ROBIN PASSAFARO war Philadelphierin und kam aus einer Familie von Unruhestiftern und Rechtgläubigen. Ihr Großvater und ihre beiden Onkel Jimmy und Johnny waren allesamt in der Vorbürgerkriegs wolle gefärbte Gewerkschafter; Fazio, der Großvater, hatte als Vorstandsmitglied der nationalen Dachgewerkschaft unter dem Teamster-Chef Frank Fitzsimmons gedient, hatte die größte Ortsgruppe von Philadelphia geleitet und zwanzig Jahre lang die Beiträge der 3200 Mitglieder veruntreut. Er hatte zwei Verfahren wegen organisierter Erpressung, eine Koronarthrombose, einen Kehlkopfschnitt und neun Monate Chemotherapie überlebt, bevor er sich in Sea Isle City an der Küste Jerseys zur Ruhe setzte, wo er immer noch jeden Morgen zum Pier humpelte und seine Krebsfallen mit rohem Hühnchenfleisch bestückte.
Onkel Johnny, Fazios ältester Sohn, lebte, und das recht gut, von zwei Behinderungen («chronische und schwere Lendenschmerzen» hieß es auf den Antragsformularen), seinem saisonalen, nur gegen Barzahlung arbeitenden Malerbetrieb und seinem Glück oder Talent als Online-Daytrader. Johnny wohnte mit seiner Frau und der jüngsten Tochter unweit vom Veterans-Stadion in einem mit Kunststoffplatten verkleideten Reihenhaus, das sie so lange erweitert hatten, bis es ihre Parzelle vom Gehweg bis zur hinteren Grundstücksgrenze vollständig bedeckte; ein Blumengarten und ein Stück Kunstrasen befanden sich auf dem Dach.
Onkel Jimmy («Baby Jimmy») war Junggeselle und Verwalter des IBT-Archivs, eines Mausoleums aus Schlackenstein, das von der Internationalen Bruderschaft der Teamster in hoffnungsfroheren Zeiten an den gewerblich genutzten Ufern des Delaware errichtet und später, weil sich nur drei (3) treue Teamster für die Bestattung in den tausend feuerfesten Grüften entschieden hatten, in ein Langzeitlager für Organisations- und Rechtsdokumente umgewandelt worden war. Baby Jimmy hatte es in Drogen-Selbsthilfegruppen zu lokaler
Berühmtheit gebracht, weil er sich in eine Methadon-Abhängigkeit hineinmanövriert hatte, ohne jemals Heroin probiert zu haben.
Robins Vater Nick war das mittlere Kind von Fazio und der einzige Passafaro seiner Generation, der mit dem Programm der Teamster nicht konform ging. Nick war der kluge Kopf der Familie und eingeschworener Sozialist; die Teamster mit ihrer Vorliebe für Nixon und Sinatra waren ihm ein Graus. Er heiratete ein irisches Mädchen, zog demonstrativ ins multikulturelle Mount-Airy-Viertel und arbeitete als Sozialkundelehrer an verschiedenen Highschools im Stadtgebiet, deren Direktoren er mit seinem überschäumenden Trotzkismus immer wieder herausforderte, ihn zu feuern.
Man hatte Nick und seiner Frau Colleen gesagt, sie seien unfruchtbar. Deshalb adoptierten sie einen einjährigen Jungen, Billy, und wenige Monate später wurde Colleen mit Robin schwanger — der ersten von drei Töchtern. Robin war schon ein Teenager, als sie erfuhr, dass Billy adoptiert war, doch zu ihren frühesten Kindheitserinnerungen, erzählte sie Denise, gehörte das Gefühl, heillos privilegiert zu sein.
