend von Withers' Hinrichtung kein tröstendes Wort zu Sylvia gesagt hatte — nicht einmal da hatte sie Scham empfunden.

Sie kehrte in derart gehobener Stimmung nach St. Jude zurück, dass sie es fertigbrachte, Gary anzurufen und ihm zu gestehen, sie habe Alfreds notariell beglaubigte Lizenzvereinbarung mit der Axon Corporation nicht abgeschickt, sondern in der Waschküche versteckt. Kaum hatte Gary ihr die enttäuschende Mitteilung gemacht, dass fünftausend Dollar vermutlich doch keine so unangemessene Lizenzgebühr seien, ging sie hinunter, um die beglaubigte Vereinbarung wieder hervorzukramen, und fand sie nicht mehr. Seltsam unbeschämt rief sie in Schwenksville an und bat Axon, ihr eine zweite Ausfertigung des Vertrags zu schicken. Alfred war verwirrt, als sie ihm diese Zweitausfertigung vorlegte, doch sie wedelte mit den Händen und sagte, tja, auf dem Postweg gehe nun mal das eine oder andere verloren. Dave Schumpert leistete ihnen erneut notarielle Dienste, und die ganze Zeit über ging es ihr wirklich gut, bis ihre Aslan-Vorräte aufgebraucht waren und sie vor Scham beinahe starb.

Ihre Scham war lähmend und entsetzlich. Anders als eine Woche zuvor machte es ihr jetzt zu schaffen, dass eintausend glückliche Reisende auf der Gunnar Myrdal mitbekommen hatten, wie sonderbar sie und Alfred waren. Ausnahmslos jedem auf dem Schiff war klar gewesen, dass die Landung im Hafen des historischen Gaspe sich verzögern und der kleine Ausflug zur pittoresken Bonaventura-Insel ausfallen würde, nur weil der zittrige Mann mit dem grässlichen Regenmantel irgendwohin gegangen war, wo niemand hingehen durfte, und weil sich seine selbstsüchtige Frau indessen bei einem Investment-Vortrag vergnügt und weil sie ein so schlimmes Mittel eingenommen hatte, dass kein Arzt in Amerika es legal verschreiben konnte, und weil sie nicht an Gott glaubte und das Gesetz missachtete, ja weil sie beängstigend, unsagbar anders war als die meisten.

Nacht für Nacht lag sie wach, litt Qualen vor Scham und sah die goldenen Kapseln bildhaft vor sich. Sie schämte sich, nach diesen Kapseln zu lechzen, und war doch gleichzeitig überzeugt, dass allein sie ihr Erleichterung verschaffen würden.

Anfang November begleitete sie Alfred zu seiner alle zwei Monate stattfindenden neurologischen Untersuchung im Zentralen Waldkliniken-Komplex. Denise, die es übernommen hatte, Alfred für die Phase zwei der Korrektal-Tests bei Axon anzumelden, hatte Enid gefragt, ob er ihr «geistig verwirrt» vorkomme. Enid gab die Frage in einem Gespräch unter vier Augen an Dr. Hedgpeth weiter, und als Hedgpeth antwortete, dass Alfreds wiederkehrende geistige Verwirrung auf Alzheimer oder Lewy-Körperchen-Demenz hindeute, unterbrach Enid ihn, um zu fragen, ob Alfreds «Halluzinationen» nicht vielleicht von dem hoch dosierten Dopamin ausgelöst würden, das er einnehme. Diese Möglichkeit konnte Hedgpeth nicht leugnen. Er sagte, die einzig sichere Methode, Demenz auszuschließen, sei die, Alfred für einen zehntägigen «Pillenurlaub» ins Krankenhaus zu schicken.

In ihrer Scham verschwieg Enid ihm, dass sie, was Krankenhäuser betraf, misstrauisch geworden war. Sie verschwieg ihm, dass es in dem kanadischen Krankenhaus ein Toben und Um-sich-Schlagen und Fluchen gegeben hatte, ein Umwerfen von Plastikkaraffen und rollenden Infusionsständern, bis Alfred hatte ruhig gestellt werden können. Sie verschwieg ihm, dass Alfred sie gebeten hatte, ihn zu erschießen, bevor sie ihn noch einmal an einen solchen Ort verfrachte.

Und als Hedgpeth wissen wollte, wie sie denn das alles verkrafte, verschwieg sie ihm auch ihr kleines Aslan-Problem. Vor lauter Angst, Hedgpeth könne in ihr die willensschwache, wild blickende Rauschgiftsüchtige erkennen, bat sie ihn nicht einmal um ein alternatives «Schlafmittel». Allerdings verschwieg sie ihm nicht, dass sie schlecht schlief. Das betonte sie sogar: Sie schlafe ganz miserabel. Doch Hedgpeth empfahl ihr nur, es mit einem anderen Bett zu versuchen. Er empfahl ihr Baldrian.

Als sie im Dunkeln neben ihrem schnarchenden Ehemann lag, erschien es ihr ungerecht, dass eine Medizin, die es in etlichen anderen Ländern ganz legal zu kaufen gab, für sie in Amerika nicht zu haben sein sollte. Es erschien ihr ungerecht, dass etliche ihrer Freundinnen solche «Schlafmittel» hatten, wie Hedgpeth sie ihr vorenthielt. Dass Hedgpeth die Dinge auch so grausam genau nehmen musste! Sicher, sie hätte zu einem anderen Arzt gehen und ihn um ein «Schlafmittel» bitten können, doch dieser andere Arzt hätte sich bestimmt gewundert, warum Enids Hausärzte ihr die gewünschten Medikamente verweigerten.

Das in etwa war die Lage, in der Enid sich befand, als Bea und Chuck Meisner aufbrachen, um sechs Wochen familiären Wintervergnügens in Österreich zu verleben. Am Tag vor Beas Abreise traf Enid sich zum Mittagessen mit ihr im Deepmire und bat sie, ihr in Wien einen Gefallen zu tun. Sie drückte Bea einen Zettel in die Hand, auf den sie ASLAN ‹Kreuzfahrt› (Rhadamanthinzitrat 88 %, 3-Methyl-Rhadamanthinchlorid 12 %) geschrieben hatte — wie es auf den unverkäuflichen Mustern stand — und daneben den Zusatz: in den USA vorübergehend nicht erhältlich, brauche Vorrat für sechs Monate.

«Bitte mach dir keine Umstände», sagte sie zu Bea, «aber wenn Klaus dir ein Rezept ausstellen könnte, wäre das so viel einfacher, als wenn mein Arzt sich etwas aus Europa schicken lassen müsste, also, wie auch immer, ich hoffe, ihr habt eine herrliche Zeit in meinem Lieblingsland!»

Enid hätte niemanden außer Bea um einen derart beschämenden Gefallen bitten können. Und auch Bea wagte sie nur zu fragen, weil (a) Bea ein klein wenig dumm war und (b) Beas Mann vor langer Zeit selbst einen beschämenden Insider-Kauf getätigt hatte, den der Erie-Belt-Aktien nämlich, und (c) Enid fand, dass Chuck Alfred nie angemessen für den Insider-Tipp gedankt oder sich sonst irgendwie erkenntlich gezeigt hatte.

Kaum waren die Meisners jedoch abgeflogen, begann Enids Scham, sie wusste auch nicht, wieso, nachzulassen. Als wäre ein böser Zauber von ihr gewichen, schlief sie besser und dachte weniger an das Mittel. Was den Gefallen betraf, um den sie Bea gebeten hatte, machte sie von ihrer Gabe der selektiven Vergesslichkeit Gebrauch. Allmählich bekam sie wieder das Gefühl, sie selbst, und das hieß: optimistisch zu sein.

Sie kaufte zwei Tickets für einen Flug nach Philadelphia am 15. Januar. Sie erzählte ihren Freundinnen, dass die Axon Corporation eine vielversprechende neue Gehirnarznei namens Korrektal teste und dass Alfred, da er sein Patent an Axon verkauft habe, als Testperson infrage komme. Sie sagte, dass Denise ein Engel sei und ihr und Alfred angeboten habe, für die Dauer der Tests bei ihr in Philadelphia zu wohnen. Sie sagte, nein, Korrektal sei kein Abführmittel, es sei ein revolutionäres neues Medikament gegen die Parkinson'sche Krankheit. Sie sagte, ja, der Name sei verwirrend, aber ein Abführmittel sei es nicht.

«Erklär den Leuten von Axon», bat sie Denise, «dass Dad ein paar geringfügige halluzinatorische Symptome hat, sein Arzt aber der Meinung ist, sie kämen wahrscheinlich von den Medikamenten. Denn falls Korrektal ihm hilft, brauchen wir ihm die Medikamente nicht mehr zu geben, weißt du, und dann hören die Halluzinationen wahrscheinlich auf.»

Nicht nur ihren Freundinnen, sondern allen ihren Bekannten in St. Jude, einschließlich ihres Schlachters, ihres Börsenmaklers und ihres Briefträgers, erzählte sie, dass ihr Enkel Jonah sie zu Weihnachten besuchen komme. Natürlich war sie enttäuscht, dass Gary und Jonah nur drei Tage bleiben und schon am Fünfundzwanzigsten mittags wieder abreisen wollten, doch auch in drei Tagen konnte man eine ganze Menge Schönes unterbringen. Sie hatte Karten für die Weihnachtsland-Lichtershow und den Nussknacker; außerdem standen Weihnachtsbaumschmücken, Schlittenfahren, Singen und ein Gottesdienst am Heiligen Abend auf dem Programm. Sie kramte Plätzchenrezepte hervor, nach denen sie zwanzig Jahre lang nicht gebacken hatte. Sie deckte sich mit Eierflip ein.

Am Sonntag vor Weihnachten wachte sie um 3 Uhr 05 auf und dachte: Sechsunddreißig Stunden. Vier Stunden später stand sie auf und dachte: Zweiunddreißig Stunden. Spät am Tag ging sie mit Alfred zur Weihnachtsfeier des Nachbarschaftsvereins bei Dale und Honey Driblett, platzierte Alfred neben Kirby Root, wo er sicher war, und rief ihren Nachbarn in Erinnerung, dass ihr Lieblingsenkel, der sich schon das ganze Jahr auf Weihnachten in St. Jude freue, morgen Nachmittag ankommen werde. Sie spürte Alfred in der Driblett'schen Gästetoilette auf und hatte wegen seiner angeblichen Verstopfung unerwartet Streit mit ihm. Sie nahm ihn mit nach Hause und brachte ihn zu Bett, löschte den Streit aus ihrem Gedächtnis und setzte sich ins Esszimmer, um ein weiteres Dutzend Weihnachtskarten aus dem Ärmel zu schütteln.

Der Weidenkorb für die hereinkommende Weihnachtspost enthielt bereits einen zehn Zentimeter dicken Packen mit Karten von alten Freundinnen wie Norma Greene und neuen Freundinnen wie Sylvia Roth. Mehr und mehr Absender schickten vervielfältigte oder am Computer erstellte Grüße, doch davon wollte Enid nichts wissen. Selbst wenn es bedeutete, dass sie nicht rechtzeitig fertig wurde, hatte sie sich vorgenommen, einhundert Karten per Hand zu schreiben und knapp zweihundert Umschläge per Hand zu adressieren. Neben ihrem zwei Absätze langen Standardgruß und ihrem vier Absätze langen ausführlichen Gruß hatte sie noch einen speziellen Kurzgruß in petto:

Unsere Herbstfarben-Kreuzfahrt entlang der Küste von New England und Kanada war herrlich. Al nahm ein unerwartetes «Bad» im Golf von St. Lawrence, fühlt sich aber schon wieder «seetüchtig»! Denise' superelegantes neues Restaurant in Phila. wurde ausführlich in der NY-Times gewürdigt. Chip arbeitet weiterhin bei seiner Anwaltsfirma in NYC und befasst sich mit Investitionen in Osteuropa. Wir hatten eine unvergessliche Zeit mit Gary und unserem «Wunderknaben» Jonah hier bei uns. Hoffe, dass die ganze Familie über Weihnachten nach St. Jude kommt — eine himmlische Freude für mich! Alles Liebe euch allen. Es war schon zehn Uhr, und sie schüttelte gerade einen Krampf in ihrer Schreibhand aus, als Gary aus Philadelphia anrief.

«Wie schön, euch beide in siebzehn Stunden hier zu sehen!», sang Enid ins Telefon.

«Schlechte Nachrichten», sagte Gary. «Jonah hat sich übergeben und fiebert. Ich glaube nicht, dass ich ihn mit ins Flugzeug nehmen kann.»

Das Kamel der Enttäuschung scheute vor dem Nadelöhr von Enids Bereitschaft, das Gehörte zu begreifen.

«Warte ab, wie es ihm morgen geht», sagte sie. «Kinder haben doch manchmal solche Vierundzwanzig-Stunden-Infekte, bestimmt ist er morgen wieder auf dem Damm. Zur Not kann er sich im Flugzeug ausruhen und früh ins Bett gehen und am Dienstag lange schlafen!»

«Mutter.»

«Wenn er wirklich krank ist, Gary, dann verstehe ich, dass er nicht kommen kann. Aber wenn er kein Fieber mehr hat — »

«Glaub mir, wir alle sind enttäuscht. Vor allem Jonah.»

«Wir müssen ja nicht sofort eine Entscheidung treffen.

«Morgen ist auch noch ein Tag.»

«Ich will dich nur vorwarnen, dass ich wahrscheinlich allein kommen werde.»

«Na schön, Gary, aber morgen früh kann die Welt schon ganz, ganz anders aussehen. Warte doch einfach ab, und dann entscheidest du und überraschst mich. Bestimmt wird alles gut!»

Es war die Jahreszeit der Freude und Wunder, und Enid ging voller Hoffnung ins Bett.

Sehr früh am nächsten Morgen weckten — belohnten! — sie das Klingeln des Telefons, der Klang von Chips Stimme, die Nachricht, dass er innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden aus Litauen nach Hause kommen werde und die Familie am Weihnachtsabend somit vollzählig sei. Sie summte vor sich hin, während sie die Treppe hinunterstieg und eine weitere Miniatur an den Adventskalender heftete, der an der Haustür hing.

Solange irgendjemand zurückdenken konnte, hatten die Damen vom Dienstagskreis der Kirche Geld für den Klingelbeutel eingenommen, indem sie Adventskalender bastelten. Und zwar nicht wie Enid sich stets zu erklären beeilte, solche billigen, in Zellophan eingeschweißten Pappangelegenheiten mit Fensterchen, die es für fünf Dollar überall zu kaufen gab. Nein, diese Kalender waren wunderhübsch von Hand genäht und wieder verwendbar. Ein grüner Filzweihnachtsbaum prangte auf einem Viereck aus gebleichtem Stramin, dessen oberer und unterer Rand mit jeweils zwölf nummerierten Taschen bestickt war.

Jeden Morgen in der Adventszeit durften die Kinder eine Miniatur aus einer der Taschen holen — ein winziges Schaukelpferd aus Filz und Ziermünzen, eine gelbe Filzschildkröte oder einen mit Ziermünzen geschmückten Spielzeugsoldaten — und sie an den Filzbaum heften. Selbst jetzt, wo ihre Kinder alle erwachsen waren, ließ Enid es sich nicht nehmen, die Miniaturen jedes Jahr am 30. November zu mischen und auf die Taschen zu verteilen. Nur in der vierundzwanzigsten Tasche steckte immer dasselbe: ein klitzekleines Christkind aus Plastik in einer golden besprühten Walnussschale. Obwohl es Enid in ihren christlichen Überzeugungen sonst erheblich an Eifer gebrach, war sie, was diese Miniatur betraf, geradezu fromm. Es war für sie nicht bloß die Ikone des Herrn, sondern auch die Ikone ihrer eigenen drei Babys und aller anderen süßen, nach Baby riechenden Babys auf der Welt. Dreißig Jahre lang hatte sie die vierundzwanzigste Tasche bestückt, sie wusste ganz genau, was sich darin verbarg, und doch konnte ihr der Gedanke, sie zu öffnen, immer noch den Atem rauben.

«Ist es nicht herrlich, dass Chip kommt?», fragte sie Alfred beim Frühstück.

Alfred schaufelte seine Hamsterkügelchen Kleie in sich hinein und trank seinen morgendlichen Becher heißer, mit Wasser verdünnter Milch. Sein Ausdruck war der einer perspektivischen Regression hin zu einem Fluchtpunkt des Leids.

«Chip kommt morgen», wiederholte Enid. «Ist das nicht herrlich? Freust du dich nicht?»

Alfred beriet sich mit der durchweichten Kleie auf seinem wandernden Löffel. «Na ja», sagte er. «Wenn er denn kommt.»

«Er hat gesagt, er ist morgen Nachmittag hier», sagte Enid. «Wenn er nicht zu müde ist, kann er vielleicht mit in den Nussknacker gehen. Ich habe immer noch sechs Karten.»

«Ich bin skeptisch», sagte Alfred.

Dass seine Bemerkungen sich tatsächlich auf ihre Fragen bezogen — dass er trotz der Unendlichkeit, die in seinem Blick lag, an einem endlichen Gespräch teilnahm — , entschädigte sie dafür, dass er ein so säuerliches Gesicht machte.

Enid hatte all ihre Hoffnungen, als wären sie ein Baby in einer Walnussschale, an Korrektal geheftet. Falls sich herausstellte, dass Alfred zu verwirrt war, um an der Testreihe teilzunehmen, wusste sie nicht, was sie noch tun sollte. Ihr Leben hatte daher merkwürdige Ähnlichkeit mit dem Leben mancher ihrer Freunde, Chuck Meisner und Joe Person vor allem, die «süchtig» danach waren, ihre Investitionen im Auge zu behalten. Bea behauptete, Chuck sei derart besessen, dass er zwei- bis dreimal in der Stunde den Computer einschalte und die Kurse überprüfe, und als Enid und Alfred das letzte Mal mit den Persons ausgegangen waren, hatte Joe Enid wahnsinnig gemacht, indem er vom Restaurant aus mit seinem Handy drei verschiedene Broker anrief. In Bezug auf Alfred jedoch war sie keinen Deut anders: registrierte peinlich genau jeden hoffnungsvollen Aufschwung, lebte ständig in Angst vor dem Zusammenbruch.

Die freieste Stunde ihres Tages kam nach dem Frühstück. Jeden Morgen verschwand Alfred, sobald er seine Tasse heißes Milchwasser ausgetrunken hatte, im Keller und widmete sich seinem Stuhlgang. Enids Zuspruch war in dieser Stoßstunde seiner Not nicht erwünscht, aber sie konnte ihn auch getrost sich selbst überlassen. Seine Darmfixierung war ein Irrsinn, aber nicht die Art von Irrsinn, die seine Teilnahme an den Korrektal-Tests gefährdete.

Draußen vor dem Küchenfenster schwebten Schneeflocken aus einem schaurig blau bewölkten Himmel durch die Zweige des kümmerlichen Hartriegels, der (so alt war er also) einst von Chuck Meisner gepflanzt worden war. Enid knetete und formte einen falschen Hasen, stellte ihn in den Kühlschrank, um ihn später zu braten, und fabrizierte einen Zitronenwackelpudding mit Bananen, hellen Weintrauben, Dosenananas und Marshmallows. Beides gehörte, neben zweimal gebackenen Kartoffeln, zu Jonahs offiziellen St.-Jude-Leibgerichten und stand für heute Abend auf dem Speiseplan.

Monatelang hatte sie sich vorgestellt, wie Jonah am Morgen des Vierundzwanzigsten das Christkind an den Adventskalender heften würde.

Von ihrer zweiten Tasse Kaffee beflügelt, ging sie nach oben und kniete sich neben Garys alte Kirschbaumholz-Kommode, in der sie Geschenke und Mitbringsel aufbewahrte. Seit Wochen war sie mit ihren Weihnachtseinkäufen fertig, doch das Einzige, was sie für Chip erstanden hatte, war ein stark herabgesetzter braun-roter Wollbademantel der Marke Pendleton. Chip hatte sich ihren guten Willen eigentlich verscherzt, als er ihr, ein paar Jahre zuvor, ein gebraucht wirkendes Kochbuch zu Weihnachten geschenkt hatte, Die marokkanische Küche, in Aluminiumfolie gewickelt und mit Aufklebern verziert, auf denen rot durchgestrichene Kleiderbügel abgebildet waren. Jetzt aber, wo er extra aus Litauen nach Hause zurückkehrte, wollte sie ihn belohnen, indem sie ihr Geschenke-Budget voll ausschöpfte. Das folgendermaßen aussah:


Alfred: kein fester Betrag

Chip, Denise: jeweils $ 100 plus Grapefruit

Gary, Caroline: jeweils $ 60 höchstens plus Grapefruit

Aaron, Caleb: jeweils $ 30 höchstens

Jonah (nur dieses Jahr): kein fester Betrag


Da der Bademantel $ 55 gekostet hatte, brauchte sie für Chip noch weitere Geschenke im Wert von $ 45. Sie wühlte in den Kommodenschubladen. Sie verwarf die Vasen aus Hongkong in ihren angestaubten Schachteln, die vielen Bridgekarten und — blöcke, die vielen mit schönen Motiven bedruckten Papierservietten, die ebenso hübschen wie entbehrlichen Kugelschreiber- und-Bleistift-Sets, die vielen Reisewecker, die sich auf besondere Art zusammenklappen ließen oder einen besonderen Weckton hatten, den Schuhlöffel mit Teleskopgriff, die unerklärlich stumpfen koreanischen Steakmesser, die bronzenen Untersetzer mit Korkböden und Lokomotivengravur, den 10 x 15-Bilderrahmen aus Keramik, auf dem in lavendelfarbener, lasierter Schrift das Wort «Erinnerungen» stand, die kleinen Onyx-Schildkröten aus Mexiko und die raffiniert verpackte Schleifen- und Geschenkpapierschachtel mit dem schönen Namen «Die Gabe des Schenkens». Sie überlegte, ob sich die zinnerne Dochtschere und der Salzstreuer-Pfeffermühlen-Ständer eignen würden. Chips spärliche Wohnungseinrichtung vor Augen, kam sie zu dem Ergebnis, dass die Dochtschere und der Salzstreuer-Pfeffermühlen-Ständer genau das Richtige seien.

In der Jahreszeit der Freude und Wunder, während sie die Geschenke einpackte, vergaß sie das nach Urin riechende Labor und die widerwärtigen Grillen. Sie konnte darüber hinwegsehen, dass Alfred den Weihnachtsbaum mit einer zwanzigprozentigen Neigung aufgestellt hatte. Es gelang ihr zu glauben, dass Jonah sich heute Morgen genauso gesund fühlte wie sie.

Als sie mit dem Einpacken fertig war, hatte das Licht am winterlichen Möwenfedernhimmel einen mittäglichen Einfallswinkel und Helligkeitsgrad. Sie ging in den Keller, wo sie die Tischtennisplatte, wie ein mit Hopfen zugewuchertes Chassis, unter grünen Lichterketten begraben fand und Alfred mit Isolierband, Schere und Verlängerungskabeln auf dem Boden.

«Diese verdammten Lichter!», sagte er.

«Was machst du denn da auf dem Boden, Al?»

«Diese verdammten, billigen neuen Lichter!»

«Reg dich doch nicht so auf, Al. Lass gut sein. Das können Gary und Jonah machen. Komm nach oben, das Essen ist fertig.»

Das Flugzeug aus Philadelphia sollte um halb zwei landen.

Gary hatte gesagt, er werde sich ein Auto mieten und gegen drei Uhr da sein, und Enid wollte, dass Alfred vorher schlief, denn heute Nacht würde sie Verstärkung haben. Wenn er heute Nacht aufstand und herumirrte, war sie nicht als Einzige im Dienst.

Nach dem Essen war die Stille im Haus von einer solchen Dichte, dass beinahe die Uhren stehen blieben. Die letzten Stunden des Wartens wären perfekt geeignet gewesen, noch ein paar Weihnachtskarten zu schreiben, eine Zwei-Fliegen-mit-einer-Klappe-Situation, in der die Minuten nicht nur wie im Flug vergangen wären, sondern Enid auch eine Menge Arbeit hätte erledigen können; doch die Zeit ließ sich so nicht überlisten. Als Enid mit einem Kurzgruß begann, war es, als zöge sie ihren Stift durch Melasse. Sie verlor den Faden ihrer Wörter, schrieb nahm ein unerwartetes «Bad» in einem unerwarteten «Bad» und musste die Karte wegwerfen. Sie ging in die Küche, um auf die Uhr zu sehen, und stellte fest, dass erst fünf Minuten verstrichen waren, seit sie zuletzt nachgeschaut hatte. Sie arrangierte eine Auswahl von Plätzchen auf einem lackierten hölzernen Weihnachtsteller. Legte ein Messer und eine riesengroße Birne auf ein Schneidebrett. Schüttelte einen Karton Eierflip. Belud die Kaffeemaschine, für den Fall, dass Gary Kaffee trinken wollte. Dann setzte sie sich wieder hin, um einen Kurzgruß zu schreiben, und sah in dem leeren Weiß der Karte ihre Gedanken gespiegelt. Sie trat ans Fenster und blickte auf den bleichen Zoysia-Rasen. Der Briefträger, mit weihnachtlichen Volumen kämpfend, kam den Weg herauf, einen dicken Packen im Arm, den er in drei Stößen durch den Schlitz schob. Sie stürzte sich auf die Post und trennte Spreu von Weizen, doch um die Briefe zu öffnen, war sie zu nervös. Sie ging zum blauen Sessel hinunter.

«Al», rief sie, «ich glaube, du musst aufstehen!»

Er setzte sich auf, mit Heuhaufenhaar und leerem Blick. «Kommen sie?»

«Jede Minute. Vielleicht willst du dich noch frisch machen.» «Wer kommt?»

«Gary und Jonah, es sei denn, Jonah ist zu krank.»

«Gary», sagte Alfred. «Und Jonah.»

«Willst du nicht duschen?»

Er schüttelte den Kopf. «Ich dusche nicht.»

«Wenn du nachher unbedingt in der Wanne festsitzen willst — »

«Ich denke, nach all der Arbeit steht mir ein Bad zu.»

Im unteren Badezimmer war eine schöne Duschkabine, aber Alfred hatte sich nie gern im Stehen gewaschen. Da Enid sich neuerdings weigerte, ihm aus der Wanne im oberen Badezimmer zu helfen, saß er dort manchmal eine Stunde, das Wasser kalt und an seinen Hüften seifengrau, bevor er es fertig brachte, sich irgendwie selbst herauszuhieven: So starrköpfig war er.

Er ließ sich gerade ein Bad einlaufen, als das lang ersehnte Klopfen endlich kam.

Enid eilte zur Haustür und öffnete sie der Erscheinung ihres allein auf der Veranda stehenden, gut aussehenden älteren Sohns. Er trug seine Kalbslederjacke und hatte in der einen Hand einen kleinen Koffer und in der anderen eine Einkaufstüte aus Papier. Sonnenlicht, flach und polarisiert, hatte sich, wie so oft gegen Ende eines Wintertages, an den Wolken vorbeigemogelt. Die Straße war von jenem widernatürlich goldenen Licht aus den Häusern überflutet, mit dem ein weniger begabter Maler die Teilung des Roten Meers illuminieren mochte. Die Backsteine des Persons'schen Hauses und die blauen und purpurroten Winterwolken und die dunkelgrünen harzigen Sträucher, all das war so unecht lebendig, dass es nicht einmal hübsch, sondern bloß fremd und unheilvoll aussah.

«Wo ist Jonah?», rief Enid.

Gary kam herein und stellte sein Gepäck ab. «Er hat immer noch Fieber.»

Enid ließ sich einen Kuss geben. Da sie einen Augenblick brauchte, um sich zu fassen, forderte sie Gary auf, doch gleich auch seinen anderen Koffer hereinzuholen.

«Ich habe nur diesen», erklärte er ihr mit einer Art Amtsstimme.

Sie starrte auf seine winzige Tasche. «Mehr hast du nicht mit?»

«Hör zu, ich weiß, dass du wegen Jonah enttäuscht bist — »

«Wie hoch war sein Fieber?»

«Achtunddreißig fünf heute Morgen.»

«Achtunddreißig fünf ist doch kein hohes Fieber!»

Gary seufzte und schaute weg, wobei er den Kopf zur Seite neigte, um ihn mit der Achse des schiefen Weihnachtsbaums auf Linie zu bringen. «Hör zu», sagte er. «Jonah ist enttäuscht. Ich bin enttäuscht. Du bist enttäuscht. Können wir es dabei belassen? Wir alle sind enttäuscht.»

«Es ist ja bloß — ich habe alles für ihn vorbereitet», sagte Enid. «Ich habe sein Lieblingsessen gekocht — »

«Ich hatte dich extra vorgewarnt — »

«Und für heute Abend habe ich Karten für den Waindell- Park!»

Gary schüttelte den Kopf und marschierte zur Küche. «Dann gehen wir da auch hin», sagte er. «Und morgen kommt Denise.»

«Und Chip!»

Gary lachte. «Was, aus Litauen?»

«Er hat heute Morgen angerufen.»

«Na, das glaub ich erst, wenn ich's sehe», sagte Gary.

Die Welt in den Fenstern sah weniger wirklich aus, als es Enid lieb war. Der Scheinwerferkegel der Sonne, der durch die Wolkendecke nach drinnen fiel, war das Traumlicht keiner gewohnten Stunde des Tages. Enid hatte das dunkle Gefühl, dass die Familie, die sie zusammenzubringen versuchte, nicht mehr die Familie war, an die sie sich erinnerte — dass dieses Weihnachten überhaupt nicht so sein würde wie die Weihnachten früher.

Aber sie tat ihr Bestes, um sich auf die neue Realität einzustellen. Auf einmal freute sie sich sehr auf Chip. Und da Jonahs Päckchen nun mit Gary auf die Reise nach Philadelphia gehen würden, musste sie noch ein paar Wecker und Kugelschreiber- und-Bleistift-Sets für Caleb und Aaron einwickeln, damit ihre unterschiedlich große Gebefreudigkeit nicht so ins Auge stach. Das konnte sie tun, solange sie auf Denise und Chip wartete.

«Ich hab so viele Plätzchen gebacken», sagte sie zu Gary, der sich an der Spüle in der Küche penibel die Hände wusch. «Da ist eine Birne, die ich dir schneiden kann, und ein bisschen von diesem schwarzen Kaffee, den ihr jungen Leute so gern trinkt.»

Gary roch an ihrem Küchenhandtuch, bevor er sich damit abtrocknete.

Alfred brüllte von oben ihren Namen.

«Ach, Gary», sagte sie, «er kommt mal wieder nicht aus der Wanne. Geh du rauf und hilf ihm. Ich tu's nicht mehr.»

Gary trocknete sich überaus gründlich die Hände ab. «Warum benutzt er nicht die Dusche, wie wir es besprochen haben?»

«Er sagt, er setzt sich lieber hin.»

«Tja, Pech für ihn», meinte Gary. «Er ist doch derjenige, dessen Evangelium das selbstverantwortliche Handeln ist.»

Alfred brüllte Enids Namen erneut.

«Geh schon, Gary, hilf ihm», sagte sie.

Mit einer Ruhe, die nichts Gutes verhieß, glättete und richtete Gary das gefaltete Geschirrhandtuch auf der Stange. «Hier sind die Grundregeln, Mutter», sagte er und mit der Amtsstimme. «Hörst du mir zu? Hier sind die Grundregeln. In den nächsten drei Tagen werde ich alles tun, was du möchtest, nur nicht Dad aus Situationen retten, in denen er nicht sein müsste. Wenn er auf eine Leiter steigen und runterfallen will, werde ich ihn auf der Erde liegen lassen. Wenn er verblutet, verblutet er. Wenn er nicht ohne Hilfe aus der Badewanne kommt, kann er Weihnachten in der Badewanne verbringen. Habe ich mich klar und verständlich ausgedrückt? Abgesehen davon werde ich alles tun, was du möchtest. Und am Morgen des Fünfundzwanzigsten setzen du und er und ich uns an einen Tisch und über-»

«ENID.» Alfreds Stimme war erstaunlich laut. «DA IST JEMAND AN DER TÜR!»

Enid seufzte schwer und stellte sich an den Fuß der Treppe. «Das ist Gary, Al.»

«Kannst du mir helfen?», rief er.

«Gary, sieh mal nach, was er möchte.»

Gary stand mit verschränkten Armen im Esszimmer. «Hab ich dir nicht gerade meine Grundregeln erklärt?»

Enid erinnerte sich jetzt an Eigenschaften ihres älteren Sohnes, die sie gern vergaß, solange er nicht in der Nähe war. Langsam, darauf bedacht, eine schmerzende Verspannung aus ihrer Hüfte zu lösen, stieg sie die Stufen hinauf.