Vermutlich gab es für Billy ein plausibles diagnostisches Etikett, das abnormen EKG-Kurven oder auffälligen Lymphknoten oder schwarzen Flecken auf seiner Computertomographie sowie den hypothetischen Ursachen, schwerer Vernachlässigung etwa oder einem Gehirntrauma in präadoptiver Zeit, entsprach; doch für seine Schwestern, insbesondere für Robin, war er einfach nur ein Albtraum. Billy hatte schnell heraus, dass Robin, egal, wie grausam er sie behandelte, sich stets selbst dafür verantwortlich machte. Wenn sie ihm fünf Dollar lieh, lachte er sie aus, weil sie annahm, er würde ihr das Geld zurückzahlen. (Beschwerte sie sich bei ihrem Vater, gab Nick ihr die fünf Dollar eben aus seinem Portemonnaie.) Billy jagte sie mit Grashüpfern, deren Beine er abgeknipst, und mit Fröschen, die er in Klorix gebadet hatte, und sagte ihr — was ein Witz sein sollte — , «ich hab ihnen deinetwegen wehgetan.» Er tat Scheißhaufen aus Matsch in die Unterhosen von Robins Puppen. Er nannte sie Schrulle Schimmerlos und Robin Ohnebusen. Er stach ihr mit einem Bleistift tief in den Arm und brach unter der Haut das Blei ab. Einen Tag nachdem ihr neues Fahrrad aus der Garage verschwunden war, kam er mit einem guten Paar schwarzer Rollschuhe nach Hause, die er angeblich auf der Germantown Avenue gefunden hatte und mit denen er all die Monate, während sie auf ein neues Fahrrad wartete, in der Nachbarschaft herumsauste.
Ihr Vater Nick hatte Augen für jede Ungerechtigkeit in der Ersten und der Dritten Welt, nur nicht für die, deren Urheber Billy war. Als Robin auf die Highschool wechselte, hatte Billys kriminelle Energie sie so weit gebracht, dass sie ihren Schrank mit einem Vorhängeschloss versperrte, Kleenex ins Schlüsselloch ihrer Zimmertür stopfte und vor dem Schlafengehen ihr Portemonnaie unter das Kopfkissen schob; doch auch diese Maßnahmen ergriff sie eher traurig als wütend. Sie hatte wenig Grund zur Klage, und das wusste sie. Sie und ihre Schwestern lebten arm und glücklich in ihrem großen baufälligen Haus an der Phil-Ellena Street, sie besuchte eine gute Quäker-Highschool und später ein hervorragendes Quäker-College, beides voll finanziert durch Stipendien, und sie heiratete ihren Collegefreund und bekam zwei kleine Mädchen, während Billy vor die Hunde ging.
Nick hatte Billy gelehrt, sich für Politik zu interessieren, und Billy dankte es ihm, indem er ihn als Sozi-Bourgeois, Sozi-Bourgeois verhöhnte. Da das Nick nicht richtig wütend machte, freundete Billy sich mit den anderen Passafaros an, die mehr als geneigt waren, jeden Verräter des Familienverräters in ihr Herz zu schließen. Nachdem Billy zum zweiten Mal straffällig geworden war und Colleen ihn aus dem Haus geworfen hatte, bereiteten ihm seine Teamster-Verwandten eine Art Heldenempfang. Es dauerte eine Weile, ehe er es sich auch mit ihnen verscherzt hatte.
Ein Jahr lang wohnte er bei Onkel Jimmy, der sich noch mit weit über fünfzig am liebsten mit gleich gesinnten Jugendlichen umgab, die er an seinen umfangreichen Schusswaffen- und Messersammlungen, seinen Chasey-Lam-Videos und seinen Warlords-III- und Dungeonmaster-Utensilien teilhaben lassen konnte. Jimmy huldigte aber auch Elvis Presley, und zwar an einem Schrein in einer Ecke seines Schlafzimmers, und Billy, dem es nicht in den Kopf wollte, dass Jimmy die Sache mit Elvis Ernst war, entweihte den Schrein auf irgendeine schmerzliche und unwiderrufliche Weise, über die Jimmy sich später zu sprechen weigerte, und fand sich auf der Straße wieder.