«Al», sagte sie, als sie das Badezimmer betrat, «ich kann dir nicht aus der Wanne helfen, das musst du schon selbst schaffen.»

Er saß mit ausgestreckten Armen und flatternden Fingern in fünf Zentimeter tiefem Wasser. «Gib das her», sagte er.

«Was?»

«Die Flasche da.»

Seine Flasche Schneeweiß-Shampoo, zum Haarebleichen, war auf den Boden gefallen. Vorsichtig, ihre Hüfte schonend, ging Enid auf der Badematte in die Hocke und drückte ihm die Flasche in beide Hände. Er strich kraftlos darüber, als überlege er, sie zu kaufen, oder versuche sich angestrengt zu erinnern, wie man sie öffnete. Seine Beine waren unbehaart, seine Hände fleckig, aber seine Schultern kräftig wie eh und je.

«Verflixt und zugenäht», sagte er und grinste die Flasche an.

Jede Wärme, die das Wasser gehabt haben mochte, war in dem dezemberkühlen Raum verflogen. Es roch nach Dial-Seife und, ein wenig schwächer, nach Alter. Zigtausendmal hatte Enid an genau dieser Stelle gehockt, um ihren Kindern die Haare zu waschen und ihnen, mit heißem Wasser aus einem Eineinhalb-Liter-Kochtopf, den sie extra dafür aus der Küche geholt hatte, die Köpfe zu spülen. Sie beobachtete, wie ihr Mann die Shampooflasche in den Händen drehte.

«Ach, Al», sagte sie, «was sollen wir nur tun?»

«Hilf mir hierbei.»

«Na schön. Ich helfe dir.»

Es klingelte an der Tür.

«Da ist es wieder.»

«Gary», rief Enid, «sieh mal nach, wer das ist!» Sie drückte ein wenig Shampoo in ihre offene Hand. «Du solltest wirklich lieber duschen.»

«Nicht sicher genug auf den Beinen.»

«Hier, mach dir die Haare nass.» Sie rührte, um Alfred auf die Sprünge zu helfen, mit einer Hand im lauwarmen Badewasser. Er spritzte sich ein bisschen davon aufs Haar. Sie hörte Gary mit einer ihrer Freundinnen sprechen, irgendeiner vergnügt zwitschernden Frau aus St. Jude, Esther Root vielleicht.

«Wir könnten doch einen Hocker für die Dusche besorgen», sagte sie, während sie Alfred die Haare einseifte. «Und einen stabilen Griff anbringen, damit du dich festhalten kannst, so, wie Dr. Hedgpeth es uns geraten hat. Das könnte Gary morgen erledigen.»

Alfreds Stimme vibrierte in seinem Schädel und bis in ihre Finger hinein: «Gary und Jonah gut angekommen?»

«Nein, nur Gary», sagte Enid. «Jonah hat ganz, ganz hohes Fieber und übergibt sich unentwegt. Der arme Junge, er ist viel zu krank, um im Flugzeug zu sitzen.»

Alfred zuckte vor Mitleid zusammen.

«Beug dich vor, damit ich das Shampoo ausspülen kann.»

Falls Alfred sich vorzubeugen versuchte, deutete lediglich ein Zittern in seinen Beinen darauf hin; seine Haltung änderte sich nicht.

«Du musst dich viel häufiger dehnen und strecken», sagte Enid. «Hast du dir das Blatt von Dr. Hedgpeth überhaupt je angesehen?»

Alfred schüttelte den Kopf. «Hat nichts genützt.» «Vielleicht kann Denise dir zeigen, wie man die Übungen macht. Das wäre doch schön.»

Sie griff nach dem Wasserglas, das hinter ihr am Waschbeckenrand stand. Ein ums andere Mal hielt sie es unter den Badewannenhahn, um ihrem Mann heißes Wasser über den Kopf laufen zu lassen. Mit seinen fest zusammengekniffenen Augen hätte man ihn für ein Kind halten können.

«Jetzt sieh mal zu, wie du da rauskommst», sagte sie. «Ich helfe dir nicht.»

«Ich habe meine eigene Methode», sagte er. Unten im Wohnzimmer kniete Gary auf dem Boden, um den Weihnachtsbaum gerade hinzustellen.

«Wer war das eben, an der Tür?», fragte Enid. «Bea Meisner», sagte er, ohne aufzublicken. «Auf dem Kaminsims liegt ein Geschenk von ihr.»

«Bea Meisner?» Eine späte Flamme der Scham flackerte in Enid auf. «Ich dachte, die Meisners wären über Weihnachten in Österreich.»

«Nein, sie sind noch einen Tag hier und fliegen dann nach La Jolla.»

«Da leben Katie und Stew. Hat sie dir irgendwas für mich gegeben?»

«Auf dem Sims», sagte Gary.

Das Geschenk von Bea war eine weihnachtlich verpackte Flasche, bestimmt etwas Österreichisches. «Sonst nichts?», fragte Enid.

Gary klatschte sich Tannennadeln von den Händen und warf ihr einen scheelen Blick zu. «Hattest du noch was anderes erwartet?»

«Nein, nein», antwortete sie. «Ich hatte sie gebeten, mir eine dumme kleine Sache aus Wien mitzubringen, aber das hat sie sicher vergessen.»

Garys Augen verengten sich. «Was denn für eine dumme kleine Sache?»

«Ach, nichts, weißt du, nichts.» Enid betastete die Flasche, um zu sehen, ob etwas daran befestigt war. Sie hatte ihre Schwärmerei für Aslan heil überstanden, sie hatte getan, was nötig war, um den Löwen zu vergessen, und sie war alles andere als sicher, ob sie ihn wiedersehen wollte. Aber der Löwe besaß immer noch Macht über sie. Eine alte Empfindung regte sich in ihr, eine lustvolle Vorfreude auf die Rückkehr eines Geliebten. Plötzlich vermisste sie, wie sehr sie früher Alfred vermisst hatte.

«Warum hast du sie nicht hereingebeten?», schimpfte sie.

«Chuck hat draußen im Jaguar gewartet», sagte Gary. «Wahrscheinlich machen sie ihre Runde.»

«Na ja.» Enid wickelte die Flasche aus — es war halbtrockener österreichischer Sekt — , um sicherzugehen, dass da nicht doch irgendwo ein kleines Päckchen versteckt war.

«Sieht nach was ziemlich Süßem aus», sagte Gary.

Sie bat ihn, ein Feuer anzuzünden. Dann stand sie da und staunte, wie ihr tüchtiger grauhaariger Sohn festen Schrittes zum Holzstapel ging, mit einer Ladung Scheite im Arm zurückkehrte, sie geschickt im Kamin aufeinander schichtete und gleich beim ersten Versuch ein Streichholz zum Brennen bekam. Der ganze Vorgang dauerte fünf Minuten. Gary tat nichts anderes, als zu funktionieren, wie ein Mann funktionieren sollte, und doch, im Vergleich zu dem Mann, mit dem Enid zusammenlebte, schienen seine Fähigkeiten göttlich. Noch die geringste seiner Bewegungen war prachtvoll anzusehen.

Ihre Erleichterung darüber, ihn im Haus zu haben, wurde gleich wieder gedämpft, als ihr einfiel, wie kurz er bleiben würde.

Alfred, in einem sportlichen Blazer, ließ sich kurz im Wohnzimmer blicken und plauderte, bevor er im Arbeitszimmer verschwand, um sich eine stark dezibelhaltige Dosis Lokalnachrichten zu verpassen, eine Minute mit Gary. Sein Alter und sein krummer Rücken hatten ihn, bis vor Kurzem noch genauso groß wie sein Sohn, um fünf bis sechs Zentimeter schrumpfen lassen.

Während Gary, mit ausgezeichneter Körperbeherrschung, die Lichterketten in den Baum hängte, saß Enid am Kamin und packte die Spirituosenkartons aus, in denen sie den Weihnachtsbaumschmuck aufbewahrte. Wohin sie auch gereist war, stets hatte sie den Löwenanteil ihres Taschengelds für Baumschmuck ausgegeben. Während Gary die einzelnen Stücke aufhängte, reiste sie in Gedanken zurück in ein Schweden, das von Stroh-Rentieren und kleinen roten Pferden bevölkert war, ein Norwegen, dessen Einwohner echt lappländische Rentierhaut-Stiefel trugen, ein Venedig, in dem alle Tiere aus Glas waren, ein Puppenhaus-Deutschland der Weihnachtsmänner und Weihnachtsengel aus glasiertem Holz, ein Österreich der Holzsoldaten und winzigen Alpenkirchen. In Belgien waren die Friedenstauben aus Schokolade gemacht und dekorativ in Folie eingeschlagen, in Frankreich hatten die gendarme-Püppchen und artiste-Püppchen makellose Kostüme an, und in der Schweiz klingelten die Bronzeglöckchen über ultrareligiösen Minikrippen. Ganz Andalusien zwitscherte vor grellbunten Vögeln; ganz Mexiko schepperte vor bemalten Blechfiguren. Auf den Hochebenen Chinas der lautlose Galopp einer Herde von Seidenpferden. In Japan das Zen-Schweigen lackierter Ornamente.

Gary hängte jedes Stück genau dorthin, wo Enid es haben wollte. Er wirkte verändert auf sie — ruhiger, souveräner, bedächtiger — , bis sie ihn bat, am nächsten Tag eine Kleinigkeit für sie zu erledigen.

«Einen Haltegriff in der Dusche anzubringen ist keine ‹Kleinigkeit›», sagte er. «Vor einem Jahr hätte das vielleicht Sinn gehabt, aber jetzt nicht mehr. Dad kann noch ein paar Tage die Badewanne benutzen, bis wir das mit dem Haus geklärt haben.»

«Wir fliegen erst in vier Wochen nach Philadelphia», sagte Enid. «Ich möchte, dass er sich ans Duschen gewöhnt. Ich möchte, dass du morgen einen Hocker kaufst und einen Griff anbringst, damit das erledigt ist.»

Gary seufzte. «Glaubst du im Ernst, dass ihr in diesem Haus bleiben könnt, Dad und du?»

«Wenn Korrektal ihm hilft — »

«Mutter, sie prüfen gerade, ob er an Demenz leidet. Glaubst du allen Ernstes — »

«An Demenz, die nicht von seinen Medikamenten kommt.»

«Hör zu, ich will ja deine Seifenblase nicht zerstechen — »

«Denise hat alles arrangiert. Wir müssen es versuchen.»

«Schön, und was dann?», sagte Gary. «Dad wird wie durch ein Wunder geheilt, und ihr lebt hier glücklich bis ans Ende eurer Tage?»

Das Licht in den Fenstern war vollends erloschen. Enid verstand nicht, warum ihr lieber, zuverlässiger ältester Sohn, mit dem sie sich seit seiner Geburt so eng verbunden fühlte, ausgerechnet jetzt, wo sie sich in Not an ihn wandte, derart zornig wurde. Sie wickelte eine Styroporkugel aus, die er im Alter von neun oder zehn mit Stoff und Münzen beklebt hatte.

«Kennst du die noch?»

Gary nahm die Kugel in die Hand. «Die haben wir damals bei Mrs. Ostriker gemacht.»

«Du hast sie mir geschenkt.»

«Ja?»

«Du hast gesagt, du wirst morgen alles tun, worum ich dich bitte», sagte Enid. «Nun, das ist es, worum ich dich bitte.»

«Schon gut! Schon gut!» Gary warf die Hände in die Luft. «Ich kaufe den Hocker! Ich bringe den Griff an!»

Nach dem Abendessen holte er den Olds aus der Garage, und zu dritt machten sie sich auf den Weg ins Weihnachtsland.

Vom Rücksitz aus konnte Enid die Unterseite der Wolken städtisches Licht einfangen sehen; die wolkenlosen Stellen am Himmel waren dunkler und mit Sternen durchsiebt. Gary manövrierte den Wagen durch enge Vorstadtstraßen bis zu den Kalksteintoren des Waindell-Parks, vor denen schon eine stattliche Anzahl Autos, Lieferwagen und Kleinbusse auf Einlass wartete.

«Guckt euch all die Wagen an», sagte Alfred ohne eine Spur seiner früheren Ungeduld.

Mit dem Eintritt, der für das Weihnachtsland verlangt wurde, trug die Kreisverwaltung einen Teil der Kosten dieser alljährlichen Extravaganz. Ein Parkwächter der Kreisverwaltung nahm ihre Tickets entgegen und forderte Gary auf, nur das Standlicht eingeschaltet zu lassen. Der Olds kroch in einer Schlange abgedunkelter Fahrzeuge vorwärts, die, alle zusammen, in ihrer demütigen Prozession durch den Park Tieren niemals ähnlicher gewesen waren als jetzt.

Die meiste Zeit des Jahres war Waindell ein verwahrlostes Gelände mit verbrannten Wiesen, braunen Tümpeln und schmucklosen Kalksteinpavillons. Im Dezember, bei Tag, sah es hier am schlimmsten aus. Dicke Kabel und Starkstromleitungen verliefen kreuz und quer über den Rasenflächen. Die Aufbauten und Gerüste offenbarten sich in ihrer ganzen Zerbrechlichkeit, ihrer Vorläufigkeit, der metallenen Knotigkeit ihrer Gelenke. Hunderte von Bäumen und Sträuchern verschwanden unter Lichterketten, und die Äste hingen durch, als prassele ein eisiger Regen aus Glas und Plastik auf sie nieder.

Am Abend wurde der Park zum Weihnachtsland. Scharf sog Enid die Luft ein, als der Olds im Schneckentempo über einen Lichthügel und durch eine hell erleuchtete Landschaft rollte. So wie die wilden Tiere am Heiligen Abend angeblich zu sprechen begannen, schien die natürliche Ordnung der Vororte hier auf den Kopf gestellt, das normalerweise dunkle Land lebendig vor Licht, die normalerweise lebendige Straße dunkel vor stockendem Verkehr.

Die sanft ansteigenden Hänge und die Vertraulichkeit zwischen ihren Kammlinien und dem Himmel waren typisch mittelwestlich, fand Enid. Genauso wie der Gleichmut und die Geduld der Fahrer; genauso wie die vereinzelten, eng zusammengewachsenen Grenzgemeinschaften der Eichen und Ahornbäume. Die letzten acht Weihnachten hatte sie im Exil, im fremden Osten, verbracht, und nun fühlte sie sich endlich zu Hause. Sie stellte sich vor, in dieser Landschaft begraben zu werden. Sie war glücklich bei dem Gedanken, dass ihre Gebeine einst an einem Hang wie diesem ruhen würden.

Weiter ging's mit funkelnden Pavillons, leuchtenden Rentieren, Riesenanhängern und — halsketten aus gebündelten Photonen, elektropointillistischen Weihnachtsmanngesichtern, einer aus turmhohen, glitzernden Zucker-Spazierstöcken gebildeten Schneise.

«Steckt eine Menge Arbeit drin», bemerkte Alfred.

«Tja, nun tut es mir doch Leid, dass Jonah nicht mitkommen konnte», sagte Gary, als hätte es ihm bislang nicht Leid getan.

Das Schauspiel war nichts anderes als Licht in der Dunkelheit, aber Enid verschlug es die Sprache. So oft wurde einem Gutgläubigkeit abverlangt, so selten konnte man sie aufbringen, doch hier im Waindell-Park schaffte sie es. Irgendjemand hatte sich vorgenommen, alle, die kamen, zu begeistern, und Enid war hell begeistert. Und morgen waren auch Denise und Chip da, morgen würden sie in den Nussknacker gehen, und Mittwoch würden sie das Christkind aus seiner Tasche nehmen und die Walnusswiege an den Filzbaum heften: Es gab so vieles, auf das sie sich freuen konnte.

Am nächsten Morgen fuhr Gary ins benachbarte Hospital City, den stadtnahen Vorort, in dem die großen Kliniken und Ärztehäuser von St. Jude konzentriert waren, und hielt die Luft an zwischen all den Vierzig-Kilo-Männern in Rollstühlen und den Hundertdreißig-Kilo-Frauen in zeltartigen Gewändern, die im Großhandel für Medizin- und Sanitätsbedarf die Gänge verstopften. Gary nahm es seiner Mutter übel, ihn hierher geschickt zu haben, aber er war sich auch bewusst, wie gut er es im Vergleich zu ihr hatte, wie frei und privilegiert er war, und so riss er sich zusammen und hielt größtmöglichen Abstand von den Körpern der Ortsansässigen, die ihre Einkaufswagen mit Spritzen und Gummihandschuhen voll luden, mit Karamell-Betthupferln, mit saugfähiger Watte in allen erdenklichen Formen und Größen, mit 144er-Jumbopackungen Gute-Besserungs-Karten und Flötenmusik-CDs und Videos, die krankengymnastische Übungen veranschaulichten, und Wegwerfschläuchen und Wegwerfplastikbeuteln, die sich mit härteren, in lebendiges Fleisch eingenähten Plastikventilen verbinden ließen.

Garys Problem mit Krankheit, wenn sie gehäuft auftrat — abgesehen von der Tatsache, dass man es dabei mit großen Mengen menschlicher Körper zu tun bekam und ihm menschliche Körper in großen Mengen schlichtweg zuwider waren — , bestand darin, dass sie in seinen Augen ein Phänomen der Unterschicht war. Arme Leute rauchten, arme Leute schlugen sich den Bauch mit Krispy-Creme-Doughnuts voll. Arme Leute wurden von nahen Verwandten geschwängert. Arme Leute wuschen sich nicht genügend und wohnten in verseuchten Stadtteilen. Arme Leute mit ihren Gebrechen bildeten eine Subspezies der Menschheit, die für Gary dankenswerterweise meist unsichtbar blieb, nur nicht in Krankenhäusern und an Orten wie dem Großhandel für Medizin- und Sanitätsbedarf. Sie gehörten zu einer tumberen, traurigeren, fetteren, ergebener leidenden Art. Zu einer kranken Unterschicht, von der er wirklich, wirklich gerne Abstand hielt.

Andererseits war er aus etlichen Gründen, die er Enid verschwiegen hatte, mit einem schlechten Gewissen nach St. Jude gekommen und hatte sich geschworen, drei Tage lang ein guter Sohn zu sein, und so kämpfte er sich, seinem Unbehagen trotzend, durch die Massen der Lahmen und Siechen, betrat die riesige Möbelabteilung des Medizin- und Sanitätsbedarfs und schaute sich nach einem Hocker um, auf dem sein Vater beim Duschen würde sitzen können.

Eine üppig orchestrierte Fassung des fadesten Weihnachtslieds aller Zeiten, «Der kleine Trommler», triefte aus versteckten Lautsprechern. Der Morgen, draußen vor den Spiegelglasfenstern der Möbelabteilung, war strahlend, windig, kalt. Ein Blatt Zeitungspapier wickelte sich in erotisch anmutender Verzweiflung um eine Parkuhr. Markisen quietschten, Schutzbleche zitterten.

Die große Auswahl an medizinischen Hockern und die vielfältigen Leiden, von denen sie zeugten, hätten Gary womöglich aus der Fassung gebracht, wäre er nicht in der Lage gewesen, ästhetische Urteile zu fällen.

Warum beige, fragte er sich zum Beispiel. Medizinisches Plastik war in aller Regel beige; im besten Falle kränklich grau.

Warum nicht rot? Warum nicht schwarz? Warum nicht taubenblau?

Vielleicht sollte das beige Plastik gewährleisten, dass die Möbel einzig und allein zu medizinischen Zwecken verwendet wurden. Vielleicht fürchtete der Hersteller, die Leute könnten die Stühle, wenn sie zu hübsch wären, zu nichtmedizinischen Zwecken kaufen wollen.

Das galt es ja nun wahrlich zu vermeiden: dass ein Produkt zu viele Interessenten fand!

Gary schüttelte den Kopf. Diese schwachsinnigen Hersteller.

Er entschied sich für einen robusten, niedrigen Aluminiumhocker mit breiter beiger Sitzfläche. Er wählte einen massiven (beigen!) Haltegriff für die Dusche. Über die erpresserischen Preise staunend, ging er mit beiden Artikeln zur Kasse, wo eine freundliche junge Mittelwestlerin, wahrscheinlich evangelikal (sie trug einen Pullover mit Brokatmuster und einen fransig geschnittenen Pony), die Strichcodes unter einen Laserstrahl hielt und in einem schleppenden Südstaatendialekt bemerkte, diese Aluminiumhocker seien wirklich ein Spitzenprodukt. «So leicht, und praktisch nicht kaputtzukriegen», sagte sie. «Für Ihre Mom oder für Ihren Dad?»

Gary mochte es überhaupt nicht, wenn jemand in seine Privatsphäre eindrang, und verwehrte der jungen Frau die Genugtuung einer Antwort. Immerhin nickte er.

«Unsere alten Leutchen werden halt irgendwann 'n bisschen wacklich unter der Dusche. Geht uns sicher allen ma' so.» Die kleine Philosophin zog mit Schwung Garys AmEx durch eine Furche. «Und Sie? Über die Feiertage zu Hause, 'n bisschen aushelfen?»

«Wissen Sie, wozu sich diese Hocker richtig gut eignen würden?», sagte Gary. «Um sich aufzuhängen. Meinen Sie nicht?»

Das Leben wich aus dem Lächeln der jungen Frau. «Weiß nich.»

«Wiegt ja nichts — schön leicht wegzutreten.»

«Hier unterschreiben bitte, Sir.»

Er musste gegen den Wind ankämpfen, um die Ausgangstür aufzustoßen. Der Wind hatte Zähne heute, biss ihm durch die Kalbslederjacke ins Fleisch. Es war ein Wind, der von keinerlei nennenswerten Hindernissen zwischen der Arktis und St. Jude gebremst wurde.

Während Gary Richtung Norden zum Flughafen fuhr, die tief stehende Sonne gnädigerweise im Rücken, fragte er sich, ob er grausam zu der jungen Frau gewesen war. Vermutlich. Aber er stand unter Druck, und er fand, ein Mensch, der unter Druck stand, hatte das Recht, in den Grenzen, die er sich selbst gezogen hatte, streng zu sein — streng in seiner moralischen Buchführung, streng in der Frage, was er zu tun und zu lassen gedachte, streng in der Frage, wer er war und wer er nicht war und mit wem er sprechen wollte und mit wem nicht. Wenn irgendeine aufdringliche evangelikale Landpomeranze unbedingt mit ihm reden wollte, oblag die Wahl des Themas ihm.

Allerdings war ihm bewusst, dass er, hätte die Frau hübscher ausgesehen, weniger grausam gewesen wäre.

Alles in St. Jude strebte danach, ihn ins Unrecht zu setzen. Doch in den Monaten seit seiner Kapitulation vor Caroline (und seine Hand war gut verheilt, danke der Nachfrage, man sah die Narbe kaum) hatte er sich damit abgefunden, in St. Jude der Bösewicht zu sein. Wer von vornherein wusste, dass er für die eigene Mutter, egal, was er tat, der Bösewicht war, für den gab es keinen Anreiz mehr, sich an ihre Regeln zu halten. Er stellte seine eigenen Regeln auf. Tat, was getan werden musste, um seine Haut zu retten. Behauptete, wenn nötig, dass ein völlig gesundes Kind krank war.

In Wahrheit hatte Jonah selbst entschieden, nicht mit nach St. Jude zu fahren. Das stimmte mit den Bedingungen von Garys Kapitulation im Oktober überein. Fünf Flugtickets in der Hand, für die es keine Rückerstattung gab, hatte Gary seiner Familie mitgeteilt, er wünsche sich sehr, dass alle ihn über Weihnachten nach St. Jude begleiten würden, aber niemand werde zum Mitfahren gezwungen. Caroline, Aaron und Caleb sagten unverzüglich und laut nein danke; Jonah dagegen, noch im Bann des großmütterlichen Enthusiasmus, verkündete, er fahre «sehr gern» mit. Gary hatte Enid nie ausdrücklich versprochen, dass Jonah ihn begleiten werde, sie aber auch nie gewarnt, dass es vielleicht anders kommen könnte.

Im November kaufte Caroline vier Karten für einen Auftritt des Zauberers Alain Gregarius am 22. Dezember und weitere vier Karten für den König der Löwen am 23. Dezember in New York. «Wenn Jonah hier bleibt, kann er mit», erklärte sie, «sonst kriegt ein Freund von Aaron oder Caleb seine Karte.» Gary hätte sie gern gefragt, warum sie nicht, um Jonah eine schwierige Entscheidung zu ersparen, Karten für die Woche nach Weihnachten gekauft hatte. Doch seit seiner Oktober-Kapitulation erlebten er und Caroline ihre zweiten Flitterwochen, und obwohl sie sich einig waren, dass Gary als gehorsamer Sohn für drei Tage nach St. Jude fahren würde, fiel ein Schatten auf sein häusliches Glück, wann immer er von seiner Reise sprach. Je mehr Tage vergingen, ohne dass von Enid oder Weihnachten die Rede war, desto mehr schien Caroline ihn zu begehren, desto mehr bezog sie ihn in ihre Witzeleien mit Aaron und Caleb ein und desto weniger deprimiert fühlte er sich. Überhaupt waren sie auf das Thema seiner Depression seit dem Morgen von Alfreds Unfall kein einziges Mal zurückgekommen. Das Thema Weihnachten ruhen zu lassen schien ihm ein kleiner Preis für so viel häusliche Harmonie.

Eine Zeit lang sah es so aus, als übten die Extras und die Aufmerksamkeit, die Enid Jonah versprochen hatte, größere Anziehungskraft auf ihn aus als Alain Gregarius und der König der Löwen. Beim Abendessen dachte Jonah laut über das Weihnachtsland und den Adventskalender nach, von dem Grandma so oft erzählte; er ging darüber hinweg — oder bemerkte es tatsächlich nicht — , wie Caleb und Aaron sich zublinzelten und grinsten. Caroline aber ermunterte die älteren Jungen immer unverhohlener, über ihre Großeltern herzuziehen und Anekdoten über Alfreds Ahnungslosigkeit («Er hat Intendo gesagt!») und Enids Prüderie («Sie wollte wissen, welche Altersbeschränkung die Zauberer-Show hat!») und Enids Sparsamkeit («Zwei Bohnen waren noch übrig, und sie hat sie in Folie gewickelt!») zum Besten zu geben, und da auch Gary, seit seiner Kapitulation, meistens in das Gelächter einstimmte («Grandma ist komisch, oder?»), fing Jonah schließlich an zu schwanken. Im zarten Alter von acht Jahren geriet er unter den Einfluss des Tyrannen Cool. Zuerst hörte er auf, beim Abendessen von Weihnachten zu sprechen, und als Caleb ihn etwas später in seinem typischen, halb ironischen Tonfall fragte, ob er sich schon auf das Weihnachtsland freue, erwiderte Jonah mit bemüht garstiger Stimme: «Bestimmt ist es total blöd.»

«Jede Menge Fettwänste, die in großen Autos im Dunkeln rumfahren», sagte Aaron.

«Und sich gegenseitig erzählen, wie härrrlich das ist», sagte Caroline.

«Härrrlich, härrrlich», sagte Caleb.

«Ihr sollt euch nicht über eure Großmutter lustig machen», sagte Gary.

«Sie machen sich ja nicht über sie lustig», sagte Caroline.

«Genau», sagte Caleb. «Die Leute sind bloß so komisch in St. Jude. Stimmt's, Jonah?»

«Auf alle Fälle sind die Leute da ziemlich dick», sagte Jonah.

Am Samstag, drei Tage vor Garys Abreise, musste sich Jonah nach dem Abendessen übergeben und legte sich mit leichtem Fieber ins Bett. Am Sonntagabend waren seine Gesichtsfarbe und sein Appetit schon wieder normal, und Caroline spielte ihren letzten Trumpf aus. Sie hatte Aaron zum Geburtstag ein teures Computerspiel, Gottesprojekt II, geschenkt, in dem die Spieler Organismen erschaffen und sie in einem funktionierenden Ökosystem miteinander konkurrieren lassen mussten. Aber sie hatte Aaron und Caleb nicht erlaubt, damit loszulegen, bevor die Ferien anfingen, und nun, da es endlich so weit war, bestand sie darauf, dass Jonah «die Mikroben» sein dürfe, weil die Mikroben es in jedem Ökosystem am besten hatten und nie verloren.

Kurz vorm Schlafengehen stand Jonah bereits im Bann seines Killerbakterienteams und freute sich darauf, es am nächsten Tag erneut in den Kampf zu schicken. Als Gary ihn am Montagmorgen weckte und fragte, ob er mit nach St. Jude kommen werde, antwortete Jonah, er bleibe lieber zu Hause.

«Es ist deine Entscheidung», sagte Gary. «Aber wenn du mitkämst, würde das deiner Großmutter sehr viel bedeuten.»

«Und was ist, wenn ich mich da langweile?»

«Eine Garantie, dass man sich irgendwo nicht langweilt, kann einem keiner geben», sagte Gary. «Aber du würdest deine Großmutter glücklich machen. So viel zumindest garantiere ich dir.»

Jonahs Gesicht umwölkte sich. «Kann ich's mir noch eine Stunde überlegen?»

«Na schön, eine Stunde. Aber dann müssen wir packen und aus dem Haus.»

Nach Ablauf einer Stunde war Jonah ganz in das Gottesprojekt II vertieft. Eine seiner Bakterienarten hatte achtzig Prozent von Aarons kleinen behuften Säugetieren das Augenlicht geraubt.

«Es ist in Ordnung, wenn du nicht mitfährst», versicherte Caroline Jonah. «Was zählt, ist, dass du selbst entscheidest. Es sind deine Ferien.»

Niemand wird zum Mitfahren gezwungen.

«Ich sag's ein letztes Mal», sagte Gary. «Grandma freut sich wirklich sehr auf dich.»

Da zeigte sich Gram auf Carolines Gesicht, ein tränenschweres Starren, was Erinnerungen an die harten Septemberzeiten wachrief. Sie stand wortlos auf und ging aus dem Zimmer.

Jonah antwortete mit einer Stimme, die nicht viel lauter als ein Flüstern war: «Ich glaube, ich bleibe hier.»

Wäre noch September gewesen, hätte Gary in Jonahs Entscheidung vielleicht ein Sinnbild für die allgemeine Krise des Pflichtbewusstseins in einer einseitig verbraucherorientierten Kultur gesehen. Er wäre vielleicht depressiv geworden. Doch diesen Weg war er bereits gegangen, und er wusste, dass ihn an dessen Ende nichts erwartete.

Er packte seine Sachen und küsste Caroline. «Schön, dass du bald wieder da bist», sagte sie.

Streng moralisch betrachtet, das wusste Gary, brauchte er sich nichts vorzuwerfen. Er hatte Enid ne versprochen, dass Jonah mitkommen würde. Und auf die Fieberlüge war er nur verfallen, weil er eine Auseinandersetzung vermeiden wollte.

Aus einem ähnlichen Grund, nämlich um ihre Gefühle zu schonen, hatte er Enid verschwiegen, dass seine fünftausend Axon-Aktien, für die er $ 60.000 gezahlt hatte, in den sechs Geschäftstagen seit dem Börsengang im Wert auf $ 118.000 gestiegen waren. Auch in diesem Fall brauchte er sich nichts vorzuwerfen, aber wegen des erbärmlichen Honorars, mit dem Axon Alfred abgespeist hatte, schien ihm Geheimhaltung die klügste Politik zu sein.

Dasselbe galt für das kleine Päckchen, das Gary in der Innentasche seiner Jacke hatte verschwinden lassen.

Jets sanken vom strahlend hellen Himmel, glücklich in ihrer metallenen Haut, während er den Olds durch den dichten Seniorenverkehr am Flughafen manövrierte. Die Tage vor Weihnachten waren die Sternstunde des Flughafens von St. Jude — seine Raison d'etre beinahe. Jedes Parkhaus war voll und jedes Laufband verstopft.

Denise landete trotzdem auf die Minute pünktlich. Sogar die Fluggesellschaften taten das Ihre, um ihr die Peinlichkeit einer Verspätung oder eines inkommodierten Bruders zu ersparen. Nach familiärem Brauch stand sie an einem weniger überlaufenen Gate auf der Abflugebene. Ihr Mantel war eine verrückte granatrote Wollangelegenheit mit rosa Samtbesatz, und irgendetwas an ihrem Kopf schien Gary verändert — mehr Make-up als sonst vielleicht. Mehr Lippenstift. Jedes Mal wenn er Denise im vergangenen Jahr begegnet war (zuletzt an Thanksgiving), hatte sie deutlich weniger so ausgesehen, wie er sie sich früher als Erwachsene immer vorgestellt hatte.

Als er sie küsste, roch er Zigarettenrauch.

«Du rauchst ja», sagte er, während er im Kofferraum Platz für ihren Koffer und ihre Einkaufstüte machte.

Denise lächelte. «Schließ endlich auf. Ich erfriere.»

Gary klappte seine Sonnenbrille auseinander. Richtung Süden direkt ins Grelle fahrend, wurde er beim Einordnen fast abgedrängt. Selbst auf den Straßen von St. Jude nahm die Aggressivität zu; der Verkehr kroch auch hier inzwischen nicht mehr so, dass ein Ostküstler sich munter überall hindurchschlängeln konnte.

«Mom ist bestimmt selig, dass Jonah da ist», sagte Denise.

«Offen gestanden — Jonah ist nicht da.»

Sie wandte scharf den Kopf. «Du hast ihn nicht mitgebracht?»

«Er ist krank geworden.»

«Das kann nicht dein Ernst sein. Du hast ihn nicht mitgebracht!»

Sie schien nicht für einen Augenblick in Betracht zu ziehen, dass er die Wahrheit sagen könnte.

«In meinem Haushalt leben fünf Personen», sagte Gary. «Soweit ich weiß, lebt in deinem nur eine. Die Dinge werden komplizierter, je mehr Rücksichten man zu nehmen hat.»

«Ich finde es bloß schade, dass du Mom erst Hoffnungen machen musstest.»

«Ich kann nichts dafür, wenn sie unbedingt in der Zukunft leben will.»

«Da hast du Recht», sagte Denise. «Dafür kannst du nichts. Hätte mich nur gefreut, wenn es anders gekommen wäre.»

«Wo wir gerade von Mom sprechen», sagte Gary, «ich muss dir etwas sehr Merkwürdiges erzählen. Aber bitte versprich mir, dass du ihr nichts davon sagst.»

«Etwas Merkwürdiges?»

«Versprich mir, dass du's für dich behältst.»

Denise versprach es, und Gary zog den Reißverschluss seiner Jackeninnentasche auf und zeigte ihr das Päckchen, das Bea Meisner ihm tags zuvor gegeben hatte. Das Ganze war völlig bizarr gewesen: am Straßenrand Chuck Meisners Jaguar, im Leerlauf, inmitten von Walfontänen winterlicher Auspuffgase, auf der Herzlich-willkommen-Matte Bea Meisner in ihrem bestickten grünen Lodenmantel, die aus ihrer Handtasche ein ramponiertes und abgegriffenes kleines Paket hervorkramte, und im Türrahmen Gary, der die eingewickelte Sektflasche abstellte und die Lieferung der Konterbande entgegennahm. «Das ist für deine Mutter», hatte Bea gesagt. «Aber sag ihr, dass Klaus gemeint hat, man muss sehr vorsichtig damit sein. Er wollte es mir erst gar nicht geben. Er hat gesagt, es kann sehr, sehr süchtig machen, deshalb habe ich auch nur so wenig davon mitgebracht.

Deine Mutter hatte von sechs Monaten gesprochen, aber Klaus hat mir nur was für einen gegeben. Also sag ihr, sie muss auf jeden Fall erst mit ihrem Arzt sprechen. Vielleicht solltest du es sogar bei dir behalten, Gary, bis sie das getan hat. Na ja, wie auch immer, fröhliche Weihnachten» — hier hupte der Jaguar — «und die besten Grüße an alle.»

Noch während Gary erzählte, öffnete Denise das Päckchen. Bea hatte ein Blatt aus einer deutschsprachigen Zeitschrift gefaltet und mit Tesafilm zugeklebt. Auf der einen Seite war eine bebrillte deutsche Kuh zu sehen, die Werbung für H-Milch machte. Innen drin befanden sich dreißig goldene Pillen.

«Mein Gott.» Denise lachte. «Mexican A.»

«Noch nie gehört», sagte Gary.

«Club-Droge. Nehmen junge Leute gern.»

«Und Bea Meisner bringt sie Mom einfach so zu Hause vorbei.»

«Weiß Mom, dass du sie hast?»

«Noch nicht. Ich hab ja nicht mal eine Ahnung, was das Zeug bewirkt.»

Mit ihren rauchigen Fingern hielt Denise eine Pille ganz nah an seinen Mund. «Probier mal eine.»

Gary zog ruckartig den Kopf weg. Seine Schwester schien selbst unter irgendeiner Droge zu stehen, irgendetwas Stärkerem als Nikotin. Sie war sagenhaft glücklich oder sagenhaft unglücklich oder auf irgendeine gefährliche Weise beides zugleich. An drei Fingern und einem Daumen trug sie silberne Ringe.

«Hast du die Dinger mal probiert?», fragte er.

«Nein, ich bleibe beim Alkohol.»

Sie faltete das Päckchen zusammen, und Gary nahm es wieder an sich. «Ich möchte sicher sein, dass wir am selben Strang ziehen», sagte er. «Bist auch du der Meinung, dass Mom keine illegalen Suchtmittel von Bea Meisner bekommen sollte?»

«Nein», sagte Denise. «Der Meinung bin ich nicht. Sie ist erwachsen und kann machen, was sie will. Und ich finde es nicht in Ordnung, dass du ohne ihr Wissen die Pillen einsteckst. Wenn du es ihr nicht sagst, tue ich's.»

«Entschuldige, aber ich glaube, du hast mir eben versprochen, es für dich zu behalten», sagte Gary.

Denise überlegte. Salzbespritzte Bordsteine flogen vorbei.

«Na schön, vielleicht habe ich das versprochen», sagte sie. «Aber wieso maßt du dir an, ihr Leben in die Hand zu nehmen?»

«Du wirst schon sehen», sagte er. «Die Situation ist außer Kontrolle. Höchste Zeit, dass jemand kommt und Moms Leben in die Hand nimmt.»

Denise widersprach ihm nicht. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und betrachtete die Hochhäuser von Hospital City am unbarmherzigen südlichen Horizont. Gary hatte gehofft, sie würde sich kooperativer zeigen. Er hatte bereits einen «alternativen» Bruder und brauchte von der Sorte nicht auch noch eine Schwester. Es verdross ihn, dass manche so umstandslos aus der Welt der konventionellen Erwartungen aussteigen konnten; all die Freude, die er aus seinem Zuhause und seiner Arbeit und seiner Familie zog, wurde dadurch unterhöhlt; es war, als würde das Regelwerk des Lebens einseitig, und zwar zu seinem Nachteil, neu geschrieben. Besonders ärgerte ihn, dass der jüngste Überläufer zum Lager der «Alternativen» nicht irgendein spleeniger anderer aus einer Familie von anderen oder einer Schicht von anderen war, sondern seine elegante und begabte Schwester, die noch im September auf so konventionelle Weise reüssiert hatte, dass seine Freunde in der New York Times davon hatten lesen können. Jetzt war sie ihren Job los, trug vier Fingerringe und einen flammend roten Mantel und stank nach Tabak…

Den Aluminiumhocker in der Hand, folgte er ihr ins Haus. Er verglich ihren Empfang durch Enid mit seinem eigenen Empfang am Tag zuvor. Registrierte die Dauer der Umarmung, das Ausbleiben prompter Kritik, das allseitige Lächeln.

Enid rief: «Ich dachte, ihr würdet vielleicht Chip am Flughafen treffen und zu dritt nach Hause kommen!»

«Das Szenario ist in achtfacher Hinsicht unwahrscheinlich», sagte Gary.

«Hat er euch denn gesagt, dass er heute kommt?», fragte Denise.

«Heute Nachmittag», sagte Enid. «Allerspätestens morgen.»

«Heute, morgen, nächsten April», sagte Gary. «Egal.»

«Er hat von irgendwelchen Unruhen in Litauen gesprochen», sagte Enid.

Während Denise sich auf die Suche nach Alfred machte, holte Gary sich den Chronicle aus dem Arbeitszimmer. In einem Kasten mit Nachrichten aus aller Welt, eingequetscht zwischen langen Features («Neue ‹Pediküren› bescheren Hunden scharfe Krallen» und «Sind Augenärzte überbezahlt? Ärzte sagen nein, Optiker sagen ja»), fand er einen Absatz über Litauen:

Bürgerunruhen nach umstrittenen Parlamentswahlen und versuchtes Attentat auf Präsident Vitkunas… Drei Viertel des Landes ohne Elektrizität… Zusammenstoß rivalisierender paramilitärischer Gruppen auf den Straßen von Vilnius… und der Flughafen «Der Flughafen ist geschlossen», las Gary voll Genugtuung vor. «Mutter? Hast du gehört?»

«Er war schon gestern am Flughafen», sagte Enid. «Ich bin sicher, dass er noch rausgekommen ist.»

«Warum hat er dann nicht angerufen?»

«Wahrscheinlich musste er sich beeilen, um sein Flugzeug zu kriegen.»

Ab einem bestimmten Punkt tat Gary die Unbeirrbarkeit, mit der Enid ihren Illusionen anhing, geradezu körperlich weh. Er öffnete sein Portemonnaie und reichte ihr die Quittung für Duschhocker und Haltegriff.

«Ich gebe dir später einen Scheck», sagte sie.

«Warum nicht gleich jetzt, ehe du's vergisst.»

Grummelnd und seufzend fügte sich Enid seinem Wunsch.

Gary studierte den Scheck. «Warum ist er auf den 26. Dezember datiert?»

«Weil du ihn frühestens am 26. in Philadelphia einlösen kannst.»

Ihr Geplänkel setzte sich auch beim Mittagessen fort. Gary trank langsam ein Bier und trank langsam ein zweites und kostete genüsslich die Qualen aus, die er Enid bereitete, indem er sich zum dritten und vierten Mal bitten ließ, doch endlich mit dem Duschvorhaben anzufangen. Als er schließlich vom Tisch aufstand, kam ihm der Gedanke, dass sein Impuls, Enids Leben in die Hand zu nehmen, die logische Reaktion darauf war, dass sie ihrerseits nicht aufhören wollte, das seine in die Hand zu nehmen.

Der Haltegriff war ein vierzig Zentimeter langes, beige emailliertes Metallrohr mit geflanschten Ellbogen an beiden Enden. Die stummeligen Schrauben, die in der Packung lagen, hätten vielleicht gereicht, um den Griff an Sperrholz zu befestigen, aber bei Keramikfliesen taugten sie nichts. Um die Stange anzubringen, würde er fünfzehn Zentimeter lange Bolzen durch die Wand in den kleinen Schrank hinter der Dusche bohren müssen.

Unten in Alfreds Werkstatt fand er zwar Aufsätze für die elektrische Bohrmaschine, doch die Zigarrenkisten, die er als Füllhörner nützlicher Eisenwaren in Erinnerung hatte, schienen hauptsächlich verrostete, verwaiste Schrauben und Schließbleche und Spülkastenteile zu enthalten. Mit Sicherheit keine fünfzehn Zentimeter langen Bolzen.

Als er, mit seiner Ich-Blödmann-Grimasse, das Haus verließ, um zum Eisenwarengeschäft zu fahren, fiel sein Blick auf Enid, die am Esszimmerfenster stand und durch die hauchdünne Gardine spähte.

«Mutter», sagte er. «Freu dich bloß nicht zu früh auf Chip.»

«Ich dachte, ich hätte eine Wagentür gehört.»

Schön, mach nur weiter so, dachte Gary auf dem Weg zum Auto, fixier dich auf die, die nicht da sind, und setz alle anderen unter Druck.

Auf der Straße traf er Denise, die, mit Lebensmitteln beladen, aus dem Supermarkt zurückkam. «Ich hoffe, du lässt das alles Mom bezahlen», sagte er.

Seine Schwester lachte ihm ins Gesicht. «Was kümmert dich das?»

«Sie glaubt, sie kann sich alles erlauben. Das macht mich rasend.»

«Dann sei eben doppelt wachsam», sagte Denise und marschierte zum Haus.

Warum lief er eigentlich die ganze Zeit mit einem schlechten Gewissen herum? Er hatte nie versprochen, Jonah mitzubringen, und dafür, dass er den anderen dank seiner Axon-Investition gegenwärtig um $ 58.000 voraus war, hatte er sich schließlich schwer ins Zeug gelegt und war ein hohes Risiko eingegangen, und Bea Meisner hatte ihn beschworen, Enid das süchtig machende Medikament nicht zu geben; warum also lief er mit einem schlechten Gewissen herum?

Beim Fahren stellte er sich vor, wie die Nadel seines Schädeldruckmessers im Uhrzeigersinn vorankroch. Er bereute, Enid Hilfe angeboten zu haben. So kurz, wie sein Aufenthalt war, grenzte es an Idiotie, den Nachmittag mit einer Arbeit zu verbringen, für die sie einen Handwerker hätte ins Haus holen können.

Im Eisenwarengeschäft stand er hinter den fettesten und langsamsten Menschen der mittleren Staaten an der Kasse an. Sie waren hier, um Marshmallow-Weihnachtsmänner, Lamettapackungen, Stabjalousien, Föhne für acht Dollar und Topflappen mit Weihnachtsmotiv zu kaufen. Mit ihren Bratwurstfingern gruben sie in ihren winzigen Portemonnaies nach passendem Wechselgeld. Weiße Cartoon-Dampfwölkchen schossen Gary aus den Ohren. All die schönen Dinge, die er jetzt tun könnte, anstatt eine halbe Stunde Schlange zu stehen, um sechs Fünfzehn-Zentimeter-Bolzen zu kaufen, nahmen in seiner Phantasie verführerische Gestalt an. Er könnte sich in der Sammlerecke des kleinen Lädchens im Verkehrsmuseum umschauen oder die alten Brücken- und Gleiszeichnungen seines Vaters aus dessen ersten Jahren bei der Midland Pacific sortieren oder den Geräteschuppen unter der Veranda nach seiner lang vermissten Modelleisenbahn, Größe O, samt Zubehör durchforsten. Seit seine «Depression» verflogen war, hatte er mit dem Sammeln und Rahmen von Eisenbahnmemorabilien begonnen, seine neue Leidenschaft, hobbyähnlich in ihrer Intensität, und er hätte den ganzen Tag — die ganze Woche! — glücklich damit zubringen können, ihr zu frönen…

Zurück zu Hause, sah er, als er den Weg hinaufeilte, dass sich die hauchdünnen Gardinen ein wenig öffneten: Seine Mutter spähte wieder hinaus. Drinnen dampfte die Luft, erfüllt vom Duft der Speisen, die Denise backte, dünstete und briet. Gary gab Enid den Kassenzettel für die Bolzen, in dem sie das Symbol der Feindseligkeit erkannte, das er war.

«Kannst du dir etwa keine vier Dollar sechsundneunzig leisten?»

«Mutter», sagte er. «Ich erledige die Arbeit, um die du mich gebeten hast. Aber es ist nicht mein Bad. Es ist nicht mein Haltegriff.»

«Ich gebe dir das Geld später.» «Dann vergisst du's vielleicht.» «Gary, ich gebe dir das Geld später.»

Denise, mit Schürze, verfolgte den Wortwechsel von der Küchentür aus mit spöttischem Blick.

Als Gary zum zweiten Mal an diesem Tag in den Keller kam, saß Alfred schnarchend im großen blauen Sessel. Gary ging in die Werkstatt, da entdeckte er etwas, das ihn beinahe aus dem Gleis warf. Eine Schrotflinte in einer Segeltuchhülle lehnte am Labortisch. Er erinnerte sich nicht, sie vorher dort gesehen zu haben. War es möglich, dass er sie nicht bemerkt hatte? Eigentlich gehörte die Schrotflinte in den Geräteschuppen. Dass sie nun woanders war, machte Gary wahrlich zu schaffen. Soll ich zulassen, dass er sich erschießt?

Die Frage stand so klar in seinem Kopf, dass er sie um ein Haar laut ausgesprochen hätte. Und er überlegte. Um Enids Gesundheit willen einzugreifen und ihre Suchtmittel zu beschlagnahmen war eine Sache; in Enid gab es Leben und Hoffnung und Freude, die es zu bewahren galt. Der alte Mann dagegen hatte abgewirtschaftet.

Andererseits war Gary nicht darauf versessen, irgendwann einen Schuss zu hören, nach unten zu gehen und in ein Blutmeer hineinzuwaten. Genauso wenig wollte er, dass seiner Mutter das widerfuhr.

Und dennoch, so fürchterlich der Schlamassel auch wäre — die Lebensqualität seiner Mutter würde daraufhin einen Quantensprung nach oben machen.

Gary öffnete die Schachtel Patronen, die auf dem Tisch lag, und sah, dass keine fehlte. Er wünschte, jemand anders, nicht er, hätte bemerkt, dass Alfred sich das Gewehr aus dem Schuppen geholt hatte. Doch seine Entscheidung, als sie denn gefallen war, stand so klar in seinem Kopf, dass er sie in der Tat laut aussprach. In die staubige, harnsaure, dumpfe Stille des Labors hinein sagte er: «Wenn es das ist, was du willst, bitte sehr. Ich halte dich nicht davon ab.»

Bevor er Löcher in die Wand bohren konnte, musste er die Regale des kleinen Badezimmerschranks leer räumen. Das allein war eine Aufgabe von beträchtlichem Umfang. In einem Schuhkarton hatte Enid jedes einzelne Wattebällchen aufgehoben, das sie je aus einer Flasche Aspirin oder verschreibungspflichtiger Medizin herausgenommen hatte. Da waren fünfhundert, vielleicht tausend Wattebällchen. Und versteinerte, halb ausgedrückte Salbentuben. Und Plastikkaraffen und Plastikbesteck (in noch schlimmeren Farben als Beige, falls das überhaupt möglich war) von Enids drei Krankenhausaufenthalten, einer Fußoperation, einer Knieoperation und einer Venenentzündung. Und niedliche Fläschchen essigsaure Tonerde und Zinksulfat-Tinktur, die irgendwann in den sechziger Jahren ausgetrocknet waren. Und eine Papiertüte, die Gary, um seiner Fassung willen, rasch ganz nach hinten auf eines der oberen Regale warf, weil sich anscheinend uralte Monatsbinden und Monatsbindenhalter darin befanden.

Das Tageslicht schwand bereits, als er den Schrank ausgeräumt hatte und beginnen konnte, die sechs Löcher zu bohren. Jetzt erst stellte er fest, dass die alten Bohraufsätze stumpf wie Niete waren. Er lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Bohrmaschine, die Spitze des Aufsatzes wurde bläulich schwarz und verlor ihren Biss, und der alte Bohrer begann zu qualmen. Schweiß rann Gary über Gesicht und Brust.

Genau diesen Augenblick wählte Alfred, um das Badezimmer zu betreten. «Na, sieh mal einer an», sagte er.

«Ziemlich stumpfe Bohraufsätze, die du da hast», sagte Gary schwer atmend. «Ich hätte neue kaufen sollen, als ich im Laden war.»

«Zeig mal her.»

Den alten Mann und dessen Vorhut, die fünffingrigen Zwillingstiere, herbeizulocken war nicht Garys Absicht gewesen. Er scheute vor der Untauglichkeit und der Gier dieser Hände zurück, doch Alfreds Augen waren jetzt starr auf den Bohrer gerichtet, und sein Gesicht leuchtete, weil er die Chance witterte, ein Problem zu lösen. Gary gab den Bohrer her. Er fragte sich, wie sein Vater, so heftig, wie der Bohrer wackelte, überhaupt erkennen konnte, was er in den Händen hielt. Die Finger des alten Mannes krochen über die mattierte Oberfläche, tasteten umher wie augenlose Würmer.

«Du hast ihn auf Linkslauf gestellt», sagte er.

Mit seinem rissigen gelben Daumennagel legte Alfred den Schalter auf Rechtslauf um und gab Gary den Bohrer wieder, und zum ersten Mal seit seiner Ankunft trafen sich ihre Blicke. Das Frösteln, das Gary verspürte, kam nicht nur vom kühlenden Schweiß. Der alte Mann, dachte er, hat in seinem Oberstübchen doch noch ein paar Lampen brennen. Alfred sah richtig glücklich aus: glücklich, weil er etwas in Ordnung gebracht hatte, und noch glücklicher, vermutete Gary, weil er hatte beweisen können, dass er, in diesem geringfügigen Punkt, cleverer war als sein Sohn.

«Da siehst du mal, warum ich nicht Ingenieur geworden bin», sagte Gary.

«Was wird das hier?»

«Ich bringe einen Haltegriff an. Wenn wir auch noch einen Hocker reinstellen, benutzt du die Dusche dann?»

«Ich weiß nicht, was sie mit mir vorhaben», sagte Alfred, schon fast aus der Tür.

Das war mein Weihnachtsgeschenk, rief Gary ihm im Stillen hinterher. Das Umlegen des Schalters war mein Geschenk für dich.

Eine Stunde später war er im Badezimmer fertig und schon wieder schlecht gelaunt. Enid hatte an seiner Platzierung des Griffs herumgemäkelt, und als Alfred von ihm aufgefordert worden war, den neuen Hocker auszuprobieren, hatte der alte Mann verkündet, er ziehe Baden vor.

«Ich habe meinen Teil getan, und das war's», sagte Gary in der Küche, wo er sich einen Drink eingoss. «Morgen mache ich, wozu ich Lust habe.»

«Es ist herrlich geworden, eine große Verbesserung», sagte Enid.

Gary goss sich ordentlich ein. Goss und goss.

«Ach, Gary», sagte sie, «ich dachte, wir könnten den Sekt von Bea trinken.»

«Oh, lieber nicht», sagte Denise, die einen Stollen, einen Napfkuchen und zwei Laib Käsebrot gebacken hatte und jetzt, wenn Gary sich nicht täuschte, Polenta und geschmortes Kaninchen zubereitete. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war es das erste Mal, dass diese Küche ein Kaninchen zu sehen bekam.

Enid kehrte zu ihrem Beobachtungsposten am Esszimmerfenster zurück. «Ich bin beunruhigt, weil er nicht anruft», sagte sie.

Gary, dessen Gliazellen nach der ersten alkoholischen Ölung behaglich schnurrten, gesellte sich zur ihr. Er fragte sie, ob ihr Ockhams Rasiermesser ein Begriff sei.

«Ockhams Rasiermesser», sagte er mit cocktailseliger Schulmeisterlichkeit, «lädt uns ein, von zwei Erklärungen für ein Phänomen die einfachere zu wählen.»

«Worauf willst du hinaus», sagte Enid.

«Ich will darauf hinaus», sagte er, «dass es vielleicht irgendeinen komplizierten, uns völlig unbekannten Grund gibt, warum er nicht angerufen hat. Oder aber einen sehr einfachen und uns allen bekannten Grund, nämlich seine sagenhafte Unzuverlässigkeit.»

«Er hat gesagt, er kommt, und er hat gesagt, er ruft an», antwortete Enid tonlos. «Er hat gesagt, ‹ich komme nach Hause›.»

«Na schön. Bestens. Bleib am Fenster stehen. Ganz, wie du willst.»

Da er die Familie zum Nussknacker chauffieren sollte, konnte Gary vor dem Abendessen nicht so viel trinken, wie er es vielleicht gern getan hätte. Deshalb trank er umso mehr, als sie vom Ballett zurück waren, und Alfred, praktisch im Laufschritt, nach oben verschwand und Enid ihr Lager unten im Arbeitszimmer aufschlug, weil sie wollte, dass alle in der Nacht auftretenden Probleme von ihren Kindern bewältigt würden. Gary trank Scotch und meldete sich bei Caroline. Er trank Scotch und suchte überall im Haus nach Denise und fand keine Spur von ihr. Aus seinem eigenen Zimmer holte er die Weihnachtsgeschenke, die er mitgebracht hatte, und verteilte sie unter dem Baum. Er schenkte allen das Gleiche: ein ledergebundenes Exemplar der Zweihundert definitiven Lamberts. Es hatte ihn viel Mühe gekostet, die vielen Bilder rechtzeitig zu Weihnachten abziehen zu lassen, und jetzt, wo das Album fertig war, wollte er seine Dunkelkammer ausräumen und einen Teil der Axongewinne dafür verwenden, im ersten Stock der Garage eine Modelleisenbahnanlage aufzubauen. Dieses Hobby hatte er sich selbst ausgesucht, und nicht ein anderer für ihn, und als er seinen scotchbenebelten Kopf auf das kalte Kissen legte und in seinem früheren Kinderzimmer in St. Jude das Licht löschte, ergriff ihn bei dem Gedanken, Züge durch Pappmacheberge und über hohe Eisstielbrücken fahren zu lassen, eine alte, vertraute Erregung…

Er träumte von zehn Weihnachten in seinem Elternhaus. Er träumte von Zimmern und Menschen, Zimmern und Menschen. Er träumte, dass Denise gar nicht seine Schwester war und vorhatte, ihn zu töten. Seine einzige Hoffnung war die Schrotflinte im Keller. Er war gerade dabei, diese Schrotflinte zu untersuchen, sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich geladen war, als er hinter sich in der Werkstatt die Anwesenheit des Bösen spürte. Er wandte sich um und erkannte Denise nicht. Die Frau, die er sah, war eine andere Frau, die er töten musste, wenn er nicht selbst getötet werden wollte. Doch da war kein Widerstand am Abzug der Schrotflinte; er wackelte, schlaff und nutzlos, hin und her. Die Schrotflinte war auf Linkslauf gestellt, und bevor Gary den Schalter auf Rechtslauf umlegen konnte, kam die Frau bereits auf ihn zu, um ihn zu töten — Er wachte auf, weil er pinkeln musste. Die Finsternis in seinem Zimmer wurde einzig von den Leuchtziffern auf dem digitalen Radiowecker durchbrochen, doch Gary schaute nicht hin, wollte gar nicht wissen, wie früh es noch war. Undeutlich konnte er den Laib von Chips altem Bett an der gegenüberliegenden Wand sehen. Die Stille des Hauses wirkte, als würde sie nicht lange anhalten. Unfriedlich und wie gerade erst eingetreten.

Vorsichtig, um diese Stille nicht zu stören, stand Gary auf und schlich zur Tür; und hier befiel ihn das Grauen. Er hatte Angst, die Tür zu öffnen.

Angestrengt lauschend, versuchte er auszumachen, was sich dahinter abspielte. Er meinte, ein Geraschel und Geschleiche zu hören, ferne Stimmen.

Er hatte Angst, ins Bad zu gehen, weil er nicht wusste, was er dort vorfinden würde. Er hatte Angst, die falsche Person, seine Mutter vielleicht, oder seine Schwester oder seinen Vater, bei sich im Bett zu finden, wenn er zurückkam.

Jetzt war er überzeugt, dass sich draußen auf dem Flur Menschen regten. In seinem benebelten, nicht ganz wachen Zustand verknüpfte er die Denise, die sich in Luft aufgelöst hatte, bevor er ins Bett gegangen war, mit dem Denise-Phantom, das ihn im Traum hatte töten wollen.

Die Möglichkeit, dass die Phantom-Mörderin im Flur auf der Lauer lag, schien nur zu neunzig Prozent phantastisch.

Da war es in jeder Beziehung sicherer, dachte er, im Zimmer zu bleiben und in einen der dekorativen österreichischen Bierkrüge zu pinkeln, die auf seiner Kommode standen.

Aber was, wenn sein Geplätscher die Aufmerksamkeit dessen auf sich zog, der da draußen vor seiner Tür herumschlich?

Auf Zehenspitzen verschwand er mit dem Bierkrug in einem der begehbaren Kleiderschränke, die Chip und er, nachdem Denise in das kleinere Zimmer umgezogen war und sie sich ein Zimmer hatten teilen müssen, gemeinsam benutzt hatten. Er schloss die Schranktür, drängte sich an die chemisch gereinigten Kleider und die vor Krimskrams berstenden Nordstrom-Tüten, die Enid hier neuerdings aufbewahrte, und erleichterte sich. Er legte eine Fingerkuppe über den Rand des Bierkrugs, damit er rechtzeitig merkte, wann der Krug überzulaufen drohte. Gerade als die Wärme des ansteigenden Urins diese Fingerkuppe erreichte, war seine Blase endlich leer. Er stellte den Krug behutsam auf dem Schrankboden ab, zog einen Briefumschlag aus einer Nordstrom-Tüte und deckte das Gefäß damit zu.

Dann, leise, leise, wagte er sich aus dem Schrank hervor und setzte sich aufs Bett. Als er gerade seine Beine herumschwingen wollte, hörte er Denise' Stimme. Sie war so laut wie bei einem Gespräch und so deutlich, dass er hätte meinen können, seine Schwester sei bei ihm im Zimmer.

«Gary?», sagte sie.

Er versuchte, sich nicht zu bewegen, doch die Matratzenfedern quietschten.

«Gary? Tut mir Leid, dass ich dich störe. Bist du wach?» Jetzt blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als aufzustehen und die Tür zu öffnen. Denise stand gleich dahinter, bekleidet mit einem weißen Flanellpyjama und in einen Lichtstrahl getaucht, der aus ihrem Zimmer in den Flur fiel. «Tut mir Leid», sagte sie. «Dad ruft die ganze Zeit nach dir.»

«Gary!», kam Alfreds Stimme aus dem Badezimmer neben Denise' Zimmer.

Gary fragte, klopfenden Herzens, wie spät es sei. «Keine Ahnung», sagte sie. «Ich bin aufgewacht, weil er dauernd nach Chip gerufen hat. Dann hat er angefangen, nach dir zu rufen. Nach mir nicht. Ich glaube, vor euch ist es ihm weniger unangenehm.»

Erneut roch ihr Atem nach Zigaretten. «Gary? Gary!», tönte es aus dem Badezimmer. «So ein Mist», sagte Gary. «Vielleicht liegt es an seinen Medikamenten.» «Quatsch.»

Aus dem Badezimmer: «Gary!» «Ja, Dad, ist gut, ich komme schon.»

Enids körperlose Stimme schwebte vom Fuß der Treppe zu ihnen herauf.

«Gary, hilf deinem Vater.»

«Ja, Mom. Bin schon dabei. Leg dich wieder hin.» «Was will er denn?» «Leg dich einfach wieder hin.»

Als er über den Flur ging, konnte er den Weihnachtsbaum und den Kamin riechen. Er klopfte an die Badezimmertür und öffnete sie. Sein Vater stand in der Badewanne, von der Taille abwärts nackt, auf dem Gesicht der blanke Wahnsinn. Gesichter wie dieses hatte Gary bislang vor allem an den Bushaltestellen und auf den Burger-King-Toiletten im Stadtzentrum Philadelphias gesehen.

«Gary», sagte Alfred, «sie sind überall.» Der alte Mann deutete mit einem zitternden Finger auf den Boden. «Siehst du ihn?»

«Dad, du halluzinierst.»

«Fang ihn! Fang ihn!»

«Du halluzinierst, und es ist Zeit, dass du da rauskommst und wieder ins Bett gehst.»

«Siehst du sie?»

«Du halluzinierst. Leg dich wieder ins Bett.»

So ging es eine ganze Weile, zehn oder fünfzehn Minuten, ehe es Gary gelang, Alfred aus dem Bad zu lotsen. Im Elternschlafzimmer brannte ein Licht, und mehrere unbenutzte Windeln lagen verstreut auf dem Boden. Sein Vater schien, obwohl er wach war, einen Traum zu haben, der Garys eigenem Traum von Denise an Lebendigkeit in nichts nachstand, nur dass Alfred, um daraus aufzuwachen, nicht eine halbe Sekunde brauchte, so wie er, sondern eine halbe Stunde.

«Was ist ‹halluzinieren›?», fragte Alfred schließlich.

«Es ist, als ob du träumst, dabei bist du die ganze Zeit wach.»

Alfred zuckte zusammen. «Das macht mir Sorgen.»

«Tja. Sollte es auch.»

«Hilf mir mit der Windel.»

«Ja, gut», sagte Gary.

«Ich mache mir Sorgen, dass irgendetwas mit meinem Kopf nicht in Ordnung ist.»

«Ach, Dad.»

«Mein Verstand scheint nicht richtig zu funktionieren.»

«Ich weiß. Ich weiß.»

Aber Gary, da mitten in der Nacht, war selbst mit der Krankheit seines Vaters infiziert. Während die beiden sich gemeinschaftlich dem Problem der Windel widmeten, die sein Vater mehr als verrückten Gesprächsstoff zu betrachten schien denn als ein Stück Unterwäsche, das anzuziehen war, verstärkte sich Garys Gefühl, dass die Dinge um ihn herum sich auflösten und die Nacht aus Geschleiche und Geraschel und Metamorphosen bestand. Er meinte, jenseits der Schlafzimmertür viel mehr als zwei Personen zu hören; er spürte die Gegenwart einer ganzen Horde von Phantomen, die er nur undeutlich ausmachen konnte.