Von dort driftete Billy in die radikale Untergrundszene von Philadelphia ab — jenen Roten Halbmond aus Bombenbastlern und Flugblattkopisten und Kleinstverlegern und Punks und Bakuninisten und veganischen Propheten und Herstellern von Orgondecken und Frauen, die Afrika hießen, und selbst ernannten Engels-Biographen und emigrierten Rote-Armee-Brigadisten, der sich von Fishtown und Kensington im Norden über Germantown und West-Philadelphia (wo Bürgermeister Goode Brandbomben auf die guten Menschen der schwarzen Separatistenbewegung MOVE werfen ließ) bis hinunter ins verwahrloste Point Breeze erstreckte. Es war ein eigenartiges Philifaktum, dass die Verbrechen in dieser Stadt zu einem nicht unerheblichen Teil mit politischem Bewusstsein verübt wurden. Nach Frank Rizzos erster Amtsperiode als Bürgermeister konnte niemand mehr so tun, als wäre die städtische Polizei sauber oder unparteiisch; und da, wenigstens in den Augen der Halbmond — Bewohner, alle Cops Mörder oder, zuallermindest, ipso facto Mordkomplizen waren (siehe MOVE!), ließ sich jede Gewalttat und jeder Akt der Vermögensumverteilung, gegen die ein Cop Einwände erheben konnte, als legitimes Mittel in einem langwierigen, schmutzigen Krieg rechtfertigen. Den örtlichen Richtern allerdings leuchtete diese Logik nicht gerade ein. Der junge Anarchist Billy Passafaro bekam über die Jahre für seine Vergehen immer härtere Strafen — Bewährungsstrafe, Gemeinschaftsdienst, Arbeitslager in Form eines Versuchsprojekts und, am Ende, das staatliche Zuchthaus in Graterford. Robin und ihr Vater stritten oft über die Gerechtigkeit dieser Strafen; Nick strich sich dann über den Leninschen Spitzbart und versicherte, er sei zwar kein Gewalttäter, lehne jedoch Gewalt im Dienst eines Ideals nicht grundsätzlich ab, woraufhin Robin ihn aufforderte, ihr konkret zu sagen, für welches politische Ideal Billy denn genau eingetreten sei, als er einen Studenten der Universität von Pennsylvania mit einem abgebrochenen Billardstock niedergestochen habe.
Ein Jahr bevor Denise Robin kennen lernte, wurde Billy Kurzurlaub gewährt, und er nahm an der Band-Zerschneide-Zeremonie anlässlich der Einweihung eines Computerzentrums in Nicetown teil, einem Armenviertel im Norden der Stadt. Einer der zahlreichen taktischen Coups von Bürgermeister Goodes beliebtem Nachfolger, der sich über zwei Perioden im Amt hielt, bestand darin, kommerzielle Lösungen für das öffentliche Schulwesen anzuregen. Die beklagenswerte Vernachlässigung der Schulen hatte er geschickt als eine wirtschaftliche Chance hingestellt («Handeln Sie schnell, unterstützen Sie unsere Botschaft der Hoffnung» hieß es in seinen Schreiben), und die N — Corporation war seinem Aufruf gefolgt, indem sie sich für den schwer unterfinanzierten städtischen Schulsport zuständig erklärte. Jetzt hatte der Bürgermeister ein ähnliches Arrangement mit der W — Corporation ins Leben gerufen, die der Stadt Philadelphia eine ausreichende Anzahl ihrer berühmten Global Desktops spendete, um, wie die Firmenleitung sagte, «mehr Leistung» in jedes einzelne Klassenzimmer zu bringen, und außerdem in den verwahrlosten Stadtvierteln im Norden und Westen fünf Computerzentren gründete. Die Vereinbarung übertrug W — das exklusive Recht, alles, was in den Klassenzimmern innerhalb des Schulbezirks Philadelphia vor sich ging, gleichgültig, ob die Global Desktops dabei zum Einsatz kamen oder nicht, für Promotion- und Werbezwecke zu nutzen. Kritiker des Bürgermeisters verurteilten entweder den «Ausverkauf» oder bemängelten die Tatsache, dass die W — Corporation den Schulen die langsamen, absturzanfälligen Desktops der Version 4.0 und den Computerzentren die nahezu wertlose Technologie der Version 3.2 gegeben hatte. Doch die Stimmung in Nicetown an jenem Nachmittag im September war gelöst. Der Bürgermeister und W — s achtundzwanzigjähriger Direktor der Abteilung Firmenimage, Rick Flamburg, reichten sich die Hände, um mit einer großen Schere Band zu zerschneiden. Farbige Lokalpolitiker sagten Kinder und Zukunft. Sie sagten digital und Demokratie und Geschichte.