Als Alfred sich hinlegte, fiel ihm sein Eisbärenhaar in die Stirn. Gary zog ihm die Decke bis über die Schultern. Es war schwer zu glauben, dass er sich erst drei Monate zuvor mit diesem Mann gestritten, ihn als Gegner ernst genommen hatte.

Sein Radiowecker stand auf 2:55, als Gary in sein Zimmer zurückkehrte. Das Haus war wieder ruhig, Denise' Tür geschlossen, das einzige Geräusch ein Sattelschlepper auf der nur einige hundert Meter entfernten Schnellstraße. Gary fragte sich, warum sein Zimmer — schwach — nach jemandes Zigarettenatem roch.

Vielleicht war es gar kein Zigarettenatem. Vielleicht war es der österreichische Bierkrug voll Pisse, den er auf dem Boden des Kleiderschranks hatte stehen lassen!

Der morgige Tag, dachte er, gehört mir. Morgen ist Garys freier Tag. Und Donnerstagvormittag wird hier endlich Tabula rasa gemacht. Dann setzen wir dieser Farce ein Ende.

Nachdem sie von Brian Callahan gefeuert worden war, hatte Denise sich mit dem Tranchiermesser zerteilt und die Stücke vor sich auf den Tisch gelegt. Sie erzählte sich die Geschichte einer Tochter, deren Familie solchen Heißhunger auf eine Tochter verspürte, dass sie sie, wäre sie nicht davongelaufen, bei lebendigem Leibe verspeist hätte. Sie erzählte sich die Geschichte einer Tochter, die, in ihrem verzweifelten Wunsch zu entkommen, Zuflucht bei allem gesucht hatte, was auch nur vorübergehend Schutz versprach — dem Beruf der Köchin, einer Ehe mit Emile Berger, einem Alte-Leute-Leben in Philadelphia, einer Affäre mit Robin Passafaro. Kein Wunder, dass sich all diese Unterstände, in Eile gewählt, auf lange Sicht als unbrauchbar erwiesen. Indem sich die Tochter vor dem Heißhunger ihrer Familie retten wollte, erreichte sie genau das Gegenteil: Sie sorgte dafür, dass ihr Leben just in dem Moment, wo der Hunger ihrer Familie auf dem Höhepunkt angelangt war, in Stücke ging und sie, ohne Mann, ohne Kinder, ohne Arbeit, ohne Verpflichtungen, vollkommen wehrlos dastand. Es war, als hätte sie es von Anfang an darauf angelegt, gerade dann, wenn ihre Eltern Pflege brauchten, auch verfügbar zu sein.

Unterdessen hatten ihre Brüder es darauf angelegt, gerade dann nicht verfügbar zu sein. Chip war in Osteuropa untergetaucht, und Gary ließ sich von Caroline am Gängelband führen. Sicher, Gary «übernahm Verantwortung» für seine Eltern, doch für ihn hieß Verantwortung übernehmen so viel wie einschüchtern und herumkommandieren. Die Aufgabe, Enid und Alfred zuzuhören und geduldig und verständnisvoll zu sein, lastete allein auf den Schultern der Tochter. Denise sah sich schon als das einzige Kind beim Weihnachtsessen in St. Jude, und auch als das einzige Kind, das in den Wochen und Monaten und Jahren danach zur Stelle wäre. Taktvoll, wie ihre Eltern waren, baten sie sie nicht, bei ihnen einzuziehen, aber Denise wusste, dass sie es sich wünschten. Seit sie ihren Vater für die Testphase zwei von Korrektal angemeldet und ihn eingeladen hatte, bei ihr zu wohnen, war Enid ihr gegenüber lammfromm geworden. Nie wieder hatte sie ihre ehebrecherische Freundin Norma Greene erwähnt. Nie hatte sie Denise gefragt, warum sie ihren Job beim Generator «aufgegeben» habe. Enid war in Schwierigkeiten, ihre Tochter erbot sich, ihr zu helfen, da konnte sie sich den Luxus, an ihr herumzunörgeln, nicht länger leisten. Und nun war, jedenfalls in der Geschichte, die Denise sich über sich selbst erzählte, die Zeit gekommen, da die Meisterköchin sich mit dem Tranchiermesser zerteilen und die Stücke an ihre hungrigen Eltern verfüttern musste.

In Ermangelung einer besseren Geschichte glaubte sie diese beinahe. Der einzige Haken daran war, dass sie sich darin nicht wieder erkannte.

Wenn sie eine weiße Bluse, einen gediegenen grauen Hosenanzug, roten Lippenstift und eine schwarze Pillbox mit kleinem schwarzem Schleier trug, dann erkannte sie sich wieder. Wenn sie ein ärmelloses weißes T-Shirt und Jeans anzog und ihr Haar so straff zu einem Pferdeschwanz zurückband, dass ihr der Kopf wehtat, erkannte sie sich wieder. Wenn sie Silberschmuck, türkisen Lidschatten, Leichenlippen-Nagellack, einen schreiend pinkfarbenen Pullover und orange Turnschuhe trug, erkannte sie sich als einen lebendigen Menschen wieder und war atemlos vor Glück, so lebendig zu sein.

Sie fuhr nach New York, um im Food Channel aufzutreten, und besuchte am Abend einen jener Clubs für Leute wie sie, die gerade erst anfingen, klar zu sehen, aber noch üben mussten. Sie wohnte bei Julia Vrais in deren umwerfendem Apartment an der Hudson Street. Julia berichtete, sie habe während ihres Scheidungsverfahrens, bei der Offenlegung wichtiger Dokumente, erfahren, dass Gitanas Misevicius das Apartment mit Geldern der litauischen Regierung bezahlt habe.

«Gitanas' Anwälte behaupten, das sei keine Unterschlagung, sondern ein ‹Versehen› gewesen», erzählte Julia Denise, «aber es fällt mir schwer, das zu glauben.»

«Heißt das, man wird dir das Apartment wegnehmen?»

«Nein», sagte Julia, «es erhöht sogar die Wahrscheinlichkeit, dass ich es einfach so behalten darf. Trotzdem, das ist doch schrecklich! Meine Wohnung gehört nach Recht und Gesetz dem litauischen Volk!»

Im Gästezimmer waren es dreißig Grad. Julia holte eine dicke Daunendecke und fragte Denise, ob sie noch eine Wolldecke haben wolle.

«Danke, das reicht völlig», sagte Denise.

Julia gab ihr ein Flanelllaken und vier Kissen mit Flanellbezügen. Sie fragte, wie es Chip in Vilnius gehe.

«Es klingt, als wären er und Gitanas die besten Freunde.»

«Ich möchte nicht wissen, was die beiden über mich reden», sagte Julia versonnen.

Sie halte es für wahrscheinlicher, sagte Denise, dass Chip und Gitanas das Thema ganz und gar meiden würden.

Julia runzelte die Stirn. «Warum sollten sie nicht über mich reden?»

«Na ja, immerhin hast du sie beide ziemlich böse abblitzen lassen.»

«Aber sie könnten sich doch darüber austauschen, wie sehr sie mich hassen!»

«Ich glaube nicht, dass dich jemand hassen kann.»

«Ehrlich gesagt, hatte ich Angst, du könntest mich hassen, weil ich mich von Chip getrennt habe.»

«Nein, da war ich ganz leidenschaftslos.»

Offensichtlich erleichtert, das zu hören, vertraute Julia Denise an, dass sie jetzt öfter mit einem netten, wenn auch kahlköpfigen Rechtsanwalt ausgehe, den sie über Eden Procuro kennen gelernt habe. «Ich fühle mich geborgen bei ihm», sagte sie. «Er hat so ein selbstsicheres Auftreten in Restaurants. Und er hat unheimlich viel zu tun, sodass er nicht ständig, wie soll ich sagen, hinter mir her ist.»

«Weißt du», sagte Denise, «je weniger du mir von Chip und dir erzählst, desto besser.»

Als Julia sie dann fragte, ob eigentlich auch sie mit jemandem zusammen sei, hätte es nicht so schwer sein müssen, ihr von Robin Passafaro zu erzählen, aber es war schwer. Denise wollte ihre Freundin nicht in Verlegenheit bringen, wollte ihre Stimme nicht vor lauter Mitgefühl klein und weich werden hören. Sie wollte Julias Gesellschaft in all ihrer gewohnten Unschuld in sich aufsaugen, und deshalb sagte sie: «Ich bin mit niemandem zusammen.»

Mit niemandem außer, in der nächsten Nacht, in einer sapphischen Paschahöhle zweihundert Schritte von Julias Apartment entfernt, einer Siebzehnjährigen, die gerade im Bus aus Pittsburgh, New York, gestiegen war und eine irrwitzige Frisur und jeweils 800 Punkte in ihren zwei kürzlich abgelegten College-Eignungstests hatte (den offiziellen Ausdruck ihrer Ergebnisse trug sie mit sich herum wie eine Bescheinigung ihrer Zu- oder auch Unzurechnungsfähigkeit), sowie in der übernächsten Nacht, mit einer Studentin der Religionswissenschaft von der Columbia-Universität, deren Vater (behauptete sie jedenfalls) die größte Samenbank in Südkalifornien betrieb.

Als das geschafft war, begab sich Denise in ein Midtown- Studio und ließ dort ihren Gastauftritt in der Sendung Pop-Food für Leute von heute aufzeichnen, bei dem sie Lammfleisch-Ravioli und andere Märe-Scuro-Gerichte zubereitete. Sie traf sich mit einigen der New Yorker, die versucht hatten, sie Brian abspenstig zu machen — einem Billionärsehepaar aus der Central Park West Avenue, das sich ein Lehnsverhältnis mit ihr vorstellte, einem Münchner Bankier, der glaubte, sie sei der Weißwurst-Messias und könne die deutsche Küche in Manhattan zu ihrem einstigen Ruhm zurückführen, und einem jungen Gastronomen, Nick Razza, der ihr imponierte, indem er alle Gerichte, die er im Mare Scuro und im Generator gegessen hatte, der Reihe nach aufzählte und bis auf die letzte Zutat auseinander nahm. Razza stammte aus einer Lieferantenfamilie in New Jersey und hatte bereits ein beliebtes Fischrestaurant in der Upper East Side. Nun wollte er den Sprung in die kulinarische Szene der Smith Street in Brooklyn wagen und dort ein weiteres Lokal eröffnen, wenn möglich mit Denise in der Hauptrolle. Denise bat ihn um eine Woche Bedenkzeit. An einem sonnigen Herbstsonntag fuhr sie am Nachmittag mit der U-Bahn hinaus nach Brooklyn, das ihr wie ein besseres Philadelphia vorkam, gerettet durch die Nähe zu Manhattan. In einer halben Stunde sah sie hier mehr schöne, interessante Frauen als bei sich zu Hause in einem halben Jahr. Sah deren Brownstones und deren schicke Stiefel.

Auf der Rückfahrt, per Amtrak, fragte sie sich wehmütig, warum sie sich so lange in Philadelphia verkrochen hatte. Der kleine U-Bahnhof unterhalb des Rathauses war leer und widerhallend wie ein eingemottetes Schlachtschiff; Fußboden und Wände und Holzbalken und Geländer, alles war grau gestrichen. Herzzerreißend der kleine Zug, der schließlich, nach fünfzehn Minuten, mit Passagieren, die in ihrer Geduld und Vereinzelung weniger Pendlern als Patienten in der Notaufnahme glichen, am Bahnsteig hielt. Aus dem Schacht des Federal-Street-Bahnhofs auftauchend, fand sich Denise zwischen Platanenblättern und zerrissenen Hamburger-Schachteln wieder, die in Wellen über den Bürgersteig der Broad Street fegten und gegen die bepinkelten Fassaden und vernagelten Fenster wirbelten und am Ende, zwischen den am Straßenrand parkenden Autos mit ihren Epoxydharz-Kotflügeln, liegen blieben. Die urbane Leere Philadelphias, die Hegemonie von Wind und Himmel kamen ihr wie verzaubert vor. Narnisch. Sie liebte Philadelphia, wie sie Robin Passafaro liebte: Das Herz ging ihr über, und ihre Sinne waren geschärft, doch ihr Kopf fühlte sich an, als müsse er im Vakuum ihrer Einsamkeit jeden Moment zerspringen.

Sie öffnete die Tür zu ihrem Backsteingefängnis und sammelte die Post vom Boden auf. Unter den zwanzig Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter war auch eine von Robin Passafaro, die das Schweigen brach und fragte, ob Denise nicht Lust habe, «ein bisschen zu plaudern», außerdem eine von Emile Berger, der sie höflich informierte, dass er Brian Callahans Angebot, Küchenchef vom Generator zu werden, angenommen habe und wieder nach Philadelphia ziehe.

Als sie das hörte, trat Denise mit dem Fuß gegen die gekachelte Südwand ihrer Küche, bis sie fürchtete, sich den großen Zeh gebrochen zu haben. «Ich muss hier weg!», sagte sie.

Doch wegzukommen war gar nicht so einfach. Robin hatte einen Monat Zeit gehabt, sich zu beruhigen und sich darüber klar zu werden, dass sie sich, wenn es denn eine Sünde war, mit Brian zu schlafen, selbst genauso schuldig gemacht hatte wie Denise. Brian hatte sich ein Loft in Olde City gemietet, und Robin war, wie von Denise vorausgesehen, fest entschlossen, das Sorgerecht für Sinead und Erin zu erhalten. Um ihre Position zu stärken, rührte sie sich nicht aus dem großen Haus in der Panama Street und widmete sich noch einmal ganz dem Muttersein. Tagsüber jedoch, wenn die Mädchen in der Schule waren, und an den Samstagen, wenn Brian etwas mit ihnen unternahm, hatte sie Zeit für sich, und nach reiflicher Überlegung entschied sie, dass diese Zeit sich am besten im Bett von Denise verbringen lasse.

Denise schaffte es noch immer nicht, zur Robin-Droge nein zu sagen. Sie sehnte sich noch immer nach Robins Händen auf ihr und an ihr und unter ihr und in ihr, jenem präpositionalen Smörgåsbord. Aber irgendetwas an Robin — vielleicht ihre Neigung, sich selbst für das, was andere ihr antaten, die Schuld zu geben — forderte zu Betrug und Kränkung geradezu heraus. Denise rauchte gegen ihre sonstige Gewohnheit neuerdings im Bett, weil Zigarettenqualm Robins Augen reizte. Sie warf sich in Schale, wenn sie mit Robin zum Mittagessen verabredet war, sie tat ihr Bestes, um Robins Uneleganz herauszustreichen, und erwiderte die Blicke jedes Mannes und jeder Frau, die sich nach ihr umdrehten. War Robins Stimme zu laut, zuckte sie sichtbar zusammen. Sie benahm sich, wie ein pubertierendes Mädchen sich seinen Eltern gegenüber benimmt, nur dass ein pubertierendes Mädchen nicht anders kann, als die Augen zu rollen, während Denise' Verachtung eine bewusste, kalkulierte Form der Grausamkeit war. Sie herrschte Robin an, sich doch zusammenzureißen, wenn sie miteinander im Bett waren und Robin selbstvergessen zu schreien anfing. Sie sagte: «Sei nicht so laut. Bitte. Bitte.» Von ihrer eigenen Grausamkeit berauscht, starrte sie auf Robins Gore-Tex-Regenjacke, bis Robin fragte, was denn los sei. Denise sagte: «Ich würde bloß gern wissen, ob du je versucht bist, ein bisschen schicker auszusehen.» Robin antwortete, dass sie nie im Leben schick sein werde und es deshalb genauso gut richtig bequem haben könne. Denise erlaubte sich, die Lippen zu schürzen.

Robin wollte ihre Geliebte unbedingt wieder mit Sinead und Erin zusammenbringen, doch aus Gründen, die Denise selbst nicht völlig klar waren, weigerte sie sich, die Mädchen zu besuchen. Sie wusste nicht, wie sie ihnen unter die Augen treten sollte; schon beim Gedanken an einen Vier-Mädel-Haushalt wurde ihr schlecht.

«Sie vergöttern dich», sagte Robin.

«Ich kann das nicht.»

«Warum?»

«Weil mir nicht danach ist. Darum.»

«Na gut. Egal.»

«Wie lange willst du das Wort ‹egal› eigentlich noch benutzen? Meinst du, dass du es irgendwann mal ausrangierst? Oder ist es dein Wort fürs Leben?»

«Denise, sie vergöttern dich», quiekte Robin. «Du fehlst ihnen. Und früher hast du doch so gern was mit ihnen unternommen.»

«Tja, im Moment bin ich eben nicht in Kinderlaune. Keine Ahnung, ob ich's je wieder sein werde. Also hör bitte auf, mich zu fragen.»

Spätestens jetzt wäre die Botschaft bei den meisten Menschen angekommen; die meisten Menschen hätten das Feld geräumt und sich nie wieder blicken lassen. Doch Robin fand Geschmack daran, grausam behandelt zu werden, das wurde immer deutlicher. Robin sagte, und Denise glaubte es ihr sogar, sie hätte sich nie von Brian getrennt, wenn Brian sich nicht von ihr getrennt hätte. Robin gefiel es, bis auf einen Mikrometer vor dem Orgasmus geleckt und gestreichelt und dann verstoßen zu werden und betteln zu müssen. Und Denise gefiel es, ihr das anzutun. Denise gefiel es, aufzustehen und sich anzuziehen und nach unten zu gehen, während Robin auf sexuelle Erlösung wartete, denn niemals hätte sie geschummelt und selbst Hand angelegt. Denise saß in der Küche, las ein Buch und rauchte, bis Robin, gedemütigt, zitternd, zu ihr herunterkam und bettelte.

Die Verachtung, die Denise dann empfand, war so rein und so stark, dass sie fast besser war als Sex.

Und so ging es immer weiter. Je bereitwilliger Robin sich erniedrigen ließ, umso mehr genoss es Denise, sie zu erniedrigen. Sie ignorierte Nick Razzas telefonische Nachrichten. Sie blieb bis zwei Uhr nachmittags im Bett. Ihre Gewohnheit, nur in Gesellschaft zu rauchen, trieb Blüten der Sucht. Sie gab sich einer fünfzehn Jahre angestauten Faulheit hin und lebte von ihrem Sparkonto. Tag für Tag dachte sie an all die Dinge, die sie tun müsste, um das Haus für die Ankunft ihrer Eltern herzurichten — einen Haltegriff in der Dusche anbringen, einen Teppich auf der Treppe legen lassen, Möbel für das Wohnzimmer kaufen, einen besseren Küchentisch suchen, jemanden bitten, ihr Bett aus dem zweiten Stock nach unten, ins Gästezimmer, zu tragen — , nur um am Ende zu beschließen, dass ihr die Energie zu alledem fehlte. Ihr Leben bestand darin zu warten, bis das Henkersbeil fiel. Wenn ihre Eltern für sechs Monate zu ihr kamen, hatte es gar keinen Sinn, vorher noch etwas anderes auf die Beine zu stellen. Sie müsste ihr ganzes Nichtstun jetzt erledigen. Was genau ihr Vater von Korrektal hielt, war schwer zu sagen. Als sie ihn ein einziges Mal, am Telefon, danach gefragt hatte, war er die Antwort schuldig geblieben.

«Al?», hatte Enid nachgeholfen. «Denise möchte wissen, WAS DU VON KORREKTAL HÄLTST.»

Alfreds Stimme klang bitter. «Man sollte meinen, sie hätten sich einen besseren Namen ausdenken können.»

«Es wird ganz anders geschrieben», sagte Enid. «Denise möchte wissen, OB DU DICH AUF DIE BEHANDLUNG FREUST.» Schweigen.

«Sag ihr, wie sehr du dich freust, Al.»

«Ich stelle fest, dass mein Leiden mit jeder Woche ein bisschen schlimmer wird. Was soll eine weitere Pille schon groß daran ändern können.»

«Al, es ist keine Pille, sondern eine völlig neue Therapie, die auf deinem Patent fußt!»

«Ich habe gelernt, mich mit einem gewissen Maß an Optimismus abzufinden. Also. Wir machen alles wie geplant.»

«Denise», sagte Enid, «ich kann dir ganz viel im Haushalt helfen. Ich werde mich um alle Mahlzeiten und um die ganze Wäsche kümmern. Das wird bestimmt ein richtiges Abenteuer! Es ist einfach herrlich, dass du das für uns tun willst.»

Denise konnte sich nicht vorstellen, sechs Monate in einem Haus mit ihren Eltern zu verbringen, noch dazu in einer Stadt, mit der sie abgeschlossen hatte: sechs Monate Unsichtbarkeit als jene gastfreundliche, pflichtbewusste Tochter, die zu sein sie kaum noch heucheln konnte. Aber sie hatte ein Versprechen abgegeben; und so ließ sie ihre Wut an Robin aus.

Am Samstagabend vor Weihnachten saß sie in ihrer Küche und blies Robin Rauch ins Gesicht, während Robin sie mit Aufheiterungsversuchen verrückt machte.

«Dass du deine Eltern einlädst, bei dir zu wohnen, ist doch ein Riesengeschenk für sie», sagte Robin.

«Das könnte es sein, wenn ich nicht so ein Wrack wäre», sagte Denise. «Man sollte nur anbieten, was man auch geben kann.»

«Das kannst du ja», sagte Robin. «Ich helfe dir dabei. Ich kann deinem Dad einige Vormittage Gesellschaft leisten, damit deine Mom mal Pause hat, und du kannst dann losgehen und tun, was immer du willst. Ich komme drei- oder viermal die Woche.» In Denise' Augen wurde die Aussicht auf diese Vormittage durch Robins Angebot nur noch trostloser und beklemmender. «Verstehst du denn nicht?», sagte sie. «Ich hasse dieses Haus. Ich hasse diese Stadt. Ich hasse mein Leben hier. Ich hasse Familie. Ich hasse Heimat. Ich will hier raus. Ich bin kein guter Mensch. Und so zu tun, als wär ich einer, macht alles nur noch schlimmer.»

«Ich finde, du bist ein guter Mensch», sagte Robin. «Ich behandle dich wie den letzten Dreck! Ist dir das überhaupt noch nicht aufgefallen?»

«Das liegt daran, dass du so unglücklich bist.» Robin kam um den Tisch herum und versuchte, ihr die Hand auf die Schulter zu legen; Denise stieß sie mit dem Ellbogen weg. Robin versuchte es erneut, und diesmal traf Denise sie mit den Knöcheln ihrer offenen Hand mitten auf der Wange.

Karmesinrot im Gesicht, als blute sie innerlich, rückte Robin von ihr ab. «Du hast mich geschlagen», sagte sie. «Das weiß ich selbst.»

«Du hast mich ziemlich hart geschlagen. Warum hast du das getan?»

«Weil ich dich hier nicht haben will. Ich will nicht Teil von deinem Leben sein. Von deinem nicht und auch von keinem anderen. Ich habe es satt, mir dabei zuzugucken, wie grausam ich zu dir bin.»

Ineinander greifende Schwungräder des Stolzes und der Liebe rotierten hinter Robins Augen. Es dauerte eine Weile, ehe sie sich gefasst hatte. «Also schön», sagte sie. «Ich lasse dich in Ruhe.»

Denise machte nichts, um sie zum Bleiben zu bewegen, doch als sie die Haustür ins Schloss fallen hörte, wurde ihr klar, dass sie den einzigen Menschen verloren hatte, der ihr in der Zeit mit ihren Eltern hätte helfen können. Sie hatte Robins Gesellschaft verloren, ihre Tröstungen. Alles, was ihr noch vor einer Minute so verachtenswert erschienen war, wünschte sie sich jetzt zurück.

Sie flog nach St. Jude.

An ihrem ersten Tag dort, wie am ersten Tag jedes Besuchs bei ihren Eltern, wärmte sie sich an deren Wärme und tat alles, worum ihre Mutter sie bat. Sie winkte ab, als Enid ihr das Geld für den Einkauf geben wollte. Sie verkniff sich jeden Kommentar zu der Einliterflasche ranzigen gelben Kleisters, dem einzigen Olivenöl in Enids Küche. Sie trug den lavendelfarbenen Synthetik-Rollkragenpullover und die matronenhafte vergoldete Halskette, die ihre Mutter ihr kürzlich geschenkt hatte. Sie schwärmte, unaufgefordert, von den jungen Ballerinen im Nussknacker, sie hielt die behandschuhte Hand ihres Vaters, als sie den Parkplatz vorm Regionaltheater überquerten, sie liebte ihre Eltern mehr als alles andere auf der Welt; und kaum lagen die beiden im Bett, zog sie sich um und floh aus dem Haus.

Auf der Straße blieb sie stehen, eine Zigarette auf der Lippe, ein bebendes Streichholzheft (Dean & Trish ♦ 13. Juni 1987) zwischen den Fingern. Sie marschierte zu dem Rasenplatz hinter der Grundschule, wo sie und Don Armour einst gesessen und den Duft von Teichkolben und Verbenen gerochen hatten; sie stampfte mit den Füßen, rieb sich die Hände, sah die Wolken die Sternbilder verfinstern und sog mit tiefen, stärkenden Atemzügen ihr Selbst ein.

Später in der Nacht führte sie ein heimliches Manöver zugunsten ihrer Mutter durch: Während Gary mit Alfred beschäftigt war, ging sie in sein Zimmer, griff in die Innentasche seiner Lederjacke, tauschte das Mexican A gegen eine Handvoll Advils aus und ließ Enids Droge an einem sichereren Ort verschwinden, bevor sie sich, brave Tochter, endlich schlafen legte. An ihrem zweiten Tag in St. Jude, wie am zweiten Tag jedes ihrer Besuche, wachte sie wütend auf. Die Wut war ein autonomes neurochemisches Phänomen; nicht einzudämmen. Beim Frühstück setzte ihr jedes Wort, das ihre Mutter sagte, zu. Die Rippchen und das Sauerkraut nach alter Sitte zuzubereiten und nicht nach jener modernen, die sie beim Generator entwickelt hatte, machte sie wütend. (So viel Fett, so ein Substanzverlust.) Die bradykinetische Schwerfälligkeit von Enids Elektroherd, die sie tags zuvor nicht weiter gestört hatte, machte sie wütend. Die unzähligen Kühlschrankmagneten, welpenhaft-rührend in ihrer Ikonographie und derart schwach haftend, dass man kaum die Tür öffnen konnte, ohne einen Schnappschuss von Jonah oder eine Postkarte aus Wien zu Boden sausen zu lassen, trieben sie an den Rand des Wahnsinns. Sie ging in den Keller, um den alten Zehnliterkochtopf zu holen, und die Unordnung in den Waschküchenschränken brachte sie zur Weißglut. Sie zerrte einen Mülleimer aus der Garage herein und fing an, ihn mit dem Kram ihrer Mutter zu füllen. Ganz bestimmt war das hilfreich für ihre Mutter, und so machte sich Denise mit Hingabe an die Arbeit. Sie warf die koreanischen Brechbeeren weg, die fünfzig am allerwertlosesten aussehenden Plastikblumentöpfe, die Sammlung Sanddollarscherben und das Bündel Silberdollarpflanzen, von denen alle Dollars abgefallen waren. Sie warf den Kranz aus goldbesprühten Kiefernzapfen weg, den jemand auseinander gerupft hatte. Sie warf den Brandy-Kürbis-«Aufstrich» weg, der einen rotzigen Graugrünton angenommen hatte. Sie warf die neolithischen Dosen Palmenherzen und Baby-Schrimps und chinesischen Miniaturmaiskolben weg, den trüben schwarzen Liter rumänischen Weins, dessen Korken verrottet war, die Flasche Mai-Tai-Mix aus der Nixon-Ära, an deren Hals sich eine schlammige Kruste gebildet hatte, die Kollektion von Paul-Masson-Chablis-Karaffen mit Spinnenbeinen und Mottenflügeln auf den Böden, die vollkommen verrostete Aufhängung eines längst entsorgten Mobiles. Sie warf die Einliterglasflasche Diätcola weg, die mittlerweile die Farbe von Blutplasma hatte, das verschnörkelte Töpfchen Kumquatrosinen, das inzwischen zu einer Phantasie aus steinernem Kandis und amorpher brauner Masse geworden war, die übel riechende Thermoskanne, deren zerbrochenes Innenglas beim Schütteln klirrte, den verschimmelten Achtelscheffel-Warenkorb voll ebenso übel riechender leerer Joghurtbecher, die durch Oxydation klebrig gewordenen, vor abgetrennten Mottenflügeln strotzenden Sturmlaternen, die verschwundenen Königreiche aus Blumenerde und Blumendraht, die noch im Zerbröseln und Verrosten brüderlich zusammenhielten…

Ganz hinten im Schrank, zwischen den Spinnweben an der Rückwand des untersten Regals, fand sie einen dicken, unfrankierten Briefumschlag, der nicht sehr alt aussah. Er war an die Axon Corporation, 24 East Industrial Serpentine, Schwenksville, PA adressiert. Der Absender war Alfred Lambert. Vorne auf dem Umschlag stand außerdem PER EINSCHREIBEN. In dem Möchtegern-Bad neben dem Labor ihres Vaters rauschte der Wasserkasten der Toilette, schwache schwefelige Gerüche hingen in der Luft. Die Tür zum Labor war offen, und Denise klopfte an.

«Ja», sagte Alfred.

Er stand vor dem Regal exotischer Metalle, dem Gallium und Wismut, und schnallte sich den Gürtel zu. Sie zeigte ihm den Umschlag, erzählte, wo sie ihn gefunden hatte.

Alfred drehte ihn in seinen zitternden Händen, als könne ihm so, wie durch Zauberkraft, eine Erklärung einfallen. «Ein Rätsel», sagte er.

«Darf ich ihn öffnen?»

«Ganz, wie du willst.»

Der Umschlag enthielt drei Ausfertigungen eines auf den 13. September datierten Lizenzvertrags, den Alfred unterschrieben und David Schumpert notariell beglaubigt hatte.

«Was hat dieser Brief auf dem Boden des Waschküchenschranks zu suchen?», fragte Denise.

Alfred schüttelte den Kopf. «Das musst du deine Mutter fragen.»

Sie stellte sich an den Fuß der Treppe und hob die Stimme. «Mom? Kannst du mal kurz runterkommen?»

Enid tauchte oben am Treppenabsatz auf und trocknete sich mit einem Geschirrhandtuch die Hände ab. «Was ist denn? Kannst du den Topf nicht finden?»

«Doch, den Topf hab ich gefunden, aber könntest du trotzdem mal runterkommen?»

Alfred, im Labor, hielt die Axon-Schriftstücke, ohne sie zu lesen, locker zwischen den Fingern. Enid erschien mit schuldbewusster Miene im Türrahmen. «Was ist?»

«Dad möchte wissen, warum dieser Umschlag im Wäscheschrank lag.»

«Gib her», sagte Enid. Sie riss Alfred die Schriftstücke aus der Hand und zerknüllte sie. «Das ist alles längst geregelt. Dad hat drei andere Exemplare des Vertrags unterschrieben, und sie haben uns postwendend einen Scheck zugesandt. Kein Grund zur Aufregung.»

Denise kniff die Augen zusammen. «Hattest du nicht gesagt, du hättest die hier abgeschickt? Als wir in New York waren, Anfang Oktober? Da hast du doch gesagt, du hättest die hier abgeschickt.»

«Das dachte ich auch. Aber sie sind in der Post verloren gegangen.»

«In der Post?»

Enid wedelte vage mit den Händen. «Na ja, ich dachte, ich hätte sie zur Post gebracht. Aber sie waren wohl im Schrank. Wahrscheinlich habe ich einen Stapel Briefe hier unten abgelegt, bevor ich zur Post gegangen bin, und dann ist der Umschlag rausgerutscht. Weißt du, ich kann nicht jede Kleinigkeit im Blick behalten. Es geht schon mal was verloren, Denise. Ich muss mich um den ganzen Haushalt kümmern, da geht schon mal was verloren.»

Denise nahm den Umschlag von Alfreds Werkbank. «Da steht ‹Per Einschreiben› drauf. Wenn du bei der Post warst, wie konntest du dann nicht bemerken, dass eine Sendung, die du per Einschreiben schicken wolltest, fehlte? Wie konntest du nicht bemerken, dass du keinen Zettel ausgefüllt hast?»

«Denise.» Alfreds Stimme hatte einen ärgerlichen Unterton. «Ist gut jetzt.»

«Ich kann mir das auch nicht erklären», sagte Enid. «Ich hatte damals viel um die Ohren. Mir ist das völlig schleierhaft, und damit hat sich's. Weil es keine Rolle spielt. Dad hat seine fünftausend Dollar ja bekommen. Es spielt keine Rolle.»

Sie knüllte die Lizenzverträge noch kleiner zusammen und verließ das Labor.

Ich kriege allmählich Garyitis, dachte Denise.

«Du solltest deiner Mutter nicht so zusetzen», sagte Alfred.

«Ich weiß. Tut mir Leid.»

Doch schon schrie Enid in der Waschküche auf, schrie im Tischtennisraum, kam zurück in die Werkstatt. «Denise», rief sie, «du hast den ganzen Waschküchenschrank auf den Kopf gestellt! Was in aller Welt machst du da?»

«Ich werfe Lebensmittel weg. Lebensmittel und anderes vergammeltes Zeug.»

«Gut, aber warum ausgerechnet jetzt? Wir haben doch noch das ganze Wochenende Zeit. Wenn du mir helfen willst, ein paar Schränke auszumisten — herrlich. Aber nicht heute. Lass uns nicht heute damit anfangen.»

«Die Lebensmittel sind verdorben, Mom. Wenn du sie zu lange stehen lässt, werden sie giftig. Anaerobe Bakterien sind tödlich.»

«Na schön, dann räum das jetzt noch zu Ende auf, aber die anderen Schränke nehmen wir uns am Wochenende vor. Heute haben wir nicht genug Zeit dafür. Ich möchte, dass du mit dem Essen vorankommst, damit alles fertig ist und du nicht mehr daran denken musst, und dann möchte ich unbedingt, dass du Dad bei seinen Übungen hilfst, wie du es versprochen hast!»

«Das mache ich noch.»

«Al», rief Enid an Denise vorbei, «Denise möchte dir nach dem Mittagessen bei deinen Übungen helfen!»

Er schüttelte, wie vor Ekel, den Kopf. «Wenn du meinst.»

Auf einer der alten Lambert'schen Tagesdecken, die lange als Überwurf gedient hatte, waren Korbstühle und Korbtische, in frühen Stadien des Abschmirgelns und Anstreichens, aufeinander gestapelt. Ein paar zugedeckte Kaffeedosen standen dicht beisammen auf einem aufgeschlagenen Zeitungsteil; an der Werkbank lehnte, in einer Segeltuchhülle, ein Gewehr.

«Was hast du mit dem Gewehr vor, Dad?», fragte Denise.

«Ach, das will er schon seit Jahren verkaufen», sagte Enid. «AL, WIRST DU DAS DUMME GEWEHR JEMALS VERKAUFEN?»

Alfred schien diesen Satz mehrmals in seinem Kopf hin und her zu wenden, um ihm einen Sinn zu entlocken. Ganz langsam nickte er. «Ja», sagte er. «Ich werde das Gewehr verkaufen.»

«Ich hab es schrecklich ungern im Haus», sagte Enid im Gehen. «Weißt du, er hat es nie benutzt. Nicht ein einziges Mal. Ich glaube nicht, dass je ein Schuss daraus abgegeben worden ist.»

Alfred kam lächelnd auf Denise zu, sodass sie in Richtung Tür zurückweichen musste. «Ich bin hier gleich fertig», sagte er.

Oben war es Heiligabend. Päckchen sammelten sich unter dem Baum. Im Vordergarten schaukelten die fast kahlen Äste der weißen Sumpfeichen in einer Brise, die gedreht hatte und jetzt mit Schnee zu drohen schien; das tote Gras hielt tote Blätter gefangen.

Wieder spähte Enid durch die Gardinen. «Muss ich mir Chips wegen Sorgen machen?»

«Ich würde mir Sorgen machen, dass er nicht kommt», antwortete Denise, «aber nicht, dass ihm etwas zugestoßen ist.»

«In der Zeitung steht, dass rivalisierende Gruppen um die Kontrolle über die Innenstadt von Vilnius kämpfen.»

«Chip passt bestimmt gut auf sich auf.»

«Ach, komm mal mit», sagte Enid und führte Denise zur Haustür. «Ich möchte, dass du das letzte Dingelchen an den Adventskalender heftest.»

«Mutter, warum machst du das nicht.»

«Nein, ich möchte dir dabei zusehen.»

Die letzte Miniatur war das Christkind in der Walnussschale. Es an den Filzbaum zu heften war eine Aufgabe für ein Kind, für jemand Gutgläubigen und Hoffnungsvollen, und auf einmal wurde Denise deutlich bewusst, dass sie alles darangesetzt hatte, sich gegen die Gefühle in diesem Haus, gegen dessen Durchdrungensein von Kindheitserinnerungen und ihrer Bedeutsamkeit, zu wappnen. Sie konnte nicht das Kind sein, das diese Aufgabe übernahm.

«Es ist dein Kalender», sagte sie. «Du solltest es tun.»

Die Enttäuschung auf Enids Gesicht war unverhältnismäßig groß. Es war eine alte Enttäuschung über die ewige Weigerung der Welt im Allgemeinen und ihrer Kinder im Besonderen, ihre liebsten Luftschlösser zu bewohnen.

«Dann werde ich wohl Gary bitten», sagte sie mit düsterer Miene.

«Es tut mir Leid», sagte Denise.

«Früher, als du ein kleines Mädchen warst, da war es dein Schönstes, die Dingelchen anzuheften. Dein Allerschönstes. Aber wenn du nicht willst, dann eben nicht.»

«Mom.» Denise' Stimme schwankte. «Bitte zwing mich nicht dazu.»

«Wenn ich gewusst hätte, dass es eine solche Zumutung ist», sagte Enid, «hätte ich dich gar nicht erst gefragt.» «Lass mich zugucken, wie du es machst!», bat Denise.

Enid schüttelte den Kopf und wandte sich ab. «Ich werde Gary fragen, wenn er vom Einkaufen nach Hause kommt.»

«Es tut mir so Leid.»

Denise trat aus der Haustür und setzte sich auf die Außentreppe, um zu rauchen. Die Luft hatte etwas Aufgescheuchtes, ein südliches Schneearoma. Weiter unten an der Straße sah sie Kirby Root ein aus Kiefernzweigen geflochtenes Seil um den Pfahl seiner Gaslampe wickeln. Er winkte, und sie winkte zurück.

«Wann hast du angefangen zu rauchen?», fragte Enid, als Denise wieder hereinkam.

«Vor fünfzehn Jahren ungefähr.»

«Das soll wirklich keine Kritik sein», sagte Enid, «aber Rauchen ist eine schreckliche Angewohnheit — so ungesund. Es ist schlecht für deine Haut und, offen gestanden, für andere kein schöner Geruch.»

Denise wusch sich mit einem Seufzen die Hände und begann, das Mehl für die Sauerkrautsauce zu bräunen. «Wenn ihr bei mir einziehen wollt», sagte sie, «müssen wir noch ein paar Dinge klären.»

«Ich habe doch gesagt, es war keine Kritik.»

«Das eine ist, dass es mir im Augenblick ziemlich schlecht geht. Zum Beispiel habe ich meine Stelle beim Generator nicht gekündigt. Ich bin gefeuert worden.»

«Gefeuert?»

«Ja. Leider. Willst du wissen, warum?»

«Nein!»

«Bist du sicher?»

«Ja!»

Denise lächelte und rührte noch mehr Fett von dem Speck, den sie ausgelassen hatte, in den Topf.

«Denise, ich verspreche dir», sagte ihre Mutter, «wir werden dir nicht im Weg sein. Du zeigst mir einfach, wo der Supermarkt ist und wie deine Waschmaschine funktioniert, und dann kannst du kommen und gehen, wann du willst. Ich weiß, dass du dein eigenes Leben hast. Ich will dich in keiner Weise stören. Wenn es irgendeine andere Möglichkeit für Dad gäbe, an den Tests teilzunehmen, glaub mir, dann würde ich sie nutzen. Aber Gary hat uns nie eingeladen, und ich glaube, Caroline wären wir sowieso nicht willkommen.»

Das Fett und die gerösteten Rippchen und das schmorende Kraut dufteten gut. In dieser Küche zubereitet, hatte das Gericht wenig mit der hohen Kunst des Kochens zu tun, die sie für Tausende von Fremden im Generator praktiziert hatte. Die Generator-Rippchen und der Generator-Schwertfisch hatten mehr gemeinsam als die Generator-Rippchen und diese Hausmacher-Rippchen. Da glaubte man zu wissen, was Essen sei, hielt es für etwas Elementares, und dabei vergaß man, wie viel Restaurant in Restaurantessen und wie viel Zuhause in Hausgemachtem steckte.

«Warum erzählst du mir nicht die Geschichte von Norma Greene?», fragte sie ihre Mutter.

«Na ja, letztes Mal bist du so böse auf mich geworden», sagte Enid.

«Ich war hauptsächlich wütend auf Gary.»

«Ich möchte ja nur, dass du nicht solche Verletzungen davonträgst wie Norma. Ich möchte, dass du glücklich bist und endlich zur Ruhe kommst.»

«Mom, ich werde nie wieder heiraten.»

«Das weißt du doch gar nicht.»

«Doch, das weiß ich wohl.»

«Das Leben ist voller Überraschungen. Du bist jung und siehst ganz goldig aus.»

Denise ließ noch etwas Fett in den Topf; es gab jetzt keinen Grund mehr zur Zurückhaltung. Sie sagte: «Hörst du mir zu? Ich bin sicher, dass ich nie wieder heiraten werde.»

Doch da knallte auf der Straße eine Wagentür, und Enid eilte zum Esszimmerfenster, um die Gardinen beiseite zu schieben.

«Ach, das ist Gary», sagte sie enttäuscht. «Bloß Gary.»

Gary kam mit den Eisenbahnmemorabilien, die er im Verkehrsmuseum erstanden hatte, in die Küche geweht. Offensichtlich beflügelt von einem Vormittag für sich allein, tat er seiner Mutter mit Freuden den Gefallen, das Christkind an den Adventskalender zu heften; und blitzschnell wanderten Enids Sympathien von ihrer Tochter zu ihrem Sohn. Sie schwärmte von der herrlichen Arbeit, die Gary unten in der Dusche geleistet habe, und von der enormen Verbesserung durch den Hocker. Traurig beendete Denise ihre Vorbereitungen für das Abendessen, richtete ein leichtes Mittagessen an und spülte einen Berg von Geschirr, während der Himmel in den Fenstern vollends grau wurde.

Nach dem Essen ging sie in ihr Zimmer, das Enid mit den Jahren zu fast perfekter Anonymität umdekoriert hatte, und packte Geschenke ein. (Sie hatte für alle etwas zum Anziehen gekauft; sie wusste, was andere gerne trugen.) Dann faltete sie das Kleenex auseinander, das die dreißig sonnigen Kapseln Mexican A enthielt, und überlegte kurz, sie als Geschenk für Enid zu verpacken, aber die Grenzen des Versprechens, das sie Gary gegeben hatte, durften nicht überschritten werden. Also formte sie das Kleenex mit den Kapseln wieder zu einer Kugel, stahl sich aus ihrem Zimmer und die Treppe hinunter und stopfte die Droge in die eben frei gewordene vierundzwanzigste Tasche des Adventskalenders. Gary und ihre Eltern waren im Keller. Sie konnte zurück nach oben schleichen und die Tür ihres Zimmers schließen, als hätte sie es nie verlassen.

Früher, als sie noch klein gewesen war und Enids Mutter in der Küche die Rippchen gebraten und Gary und Chip ihre unglaublich hübschen Freundinnen mit nach Hause gebracht und es allen Spaß gemacht hatte, möglichst viele Geschenke für Denise zu kaufen, da war dies der längste Nachmittag des Jahres gewesen. Ein dunkles Naturgesetz hatte bestimmt, dass die Familie vor Einbruch der Dämmerung nicht zusammentreffen durfte; alle hatten sich auf verschiedene Zimmer verteilt und gewartet. Manchmal, als Teenager, hatte Chip Erbarmen mit dem Nesthäkchen gehabt und Schach oder Monopoly mit ihr gespielt. Später hatten er und seine jeweilige Freundin sie mit ins Einkaufszentrum genommen. Mit zehn oder zwölf gab es kein größeres Glück für sie, als auf diese Weise einbezogen zu sein: sich von Chip über die Übel des Spätkapitalismus aufklären zu lassen, Couture-Details über seine Freundin zu sammeln, die Länge ihrer Ponyfransen und die Höhe ihrer Absätze zu studieren, eine Stunde allein im Buchladen zu verbringen und dann, vom Hügel oberhalb des Einkaufszentrums, zurückzublicken auf die stumme, bedächtige Choreographie des Verkehrs im schwindenden Tageslicht.

Selbst jetzt war es der längste Nachmittag. Schneeflocken, eine Nuance dunkler als der schneefarbene Himmel, fielen inzwischen in Mengen herab. Kälte drang durch die Sturmfenster, sie mogelte sich an den Strömen und Schwaden heizkesselwarmer Luft aus den Luftschlitzen vorbei, sie kam einem direkt an den Hals. Um nicht krank zu werden, legte Denise sich ins Bett und zog die Decke bis ans Kinn.

Sie schlief fest, traumlos, und erwachte — wo? um wie viel Uhr? an welchem Tag? — von zornigen Stimmen. Schnee hatte die Ecken der Fenster zugesponnen und die weiße Sumpfeiche gepudert. Am Himmel war Licht, aber nicht mehr lange.

Al, Gary hat sich SOLCHE Mühe gegeben -

Ich habe ihn nicht darum gebeten!

Kannst du es nicht wenigstens ein einziges Mal versuchen? Nach der ganzen Arbeit, die er sich gestern gemacht hat?

Ich habe das Recht, ein Bad zu nehmen, wenn ich ein Bad nehmen möchte.

Dad, es ist nur eine Frage der Zeit, bis du auf der Treppe stürzt und dir das Genick brichst.

Ich habe niemanden um Hilfe gebeten.

Da tust du auch verdammt recht daran! Ich habe Mom nämlich verboten — verboten, hörst du — , auch nur in die Nähe der Badewanne zu gehen -

Al, bitte, probier die Dusche doch wenigstens mal aus -

Mom, vergiss es, lass ihn, dann bricht er sich eben das Genick, das wäre für uns alle sowieso besser als -

Gary -

Die Stimmen wurden lauter, offenbar kam der peinliche Zwischenfall die Treppe herauf. Denise hörte den schweren Schritt ihres Vaters auf dem Flur. Sie setzte ihre Brille auf und öffnete die Tür, gerade als Enid, die wegen ihrer kaputten Hüfte nicht so schnell war, den oberen Treppenabsatz erreicht hatte. «Denise, was machst du?»

«Ich hab geschlafen.»

«Sprich du mal mit deinem Vater. Sag ihm, wie wichtig es ist, dass er die Dusche ausprobiert, wo sich Gary doch solche Mühe damit gegeben hat. Auf dich wird er hören.»

Die Tiefe ihres Schlafs und die Art und Weise ihres Erwachens hatten dazu geführt, dass Denise' Wahrnehmung nicht mehr synchron mit der äußeren Wirklichkeit lief; die Vorgänge im Flur und die Vorgänge in den Flurfenstern hatten undeutliche Antimaterienschatten; Geräusche waren gleichzeitig zu laut und kaum zu hören. «Warum — », sagte sie. «Warum muss das gerade heute sein?» «Weil Gary morgen abreist und er sehen soll, ob Dad jetzt mit der Dusche zurechtkommt.»

«Und was sprach noch mal gegen die Badewanne?»

«Dass er nicht alleine wieder raus kann. Und dass er so unsicher auf der Treppe ist.»

Denise schloss die Augen, aber das verschlimmerte ihr Asynchronismus-Problem nur. Sie schlug sie wieder auf.

«Ach, und außerdem», sagte Enid, «du hast ihm gar nicht bei seinen Übungen geholfen, wie du's versprochen hattest!»

«Stimmt. Das tue ich noch.»

«Am besten jetzt gleich, bevor er sich frisch macht. Warte, ich hole schnell den Zettel von Dr. Hedgpeth.»

Enid humpelte die Treppe hinunter, und Denise hob die Stimme. «Dad?»

Keine Antwort.

Enid kam ein paar Stufen herauf und steckte einen violetten Bogen Papier («BEWEGUNG IST GOLD») durch die Geländerstäbe, auf dem Strichmännchen sieben Streck- und Dehnungsübungen vorführten. «Bring sie ihm richtig bei», sagte sie. «Bei mir wird er so schnell ungeduldig, aber auf dich wird er hören. Dr. Hedgpeth fragt mich immer wieder, ob Dad auch seine Übungen macht. Es ist sehr wichtig, dass er sie wirklich beherrscht. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du die ganze Zeit geschlafen hast.»

Denise nahm den Übungsbogen mit ins Elternschlafzimmer, wo Alfred, von der Hüfte abwärts nackt, im Türrahmen seines begehbaren Kleiderschranks stand.

«Oh, entschuldige, Dad», sagte sie und wich zurück.

«Was gibt es?»

«Wir müssen uns deine Übungen anschauen.»

«Ich bin schon ausgezogen.»

«Zieh dir einfach eine Pyjamahose an. Lockere Kleidung ist sowieso besser.»

Sie brauchte fünf Minuten, um ihn so weit zu beruhigen, dass er sich, in Wollhemd und Pyjamahose, auf seinem Bett ausstreckte; und hier, endlich, kam die ganze Wahrheit ans Licht.

Bei der ersten Übung musste Alfred, auf dem Rücken liegend, mit beiden Händen sein rechtes Knie umfassen, es an die Brust ziehen und dann das Gleiche mit dem linken Knie wiederholen. Denise führte seine widerspenstigen Hände an sein rechtes Knie, und obwohl sie erschrocken zur Kenntnis nahm, wie steif er geworden war, gelang es ihm mit ihrer Hilfe immerhin, sein Bein um mehr als neunzig Grad anzuwinkeln.

«Und jetzt das linke Knie», sagte sie.

Alfred legte seine Hände erneut um das rechte Knie und zog es zu sich heran.

«Sehr gut», sagte sie. «Aber jetzt versuch das Gleiche mal mit dem linken.»

Er lag schwer atmend da und tat nichts. Sein Gesicht hatte den Ausdruck eines Mannes, der sich mit einem Schlag an etwas Fürchterliches erinnert.

«Dad? Versuch's mal mit dem linken.»

Sie berührte sein linkes Knie, vergebens. In seinen Augen las sie den verzweifelten Wunsch, zu begreifen und angeleitet zu werden. Sie führte ihm die Hände zum linken Knie, und augenblicklich fielen sie herunter. Vielleicht war seine Steifheit auf der linken Seite schlimmer? Sie legte seine Hände wieder an sein Knie und half ihm, es anzuheben.

Falls es überhaupt einen Unterschied gab, schien er auf der linken Seite eher beweglicher zu sein.

«Jetzt versuch es selbst», sagte sie.

Er grinste sie an und atmete wie jemand in großer Angst.

«Was versuchen.»

«Die Hände um dein linkes Knie zu legen und es anzuheben.»

«Denise, ich habe jetzt genug davon.»

«Du wirst dich viel besser fühlen, wenn du dich ein bisschen dehnst und streckst», sagte sie. «Tu einfach noch mal, was du eben schon getan hast. Leg die Hände um dein linkes Knie und heb es an.»

Ihr Lächeln wurde als tiefe Ratlosigkeit zurückgespiegelt. Still trafen sich ihre Blicke.

«Welches ist das linke?», fragte er.

Sie berührte sein linkes Knie. «Das hier.»

«Und was muss ich damit machen?»

«Es mit den Händen umfassen und an die Brust ziehen.»

Seine Augen wanderten ängstlich umher, lasen schlimme Nachrichten an der Zimmerdecke ab.

«Dad, konzentrier dich mal.»

«Es hat nicht viel Sinn.»

«Na schön.» Sie holte tief Luft. «Na schön, dann lassen wir diese Übung und probieren es mit der nächsten. Einverstanden?»

Er sah sie an, als wüchsen ihr, seiner einzigen Hoffnung, Hauer und Hörner.

«Also, bei der zweiten Übung», sagte sie, bemüht, nicht auf seinen Gesichtsausdruck zu achten, «legst du dein rechtes Bein über das linke und lässt dann beide Beine so weit wie möglich nach rechts fallen. Die Übung gefällt mir», sagte sie. «Dabei wird der Hüftbeugemuskel gedehnt. Das ist ein richtig wohliges Gefühl.»

Sie erklärte sie ihm noch zweimal und forderte ihn dann auf, sein rechtes Bein anzuheben.

Er hob beide Beine ein paar Zentimeter von der Matratze.

«Nur das rechte», sagte sie sanft. «Und halt die Knie gebeugt.»

«Denise!» Seine Stimme überschlug sich vor Anstrengung. «Es hat keinen Sinn!»

«Komm», sagte sie. «So.» Sie drückte mit der Hand auf seine Füße, um ihm die Knie zu beugen. Dann hob sie, Ober- und Unterschenkel stützend, sein rechtes Bein an und legte es über sein linkes Knie. Zuerst war kein Widerstand zu spüren, doch dann, mit einem Mal, schien er sich heftig zu verkrampfen.

«Denise.»

«Dad, entspann dich einfach.»

Sie wusste bereits, dass er nie nach Philadelphia kommen würde. Jetzt stieg eine tropische Feuchtigkeit von ihm auf, ein scharfer Beinahegeruch des Loslassens. Der Pyjamastoff an seinem Schenkel war heiß und nass in ihrer Hand, und sein ganzer Körper zitterte.

«Oh, verdammt», sagte sie und zog ihre Hand weg.

Schnee wirbelte vor den Fenstern, Lichter leuchteten in den Nachbarhäusern auf. Denise wischte sich die Hand an ihrer Jeans ab und senkte die Augen, horchte, mit stark klopfendem Herzen, auf das angestrengte Atmen ihres Vaters und das rhythmische Geraschel seiner Glieder auf der Tagesdecke. In der Nähe seines Schritts hatte sich auf der Tagesdecke ein Nässebogen gebildet, und ein längerer Kapillareffekt-Fleck breitete sich an einem der Pyjamahosenbeine nach unten aus. Der anfängliche Beinahegeruch frischer Pisse war in der kühlen Luft des kaum geheizten Raums rasch einem unverkennbaren und angenehmen Aroma gewichen.

«Tut mir Leid, Dad», sagte sie. «Ich hole dir ein Handtuch.»

Alfred lächelte die Zimmerdecke an und sprach mit einer weniger aufgeregten Stimme. «Ich liege hier und kann es sehen», sagte er. «Siehst du es auch?»

«Was?»

Er wies mit einem Finger unbestimmt gen Himmel. «Untendrunter. Untendrunter unter der Bank», sagte er. «Da hingeschrieben. Siehst du?»

Jetzt war sie verwirrt, und er war es nicht. Er hob eine Augenbraue und schaute sie listig an. «Du weißt doch, wer das geschrieben hat, oder? Der Kä. Der Kä. Kerl mit dem du weißt schon.»

Ihrem Blick standhaltend, nickte er bedeutungsvoll.

«Ich weiß nicht, was du meinst», sagte Denise.

«Dein Freund», sagte er. «Der Kerl mit den blauen Wangen.»

Das erste Prozent des Begreifens wurde in ihrem Nacken geboren und begann nach Norden und nach Süden zu wachsen.

«Ich hol dir ein Handtuch», sagte sie und blieb, wo sie war.

Die Augen ihres Vaters rollten wieder zur Zimmerdecke hoch. «Auf die Unterseite der Bank hat er's geschrieben. Un- unsununde. Unterseitederbank. Und ich liege hier und kann es sehen.»

«Von wem reden wir?»

«Deinem Freund aus der Abteilung Signale. Dem Kerl mit den blauen Wangen.»

«Du bist verwirrt, Dad. Du träumst. Ich hol dir jetzt ein Handtuch.»

«Siehst du, es hatte noch nie einen Sinn, irgendwas zu sagen.»

«Ich hol dir ein Handtuch.»

Sie ging quer durchs Schlafzimmer ins Bad. Ihr Kopf war noch in dem Mittagsschlaf, den sie vorhin gehalten hatte, und das Problem wurde zusehends schlimmer. Sie lief immer weniger synchron mit den Schwingungen der Wirklichkeitswellen, aus denen Handtuch-Weichheit, Himmels-Dunkelheit, Fußboden-Hartheit und Luft-Klarheit bestanden. Warum sprach er von Don Armour? Warum jetzt?

Ihr Vater hatte sich auf die Bettkante gesetzt und die Pyjamahose abgestreift, als Denise zurückkam. Er streckte eine Hand nach dem Frotteetuch aus. «Ich bringe den Schlamassel hier schon in Ordnung», sagte er. «Geh und hilf deiner Mutter.»

«Nein, ich mache das», sagte sie. «Du kannst so lange ein Bad nehmen.»

«Gib mir den Lappen. Das ist nicht deine Aufgabe.»

«Dad, nimm doch ein Bad.»

«Es war nicht meine Absicht, dich da hineinzuziehen.»

Seine Hände, immer noch ausgestreckt, zappelten in der Luft. Denise wandte die Augen von seinem anstößigen, feuchten Penis ab. «Steh bitte auf», sagte sie. «Ich möchte die Tagesdecke abnehmen.»

Alfred bedeckte seinen Penis mit dem Handtuch. «Überlass das deiner Mutter», sagte er. «Ich habe ihr gesagt, Philadelphia ist blanker Unsinn. Ich hatte nie die Absicht, dich in all das hineinzuziehen. Du hast dein eigenes Leben. Genieß es einfach und sei vorsichtig.»

Er blieb auf dem Bettrand sitzen, den Kopf gesenkt, die Hände wie große, leere, fleischige Löffel in seinem Schoß.

«Möchtest du, dass ich dir ein Bad einlasse?», fragte Denise.

«Ich wun-nunnnunn-un», sagte er. «Hab dem Kerl verklickert, dass er blanken Unsinn faselt, aber was soll's?» Alfred machte eine Ist-doch-logisch- oder Lässt-sich-nicht-ändern-Gebärde. «Dachte, er käme nach Little Rock! Du doch nicht. Hab ich gesagt! Geht nach Dienstalter. Na ja, alles blanker Unsinn. Ich hab ihm gesagt, er soll sich zum Teufel scheren.» Er sah Denise entschuldigend an und zuckte mit den Schultern. «Was hätte ich sonst tun sollen?»

Denise hatte sich schon manchmal unsichtbar gefühlt, aber noch nie so wie jetzt. «Ich weiß nicht genau, was du meinst», sagte sie.

«Na ja.» Alfred machte eine vage Schwer-zu-erklären-Gebärde. «Er hat mir gesagt, ich soll unter der Bank nachgucken. Ganz einfach. Soll unter der Bank nachgucken, wenn ich ihm nicht glaube.»

«Unter was für einer Bank?»

«Alles blanker Unsinn», sagte er. «Einfacher, meinen Hut zu nehmen. Für alle. Weißt du, an diese Möglichkeit hat er gar nicht gedacht.»

«Reden wir von der Eisenbahn?»

Alfred schüttelte den Kopf. «Nicht deine Sorge. Es war nie meine Absicht, dich in all das hineinzuziehen. Ich möchte, dass du dein Leben genießt. Und vorsichtig bist. Sag deiner Mutter, sie soll mit einem Lappen kommen.»

Und schon katapultierte er sich quer über den Teppich und schloss die Badezimmertür hinter sich. Um irgendetwas zu tun, zog Denise das Bett ab, rollte alles, einschließlich der nassen Pyjamahose ihres Vaters, zu einem Ball zusammen und brachte es nach unten.

«Wie läuft's denn da oben?», fragte Enid von ihrem Weihnachtskartenposten im Esszimmer aus.

«Er hat ins Bett gemacht», sagte Denise.

«Ach, du liebe Zeit.»

«Er kann sein linkes Bein nicht von seinem rechten unterscheiden.»

Enids Gesicht verfinsterte sich. «Ich dachte, auf dich würde er vielleicht hören.»

«Mutter, er kann sein linkes Bein nicht von seinem rechten unterscheiden.»

«Manchmal lässt ihn seine Medizin — »

«Ja! Ja!» Denise' Stimme schallte. «Die Medizin!»

Nachdem sie ihre Mutter zum Schweigen gebracht hatte, ging sie in den Keller, um die Wäsche zu sortieren und einzuweichen. Hier trat ihr, übers ganze Gesicht strahlend, Gary in den Weg und hielt eine Modelleisenbahn der Größe O in die Höhe.

«Ich hab sie gefunden.»

«Was gefunden.»

Gary schien gekränkt, dass Denise sein Wünschen und Treiben nicht aufmerksam verfolgt hatte. Er erklärte ihr, dass die Hälfte seiner Eisenbahnanlage aus Kindertagen — «die wichtige Hälfte, die mit den Zügen und dem Transformator» — seit Jahrzehnten unauffindbar und von ihm längst abgeschrieben gewesen sei. «Ich habe eben den gesamten Schuppen auf den Kopf gestellt», sagte er. «Und was glaubst du, wo ich sie gefunden habe?»

«Wo.»

«Rate mal.»

«Zuunterst in der Kiste mit den Seilen», sagte sie.

Gary riss die Augen auf. «Woher weißt du das? Ich suche sie seit Jahrzehnten.»

«Tja, du hättest mich fragen sollen. In der großen Kiste mit den Seilen ist eine kleinere Kiste mit Eisenbahnsachen.»

«Na ja, egal.» Gary schüttelte sich, um statt ihrer wieder seine Person in den Brennpunkt zu rücken. «Es ist zwar ein schönes Gefühl, sie gefunden zu haben, aber trotzdem wär's nett gewesen, wenn du mir was gesagt hättest.»

«Es wäre nett gewesen, wenn du mich gefragt hättest!»

«Weißt du, diese Eisenbahn ist ein richtig guter Zeitvertreib für mich. Man kann alle möglichen tollen Sachen dazukaufen.»

«Schön! Freut mich für dich!»

Gary blickte staunend auf die Lok in seiner Hand. «Ich hätte nie gedacht, dass ich die noch einmal wieder sehen würde.»

Als er fort war und Denise allein im Keller zurückgelassen hatte, ging sie mit einer Taschenlampe in Alfreds Labor, kniete sich zwischen die Yuban-Dosen und besah sich die Unterseite der Bank. Dort fand sie, verwischt, mit Bleistift gezeichnet, ein Herz von der Größe eines Menschenherzens:

Sie sackte zusammen, die Knie auf dem steinkalten Boden. Little Rock. Dienstalter. Einfacher, meinen Hut zu nehmen.

Gedankenverloren hob sie den Deckel einer Yuban-Dose an. Sie war bis zum Rand voll mit grelloranger, gegorener Pisse.

«O Mann», sagte sie zu der Schrotflinte.

Als sie in ihr Zimmer hinauf lief und sich Mantel und Handschuhe anzog, tat ihr am allermeisten ihre Mutter Leid, denn gleichgültig, wie oft und wie bitter Enid sich bei ihr beklagt hatte, nie hatte es Denise in den Kopf gewollt, dass das Leben in St. Jude zu einem solchen Albtraum geworden sein könnte; und welches Recht hatte man, einfach weiterzuatmen, ja, schlimmer noch, zu lachen und zu schlafen und sich das Essen schmecken zu lassen, wenn man sich nicht einmal vorzustellen vermochte, wie schwer das Leben eines anderen war?

Enid stand schon wieder an der Gardine des Esszimmerfensters und hielt Ausschau nach Chip.

«Ich gehe spazieren!», rief Denise, bevor sie die Eingangstür hinter sich zumachte.

Auf dem Rasen vor dem Haus lagen fünf Zentimeter Schnee. Im Westen brachen die Wolken auf; wilde Lidschatten-Schattierungen, von Lavendel bis Rotkehlcheneierblau, markierten die Schnittkante der jüngsten Kaltfront. Denise wanderte mitten auf den dämmrigen, von Spuren überzogenen Straßen entlang und rauchte, bis das Nikotin ihren Kummer betäubt hatte und sie klarer denken konnte.

Vermutlich hatte sich Don Armour, nachdem die Wroth-Brüder die Midland Pacific gekauft und mit dem Personalabbau begonnen hatten und ihm der Sprung nach Little Rock nicht geglückt war, an Alfred gewandt, um Beschwerde einzulegen. Vielleicht hatte er ihm gedroht, überall damit zu prahlen, dass er Alfreds Tochter herumgekriegt hatte, oder aber er war so dreist gewesen, auf seine Rechte als Quasimitglied der Lambert'schen Familie zu pochen; so oder so hatte Alfred ihm gesagt, er solle sich zum Teufel scheren. Dann war Alfred nach Hause gegangen und hatte einen Blick auf die Unterseite seiner Werkbank geworfen.