Draußen vor dem weißen Zelt lungerte, argwöhnisch beäugt von einem Polizeitrupp, von dem es später tadelnd hieß, er sei zu klein gewesen, der übliche Haufen Anarchisten herum, die für alle sichtbar Spruchbänder und Plakate hochhielten und für niemanden sichtbar, in den Taschen ihrer Cargohosen nämlich, starke Stabmagneten hatten, mit denen sie inmitten des allgemeinen Kuchenessens und Punschtrinkens und Durcheinanders möglichst viele Daten von den neuen Global Desktops des Computerzentrums zu löschen hofften. Auf ihren Spruchbändern stand WEHRT EUCH und COMPUTER SIND DAS GEGENTEIL VON REVOLUTION und VON DIESEM HIMMEL KRIEGE ICH MIGRÄNE. Billy Passafaro, der sorgfältig rasiert war und ein kurzärmeliges weißes Button-down-Hemd trug, schleppte einen etwa einen Meter langen Holzbalken, auf den er WILLKOMMEN IN PHILADELPHIA!! geschrieben hatte. Als die offiziellen Feierlichkeiten zu Ende gingen und die Lage allmählich reizvollere anarchische Züge annahm, schob Billy sich durchs Gedränge, lächelte und hielt seine Botschaft des guten Willens in die Höhe, bis er nahe genug bei den Würdenträgern war, um den Balken wie einen Baseballschläger zu schwingen und ihn auf Rick Flamburgs Schädel niedersausen zu lassen. Drei weitere Schläge zertrümmerten Flamburgs Nase, Kiefer und Schlüsselbein sowie fast alle seine Zähne, ehe der Leibwächter des Bürgermeisters Billy packte und ein Dutzend Polizisten sich auf ihn stürzten.
Billy hatte Glück: Das Zelt war so voll, dass die Polizisten nicht schießen konnten. In Anbetracht der offenkundigen Vorsätzlichkeit seiner Tat und der, politisch gesehen, ungünstig geringen Zahl weißer Insassen in den Todestrakten hatte er außerdem Glück, dass Rick Flamburg nicht starb. (Weniger klar war, ob Flamburg, ein unverheirateter ehemaliger Dartmouth-Student, der seit dem Überfall gelähmt, entstellt und auf einem Auge blind war, nur noch schleppend sprach und zu Kopfschmerzen neigte, die ihn völlig außer Gefecht setzten, darüber ebenso glücklich war.) Billy wurde wegen versuchten Mordes, schwerer Körperverletzung und Körperverletzung mittels einer Waffe verurteilt. Jedwede Einigung mit der Staatsanwaltschaft lehnte er kategorisch ab. Er beschloss auch, sich selbst zu verteidigen, nachdem er sowohl den vom Gericht bestellten als auch den alten Teamsters-Anwalt, der sich erbot, Billys Familie pro Stunde nur fünfzig Dollar zu berechnen, als «Konformisten» in die Wüste geschickt hatte.
Zur Überraschung nahezu aller außer Robin, die nie an der Intelligenz ihres Bruders gezweifelt hatte, wartete Billy mit einem geschliffenen Plädoyer auf. Er sagte, der Umstand, dass der Bürgermeister die Kinder Philadelphias in die «Technosklaverei» der W — Corporation «verkauft» habe, stelle eine «fassbare und reale Gefahr für die Öffentlichkeit» dar, weshalb er berechtigt gewesen sei, gewaltsam darauf zu reagieren. Er prangerte die «unheilige Allianz» zwischen der amerikanischen Wirtschaft und der amerikanischen Regierung an. Er verglich sich mit den Minutemen in Lexington und
Concord. Als Robin, sehr viel später, Denise die Prozessmitschrift zeigte, malte Denise sich aus, wie sie Billy und ihren Bruder Chip zu einem gemeinsamen Abendessen einladen und dem, was beide zum Thema «Bürokratie» zu sagen hätten, zuhören würde, doch ein solches Essen konnte erst stattfinden, wenn Billy siebzig Prozent seiner zwölf bis achtzehn Jahre in Graterford abgesessen hatte.