Denise war überzeugt, dass es zwischen Don Armour und ihrem Vater einen höchst unerfreulichen Wortwechsel gegeben hatte, doch ihr grauste davor, ihn sich auszumalen. Wie musste Don Armour sich dafür verachtet haben, dass er zum Chef vom Chef seines Chefs gekrochen kam und bettelte und flehte oder ihn erpresste, um mit der Eisenbahngesellschaft nach Little Rock gehen zu dürfen; wie musste sich Alfred von seiner Tochter, die für ihren Arbeitseifer noch kurz zuvor so gelobt worden war, verraten gefühlt haben; was für eine grässliche Wendung musste das ganze unerträgliche Gespräch genommen haben, als auf einmal klar wurde, dass Don Armour ihr seinen Schwanz in diese und jene sündige, gar nicht erregte Öffnung gesteckt hatte. Ihr grauste, wenn sie sich vorstellte, wie ihr Vater vor seiner Werkbank gekniet und das Bleistiftherz entdeckt hatte; ihr grauste bei dem Gedanken, dass Don Armours dreckige Anspielungen auf die prüden Ohren ihres Vaters getroffen waren; ihr grauste, wenn sie sich überlegte, wie tief es einen Mann von Alfreds Disziplin, einen Mann, der so viel Wert auf seine Privatsphäre legte, gekränkt haben musste, zu erfahren, dass Don Armour nach Belieben in seinem Haus herumgeschnüffelt und — gestöbert hatte.

Es war nie meine Absicht, dich in all das hineinzuziehen.

Und tatsächlich: Ihr Vater war aus der Eisenbahngesellschaft ausgeschieden. Er hatte seine Hand schützend über Denise' Privatsphäre gehalten. Hatte nie ein Sterbenswort von alledem zu ihr gesagt, nicht die leiseste Andeutung gemacht, dass sein Bild von ihr Schaden genommen hatte. Fünfzehn Jahre lang hatte sie die tadellos verantwortungsvolle und umsichtige Tochter gegeben, und die ganze Zeit hatte er gewusst, dass sie es nicht war.

Sie ahnte, dass ein gewisser Trost in diesem Gedanken lag, wenn es ihr nur gelang, ihn im Kopf zu behalten.

Als sie das Viertel ihrer Eltern hinter sich ließ, wurden die Häuser neuer und größer und kastenförmiger. Durch Fenster, die keine Mittelsprossen oder unechte Plastikmittelsprossen hatten, sah sie leuchtende Bildschirme, manche riesenhaft, manche winzig. Offenbar war jede Stunde des Jahres, selbst diese, eine gute Stunde, um auf einen Bildschirm zu starren. Denise knöpfte sich den Mantel auf und kehrte heim, eine Abkürzung über den Rasenplatz hinter ihrer alten Grundschule nehmend.

Sie hatte ihren Vater niemals wirklich gekannt. Wahrscheinlich hatte das keiner. Mit seiner Scheu und seiner Förmlichkeit und seinen tyrannischen Wutausbrüchen verteidigte er erbittert sein Inneres, und wer ihn liebte, wie sie es tat, begriff bald, dass er ihm keinen größeren Gefallen tun konnte, als seine Privatsphäre zu achten.

Alfred wiederum hatte gezeigt, dass er an sie glaubte, indem er sie so akzeptierte, wie sie sich gab: indem er es ablehnte, hinter ihrer Fassade herumzuschnüffeln. Am glücklichsten war sie, als seine Tochter, immer dann gewesen, wenn sie seinen Glauben an sie vor aller Welt rechtfertigen konnte: wenn sie ein reines Einser-Zeugnis mit nach Hause brachte; wenn sie mit ihren Restaurants Erfolg hatte; wenn die Kritiker sie lobten.

Besser, als ihr lieb war, verstand sie, was für ein Desaster es für ihn gewesen sein musste, vor ihren Augen das Bett zu nässen. Auf einem schnell abkühlenden Urinfleck zu liegen entsprach sicher nicht der Art, wie er in ihrer Gegenwart sein wollte. Sie kannten nur eine einzige gute Art des Miteinanders, und deren Tage waren gezählt.

So seltsam es klingen mochte — für Alfred war Liebe nicht eine Sache der Annäherung, sondern des Abstandhaltens. Ihr war das weniger fremd als Chip und Gary, und deshalb empfand sie für ihn eine ganz besondere Verantwortung.

Chip, der dumme Junge, glaubte, dass Alfred sich nur dann für seine Kinder interessierte, wenn sie Erfolg hatten. Er war so damit beschäftigt, sich missverstanden zu fühlen, dass ihm überhaupt nicht auffiel, wie sehr er seinen Vater missverstand. In Chips Augen bewies Alfreds Unvermögen, zärtlich zu sein, dass Alfred nicht begriff, oder sich gar nicht darum scherte, wer Chip war. Er sah nicht, was für alle anderen offensichtlich war: Wenn es einen einzigen Menschen auf der Welt gab, den Alfred nur um seiner selbst willen liebte, dann war es Chip. Denise hatte längst erkannt, dass sie Alfred nicht so nahe stand; abgesehen von Äußerlichkeiten und ihrem Leistungsdenken hatten sie wenig miteinander gemein. Chip war es, nach dem Alfred mitten in der Nacht gerufen hatte, obwohl er wusste, dass Chip gar nicht da war.

Ich habe dir das, so gut ich konnte, klar zu machen versucht, sagte sie, während sie den verschneiten Rasenplatz überquerte, zu ihrem Trottel von Bruder. Besser kann ich es nicht.

Das Haus, in das sie zurückkehrte, war voller Licht. Gary, vielleicht auch Enid, hatte auf dem Gehweg Schnee gefegt. Denise trat sich die Füße auf der Hanfmatte ab, da flog die Tür auf.

«Ach, du bist es», sagte Enid. «Ich dachte schon, es wäre Chip.»

«Nein. Bloß ich.»

Sie ging hinein und zog die Stiefel aus. Gary hatte ein Feuer angezündet und saß in dem Lehnstuhl direkt am Kamin, einen Stapel alter Fotoalben vor sich auf dem Boden.

«Ich rate dir eins», sagte er zu Enid. «Schlag dir Chip aus dem Kopf.»

«Er muss in Schwierigkeiten stecken», sagte Enid. «Sonst hätte er angerufen.»

«Mutter, er ist ein Soziopath. Begreif das doch endlich.»

«Du weißt nicht das Mindeste von Chip», sagte Denise zu Gary.

«Ich weiß, ob einer sich weigert, sein Scherflein beizutragen.»

«Ich möchte doch nur, dass wir alle zusammen sind!», sagte Enid.

Gary stieß einen zärtlichen Seufzer aus. «Oh, Denise», sagte er. «Nein, so was. Guck dir das kleine Mädchen hier an.»

«Ein andermal vielleicht.»

Doch da kam Gary schon mit dem Fotoalbum quer durchs Wohnzimmer und hielt es ihr, auf ein Familienweihnachtsfoto deutend, unter die Nase. Das pummelige, wuschelhaarige, entfernt semitisch aussehende kleine Mädchen auf dem Bild war Denise mit ungefähr achtzehn Monaten. Nicht ein Fünkchen Sorge trübte ihr Lächeln oder das Lächeln von Chip und Gary. Sie saß zwischen ihnen auf dem Wohnzimmersofa, in seiner noch nicht wieder aufgepolsterten Erscheinungsform; beide hatten einen Arm um sie gelegt; ihre reinhäutigen Jungengesichter berührten sich fast über dem ihren.

«Ist das nicht ein süßes kleines Mädchen?», sagte Gary.

«Nein, wie goldig», sagte Enid, sich dazwischen drängend.

Aus der Mitte des Albums rutschte ein Briefumschlag mit einem PER-EINSCHREIBEN-Aufkleber heraus. Enid hob ihn rasch vom Boden auf, ging zum Kamin und warf ihn, ohne zu zögern, in die Flammen.

«Was war das?», fragte Gary.

«Bloß diese Axon-Angelegenheit, die ist ja längst erledigt.»

«Hat Dad nun eigentlich die Hälfte des Geldes an Orfic Midland geschickt?»

«Er hat mich darum gebeten, aber ich hab's noch nicht geschafft. Diese Unmengen von Versicherungsformularen halten mich einfach zu sehr auf.»

Gary lachte. «Pass bloß auf, dass die Zweitausendfünfhundert keine Löcher in deine Tasche brennen», sagte er und verschwand nach oben.

Denise putzte sich die Nase und ging in die Küche, um Kartoffeln zu schälen.

Enid folgte ihr. «Nur für alle Fälle», sagte sie, «bitte sieh zu, dass genug für Chip da ist. Er hat gesagt, er komme spätestens heute Nachmittag.»

«Ich glaube, ganz offiziell ist es jetzt Abend», sagte Denise.

«Wie auch immer, ich möchte viele Kartoffeln.»

Alle Küchenmesser ihrer Mutter waren buttermesserstumpf. Denise griff auf einen Karottenschäler zurück. «Hat Dad dir je erzählt, warum er damals nicht mit Orfic Midland nach Little Rock gegangen ist?»

«Nein», sagte Enid mit Nachdruck. «Warum?»

«Hat mich bloß mal interessiert.»

«Er hatte ja schon zugesagt. Und, Denise, finanziell gesehen hätte es für uns enorm viel ausgemacht. Seine Pension wäre, bloß durch die zwei Jahre, nahezu doppelt so hoch gewesen. Dann stünden wir jetzt erheblich besser da. Er hatte mir gesagt, er werde es tun, er hatte mir zugestimmt, dass es richtig sei, und dann kommt er drei Abende später nach Hause und erklärt, er habe es sich anders überlegt und gekündigt.»

Denise blickte in die Augen, die im Fenster über der Spüle undeutlich gespiegelt waren. «Und er hat dir nie gesagt, warum.»

«Na ja, er konnte diese Wroths nicht ausstehen. Ich glaube, von denen trennten ihn Welten. Aber mit mir darüber gesprochen hat er nicht. Er bespricht sich nie mit mir. Er entscheidet einfach. Selbst wenn es auf ein finanzielles Desaster hinausläuft — er fällt seine Entscheidung, und damit basta.»

Da öffneten sie sich, die Schleusen. Denise ließ Kartoffel und Schäler in die Spüle fallen. Sie dachte an die Kapseln im Adventskalender, dachte, dass sie ihr vielleicht helfen würden, die Tränen so lange einzudämmen, bis sie die Stadt verlassen hätte, doch sie war zu weit von dem Versteck entfernt. Es erwischte sie, kalt und wehrlos, in der Küche.

«Liebes, was ist denn?», fragte Enid.

Eine Zeit lang gab es keine Denise in der Küche, nur Rotz und Wasser und Reue. Sie kniete auf dem Putzlappen vor der Spüle. Kleine klitschnasse Kleenexbäusche umgaben sie. Sie vermied es, zu ihrer Mutter aufzusehen, die neben ihr auf einem Stuhl saß und sie mit trockenen Taschentüchern versorgte.

«So vieles, was einem wichtig erscheint», sagte Enid unerwartet nüchtern, «erweist sich am Ende als überhaupt nicht wichtig.»

«Aber manches bleibt wichtig», sagte Denise.

Enid blickte schwermütig auf die ungeschälten Kartoffeln neben der Spüle. «Er wird nicht wieder gesund, oder.»

Denise war froh, dass ihre Mutter zu glauben schien, sie habe um Alfreds Gesundheit geweint. «Ich denke nicht», sagte sie.

«Es liegt wahrscheinlich nicht an der Medizin, oder.»

«Nein.»

«Und es hat wahrscheinlich keinen Sinn, nach Philadelphia zu fahren», sagte Enid, «wenn er nicht mal einfache Anweisungen befolgen kann.»

«Stimmt. Das hat wahrscheinlich keinen Sinn.» «Denise, was sollen wir nur machen?»

«Ich weiß es nicht.»

«Dass irgendwas nicht in Ordnung war, habe ich schon heute Morgen gemerkt», sagte Enid. «Wenn du den Brief vor drei Monaten gefunden hättest, wäre Dad vor Wut explodiert. Aber du hast es ja selbst gesehen. Er hat keine Miene verzogen.»

«Tut mir Leid, dass ich dich so in Verlegenheit gebracht habe.»

«Das ist vollkommen gleichgültig. Er hat überhaupt nicht begriffen, worum es ging.»

«Es tut mir trotzdem Leid.»

Auf dem Herd fing der Deckel eines Topfs weißer Bohnen zu klappern an. Enid stand auf, um die Hitze herunterzudrehen. Immer noch kniend, sagte Denise: «Ich glaube, da ist etwas für dich im Adventskalender.»

«Nein, Gary hat das letzte Dingelchen schon angeheftet.»

«In der ‹Vierundzwanzig›. Da könnte etwas für dich drin sein.»

«Was denn?»

«Weiß nicht. Sieh doch einfach mal nach.»

Sie hörte, wie sich die Schritte ihrer Mutter entfernten und wieder näherten. Obwohl das Muster des Putzlappens kompliziert war, meinte Denise, es sich vom bloßen Daraufstarren bald eingeprägt zu haben.

«Wie sind die denn dahin gekommen?», fragte Enid.

«Keine Ahnung.»

«Hast du sie da reingesteckt?»

«Das ist ein Geheimnis.»

«Also hast du sie da reingesteckt.»

«Nein.»

Enid legte die Pillen auf die Arbeitsplatte, trat zwei Schritte zurück und betrachtete sie skeptisch. «Wer immer das war, er hat es bestimmt gut gemeint», sagte sie. «Aber ich möchte sie nicht in meinem Haus haben.»

«Das ist sicher eine gute Entscheidung.»

«Ich möchte entweder richtig leben oder gar nicht.»

Enid schob die Pillen mit der rechten Hand in ihre linke. Sie warf sie in den Abfallzerkleinerer, drehte das Wasser auf und zerkleinerte sie.

«Und was heißt für dich richtig leben?», fragte Denise, als der Lärm verhallte.

«Ich möchte, dass wir alle ein letztes Mal zusammen Weihnachten feiern.»

Gary, geduscht und rasiert und in seinem aristokratischen Stil gekleidet, betrat die Küche gerade rechtzeitig, um diese Erklärung aufzuschnappen.

«Gib dich lieber mit vier von fünfen zufrieden», sagte er und öffnete die Hausbar. «Was ist los mit Denise?»

«Sie sorgt sich furchtbar um Dad.»

«Na, das wird auch Zeit», sagte Gary. «Dazu besteht reichlich Anlass.»

Denise sammelte ihre Kleenexbäusche auf. «Schenk mir auch was ein, und möglichst viel», sagte sie.

«Ich dachte, wir könnten heute Abend Beas Sekt trinken!», sagte Enid.

«Nein», sagte Denise.

«Nein», sagte Gary.

«Dann heben wir ihn auf, für den Fall, dass Chip kommt», sagte Enid. «Also, was macht Dad eigentlich so lange da oben?»

«Er ist nicht oben», sagte Gary.

«Bist du sicher?»

«Ja, bin ich.»

«Al?», rief Enid. «AL?»

Gase knackten im unbeaufsichtigten Kaminfeuer. Weiße Bohnen köchelten bei mittlerer Hitze; aus den Heizungsschlitzen entwich warme Luft. Draußen auf der schneebedeckten Straße drehten die Räder eines Wagens durch.

«Denise», sagte Enid. «Schau doch mal nach, ob er im Keller ist.»

Denise fragte nicht Warum ich? obwohl sie es gern getan hätte. Sie stellte sich an die Kellertreppe und rief nach ihrem Vater. Unten war Licht, und aus der Werkstatt hörte sie ein rätselhaftes leises Rascheln.

«Dad?», rief sie noch einmal.

Keine Antwort.

Ihre Angst beim Hinabsteigen in den Keller war wie eine Angst aus jenem unglücklichen Jahr ihrer Kindheit, als sie sich ein Haustier gewünscht und einen Käfig mit zwei Hamstern bekommen hatte. Ein Hund oder eine Katze hätte womöglich Enids Stoffe beschädigt, aber diese kleinen Hamster, ein Geschwisterpaar aus einem Wurf im Driblett-Haus, waren erlaubt.

Jeden Morgen, wenn Denise in den Keller ging, um ihnen Kügelchen und frisches Wasser zu geben, fürchtete sie sich davor zu entdecken, mit welcher über Nacht ausgeheckten Teufelei die Tiere sie, und speziell sie, diesmal quälen würden: einem Nest blinder, zappelnder, inzestroter Nachkommen vielleicht oder einem einzigen großen, in einem verzweifelten, sinnlosen Akt aufgeschichteten Haufen Zedernspäne, neben dem das Elternpaar zitternd auf dem nackten Metall des Käfigbodens hockte, aufgedunsen und verlegen, weil es alle seine Jungen aufgefressen hatte, was auch im Maul eines Hamsters keinen angenehmen Nachgeschmack hinterlassen haben konnte.

Die Tür zu Alfreds Werkstatt war geschlossen. Sie klopfte an. «Dad?»

Alfreds Antwort kam prompt, ein angestrengtes, ersticktes Bellen: «Nicht reinkommen!»

Hinter der Tür schabte irgendetwas Hartes über Beton.

«Dad? Was machst du da?»

«Nicht reinkommen, hab ich gesagt!»

Tja, sie hatte das Gewehr gesehen, und sie dachte: Klar, dass ausgerechnet ich hier unten bin. Sie dachte: Und ich habe keine Ahnung, was jetzt zu tun ist.

«Dad, ich muss reinkommen.»

«Denise — »

«Ich komme rein.»

Sie öffnete die Tür. Der Raum war gleißend hell. Mit einem einzigen Blick erfasste sie die alte, farbbekleckste Tagesdecke auf dem Boden und den alten Mann, der mit angehobener Hüfte und zitternden Knien auf dem Rücken lag, die weit aufgerissenen Augen starr auf die Unterseite der Werkbank gerichtet, während er mit dem großen Plastikklistier rang, das er sich in den After gesteckt hatte.

«Huch, Entschuldigung!», sagte sie und drehte sich, die Hände in der Luft, um.

Alfred atmete rasselnd und sagte nichts.

Sie zog die Tür halb hinter sich zu und füllte ihre Lungen. Oben klingelte es. Durch die Wände und die Decke hörte sie Schritte auf dem Weg vor dem Haus.

«Das ist er, das ist er!», rief Enid.

Lauter Gesang — «Am Weihnachtsbaum die Lichter brennen» — ließ ihre Seifenblase platzen.

Denise gesellte sich zu ihrer Mutter und ihrem Bruder an der offenen Haustür. Bekannte Gesichter drängten sich auf der verschneiten Veranda zu einer Traube zusammen, Dale Driblett, Honey Driblett, Steve und Ashley Driblett, Kirby Root mit mehreren Töchtern und Bürstenschnitt-Schwiegersöhnen und der gesamte Person-Clan. Enid schnappte sich Denise und Gary und drückte sie fester an sich, und von der Stimmung des Augenblicks getragen, wippte sie auf den Ballen. «Lauf und hol Dad», sagte sie. «Er liebt die Weihnachtssänger so.»

«Dad hat zu tun», sagte Denise.

War es nicht das Barmherzigste, den Mann, der so rücksichtsvoll gewesen war, ihre Privatsphäre zu schützen, und nie um etwas anderes gebeten hatte, als dass man die seine achtete, ganz für sich allein leiden zu lassen, damit er sich, zu all seinem Leid, nicht auch noch schämen musste? Hatte er sich nicht mit jeder Frage, die er ihr nie gestellt hatte, das Recht erworben, von allen unbequemen Fragen, die sie ihm jetzt stellen könnte, verschont zu werden? Etwa: Was willst du mit dem Klistier, Dad?

Die Weihnachtssänger schienen in erster Linie für Denise zu singen. Enid wiegte sich zu der Melodie, Gary hatte feuchte Augen, doch Denise kam es vor, als wäre eigentlich sie gemeint. Gern wäre sie hier oben geblieben, beim heitereren Teil ihrer Familie. Sie wusste nicht, was es mit dem Unglück auf sich hatte, dass es ihr so viel Loyalität abverlangte. Als aber Kirby Root, der den Chor der Methodistenkirche in Chiltsville leitete, die letzte Strophe des Lieds nahtlos in «Vom Himmel hoch, da komm ich her» übergehen ließ, fragte sie sich, ob sie es sich nicht ein bisschen zu leicht machte. Alfred wollte allein gelassen werden? Schön, wie angenehm für sie! Dann konnte sie ja getrost nach Philadelphia zurückkehren, ihr eigenes Leben führen und tun, was er ihr geraten hatte. Es war ihm peinlich, mit einer Plastikspritze im Hintern erwischt zu werden? Schön, das traf sich gut! Ihr war es nämlich auch verdammt peinlich!

Sie machte sich von ihrer Mutter los, winkte den Nachbarn zum Abschied zu und ging wieder in den Keller. Die Tür zur Werkstatt stand noch immer halb offen. «Dad?»

«Nicht reinkommen!»

«Es tut mir Leid», sagte sie, «aber es geht nicht anders.»

«Es war nie meine Absicht, dich da hineinzuziehen. Nicht deine Sorge.»

«Ich weiß. Aber ich muss trotzdem reinkommen.»

Seine Haltung war fast unverändert, nur dass er sich inzwischen ein altes Badehandtuch zwischen die Beine gestopft hatte. Sie kniete sich inmitten der Scheiß- und Pissgerüche neben ihn und legte ihm eine Hand auf die bebende Schulter. «Es tut mir Leid», sagte sie.

Sein Gesicht war schweißgebadet. Seine Augen glänzten vor Irrsinn. «Such ein Telefon», sagte er, «und ruf den Bezirksleiter an.»

Die große Erleuchtung war Chip am Dienstagmorgen gegen sechs gekommen, als er in fast völliger Dunkelheit eine mit litauischem Kies belegte Straße zwischen den winzigen Ortschaften Neravai und Miskiniai, ein paar Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, entlangmarschierte.

Fünfzehn Stunden zuvor war er aus dem Flughafen gewankt und beinahe von Jonas, Aidaris und Gitanas, die ihren Ford Stomper schwungvoll an die Bordsteinkante lenkten, über den Haufen gefahren worden. Die drei Männer waren auf der Straße nach Ignalina unterwegs und schon fast aus Vilnius heraus gewesen, als sie im Radio gehört hatten, dass der Flughafen geschlossen worden war. Auf der Stelle hatten sie kehrtgemacht und waren zurückgefahren, um den armseligen Amerikaner zu retten. Der Laderaum des Stomper war mit Gepäck und Computern und telefonischer Ausrüstung voll gestopft, doch indem sie zwei Koffer auf dem Dach festschnallten, schafften sie Platz für Chip und seine Tasche. «Wir bringen Sie zu einem kleinen Grenzübergang», sagte Gitanas. «Die errichten im Augenblick Sperren auf allen großen Straßen. Wenn da ein Stomper vorbeikommt, fangen sie an zu sabbern.»

Dann war Jonas mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf situationsgemäß miserablen Straßen gen Westen gebraust, die Städte Jieznas und Alytus weiträumig umfahrend. Die Stunden waren im Stockdustern und unter Geschüttel dahingegangen. Nirgends sahen sie eine funktionierende Straßenlampe oder einen Polizeiwagen. Jonas und Aidaris saßen vorn und hörten Metallica, und Gitanas betätigte immer wieder die Tasten seines Funktelefons, in der schwachen Hoffnung, dass es Transbaltikum Mobil, dessen Hauptaktionär er, zumindest nominell, immer noch war, trotz des landesweiten Stromausfalls und trotz der Mobilisierung der litauischen Streitkräfte gelungen sein könnte, seine Relaisstationen wieder flottzumachen.

«Das Ganze ist eine Katastrophe für Vitkunas», sagte Gitanas. «Dass er die Streitkräfte mobilisiert, rückt ihn bloß noch mehr in die Nähe der Sowjets. Truppen auf den Straßen und keine Elektrizität: Damit macht sich eine Regierung beim litauischen Volk nicht gerade beliebt.»

«Wird eigentlich auch geschossen?», fragte Chip.

«Nein, das meiste ist reine Show. Eine zur Posse umgeschriebene Tragödie.»

Gegen Mitternacht bog der Stomper in der Nähe von Lazdijai, der letzten größeren Stadt vor der polnischen Grenze, um eine scharfe Kurve und fuhr an einem entgegenkommenden Konvoi dreier Jeeps vorbei. Jonas beschleunigte auf dem Knüppeldamm und beriet sich auf Litauisch mit Gitanas. Die Gletschermoränenlandschaft war hügelig, aber unbewaldet. Deshalb konnte man, wenn man sich umdrehte, sehen, dass zwei der Jeeps wendeten und die Verfolgung des Stomper aufnahmen. Ebenso konnte, wer in den Jeeps saß, sehen, dass Jonas jäh nach links auf eine Schotterstraße abbog und an der weißen Fläche eines zugefrorenen Sees entlangraste.

«Die hängen wir ab», versicherte Gitanas Chip, ungefähr zwei Sekunden bevor Jonas, in einer Ellbogenkurve, mit dem Stomper von der Straße abhob.

Wir haben einen Unfall, dachte Chip, während der Wagen durch die Luft flog. Er empfand im Rückblick große Sympathie für gute Bodenhaftung, niedrige Schwerpunkte und geradlinige Formen der Beschleunigung. Es war Zeit für stilles Nachdenken und Zeit zum Zähne zusammenbeißen und dann überhaupt keine Zeit, nur Aufprall nach Aufprall, Geräusch auf Geräusch. Der Stomper probierte verschiedene Varianten der Senkrechten aus — neunzig, zweihundertsiebzig, dreihundertsechzig, einhundert-achtzig Grad — und blieb schließlich, mit abgewürgtem Motor und eingeschalteten Scheinwerfern, auf seiner linken Seite liegen. Chips Hüften und Brust fühlten sich an, als hätten sie von seinem Becken- und Schultergurt ernsthafte Quetschungen davongetragen. Ansonsten schien er, genau wie Jonas und Aidans, unversehrt.

Gitanas war hin und her geschleudert und von herumfliegenden Gepäckstücken hart getroffen worden. Er blutete aus Wunden an Kinn und Stirn. Eindringlich redete er mit Jonas, den er offenbar aufforderte, die Lichter auszumachen, doch es war schon zu spät. Auf der Straße hinter ihnen wurde lautstark heruntergeschaltet. Die Verfolgerjeeps hielten an der Ellbogenkurve, und uniformierte Männer mit Skimasken drängten ins Freie.

«Polizisten mit Skimasken», sagte Chip. «Ich gebe mir alle Mühe, das irgendwie positiv auszulegen.»

Der Stomper war in einen überfrorenen Sumpf gestürzt. In den sich kreuzenden Fernlichtkegeln zweier Jeeps umstellten ihn acht oder zehn maskierte «Polizeibeamte» und befahlen den Insassen auszusteigen. Als Chip die Tür über sich aufstieß, kam er sich wie ein Schachtelteufel vor. Jonas und Aidaris wurden die Waffen abgenommen. Alles, was sich im Wagen befand, landete auf der mit verharschtem Schnee und abgebrochenen Schilfhalmen bedeckten Erde. Ein «Polizist» drückte Chip eine Gewehrmündung in die Wange, und Chip empfing einen Ein-Wort-Befehl, den Gitanas übersetzte: «Er fordert Sie höflich auf, Ihre Kleider abzulegen.»

Der Tod, jener Verwandte aus Übersee, jener aus dem Mund stinkende Fremdenlegionär, war plötzlich ganz in der Nähe. Chip fürchtete sich ziemlich vor dem Gewehr. Seine Hände zitterten und wurden taub; er musste seine gesamte Willenskraft aufbieten, um sie dazu zu bewegen, Reißverschlüsse und Knöpfe zu öffnen. Es hatte ganz den Anschein, als ob seine hochwertige Lederkleidung daran schuld war, dass man gerade ihn für diese Demütigung auserkoren hatte. Niemand interessierte sich für Gitanas' rote Motocross-Jacke oder Jonas' Jeans. Um Chips Hose und Jacke hingegen drängten sich die maskierten «Polizisten» und befühlten deren feine Narbung. Mit seltsam dekontextualisierten Lippen Frost aus O-förmigen Mündern hauchend, prüften sie die Biegsamkeit seiner linken Stiefelsohle.

Ein Aufschrei war zu hören, als ein Bündel US- amerikanischer Devisen aus dem Stiefel fiel. Und wieder bohrte sich die Gewehrmündung in Chips Wange. Eisige Finger ertasteten den großen Umschlag mit Bargeld unter seinem T-Shirt. Die «Polizisten» prüften auch sein Portemonnaie, stahlen jedoch weder seine Litas noch seine Kreditkarten. Das Einzige, was sie wollten, waren Dollars.

Gitanas, an dessen Kopf an etlichen Stellen das Blut gerann, legte beim Hauptmann der «Polizisten» Protest ein. Die nun folgende Auseinandersetzung, in der Gitanas und der Hauptmann wiederholt auf Chip zeigten und die Wörter «Dollar» und «Amerikaner» gebrauchten, endete, als der Hauptmann seine Pistole auf Gitanas' blutige Stirn richtete und Gitanas die Hände hob, um einzuräumen, dass an dem, was der Hauptmann gesagt hatte, durchaus etwas dran sei.

Chips Schließmuskel hatte sich indessen so gelockert, dass man fast von bedingungsloser Kapitulation sprechen konnte. Es schien ihm jedoch von großer Wichtigkeit, dass er an sich hielt, und so stand er in Socken und Unterhose da und presste, so gut es mit seinen zitternden Händen ging, seine Pobacken zusammen. Presste und presste und bekämpfte die Krämpfe manuell. Wie lächerlich das aussah, war ihm egal.

Auch im Gepäck fanden die «Polizisten» vieles, was sich stehlen ließ. Chips Tasche wurde auf dem verschneiten Boden ausgeleert und sein Hab und Gut durchwühlt. Er und Gitanas mussten zuschauen, wie die «Polizisten» die Sitzpolster des Stomper aufschlitzten, Löcher in den Wagenboden hackten und Gitanas' Vorräte an Bargeld und Zigaretten entdeckten.

«Was ist hier eigentlich der Vorwand?», fragte Chip, immer noch heftig zitternd, aber auf dem besten Weg, die eigentlich entscheidende Schlacht zu gewinnen.

«Man wirft uns vor, Devisen und Tabak geschmuggelt zu haben», sagte Gitanas.

«Wer wirft uns das vor?»

«Ich fürchte, sie sind genau das, wonach sie aussehen», sagte Gitanas. «Mit anderen Worten: staatliche Polizisten mit Skimasken. Heute Nacht herrscht offenbar im ganzen Land so eine Art Fastnachtsatmosphäre. Eine Art Alles-ist-erlaubt-Stimmung.»

Es war ein Uhr morgens, als die «Polizisten» endlich in ihre Jeeps stiegen und davonrasten. Chip und Gitanas und Jonas und Aidaris ließen sie mit tiefgefrorenen Füßen, einem zertrümmerten Stomper, nassen Kleidern und beschädigtem Gepäck zurück.

Immerhin habe ich mir nicht in die Hosen geschissen, dachte Chip.

Er hatte noch seinen Pass und die $ 2.000 in der T-Shirt-Tasche, die die «Polizisten» übersehen hatten. Auch seine Sportschuhe, ein Paar weite Jeans, sein gutes Tweedsakko und sein Lieblingspullover waren noch da; all das zog er jetzt hastig an.

«Das dürfte das Ende meiner Karriere als krimineller Kriegsherr sein», bemerkte Gitanas. «Jedenfalls habe ich auf dem Gebiet keine weiteren Ambitionen.»

Mit Feuerzeugen inspizierten Jonas und Aidaris das Fahrgestell des Stomper. Aidaris verkündete das Urteil, Chip zuliebe, auf Englisch: «Truck fucked up.»

Gitanas bot Chip an, ihn zum Grenzübergang an der Straße nach Sejny, fünfzehn Kilometer Richtung Westen, zu begleiten, doch Chip war allzu bewusst, dass sich seine Freunde, wären sie nicht seinetwegen zum Flughafen zurückgefahren, vermutlich längst mit intaktem Auto und intakten Portemonnaies bei ihren Verwandten in Ignalina in Sicherheit befunden hätten.

«He», sagte Gitanas schulterzuckend. «Vielleicht wären wir auf der Straße nach Ignalina erschossen worden. Gut möglich, dass Sie uns das Leben gerettet haben.»

«Wagen im Arsch», wiederholte Aidaris mit Lust und Frust.

«Also dann, bis bald in New York», sagte Chip.

Gitanas setzte sich auf einen Siebzehn-Zoll-Monitor mit eingeschlagenem Bildschirm. Vorsichtig betastete er seine blutige Stirn. «Ja, genau. New York.»

«Sie können bei mir wohnen.»

«Ich überleg's mir.»

«Tun Sie's doch einfach», sagte Chip fast verzagt.

«Ich bin Litauer», sagte Gitanas.

Chip fühlte sich in einem Maße verletzt, enttäuscht und im Stich gelassen, wie es die Situation gar nicht rechtfertigte. Aber er beherrschte sich. Er nahm eine Straßenkarte, ein Feuerzeug, einen Apfel und die aufrichtigen guten Wünsche der Litauer entgegen und machte sich auf den Weg in die Dunkelheit.

Kaum war er allein, ging es ihm besser. Je länger er marschierte, desto mehr wusste er die Vorzüge seiner Jeans und Sportschuhe, im Vergleich zu seinen Stiefeln und Lederhosen, zu schätzen. Sein Schritt war leichter, sein Gang beschwingter; am liebsten wäre er die Straße hinuntergehüpft. Wie angenehm es war, in diesen Sportschuhen hier draußen unterwegs zu sein!

Aber seine große Erleuchtung war das noch nicht. Die große Erleuchtung kam ihm ein paar Kilometer vor der polnischen Grenze. Er horchte angestrengt, ob nicht irgendwelche mordlustigen Hofhunde in der ihn umgebenden Finsternis von der Kette gelassen worden waren, er streckte die Arme nach vorn, er kam sich mehr als nur ein bisschen lächerlich vor, da fiel ihm plötzlich Gitanas' Bemerkung wieder ein: eine zur Posse umgeschriebene Tragödie. Mit einem Schlag verstand er, warum niemand, nicht einmal er selbst, sein Drehbuch gemocht hatte: Er hatte einen Thriller geschrieben, wo eine Posse am Platz gewesen wäre.

Allmählich umfing ihn schwaches morgendliches Dämmerlicht. In New York hatte er so lange an den ersten dreißig Seiten von «Akademische Würden» geschliffen und gefeilt, bis er sich nahezu bildhaft an jedes einzelne Detail erinnern konnte, und nun rückte er, während sich der baltische Himmel aufhellte, seiner geistigen Rekonstruktion dieser Seiten mit einem geistigen Rotstift zu Leibe, machte hier einen kleinen Schnitt, fügte dort ein wenig mehr Emphase oder eine Hyperbel hinzu, und endlich wurden die Szenen in seinem Kopf zu dem, was sie schon immer hatten sein wollen: lächerlich. Der tragische BILL QUAINTENCE wurde zum Narren.

Chip beschleunigte seine Schritte, als hätte er es eilig, an einen Schreibtisch zu kommen, an dem er auf der Stelle mit der Überarbeitung seines Texts würde beginnen können. Er gelangte auf eine Anhöhe und sah die, ohne Strom, völlig im Dunkeln liegende litauische Stadt Eisiskes sowie, in weiterer Ferne jenseits der Grenze, ein paar Straßenlaternen in Polen. Zwei Zugpferde, die Köpfe über einen Stacheldrahtzaun reckend, wieherten ihm optimistisch zu.

Er sagte laut: «Zieh es ins Lächerliche. Zieh es ins Lächerliche.»

Zwei litauische Zollbeamte und zwei «Polizisten» bewachten den winzigen Grenzübergang. Sie gaben Chip seinen Pass ohne das dicke Bündel Litas zurück, das er zwischen die Seiten gesteckt hatte. Aus keinem erkennbaren Grund außer kleinlicher Grausamkeit ließen sie ihn mehrere Stunden lang in einem überheizten Raum warten, während Betonmischfahrzeuge und Hühnerlaster und Radler kamen und wieder fuhren. Es war später Vormittag, als er die Grenze nach Polen zu Fuß überqueren durfte. In Sejny, ein paar Kilometer die Straße hinunter, kaufte er Zlotys und mit den Zlotys etwas zu essen. Die Läden waren gut bestückt, es war Weihnachtszeit. Die Männer der Stadt waren alt und sahen aus wie der Papst.

Mit drei LKWs und einem Taxi erreichte er am Mittwoch gegen Mittag den Warschauer Flughafen. Das erstaunlich apfelbäckige Personal am Ticketschalter der polnischen Fluggesellschaft LOT war hoch erfreut, ihn bedienen zu dürfen. LOT hatte für die Feiertage zusätzliche Maschinen bereitgestellt, um für die zigtausend polnischen Gastarbeiter, die aus dem Westen zu ihren Familien zurückfliegen wollten, gewappnet zu sein, und viele der Maschinen Richtung Westen waren nicht ausgebucht. Alle rotwangigen Mitarbeiterinnen trugen kleine Hüte wie Tambourmajoretten. Sie nahmen Chips Bargeld, gaben ihm ein Ticket und sagten Schnell.

So schnell er konnte, lief er zum Gate und stieg in eine 767, die dann vier Stunden lang auf der Startbahn stand, während Mechaniker ein möglicherweise fehlerhaftes Instrument im Cockpit überprüften und schließlich, widerstrebend, auswechselten.

Die Flugroute, nonstop, war ein großer Kreis, der sich bei der großen polnischen Stadt Chicago schloss. Chip schlief immer wieder ein, um zu vergessen, dass er Denise $ 20.500 schuldete, alle seine Kreditkarten überzogen waren und er weder einen Job noch die Aussicht hatte, einen zu finden.

Die gute Nachricht, nachdem er in Chicago den Zoll passiert hatte, war, dass zwei Autovermietungsfirmen noch geöffnet hatten. Die schlechte Nachricht, die er nach einer halben Stunde Schlangestehen erhielt, war, dass Leute mit überzogenen Kreditkarten keine Autos mieten konnten.

Er ging die Liste aller Fluggesellschaften im Telefonbuch durch, bis er eine fand — Prairie Hopper, nie gehört — , die am nächsten Morgen um sieben noch einen Platz in einer Maschine nach St. Jude hatte.

Inzwischen war es zu spät geworden, um in St. Jude anzurufen. Er suchte sich ein abgelegenes Stück Flughafenteppich zum Schlafen. Er begriff nicht, was sich zugetragen hatte. Er fühlte sich wie ein Stück Papier, das, einst mit verständlichen Sätzen beschrieben, in die Waschmaschine geraten war. Er fühlte sich aufgeraut, gebleicht und an den Falzen durchgescheuert. Im Halbschlaf träumte er von einzelnen Mündern und körperlosen Augen hinter Skimasken. Er hatte völlig aus dem Blick verloren, was er wollte, und da ein Mensch schließlich war, was er wollte, konnte man sagen: Er hatte sich selbst aus dem Blick verloren.

Wie merkwürdig daher, dass der alte Mann, der ihm am nächsten Morgen um halb zehn in St. Jude die Tür öffnete, offenbar genau wusste, wer er war.

Ein Stechpalmenkranz hing an der Tür. Schneehaufen und Besenspuren in gleichmäßigen Abständen säumten den Weg zum Haus. Die mittelwestliche Straße erschien dem Reisenden wie ein Wunderland aus Wohlstand und Eichen und erstaunlich viel verschenktem Platz. Der Reisende sah nicht, wie ein solcher Ort in einer Welt der Litauens und Polens existieren könnte. Dass der Graben, der zwischen diesen verschiedenen ökonomischen Voltspannungen lag, nicht einfach durch einen Energietransfer überbrückt werden konnte, war ein Beweis für den isolierenden Effekt politischer Grenzen. Die alte Straße mit ihrem Eichenholzrauch und den schneebedeckten, säuberlich gestutzten Hecken und vereisten Traufen kam ihm gefährdet vor. Wie ein Trugbild. Wie eine außergewöhnlich lebhafte Erinnerung an etwas, das geliebt und schon gestorben war.

«Na!», sagte Alfred mit leuchtendem Gesicht, als er Chips Hand in beide Hände nahm. «Wen haben wir denn da!»

Enid, die immer wieder Chips Namen rief, versuchte sich ins Bild zu drängeln, doch Alfred ließ Chips Hand nicht los. Er sagte es noch zweimal: «Wen haben wir denn da! Wen haben wir denn da!»

«Al, nun lass ihn doch reinkommen und die Tür zumachen», sagte Enid.

Chip stand zaudernd auf der Schwelle. Die Welt draußen war schwarz und weiß und grau und rein gefegt von frischer, kalter Luft; das verwunschene Innere des Hauses war voller Gegenstände und Gerüche und Farben, schwüler Luft, raumgreifender Persönlichkeiten. Er hatte Angst einzutreten.

«Komm rein, komm rein», quiekte Enid, «und mach die Tür zu.»

Um sich vor allen magischen Einflüssen zu schützen, sprach er im Stillen eine Zauberformel. Ich bleibe drei Tage und fahre dann nach New York zurück, ich suche mir einen Job, ich lege mindestens fünfhundert Dollar im Monat auf die Seite, bis ich schuldenfrei bin, und jeden Abend arbeite ich an meinem Drehbuch.

Die magische Kraft dieser Worte beschwörend, die jetzt alles waren, was er hatte, die erbärmliche Summe seiner selbst, trat er über die Schwelle.

«Du liebe Zeit, wie kratzig du bist, und wie du riechst», sagte Enid, als sie ihn küsste. «Und wo ist dein Koffer?»

«Der steht an einer Schotterstraße im westlichen Litauen.»

«Ich bin bloß froh, dass du heil nach Hause gekommen bist.»

Nirgends im ganzen litauischen Staatsgebiet gab es ein Zimmer wie das Lambert'sche Wohnzimmer. Nur in diesem Teil der Welt fand man so prächtige Wollteppiche, so große und solide gebaute und üppig gepolsterte Möbel in einem Zimmer, das ansonsten so schlicht und gewöhnlich war. Das Licht in den Holzrahmenfenstern, obwohl grau, strahlte Prärie-Gelassenheit aus; hier war im Umkreis von tausend Kilometern kein Meer, das die Lufthülle hätte stören können. Und der Wuchs der älteren Eichen, die sich nach diesem Himmel streckten, hatte einen Schmiss, eine Wildheit und einen Stolz noch aus einer Zeit lange vor der dauerhaften Besiedlung; die Kursivschrift ihrer Zweige erzählte von einer nicht eingezäunten Welt.

All das nahm Chip zwischen zwei Herzschlägen in sich auf. Den Kontinent, sein Heimatland. Im ganzen Wohnzimmer verstreut waren Nester geöffneter Geschenke, kleine Häufchen Geschenkbänder und Papierfetzen und Weihnachtsaufkleber. Zu Füßen des Kaminsessels, den Alfred stets für sich beanspruchte, kniete, neben dem größten Geschenkenest, Denise.

«Denise, sieh nur, wer da ist», sagte Enid.

Mit gesenkten Lidern stand Denise, wie aus Pflichtgefühl, auf und durchquerte das Zimmer. Doch sobald sie die Arme um ihn gelegt und er sie (immer aufs Neue überrascht, wie groß sie war) an sich gedrückt hatte, wollte sie ihn nicht mehr loslassen. Sie klammerte sich an ihn — küsste seinen Hals, sah ihm in die Augen und dankte ihm.

Gary kam herüber und umarmte Chip hölzern, mit abgewandtem Gesicht. «Hätte nicht gedacht, dass du's schaffen würdest», sagte er.

«Ich auch nicht», sagte Chip.

«Na!», sagte Alfred wieder und blickte ihn voller Verwunderung an.

«Gary muss um elf Uhr weg», sagte Enid, «aber wir können noch alle zusammen frühstücken. Du machst dich schnell frisch, und Denise und ich kümmern uns ums Frühstück. Ach, das ist genau das, was ich mir gewünscht habe», sagte sie, als sie in die Küche eilte. «Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk, das ich je bekommen habe!»

Gary wandte sich, mit seiner Ich-Blödmann-Grimasse, Chip zu: «Da hörst du's», sagte er. «Das schönste Weihnachtsgeschenk, das sie je bekommen hat.»

«Ich glaube, sie meint, dass wir alle fünf zusammen sind», sagte Denise.

«Tja, dann sollte sie's lieber schnell genießen», sagte Gary. «Sie schuldet mir nämlich noch ein Gespräch, und ich bestehe auf Zahlung.»

Von seinem eigenen Körper losgelöst, trottete Chip ihm hinterher und fragte sich, was er wohl vorhatte. Er nahm einen Aluminiumhocker aus der Dusche im unteren Bad. Der Wasserschwall war stark und heiß. Seine Eindrücke hatten etwas so Frisches, dass er sie entweder sein Leben lang in Erinnerung behalten oder auf der Stelle vergessen würde. Ein Gehirn konnte nur eine bestimmte Anzahl von Eindrücken verkraften, bevor es die Fähigkeit verlor, sie zu entschlüsseln, sie in eine verständliche Form und Reihenfolge zu bringen. Seine beinahe schlaflose Nacht auf einem Stück Flughafenteppich zum Beispiel lebte noch in ihm fort und wollte verarbeitet werden. Und hier nun eine heiße Dusche am Weihnachtsmorgen. Hier die vertrauten braunen Kacheln der Dusche. Die Kacheln, wie jeder andere materielle Bestandteil des Hauses, waren davon durchdrungen, dass sie Enid und Alfred gehörten, waren gesättigt mit einer Aura Lambert'schen Familieneigentums. Das Haus war einem Körper ähnlicher als einem Gebäude — weicher, sterblicher und organischer.

Denise' Shampoo hatte die angenehmen, feinen Duftnoten des westlichen Spätkapitalismus. In den Sekunden, die Chip zum Einseifen seiner Haare brauchte, vergaß er, wo er war. Vergaß den Kontinent, vergaß das Jahr, vergaß die Tageszeit, vergaß die Umstände. Unter der Dusche war sein Gehirn ein Fisch- oder Amphibiengehirn, registrierte Eindrücke, reagierte auf den Moment. Es fehlte nicht viel, und er hätte Todesangst verspürt. Gleichzeitig fühlte er sich ganz passabel. Er hatte Appetit auf Frühstück und, insbesondere, Durst auf Kaffee.

Mit einem Handtuch um die Hüften schaute er kurz ins Wohnzimmer, wo Alfred sofort auf die Füße sprang. Der Anblick von Alfreds plötzlich gealtertem Gesicht, dessen fortschreitendem Verfall, den Rötungen und Asymmetrien, schnitten Chip ins Fleisch wie eine Bullenpeitsche.

«Na!», sagte Alfred. «Das ging ja schnell.»

«Kann ich mir ein paar Sachen zum Anziehen von dir ausleihen?»

«Das überlasse ich dir.»

Oben, im Kleiderschrank seines Vaters, fand Chip die alten Nassrasur-Utensilien, Schuhlöffel, elektrischen Rasierapparate, Schuhleisten und Schlipshaken allesamt an ihren angestammten Plätzen. In den fünfzehnhundert Tagen seit seinem letzten Besuch in diesem Haus hatten sie hier Stunde für Stunde ihren Dienst getan. Einen Moment lang war Chip wütend (wie hätte er es auch nicht sein können?), dass seine Eltern niemals umgezogen waren. Dass sie einfach beschlossen hatten, hier zu bleiben und zu warten.

Er nahm sich Unterwäsche, Socken, eine Wollhose, ein weißes Hemd und eine graue Strickjacke und trug die Sachen in das Zimmer, das er in den Jahren zwischen Denise' Ankunft in der Familie und Garys Aufbruch ins College mit seinem Bruder geteilt hatte. Gary hatte eine winzige Reisetasche auf «sein» Bett gestellt und war dabei, sie zu packen.

«Ich weiß nicht, ob du's gemerkt hast», sagte er, «aber Dad ist in ziemlich schlechter Verfassung.» «Ja, hab ich gemerkt.»

Gary legte eine kleine Schachtel auf Chips Nachttisch. Es war eine Schachtel Munition — .20er Schrotkugeln.

«Er hat sie sich zusammen mit dem Gewehr in die Werkstatt geholt», sagte Gary. «Hab ich heute Morgen entdeckt, und ich dachte mir, Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.»

Chip musterte die Schachtel und sagte instinktiv: «Ist das nicht eher Dads Sache?»

«Das habe ich gestern auch erst gedacht», sagte Gary. «Aber wenn er es wirklich tun will, hat er ja noch andere Möglichkeiten. Heute Nacht sollen es um die minus 18 Grad werden. Da kann er doch mit einer Flasche Whiskey nach draußen gehen. Ich möchte nicht, dass Mom ihn mit weggeblasenem Kopf findet.»

Darauf wusste Chip nichts zu erwidern. Schweigend zog er die Kleider des alten Mannes an. Hemd und Hose waren wunderbar sauber und passten ihm unerwartet gut. Als er auch die Strickjacke anhatte, war er überrascht, dass seine Hände nicht zu zittern begannen, überrascht, ein so junges Gesicht im Spiegel zu sehen.

«Und was hast du in letzter Zeit so getrieben?», fragte Gary.

«Ich habe einem litauischen Freund geholfen, westliche Investoren zu betrügen.»

«Mein Gott, Chip. Das kann nicht dein Ernst sein.»

Alles andere auf der Welt mochte fremd sein, doch Garys Herablassung ärgerte Chip wie eh und je.

«Streng moralisch betrachtet», sagte er, «habe ich mehr Verständnis für Litauen als für amerikanische Investoren.»

«Du willst ein Bolschewik sein?», fragte Gary und machte den Reißverschluss seiner Tasche zu. «Gut, dann sei ein Bolschewik. Aber ruf nicht bei mir an, wenn du verhaftet wirst.»

«Das läge mir sowieso fern», sagte Chip.

«Seid ihr zwei da oben so weit, dass wir frühstücken können?», trällerte Enid auf halber Treppe.

Sie hatte eine festliche Leinendecke aufgelegt. Die Tischmitte war mit einem Gesteck aus Kiefernzapfen, weißer und grüner Stechpalme, roten Kerzen und silbernen Glöckchen geschmückt. Denise trug das Essen auf: texanische Pampelmuse, Rühreier, Speck, außerdem Stollen und Brot, die sie selbst gebacken hatte.

Die Schneedecke verstärkte das helle Prärielicht.

Nach alter Familiensitte saß Gary allein auf einer Seite des Tisches. Auf der anderen Seite saßen Chip und Denise — Denise neben Enid, Chip neben Alfred.

«Fröhliche, fröhliche, fröhliche Weihnachten!», sagte Enid und schaute jedem ihrer Kinder der Reihe nach in die Augen.

Alfred, den Kopf gesenkt, aß bereits.

Auch Gary fing, mit einem Blick auf seine Armbanduhr, hastig zu essen an.

Chip hatte fast vergessen, wie trinkbar der Kaffee in diesen Breiten war. Denise fragte ihn, wie er nach Hause gekommen sei. Er erzählte ihr die Geschichte, nur den bewaffneten Raubüberfall ließ er aus.

Mit missbilligendem Stirnrunzeln verfolgte Enid jede von Garys Bewegungen. «Nun schling doch nicht so», sagte sie. «Du musst erst um elf los.»

«Eigentlich habe ich Viertel vor gesagt», sagte Gary. «Jetzt ist es kurz nach halb, und wir haben noch ein paar Dinge zu besprechen.»

«Nun sind wir endlich alle zusammen», sagte Enid. «Lass uns das in Ruhe genießen.»

Gary legte seine Gabel hin. «Ich bin schon seit Montag hier, Mutter und seitdem warte ich darauf, dass wir endlich alle zusammen sind — Denise ist seit Dienstagmorgen hier. Wenn Chip zu sehr damit beschäftigt war, amerikanische Investoren zu betrügen um zu uns zu stoßen, ist das nicht meine Schuld.«

«Ich habe gerade erklärt, warum ich erst jetzt gekommen bin», sagte Chip. «Falls du zugehört hast.»

«Tja vielleicht hättest du etwas eher losfahren sollen.»

«Was meint er mit betrügen?», fragte Enid. «Ich dachte, deine Arbeit hätte etwas mit Computern zu tun gehabt.»

«Das erkläre ich dir später, Mom.»

«Nein!», sagte Gary, «erklär es ihr jetzt.»

«Gary!», sagte Denise.

«Nein, tut mir Leid», sagte Gary und warf seine Serviette auf den Tisch wie einen Fehdehandschuh. «Ich hab genug von dieser Familie! Ich habe das ewige Warten satt. Ich will ein paar Antworten, und zwar sofort.»

«Meine Arbeit hatte sehr wohl etwas mit Computern zu tun», sagte Chip. «Aber was Gary sagt, stimmt auch — das Ziel war streng genommen, amerikanische Investoren zu betrügen.»

«Das kann ich überhaupt nicht gutheißen», sagte Enid.

«Schon klar», sagte Chip. «Obwohl das alles ein bisschen komplizierter ist, als du dir vielleicht — »

«Was ist so kompliziert daran, die Gesetze zu achten?»

«Gary, Herrgott noch mal», sagte Denise seufzend. «Heute ist Weihnachten, ja?»

«Und du bist eine Diebin», sagte Gary, auf sie umschwenkend.

«Du weißt genau, wovon ich rede. Du hast dich bei jemandem ins Zimmer geschlichen und etwas genommen, das dir nicht — »

«Entschuldige mal», sagte Denise aufgebracht, «ich habe etwas, das seinem rechtmäßigen Besitzer gestohlen wurde, zurück — »

«Blödsinn, Blödsinn, Blödsinn!» «Oh, das höre ich mir nicht länger an», jammerte Enid. «Nicht am Weihnachtsmorgen!»

«Nein, Mutter, tut mir Leid, du gehst nirgendwohin», sagte Gary. «Wir bleiben alle schön hier sitzen und führen auf der Stelle unser kleines Gespräch.»

Alfred lächelte Chip verschwörerisch an und deutete auf die anderen. «Siehst du, was ich auszustehen habe?»

Chip verzog das Gesicht zu einem Faksimile des Verstehens und der Zustimmung.

«Wie lange bleibst du, Chip?», fragte Gary.

«Drei Tage.»

«Und Denise, du fährst — »

«Sonntag, Gary. Ich fahre am Sonntag.»

«Gut, was passiert also am Montag, Mom? Wie willst du am Montag mit diesem Haus fertig werden?»

«Darüber denke ich am Montag nach.»

Alfred, immer noch lächelnd, fragte Chip, wovon Gary eigentlich rede.

«Keine Ahnung, Dad.»

«Glaubst du wirklich, dass ihr nach Philadelphia kommt?», fragte Gary. «Glaubst du wirklich, dass mit Korrektal alles wieder gut wird?»

«Nein, Gary, das glaube ich nicht», sagte Enid.

Gary schien ihre Antwort gar nicht zu hören. «Dad, komm, tu mir mal einen Gefallen», sagte er. «Leg die rechte Hand auf deine linke Schulter.»

«Gary, hör auf damit», sagte Denise.

Alfred lehnte sich zu Chip hinüber und sagte in vertraulichem Ton: «Was will er?»

«Er möchte, dass du die rechte Hand auf deine linke Schulter legst.»

«Das ist doch blanker Unsinn.»

«Dad?», sagte Gary. «Komm schon, rechte Hand, linke Schulter.»

«Hör auf», sagte Denise.

«Los geht's, Dad. Rechte Hand, linke Schulter. Schaffst du das? Willst du uns nicht zeigen, wie gut du einfachste Anweisungen befolgen kannst? Komm! Rechte Hand. Linke Schulter.»

Alfred schüttelte den Kopf. «Eine Zweizimmerwohnung mit Küche und Bad, mehr brauchen wir nicht.»

«Ich möchte aber keine Zweizimmerwohnung, Al», sagte Enid.

Der alte Mann stieß sich mit dem Stuhl vom Tisch ab und wandte sich noch einmal an Chip. Er sagte: «Du siehst, die Sache hat so ihre Tücken.»

Als er aufstand, gaben seine Beine nach, und er fiel hin, seinen Teller und sein Platzdeckchen und seine Kaffeetasse und seine Untertasse mitreißend. Das Geschepper hätte der letzte Takt einer Symphonie sein können. Er lag inmitten der Trümmer auf der Seite wie ein verwundeter Gladiator, ein gestürztes Pferd.

Chip kniete sich hin und half ihm, sich aufzusetzen, während Denise in die Küche eilte.

«Es ist Viertel vor elf», sagte Gary, als wäre nichts Ungewöhnliches passiert. «Bevor ich abfahre, fasse ich zusammen. Dad ist geistig verwirrt und inkontinent. Mom kann ihn nicht ohne fremde Hilfe hier im Haus behalten, Hilfe, die sie nach eigenem Bekunden auch dann nicht haben wollte, wenn sie das Geld dafür hätte. Korrektal ist eindeutig keine Option, und deshalb möchte ich jetzt wissen, was ihr zu tun gedenkt. Jetzt, Mutter. Ich möchte es jetzt wissen.»

Alfred legte seine zitternden Hände auf Chips Schultern und betrachtete verwundert die Zimmereinrichtung. Obwohl er sehr erregt war, lächelte er. «Meine Frage», sagte er dann. «Ist, wem gehört dieses Haus? Wer kümmert sich hier um alles?»

«Es gehört dir, Dad.»

Alfred schüttelte den Kopf, als decke sich das nicht mit den Tatsachen, so wie er sie verstand. Gary verlangte eine Antwort.

«Wir werden es wohl mit dem Pillenurlaub versuchen müssen», sagte Enid.

«Prima, tut das», sagte Gary. «Bringt ihn ins Krankenhaus, und dann warten wir ab, ob sie ihn da je wieder rauslassen. Und wenn du schon mal je dabei bist, kannst du selbst auch gleich so einen Pillenurlaub machen.»

«Gary, sie hat sie weggeworfen», sagte Denise, die mit einem Schwamm am Boden kniete. «Sie hat sie in den Abfallzerkleinerer geschüttet. Also reg dich ab.»

«Na, hoffentlich hast du was dabei gelernt, Mutter.» Chip, in den Kleidern des alten Mannes, konnte der Unterhaltung nicht folgen. Die Hände seines Vaters lasteten schwer auf seinen Schultern. Zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde klammerte sich jemand an ihn, als wäre er ein Mensch mit Substanz, als wäre etwas an ihm dran. In Wirklichkeit war so wenig an ihm dran, dass er nicht einmal zu sagen vermochte, ob seine Schwester und sein Vater sich in ihm täuschten. Er kam sich vor, als wäre sein Bewusstsein von allen individuellen Merkmalen kahl geschoren und, metempsychotisch, in den Körper eines verlässlichen Sohnes, eines vertrauenswürdigen Bruders hineintransplantiert worden…

Gary war neben Alfred in die Hocke gegangen. «Dad», sagte er, «es tut mir Leid, dass es so enden musste. Ich hab dich lieb, und wir sehen uns bald wieder.»

«Na. Wi dulst. Jau», antwortete Alfred. Er senkte den Kopf und blickte mit offenkundiger Paranoia um sich.

«Und du, mein nichtsnutziger Bruder.» Gary breitete seine Finger klauenartig auf Chips Kopf aus, eine anscheinend liebevoll gemeinte Geste. «Ich zähle darauf, dass du hier ordentlich mit anpackst.»

«Ich werd mir Mühe geben», sagte Chip, mit weniger Ironie als geplant.

Gary stand auf. «Es tut mir Leid, dass ich dein Frühstück ruiniert habe, Mom. Aber mir jedenfalls ist wohler, nachdem ich das mal losgeworden bin.»

«Warum du damit nicht bis nach den Feiertagen warten konntest», murmelte Enid.

Gary küsste sie auf die Wange. «Ruf gleich morgen früh Hedgpeth an. Und dann erzähl mir, was ihr besprochen habt. Ich werde das ganz genau kontrollieren.»

Chip war schleierhaft, wie Gary in dieser Situation — Alfred auf dem Fußboden und Enids Weihnachtsfrühstück in Trümmern — einfach so aus dem Haus spazieren konnte, doch als Gary sich den Mantel anzog und seine Tasche und Enids Tasche mit den Geschenken für Philadelphia hochnahm, zeigte er sich von seiner rationalsten Seite, seine Worte hatten etwas Förmlich-Hohles, und sein Blick war ausweichend, denn er hatte Angst. Hinter der Kaltfront dieses wortlosen Aufbruchs sah Chip es ganz deutlich: Sein Bruder hatte Angst.

Sobald die Haustür ins Schloss gefallen war, machte Alfred sich auf den Weg ins Bad.

«Da können wir ja alle froh sein», sagte Denise, «dass Gary das mal loswerden konnte und ihm jetzt so viel wohler ist.»

«Nein, er hat Recht», sagte Enid, die Augen trübselig auf das Stechpalmengesteck in der Tischmitte gerichtet. «Es muss sich etwas ändern.»

Nach dem Frühstück gingen die Stunden in der Kränklichkeit, dem siechen Warten eines großen Feiertags dahin. Chip hatte vor Erschöpfung Mühe, sich warm zu halten, sein Gesicht aber glühte von der Hitze aus der Küche und dem Duft des bratenden Truthahns, der das Haus einhüllte. Sobald er in den Gesichtskreis seines Vaters geriet, huschte ein Lächeln des Wieder-Erkennens und der Freude über Alfreds Züge. Dieses Lächeln hätte bedeuten können, dass Alfred Chip verwechselte, wenn er nicht jedes Mal seinen Namen gerufen hätte. Chip wurde von dem alten Mann ganz offensichtlich geliebt. Die längste Zeit seines Lebens hatte er sich mit Alfred in den Haaren gelegen und Alfred gegrollt und den Stachel von Alfreds Missbilligung gespürt, und jetzt waren seine persönlichen Niederlagen und politischen Ansichten eher noch extremer als früher, und trotzdem war es Gary, der mit dem alten Mann stritt, und Chip, der das Gesicht des alten Mannes leuchten ließ.

Beim Abendessen raffte er sich auf, mehr oder weniger ausführlich zu schildern, was er in Litauen erlebt hatte. Ebenso gut hätte er die Steuervorschriften herunterleiern können. Denise, normalerweise der Inbegriff der aufmerksamen Zuhörerin, hatte alle Hände voll damit zu tun, Alfred beim Essen behilflich zu sein, und Enid achtete die ganze Zeit nur auf die Unzulänglichkeiten ihres Mannes. Bei jedem herunterfallenden Bissen, jeder Entgleisung zuckte sie zusammen, oder sie seufzte oder schüttelte den Kopf. Es war nicht zu übersehen, dass Alfred ihr das Leben nun zur Hölle machte.

Ich bin die am wenigsten unglückliche Person an diesem Tisch, dachte Chip.

Er half Denise beim Abwasch, während Enid mit ihren Enkeln telefonierte und Alfred schlafen ging.

«Seit wann ist Dad schon so?», fragte er Denise.

«So wie jetzt? Seit gestern. Aber vorher war es nicht viel besser.»

Chip warf sich einen schweren Mantel von Alfred über und nahm eine Zigarette mit hinaus. Es war kälter, als er es in Vilnius je erlebt hatte. Wind rüttelte an den dicken braunen Blättern, die immer noch an den Eichen hingen, jenen konservativsten aller Bäume; Schnee quietschte unter seinen Füßen. Um die minus 18 Grad heute Nacht, hatte Gary gesagt. Da kann er doch mit einer Flasche Whiskey nach draußen gehen. Chip wollte über die wichtige Selbstmordfrage nachdenken, solange eine Zigarette seine geistige Leistungsfähigkeit steigerte, doch seine Bronchien und Nasenhöhlen standen bereits unter einem solchen Kälteschock, dass der Schock des Nikotins kaum noch zu Buche schlug, und der Schmerz in seinen Fingern und Ohren — diese verfluchten Niete — wurde rasch unerträglich. Er gab auf und hastete ins Haus, just in dem Moment, als Denise aufbrach.

«Wo willst du hin?», fragte Chip. «Bin bald zurück.»

Enid, im Wohnzimmer am Kamin, biss sich in heller Verzweiflung auf die Lippen. «Du hast deine Geschenke noch gar nicht aufgemacht», sagte sie.

«Morgen früh, mal sehen», sagte Chip. «Ich habe bestimmt nichts für dich, was dir gefallen wird.» «Es ist nett, dass du überhaupt was für mich hast.» Enid schüttelte den Kopf. «Das war nicht das Weihnachten, das ich mir erhofft hatte. Auf einmal ist Dad zu nichts mehr imstande. Zu gar nichts.»

«Jetzt soll er erst mal seinen Pillenurlaub machen, vielleicht hilft ihm das ja.»

Enid las offenbar schlechte Prognosen aus den Flammen. «Kannst du nicht eine Woche bleiben, so lange, bis ich ihn ins Krankenhaus gebracht habe?»