Nick Passafaro hatte Urlaub genommen und wohnte dem Prozess seines Sohnes unerschütterlich bei. Er trat im Fernsehen auf und sagte, was man von einem Altlinken erwartete: «Einmal am Tag ist das Opfer ein Schwarzer, und alle Welt schweigt; einmal im Jahr ist das Opfer ein Weißer, und alle Welt schreit auf», und: «Mein Sohn wird sein Verbrechen teuer bezahlen, aber die W — Corporation wird für ihre Verbrechen nie zur Rechenschaft gezogen werden», und: «Die Rick Flamburgs dieser Welt haben Milliarden damit verdient, Amerikas Kindern virtuelle Gewalt zu verkaufen.» In fast allen Argumenten, die Billy dem Gericht vortrug, stimmte Nick mit seinem Adoptivsohn überein und war stolz auf dessen Darbietung, doch als dem Gericht die Fotos von Flamburgs Verletzungen vorgelegt wurden, begann ihm die Angelegenheit aus der Hand zu gleiten. Die tiefen V-förmigen Einkerbungen in Flamburgs Schädel, Nase, Kiefer und Schlüsselbein zeugten von einer Grausamkeit und einem Wahnsinn, die mit Idealismus schwer in Einklang zu bringen waren. Der Prozess ging weiter, und Nick schlief nicht mehr. Er hörte auf, sich zu rasieren, und verlor den Appetit. Auf Colleens Drängen suchte er einen Psychiater auf und kam mit Medikamenten nach Hause, doch selbst dann weckte er sie noch jede Nacht. Er rief: «Ich werde mich nicht entschuldigen!» Er rief: «Das ist ein Krieg!» Dann wurde die Dosis erhöht, und im April schickte ihn der Schulbezirk in den Vorruhestand.
Da Rick Flamburg für die W — Corporation gearbeitet hatte, fühlte Robin sich für all dies verantwortlich.
Robin war zur Passafaro-Botschafterin bei Rick Flamburgs Familie geworden, indem sie so lange im Krankenhaus aufkreuzte, bis die Wut und das Misstrauen von Flamburgs Eltern erschöpft waren und sie erkannten, dass Robin nicht die Hüterin ihres Bruders war. Sie saß an Flamburgs Bett und las ihm aus der Sports Illustrated vor. Sie begleitete ihn, wenn er mit seinem Laufgestell über den Flur schlurfte. Am Abend nach seiner zweiten Operation lud sie seine Eltern zum Essen ein und hörte sich deren (offen gestanden ziemlich langweilige) Geschichten über deren Sohn an. Sie erzählte ihnen, wie aufgeweckt Billy als Kind gewesen sei, dass er schon in der vierten Klasse Rechtschreibung und Schönschrift gut genug beherrscht habe, um eine glaubhafte Entschuldigung für die Schule fälschen zu können, was für eine stete Quelle an schmutzigen Witzen und wichtigen Fortpflanzungsdetails er gewesen sei und wie sich ein intelligentes Mädchen fühle, wenn es sehe, dass ihr nicht minder intelligenter Bruder sich mit jedem Jahr dümmer stelle, gerade so, als lege er es darauf an, auf gar keinen Fall so zu werden wie sie: wie mysteriös das alles sei und wie aufrichtig sie bedaure, was er ihrem Sohn angetan habe.
Am Vorabend der Urteilsverkündung fragte Robin ihre Mutter, ob sie mit ihr in die Kirche gehen wolle. Colleen war Katholikin, hatte jedoch seit vierzig Jahren nicht mehr am heiligen Abendmahl teilgenommen; Robins eigene Gottesdiensterfahrung war auf Hochzeiten und Beerdigungen beschränkt. Und dennoch, an drei aufeinander folgenden Sonntagen willigte Colleen ein, sich in Mount Airy abholen und zur Pfarrgemeinde ihrer Kindheit, St. Dymphna's, im Norden von Philadelphia fahren zu lassen. Als sie am dritten Sonntag aus der Kirche hinaustraten, sagte Colleen mit dem leichten irischen Akzent, den sie ihr Leben lang behalten hatte: «Das tut's dann für mich, danke.» Fortan ging Robin allein in St. Dymphna's zur Messe und, eine Weile später, zum Kommunionsunterricht.
Dass Robin für solche guten Werke und aufopferungsvollen Taten Zeit hatte, verdankte sie der W — Corporation. Ihr Mann, Brian Callahan, war der Sohn eines kleinen örtlichen Fabrikanten und hatte eine angenehme Kindheit in Bala-Cynwyd verlebt, wo er Lacrosse gespielt und in der Erwartung, die kleine Firma für chemische Spezialartikel seines Vaters zu erben, anspruchsvolle Neigungen herausgebildet hatte. (Callahan pere war es in seiner Jugend geglückt, eine profitable chemische Lösung zu entwickeln, die in Bessemer-Birnen gekippt werden konnte und deren Risse und Dellen ausbesserte, noch während die Keramikwände heiß waren.) Brian hatte das hübscheste Mädchen seines College-Jahrgangs geheiratet (er fand, das war Robin) und war bald nach dem Examen Geschäftsführer der High Temp Products geworden. Die Firma saß in einem gelben Backsteingebäude auf einem Industriegelände unweit der Tacony-Palmyra-Brücke; zufällig war ihr nächster gewerblicher Nachbar das IBT-Archiv. Da es ihn intellektuell unterforderte, High Temp Products zu leiten, spielte Brian an seinen Chefnachmittagen mit Computercodes und Fourier-Analysen herum, hörte über seine Direktorenboxen in dröhnender Lautstärke gewisse Kultbands, für die er eine Schwäche hatte (Fibulator, Thinking Fellers Union, die Minutemen, die Nomatics), und schrieb eine Software, die er in der Fülle der Zeit still und heimlich zum Patent anmeldete, still und heimlich von einem Risikokapitalgeber finanzieren ließ und eines Tages, auf den Rat dieses Unternehmers hin, still und heimlich für $ 19.500 000 an die W — Corporation verkaufte.
Brians Produkt, genannt Eigenmelodie, verwandelte jedes beliebige aufgenommene Musikstück in Eigenvektoren, die aus der tonalen und melodischen Essenz eines Liedes getrennte, manipulierbare Koordinaten herausfilterte. Wählte ein Benutzer des Eigenmelodie-Programms zum Beispiel sein Lieblingslied von Moby, dann nahm Eigenmelodie eine Spektralanalyse davon vor, suchte in einer Musik-Datenbank nach Liedern mit ähnlichen Eigenvektoren und erstellte eine Liste verwandter Sounds, auf die der Benutzer sonst womöglich nie gestoßen wäre: die Au Pairs, Laura Nyro, Thomas Mapfumo, Pokrovskys klagende Fassung von Les Noces. Eigenmelodie war Gesellschaftsspiel, musikologisches Handwerkszeug und Plattenverkaufsförderung in einem. Brian hatte so viele Macken daraus getilgt, dass der Behemoth der W — Corporation, der mit einiger Verspätung um einen Anteil am Online-Musikgeschäft kämpfte, mit einem großen Bündel Monopoly-Geld in der ausgestreckten Hand zu ihm gerannt kam.
Es war typisch für Brian, der Robin nichts von dem bevorstehenden Verkauf erzählt hatte, dass er auch am Abend des Tages, an dem das Ganze über die Bühne gegangen war, kein Sterbenswort darüber verlor, bis die Mädchen in ihrem bescheidenen Yuppie-Reihenhaus nahe dem Kunstmuseum im Bett lagen und er und Robin sich im Fernsehen eine Nova — Sendung über Sonnenflecken ansahen.
«Ach, übrigens», sagte Brian, «keiner von uns beiden muss jemals wieder arbeiten.»
Es war typisch für Robin — für ihre Erregbarkeit — , dass sie auf diese Neuigkeit hin lachte, bis sie Schluckauf bekam.
Ach, Billys alter Spitznamen für Robin hatte leider eine gewisse Berechtigung: Schrulle Schimmerlos. Robin dachte eigentlich, dass sie mit Brian bereits ein gutes Leben führe. Sie wohnte in einer kleinen Stadtvilla, zog Gemüse und Kräuter in ihrem kleinen Garten, brachte Zehn- und Elfjährigen an einer freien Schule im Westen Philadelphias «Sprachkunst» bei, schickte ihre Tochter Sinead auf eine hervorragende private Grundschule an der Fairmount Avenue und ihre Tochter Erin zur Friends-Select-Vorschule, kaufte weichschalige Krabben und Jersey-Tomaten im Reading Terminal Market, verbrachte die Wochenenden und den ganzen August im Haus von Brians Familie in Cape May, traf sich mit alten Freundinnen, die ebenfalls Kinder hatten, und verbrannte mit Brian genügend sexuelle Energie (am liebsten täglich, erzählte sie Denise), um halbwegs ruhig zu bleiben.