Chips Hand wanderte zu dem Niet in seinem Ohr wie zu einem Glücksbringer. Ihm war, als wäre er ein Kind aus Grimms Märchen, das sich von der Aussicht auf Wärme und Essen in ein verwunschenes Haus hatte locken lassen; und gleich würde ihn die Hexe in einen Käfig sperren, mästen und verspeisen.

Er wiederholte die Zauberformel, die er an der Eingangstür gesprochen hatte. «Ich kann nur drei Tage bleiben», sagte er. «Ich muss so bald wie möglich wieder zu arbeiten anfangen. Ich schulde Denise Geld, das ich ihr unbedingt zurückzahlen möchte.»

«Nur eine Woche», sagte die Hexe. «Nur eine Woche, bis wir sehen, wie es ihm im Krankenhaus geht.»

«Ich glaube nicht, Mom. Ich muss zurück.» Enids trübe Stimmung verdüsterte sich weiter, aber zu überraschen schien seine Weigerung sie nicht. «Dann ist das wohl meine Angelegenheit», sagte sie. «Das habe ich irgendwie immer geahnt.»

Sie zog sich ins Arbeitszimmer zurück, und Chip legte noch ein paar Holzscheite nach. Kalte Zugluft drang durch die Fenster und bewegte sacht die offenen Vorhänge. Der Heizkessel lief fast ununterbrochen. Die Welt war kälter und leerer, als Chip gedacht hatte — die Erwachsenen waren fort.

Gegen elf kam Denise herein. Sie stank nach Zigarettenrauch und sah zu zwei Dritteln erfroren aus. Sie winkte ihm zu und wollte sofort nach oben gehen, doch Chip bestand darauf, dass sie sich zu ihm ans Feuer setzte. Denise kniete sich hin, neigte, unentwegt schniefend, den Kopf und streckte die Hände aus. Sie hielt den Blick starr auf das Feuer gerichtet, als müsse sie sich zwingen, ihn nicht anzuschauen. Mit einem feuchten Kleenex- Fetzen putzte sie sich die Nase.

«Wo warst du?», fragte er.

«Spazieren.»

«Langer Spaziergang.»

«M-hm.»

«Du hast mir ein paar E-Mails geschickt, die ich gelöscht habe, bevor ich sie richtig lesen konnte.»

«Oh.»

«Also, was ist los?»

Sie schüttelte den Kopf. «Einfach alles.»

«Am Montag hatte ich fast dreißigtausend Dollar in bar. Davon wollte ich dir vierundzwanzigtausend geben. Aber dann sind wir von uniformierten Männern mit Skimasken ausgeraubt worden. So absurd das klingen mag.»

«Ich möchte dir die Schulden gern erlassen», sagte Denise.

Chips Hand wanderte wieder zu dem Niet. «Ich habe vor, dir mindestens vierhundert im Monat zurückzuzahlen, bis alle Schulden getilgt sind, einschließlich der Zinsen. Das hat für mich Priorität. Absolute Priorität.»

Seine Schwester drehte sich um und sah zu ihm hoch. Ihre Augen waren blutunterlaufen, Stirn und Nase rot wie die eines Neugeborenen. «Ich habe gesagt, ich erlasse dir die Schulden. Du schuldest mir nichts.»

«Nett von dir», sagte er rasch und wandte den Blick ab. «Aber ich zahle dir das Geld trotzdem zurück.»

«Nein», sagte sie. «Ich werde dein Geld nicht annehmen. Ich erlasse dir deine Schulden. Weißt du, was das heißt: jemandem etwas erlassen?»

Mit ihrer seltsamen Stimmung, mit ihren unerwarteten Worten machte sie Chip nervös. Er zog an seinem Niet und sagte: «Komm, Denise. Bitte. Hab wenigstens so viel Respekt vor mir, dass du mich meine Schulden zurückzahlen lässt. Ich weiß, dass ich ein Arsch gewesen bin. Aber ich will nicht mein Leben lang ein Arsch sein.»

«Ich möchte dir deine Schulden erlassen», sagte sie, «Ehrlich. Komm.» Chip lächelte gequält. «Du musst mich bezahlen lassen.»

«Kannst du's nicht ertragen, dass dir einer was erlässt?»

«Nein», sagte er. «Im Grunde nicht. Nein. Es ist in jeder Hinsicht besser, wenn ich dir alles zurückzahle.»

Immer noch kniend, beugte Denise sich vor, verschränkte die Arme und rollte sich zu einer Olive, einem Ei, einer Zwiebel zusammen. Aus dem Innern dieses kugelförmigen Etwas kam eine leise Stimme. «Begreifst du denn nicht, was für einen Riesengefallen du mir tun würdest, wenn ich dir die Schulden erlassen dürfte? Begreifst du nicht, dass es mir schwer fällt, dich darum zu bitten? Begreifst du nicht, dass der einzige andere Gefallen, um den ich dich je gebeten habe, der war, über Weihnachten hierher zu kommen? Begreifst du nicht, dass es mir nicht darum geht, dich zu kränken? Begreifst du nicht, dass ich nie an deinem Willen gezweifelt habe, mir das Geld wiederzugeben, und mir völlig klar ist, dass ich dich um etwas sehr Schwieriges bitte? Begreifst du nicht, dass ich dich nie um etwas so Schwieriges bitten würde, wenn es nicht wirklich, wirklich, wirklich nötig wäre?»

Chip blickte auf die zitternde menschliche Kugel zu seinen Füßen. «Erzähl mir, was los ist.»

«Ich hab nichts als Probleme an allen Fronten», sagte sie.

«Dann ist das jetzt der falsche Moment, um über das Geld zu reden. Vergessen wir's einfach für eine Weile. Erst will ich wissen, was mit dir los ist.»

Immer noch zusammengerollt, bewegte Denise mit Nachdruck den Kopf einmal hin und einmal her. «Ich möchte, dass du jetzt ja sagst. Sag:»

Chip machte eine Geste äußerster Ratlosigkeit. Es ging auf Mitternacht zu, und oben hatte sein Vater zu rumoren begonnen, und vor ihm kauerte seine Schwester, zu einem Ei zusammengerollt, und flehte ihn an, ihn von der Hauptmarter seines Lebens befreien zu dürfen.

«Lass uns morgen darüber reden», sagte er.

«Würde es dir helfen, wenn ich dich um etwas anderes bitte?»

«Morgen, okay?»

«Mom möchte, dass nächste Woche jemand im Haus ist», sagte Denise. «Du könntest eine Woche bleiben und ihr helfen. Das wäre eine Riesenerleichterung für mich. Ich sterbe, wenn ich noch länger als bis Sonntag hier bleiben muss. Ich höre buchstäblich auf zu existieren.»

Chip atmete schwer. Die Tür seines Käfigs schloss sich rasch Die Ahnung, die ihn in der Herrentoilette auf dem Flughafen von Vilnius beschlichen hatte, das Gefühl, dass die Schulden, die er bei Denise hatte, keineswegs eine Last, sondern vielmehr seine letzte Rettung waren, kehrte jetzt als Angst, dass sie ihm erlassen würden, zu ihm zurück. Er hatte unter diesen Schulden gelitten, bis sie den Charakter eines Neuroblastoms angenommen hatten, das so mit seiner Gehirnarchitektur verwachsen war, dass er bezweifelte, die Operation, bei der es herausgeschnitten würde, zu überleben.

Er fragte sich, ob die letzte Maschine an die Ostküste wohl schon weg war oder ob er heute Nacht noch flüchten konnte.

«Wie wär's, wenn wir den Betrag halbieren?», sagte er. «Dann schulde ich dir nur noch zehn. Wie wär's, wenn wir beide bis Mittwoch bleiben?»

«Nein.»

«Wenn ich ja sage, hörst du dann auf, so komisch zu sein, und machst ein fröhlicheres Gesicht?»

«Sag erst ja.»

Oben rief Alfred nach Chip. «Chip, kannst du mir helfen?»

«Er ruft auch nach dir, wenn du nicht da bist», sagte Denise.

Die Fensterscheiben wackelten im Wind. Wann waren seine Eltern zu den Kindern geworden, die früh ins Bett gingen und oben an der Treppe standen und um Hilfe riefen? Wann war das passiert?

«Chip», rief Alfred. «Ich komme mit dieser Decke nicht zurecht. KANNST DU MIR HELFEN?»

Das Haus wackelte, und die Sturmfenster ratterten, und die Zugluft wurde stärker; und auf einmal wehte Chip die Erinnerung an die Vorhänge an. Er erinnerte sich an den Tag, als er St. Jude verlassen hatte, um aufs College zu gehen. Er erinnerte sich, wie er die handgeschnitzten österreichischen Schachfiguren eingepackt hatte, ein Geschenk seiner Eltern zum Highschool-Abschluss, und die sechsbändige Lincoln-Biographie von Sandburg, die er zum achtzehnten Geburtstag bekommen hatte, und den neuen marineblauen Blazer von Brooks Brothers («Wie ein fescher junger Arzt siehst du darin aus!», hatte Enid bedeutungsvoll gesagt), und stapelweise weiße T-Shirts und weiße Jockey-Unterhosen und weiße lange Unterhosen, und ein Foto von Denise als Fünftklässlerin in einem Plexiglasrahmen, und dieselbe Hudson-Bay-Decke, die schon Alfred, vier Jahrzehnte früher, als Studienanfänger mit an die Universität von Kansas genommen hatte, und Lederhandschuhe mit wollenem Innenfutter, die ebenfalls aus Alfreds tiefster Kansas-Vergangenheit stammten, und ein Paar dicker Thermovorhänge, die Alfred bei Sears für ihn gekauft hatte. Beim Lesen der Informationsbroschüren von Chips College war Alfred der Satz Die Winter in New England können sehr kalt sein ins Auge gesprungen. Die Vorhänge von Sears bestanden aus einem synthetischen, rosabraunen, auf der Rückseite mit Schaumgummi beschichteten Stoff. Sie waren schwer und unhandlich und steif. «In einer kalten Nacht wirst du sie zu schätzen wissen», sagte er zu Chip. «Du wirst staunen, wie wenig Zugluft sie durchlassen.» Doch Chips Zimmergenosse war ein Privatschulprodukt namens Roan McCorkle, der schon bald Daumenabdrücke auf dem Foto von Denise hinterließ, allem Anschein nach mit Vaseline. Roan lachte über die Vorhänge, und Chip lachte auch. Er legte sie in den Karton zurück und verstaute den Karton im Keller des Wohnheims, wo sie in den nächsten vier Jahren Schimmel ansetzten. Er hatte gar nichts gegen die Vorhänge. Es waren bloß Vorhänge, die dasselbe wollten wie alle anderen Vorhänge auch — gut hängen; nach besten Kräften das Licht aussperren; weder zu klein noch zu groß für das Fenster sein, das abzudunkeln der ganze Zweck ihres Daseins war; am Abend in diese und am Morgen in die andere Richtung gezogen werden; sacht in den Brisen wehen, die an einem Sommerabend den Regen ankündigen; viel benutzt werden und wenig auffallen. Nicht nur im Mittelwesten, sondern auch an der Ostküste gab es zahllose Krankenhäuser und Altenheime und Billigmotels, in denen genau solchen braunen, mit Schaumgummi verstärkten Vorhängen ein langes und sinnvolles Leben beschieden gewesen wäre. Es war nicht ihre Schuld, dass sie nicht in ein Studentenwohnheim gehörten. Sie wollten gar nichts Besseres sein; Material und Musterung gaben nicht den geringsten Hinweis auf unziemlichen Ehrgeiz. Sie waren, was sie waren. Ja, als er sie am Vorabend seiner Examensfeier schließlich wieder hervorholte, erschienen ihm ihre zartrosa Stofffalten eher weniger synthetisch und spießig und searshaft, als er sie in Erinnerung gehabt hatte. Sie waren nicht annähernd so peinlich wie gedacht.

«Ich komme mit diesen Decken nicht zurecht», rief Alfred.

«Na schön», sagte Chip zu Denise, als er die Treppe hinauf eilte, «Wenn du dich dann wirklich besser fühlst, zahle ich dir das Geld eben nicht zurück.»

Die Frage war: Wie kam er raus aus diesem Gefängnis?

Die große schwarze Frauensperson, die Böse, der Bastard, sie war es, auf die er ein Auge haben musste. Sie wollte ihm das Leben zur Hölle machen. Sie stand am anderen Ende des Gefängnishofs und warf ihm vielsagende Blicke zu, damit er wusste, dass sie ihn nicht vergessen hatte, sondern immer noch wild dahinter her war, Rache zu üben. Sie war ein fauler schwarzer Bastard, und das spuckte er auch aus, mit lauter Stimme. Er verfluchte all die Bastarde, schwarz oder weiß, um ihn herum. Die gottverdammten hinterlistigen Bastarde mit ihren dämlichen Vorschriften. Unweltschutz-Bürokraten, paragraphenreitende Gewerbeaufsichtsbeamte, unverschämte Sowiesos. Im Augenblick hielten sie sich zurück, logisch, sie wussten ja, dass er ihnen auf die Schliche gekommen war, aber wehe, wenn er auch nur für eine Minute eindöste, nur ein einziges Mal nicht aufpasste — dann würden sie ihm sonst was antun. Sie konnten es kaum abwarten, ihm zu sagen, dass er nichts wert sei. Sie konnten es kaum abwarten, ihm ihre Verachtung zu zeigen. Dieser fette schwarze Bastard von einer Frau, diese scheußliche schwarze Hexe da drüben, sie behielt ihn im Auge und nickte über die weißen Köpfe der anderen Gefangenen hinweg: Ich kriege dich. Das war es, was ihr Nicken ihm bedeutete. Und niemand sonst konnte sehen, was sie ihm antat. Die ganzen anderen waren angstschlotternde, nutzlose Fremde, die Unfug redeten. Er hatte einen der Kerle gegrüßt, ihm eine einfache Frage gestellt. Der Kerl verstand nicht das Geringste. Es hätte doch leicht sein können, eine einfache Frage stellen, eine einfache Antwort bekommen, aber nein. Er war sich selbst überlassen, in die Enge getrieben; und die Bastarde waren ihm auf den Fersen.

Er fragte sich, wo Chip war. Chip war ein Intellektueller und hatte seine eigenen Methoden, diesen Leuten ins Gewissen zu reden. Chip hatte das gestern gut gemacht, besser, als er es selbst hätte machen können. Hatte eine einfache Frage gestellt, eine einfache Antwort bekommen und das Ganze dann so erklärt dass man es auch verstand. Aber jetzt war nichts von Chip zu sehen. Semaphorierende Häftlinge, die wie Verkehrspolizisten mit den Armen winkten. Wehe, man versuchte diesen Leuten einen einfachen Auftrag zu erteilen, wehe. Sie taten so, als existiere man gar nicht. Der fette schwarze Bastard von einem Weib hatte sie alle in Angst und Schrecken versetzt. Wenn sie merken würde, dass die Häftlinge auf seiner Seite stünden, dass sie ihm auf irgendeine Weise geholfen hätten, würde sie sie dafür bluten lassen. O ja, sie hatte diesen Blick. Diesen Ich werde dich leiden. Und er, er hatte an diesem Punkt seines Lebens allmählich genug von dieser unverschämten schwarzen Frauensperson, doch was konnte man schon tun? Es war ein Gefängnis. Es war eine öffentliche Anstalt. Hier würden sie jeden reinwerfen. Weißhaarige, semaphorierende Frauen. Schwule Schwuchteln, Händchen haltend. Aber warum ihn, Herrgott noch mal? Warum ausgerechnet ihn? Es war zum Weinen, dass sie ihn an einen solchen Ort verfrachtet hatten. Altwerden war die Hölle, auch ohne von so einer watschelnden schwarzen Sowieso verfolgt zu sein.

Und da war sie schon wieder.

«Alfred?» Frech. Unverschämt. «Lassen Sie mich jetzt Ihre Beine strecken?»

«Du bist ein verdammter Bastard!», sagte er zu ihr.

«Ich bin nu' mal, was ich bin, Alfred. Aber ich weiß, wer meine Eltern sind. Also, jetzt legen Sie mal schön brav Ihre Hände hin, dann kann ich Ihnen helfen, die Beine zu strecken, und dann geht's Ihnen gleich besser.»

Er wollte sich, als sie näher kam, auf sie stürzen, doch sein Gürtel klemmte am Stuhl fest, klemmte irgendwie am Stuhl, am Stuhl. Klemmte am Stuhl fest, und er konnte sich nicht bewegen.

«Wenn Sie so weitermachen, Alfred», sagte die Böse, «müssen wir Sie in Ihr Zimmer zurückbringen.»

«Bastard! Bastard! Bastard!»

Sie schnitt eine unverschämte Grimasse und ging fort, aber er wusste, sie würde wiederkommen. Sie kamen immer wieder. Seine einzige Hoffnung war, den Gürtel irgendwie vom Stuhl loszukriegen. Sich selbst loszukriegen, vorzuschnellen, dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Schlechter Einfall vom Architekten, einen Gefängnishof in solcher Höhe zu bauen. Bis nach Illinois konnte man gucken. Große Fenster, gleich da neben ihm. Schlechter Einfall, hier Häftlinge unterzubringen. Sah nach Doppelverglasung aus, Thermopanescheiben — Wenn er mit dem Kopf dagegen schlug und sich nach vorne fallen ließ, konnte er es schaffen. Aber zuerst musste er den verdammten Gürtel loskriegen.

Wieder und wieder, immer gleich, kämpfte er mit dem glatten Nylonband. Es hatte einmal Zeiten gegeben, da war er Hindernissen philosophisch begegnet, doch diese Zeiten waren vorbei. Die Finger, die er unter den Gürtel zu schieben versuchte, um daran zu ziehen, waren nicht stärker als Grashalme. Sie bogen sich wie weiche Bananen. Der Versuch, sie unter den Gürtel zu schieben, war so offensichtlich und vollkommen hoffnungslos — der Gürtel blieb, was Härte und Festigkeit betraf, so himmelweit im Vorteil — , dass seine Anstrengungen mehr und mehr zu einer Parodie auf Trotz und Wut und Untauglichkeit wurden. Er blieb mit den Fingernägeln am Gürtel hängen und riss die Arme auseinander, und seine Hände schmetterten gegen die Armlehnen des Stuhls, der ihn gefangen hielt, schossen, schmerzhaft abprallend, hierhin und dorthin, weil er so verdammt wütend «Dad, Dad, he, beruhige dich», sagte die Stimme.

«Fang den Bastard! Fang den Bastard!»

«Dad, he, itch bin's. Chip.»

Tatsächlich, die Stimme war ihm vertraut. Mit aller Vorsicht sah er zu Chip hoch, um sicherzugehen, dass der Sprecher auch wirklich sein mittleres Kind war, denn die Bastarde wollten einen überlisten, wann immer es ging. Und wäre der Sprecher irgendjemand anderes auf der Welt gewesen als Chip, hätte es sich nicht gelohnt, ihm zu trauen. Zu riskant. Doch Chipper hatte etwas an sich, das die Bastarde nicht nachmachen konnten. Ein Blick, und man wusste, dass er einen nie belügen würde. Er war auf eine Weise gutherzig, die sich von keinem vortäuschen ließ.

Während seine Annahme, Chipper vor sich zu haben, allmählich zur Gewissheit wurde, begann sich sein Atem zu beruhigen, und etwas wie ein Lächeln schob sich vor die anderen, sich bekriegenden Mächte auf seinem Gesicht.

«Na!», sagte er schließlich.

Chip rückte einen zweiten Stuhl heran und gab Alfred eine Tasse Eiswasser, auf das er, wie er merkte, tatsächlich Durst hatte. Er nahm einen langen Zug mit dem Strohhalm und gab Chip das Wasser zurück.

«Wo ist deine Mutter?»

Chip stellte die Tasse auf den Boden. «Sie ist heute Morgen mit einer Erkältung aufgewacht. Ich habe ihr gesagt, sie soll im Bett bleiben.»

«Wo wohnt sie jetzt?»

«Sie ist zu Hause. Genau wie vor zwei Tagen.»

Chip hatte ihm bereits erklärt, warum er hier sein musste, und die Erklärung hatte ihm eingeleuchtet, solange er Chips Gesicht sehen und seine Stimme hören konnte, doch sobald Chip fort war, brach die Erklärung in sich zusammen.

Der große schwarze Bastard umkreiste sie beide mit seinem bösen Blick.

«Das hier ist ein Raum für Physiotherapien», sagte Chip. «Wir sind im achten Stock der St.-Luke's-Klinik. Mom hatte hier ihre Fußoperation, weißt du noch?»

«Die Frau da ist ein Bastard», sagte er und streckte den Finger aus.

«Nein, sie ist Physiotherapeutin», sagte Chip, «und sie möchte dir helfen.»

«Nein, guck sie dir doch an. Siehst du nicht, wie sie ist? Siehst du das nicht?»

«Sie ist Physiotherapeutin, Dad.»

«Die was? Sie ist eine?»

Einerseits vertraute er der Klugheit und dem sicheren Auftreten seines so gebildeten Sohnes. Andererseits warf die schwarze Hexe ihm den Blick zu, um ihn vor dem Leid zu warnen, das sie ihm bei der erstbesten Gelegenheit antun würde; eine ungeheure Böswilligkeit lag in ihrer Art, das sah doch ein Blinder. Er war außerstande, den Widerspruch aufzulösen: hier sein Glaube, dass Chip mit Sicherheit Recht hatte, dort seine Überzeugung, dass die Hexe mit Sicherheit keine Physikerin war.

Der Widerspruch weitete sich zu einem bodenlosen Abgrund aus. Alfred starrte mit offenem Mund in die Tiefe. Ein warmes Etwas kroch an seinem Kinn abwärts.

Da griff die Hand irgendeines Bastards nach ihm. Er versuchte, nach dem Bastard zu schlagen, und gerade noch rechtzeitig bemerkte er, dass die Hand zu Chip gehöre. «Ganz ruhig, Dad. Ich wische dir nur das Kinn ab.» «Ach Gott.»

«Möchtest du noch ein bisschen hier sitzen, oder willst du lieber wieder in dein Zimmer?»

«Das stelle ich in dein Ermessen.»

Diese handliche Wendung kam ihm ganz und gar gebrauchsfertig in den Sinn, passender ging's nicht.

«Dann bringe ich dich jetzt zurück.» Chip langte hinter den Stuhl und hantierte dort herum. Offenbar hatte der Stuhl Schalter und Hebel von unfassbarer Komplexität.

«Sieh mal, ob du meinen Gürtel aufmachen kannst», sagte er. «Warte, bis wir in deinem Zimmer sind, da kannst du dann herumlaufen.»

Chip schob ihn vom Gefängnishof herunter und den Gang entlang bis zu seiner Zelle. Alfred kam nicht darüber hinweg, wie luxuriös die Ausstattung war. Wie in einem erstklassigen Hotel, wenn man einmal von den Haltegriffen am Bett und den Fesseln und den Funkgeräten absah, dem Gefangenen-Überwachungssystem.

Chip stellte den Stuhl am Fenster ab, verließ das Zimmer mit einer Styroporkaraffe und kehrte ein paar Minuten später in Begleitung eines hübschen kleinen Mädchens in weißer Jacke wieder zurück.

«Mr. Lambert?», sagte sie. Mit dem lockigen schwarzen Haar und der Nickelbrille war sie hübsch wie Denise, nur eben nicht so groß. «Ich bin Dr. Schulman. Sie erinnern sich vielleicht, wir haben uns gestern kennengelernt.»

«Na!», sagte er, breit lächelnd. Er erinnerte sich an eine Welt, in der es solche Mädchen gab, hübsche kleine Mädchen mit wachen Augen und klugen Gesichtern, eine Welt der Hoffnung.

Sie legte ihm eine Hand auf die Stirn und beugte sich herab, als wollte sie ihn küssen. Sie erschreckte ihn zu Tode. Fast hätte er sie geschlagen.

«Ich wollte Sie nicht erschrecken», sagte sie. «Ich möchte nur in Ihre Augen sehen. Ist Ihnen das recht?»

Unsicher schaute er zu Chip, aber der starrte das Mädchen an. «Chip!», sagte er.

Chip wandte den Blick von ihr ab. «Ja, Dad?» Na. Jetzt, wo er Chips Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, musste er wohl auch etwas sagen, und was er sagte, war dies: «Richte deiner Mutter aus, dass sie sich über den Schlamassel da unten nicht grämen soll. Ich kümmere mich darum.» «In Ordnung. Ich richte es ihr aus.»

Die geschickten Finger und das sanfte Gesicht des Mädchens waren überall, rings um seinen Kopf herum. Sie bat ihn, eine Faust zu machen, sie kniff und pikte ihn. Sie sprach wie der Fernseher in einem Nachbarraum. «Dad?», sagte Chip. «Ich hab nicht verstanden.»

«Dr. Schulman möchte wissen, ob sie dich ‹Alfred› oder ‹Mr. Lambert› nennen soll. Was ist dir lieber?» Er grinste gequält.»Ich kann nicht folgen.» «Ich glaube, ‹Mr. Lambert› zieht er vor», sagte Chip.

«Mr. Lambert», sagte das Mädchen, «können Sie mir sagen, wo wir hier sind?»

Er schaute wieder zu Chip, dessen Miene erwartungsvoll, aber nicht hilfreich war. Er zeigte aufs Fenster. «Dahinten ist Illinois», sagte er. Sein Sohn und das Mädchen hörten jetzt sehr interessiert zu, und er hatte das Gefühl, er sollte weiterreden. «Da ist ein Fenster», sagte er, «das wäre… wenn man es öffnen könnte… genau, was ich will. Ich konnte den Gürtel nicht aufkriegen. Und dann.»

Er versagte, und er wusste es.

Das Mädchen blickte freundlich zu ihm herab. «Können Sie mir sagen, wer unser Präsident ist?»

Er grinste. Das war eine leichte Frage.

«Na», sagte er. «Sie hat so viel Zeug da unten. Ich bezweifle, dass sie es überhaupt merken würde. Wir sollten das einfach alles wegschmeißen.»

Das Mädchen nickte, als wäre das eine vernünftige Antwort. Dann hob sie beide Hände. Sie war hübsch wie Enid, aber Enid hatte einen Ehering, Enid trug keine Brille, Enid war in letzter Zeit älter geworden, und Enid hätte er wahrscheinlich wieder erkannt, obwohl die Tatsache, dass sie ihm so viel vertrauter war als Chip, es um so schwerer machte, sie zu sehen.

«Wie viele Finger halte ich hoch?», fragte ihn das Mädchen.

Er betrachtete ihre Finger. Wenn er sich nicht irrte, lautete deren Botschaft: Entspannen. Nicht so verkrampft. Lass dir Zeit.

Er lächelte, während sich seine Blase leerte.

«Mr. Lambert? Wie viele Finger halte ich hoch?»

Da, die Finger. Es war wunderschön. Die Erleichterung, für nichts verantwortlich zu sein. Je weniger er wusste, desto glücklicher war er. Überhaupt nichts zu wissen wäre der Himmel.

«Dad?»

«Ich sollte das eigentlich wissen», sagte er. «Ist es nicht unglaublich, dass ich so was vergessen kann?»

Das Mädchen und Chip tauschten Blicke und gingen hinaus auf den Flur. Das Entspannen war angenehm gewesen, doch nach einer Minute oder zweien fühlte sich alles klamm an. Er musste seine Kleider wechseln und konnte es nicht. Saß in seinem abkühlenden Schlamassel. «Chip?», rief er.

Stille hatte sich auf den Gefängnistrakt gelegt. Auf Chip war kein Verlass, immer wieder verschwand er. Auf niemanden war Verlass, außer auf einen selbst. Ohne Plan im Kopf und ohne Kraft in den Händen versuchte er, den Gürtel zu lockern, um sich die Hose auszuziehen und sich abzutrocknen. Doch es war zum Auswachsen mit dem Gürtel. Zwanzigmal fuhr er mit den Händen daran entlang, und zwanzigmal fand er keine Schnalle. Er war wie ein Zwei-Dimensionen-Mensch, der in eine dritte Dimension flüchten wollte. Und wenn er sich bis in alle Ewigkeit bemühte, er würde die verdammte Schnalle doch nicht finden.

«Chip!», rief er, aber nicht laut, weil der schwarze Bastard da draußen lauerte und ihn hart bestrafen würde. «Chip, komm her und hilf mir.»

Am liebsten wäre er seine Beine gleich ganz losgeworden. Sie waren schwach und ruhelos und nass und gefangen. Er strampelte ein bisschen und schaukelte in seinem nicht schaukelnden Stuhl. Seine Hände waren in Aufruhr. Je weniger Gewalt er über seine Beine hatte, umso heftiger schwang er die Arme. Jetzt kriegten sie ihn, die Bastarde, er war verraten worden, und er begann zu weinen. Hätte er es bloß gewusst! Hätte er es bloß gewusst, dann hätte er etwas unternehmen können, er hatte doch das Gewehr gehabt, er hatte den tiefen kalten Ozean gehabt, hätte er es bloß gewusst.

Er schmiss eine Wasserkaraffe gegen die Wand, und endlich kam jemand herbeigeeilt.

«Dad, Dad, Dad. Was ist los?»

Alfred hob den Blick und sah seinem Sohn in die Augen. Er öffnete den Mund, doch das einzige Wort, das er herausbrachte, war «Ich — »

Ich Ich habe Fehler gemacht Ich bin allein Ich bin nass Ich möchte sterben Ich möchte mich bei dir entschuldigen Ich habe mein Bestes getan Ich liebe meine Kinder Ich brauche deine Hilfe Ich möchte sterben «Ich halte das hier nicht aus», sagte er.

Chip hockte sich auf den Boden neben dem Stuhl. «Pass auf», sagte er. «Du musst noch eine Woche bleiben, damit sie dich beobachten können. Wir müssen herausfinden, was mit dir los ist.»

Er schüttelte den Kopf. «Nein! Du musst mich hier rausholen!»

«Dad, es tut mir Leid», sagte Chip, «aber ich kann dich nicht mit nach Hause nehmen. Du musst noch mindestens eine Woche in der Klinik bleiben.»

Oh, wie Chip seine Geduld auf die Probe stellte! Sein Sohn hätte doch längst begriffen haben müssen, worum er ihn bat, auch ohne dass es ihm noch einmal erklärt wurde.

«Mach dem Spuk ein Ende, habe ich gesagt!» Er hieb auf die Armlehnen des Stuhls, in dem er gefangen war. «Du musst mir helfen, dem Spuk ein Ende zu machen!»

Er sah zum Fenster, aus dem hinauszuspringen er, endlich, bereit war. Oder jemand sollte ihm ein Gewehr geben, eine Axt, irgendetwas, Hauptsache, er kam hier raus. Das musste er Chip begreiflich machen.

Chip bedeckte Alfreds zitternde Hände mit den seinen.

«Ich bleibe bei dir, Dad», sagte er. «Aber das andere kann ich nicht für dich tun. So kann ich dir nicht helfen. Es tut mir Leid.»

Wie eine Ehefrau, die gestorben, oder ein Haus, das abgebrannt war, genauso lebhaft hatte er die Klarheit, die man zum Denken, und die Kraft, die man zum Handeln brauchte, noch in Erinnerung. Durch ein Fenster zur nächsten Welt konnte er sie sehen, diese Klarheit, konnte sie sehen, diese Kraft, nur knapp außerhalb seiner Reichweite, gleich hinter den Thermopanescheiben. Er sah, was er hatte erreichen wollen, das Ertrinken im Meer, den tödlichen Schuss, den Sturz aus großer Höhe, alles zum Greifen nah, und wollte nicht glauben, dass es ihm ein für alle Mal verwehrt sein sollte, sich selbst in den Genuss solcher Erleichterung zu bringen.

Er weinte über die Ungerechtigkeit seiner Strafe. «Herrgott noch mal, Chip», sagte er laut, denn er ahnte, dass dies vielleicht seine letzte Chance war, sich zu befreien, bevor er jede Verbindung zu jener Klarheit und jener Kraft verlor, und deshalb war es entscheidend, dass Chip das, was er wollte, genau verstand. «Ich bitte dich um Hilfe! Du musst mich hier rausholen! Du musst diesem Spuk ein Ende machen!»

Trotz roter Augen, trotz Tränenschlieren gingen von Chips Gesicht Kraft und Klarheit aus. Hier war ein Sohn, der ihn genauso verstand, wie er sich selbst verstand, darauf konnte er zählen; und deshalb war Chips Antwort, als sie denn kam, unwiderruflich. Chips Antwort bedeutete ihm, dass dies der Punkt war, an dem die Geschichte endete. Sie endete damit, dass Chip den Kopf schüttelte, sie endete damit, dass er sagte: «Das kann ich nicht, Dad. Das kann ich nicht.»

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