Schrulle Schimmerlos war daher entsetzt, als Brian sie fragte, wo sie in Zukunft leben sollten. Er sagte, er denke an Nordkalifornien. Oder an die Provence, an New York, an London.
«Wir sind doch glücklich hier», sagte Robin. «Warum sollten wir irgendwo hinziehen, wo wir niemanden kennen und alle Millionäre sind?»
«Klima», sagte Brian. «Schönheit, Sicherheit, Kultur. Stil. Ist ja alles nicht unbedingt Phillys Stärke. Ich sage doch nicht: Los, wir ziehen um. Ich möchte nur wissen, ob es irgendeinen Ort gibt, wo du gern leben würdest, und sei es bloß für den Sommer.»
«Mir gefällt es hier.»
«Dann bleiben wir», sagte er. «So lange, bis du irgendwo anders leben möchtest.»
Sie war naiv genug, erzählte sie Denise, zu glauben, dass die Diskussion damit beendet war. Ihre Ehe, stabil auf die Erziehung der Kinder, auf Essen und auf Sex gegründet, funktionierte gut. Es stimmte zwar, dass sie und Brian aus unterschiedlichen sozialen Schichten stammten, aber die Firma High Temp Products war ja nun nicht gerade der Chemiekonzern E. I. Du Pont de Nemours, und Robin, die an zwei Eliteschulen Abschlüsse gemacht hatte, war nicht der Inbegriff einer Proletarierin. Die wenigen wirklichen Unterschiede zwischen ihnen hatten mit Stil zu tun und waren für Robin zumeist unsichtbar, weil Brian beides war, ein guter Ehemann und ein netter Kerl, und weil Robin sich in ihrer naiven Schimmerlosigkeit nicht vorstellen konnte, dass Stil irgendetwas mit Glück zu tun hatte. Ihre musikalischen Vorlieben tendierten zu John Prine und Etta James, also spielte
Brian zu Hause Prine und James und hob sich seine Bartok- und Defunkt- und Flaming-Lips- und Mission-of-Burma-Scheiben für High Temp auf, wo er seine Riesenboxen voll aufdrehen konnte. Dass Robin wie eine Studentin mit weißen Sneakers und purpurnem Nylonanorak und übergroßer runder Nickelbrille, wie sie zuletzt 1978 modern gewesen war, durch die Gegend lief, störte Brian nicht allzu sehr, schließlich war er von allen Männern der einzige, der sie nackt zu sehen bekam. Dass Robin überspannt war und eine durchdringende, schrille Stimme hatte und keckerte wie ein Lachender Hans, war, wie er fand, ein geringer Preis für ein Herz aus Gold, einen spektakulären Zug von Lüsternheit und einen rasanten Stoffwechsel, der sie filmschauspielerinnenschlank hielt. Dass Robin sich nicht unter den Armen rasierte und zu selten ihre Brille putzte — nun ja, sie war die Mutter von Brians Kindern, und solange er seine Musik hören und in Ruhe an seinen Tensoren basteln konnte, fiel es ihm nicht schwer, ihr jenen Antistil nachzusehen, der für liberale Frauen eines bestimmten Alters ein Kennzeichen feministischer Identität war. Jedenfalls glaubte Denise, dass Brian das Stilproblem auf diese Weise gelöst haben musste, bevor das Geld der W — Corporation hereinschwemmte.
(Denise, nur drei Jahre jünger als Robin, konnte sich nicht im Traum vorstellen, einen purpurnen Nylonanorak zu tragen oder sich nicht unter den Armen zu rasieren. Und weiße Sneakers besaß sie nicht einmal.)
Robins erstes Zugeständnis an ihren neuen Reichtum war, dass sie im Sommer gemeinsam mit Brian auf Haussuche ging. Sie war in einem großen Haus aufgewachsen, und nun wollte sie, dass ihre Töchter ebenfalls in einem solchen aufwuchsen. Wenn Brian drei Meter hohe Decken und vier Bäder und Mahagonischnickschnack brauchte, konnte sie damit leben. Am sechsten September unterschrieben sie einen Vertrag für eine prächtige Villa aus rötlich braunem Sandstein an der Panama Street, in der Nähe des Rittenhouse Square.
Zwei Tage später hieß Billy Passafaro, mit der ganzen Kraft seiner gefängnisgestählten Schultern, W — s Direktor der Abteilung Firmenimage in Philadelphia willkommen.
Was Robin in den Wochen nach der Tat unbedingt wissen wollte, aber nicht herausfinden konnte, war, ob Billy zu dem Zeitpunkt, als er besagten Balken beschriftete, bereits von Brians großem Los Wind bekommen hatte und wusste, welcher Firma sie und Brian ihren plötzlichen Reichtum verdankten. Die Antwort war entscheidend, entscheidend, entscheidend. Doch Billy selbst zu fragen war zwecklos. Sie wusste, dass sie von ihm nicht die Wahrheit erfahren würde; er würde ihr nur die Antwort geben, von der er glaubte, sie werde sie am tiefsten verletzen. Billy hatte ihr zur Genüge deutlich gemacht, dass er nie aufhören werde, sie zu verhöhnen, und auch nicht vorhabe, sie als seinesgleichen anzuerkennen, solange sie ihm nicht beweisen könne, dass ihr Leben mindestens so im Arsch, mindestens so armselig sei wie seins. Und genau das war es — dass sie offenbar eine Totenrolle für ihn spielte, dass er sie als die archetypische Vertreterin des glücklichen normalen Lebens, das ihm verwehrt war, aufs Korn genommen hatte — , was ihr das Gefühl gab, er habe auf ihren Kopf gezielt, als er Rick Flamburg den Schädel einschlug.
Bevor der Prozess begann, fragte sie ihren Vater, ob er Billy vom Verkauf des Brian'schen Eigenmelodie-Programms an die W — Corporation erzählt habe. Sie hätte ihm diese Frage lieber nicht gestellt, aber es ging nicht anders. Da er Billy Geld gab, war Nick der Einzige aus der Familie, der noch regelmäßig mit ihm in Verbindung stand. (Onkel Jimmy hatte gelobt, den Schänder seines Schreins, das kleine Neffenarschloch, zu erschießen, wenn ihm dessen kleines Elvis-Hasser-Arschgesicht jemals wieder unter die Augen kommen sollte, und alle anderen hatte Billy inzwischen einmal zu oft bestohlen; selbst Nicks Eltern, Fazio und Carolina, die lange behauptet hatten, Billy leide bloß an einem «Aufmerksamkeitsdefekt-Syndrom», wie Fazio es nannte, ließen ihren Enkel inzwischen nicht mehr in ihr Haus in Sea Isle City.)
Nick erfasste die Stoßrichtung von Robins Frage leider Gottes sofort. Sorgfältig seine Worte abwägend, antwortete er, nein, er könne sich nicht erinnern, Billy irgendetwas davon erzählt zu haben.
«Dad, es ist besser, wenn du mir die Wahrheit sagst.»
«Also… äh, ich… ich glaube nicht, dass es da einen Zusammenhang gibt… Robin.»
«Vielleicht würde ich mich ja gar nicht schuldig fühlen. Vielleicht wäre ich ja bloß scheißwütend.»
«Also… Robin… diese… diese Gefühle laufen sowieso oft auf das Gleiche raus. Schuld, Wut — alles das Gleiche… stimmt's? Aber mach dir wegen Billy mal keine Sorgen.»
Kaum hatte sie aufgelegt, fragte sie sich, ob Nick sie vor ihren Schuldgefühlen zu schützen versuchte oder Billy vor ihrer Wut bewahren wollte oder vor lauter Anspannung einfach neben der Spur lief. Sie vermutete, es war von allem etwas. Sie vermutete, dass ihr Vater Billy im Sommer von Brians großem Los erzählt hatte und dass Vater und Sohn sich dann abfällig und erbittert über die W — Corporation, die bürgerliche Robin und den Müßiggänger Brian geäußert hatten. Sie vermutete das allein schon deshalb, weil Brian und ihr Vater schlecht miteinander auskamen. Brian sprach mit seiner Frau nie so freimütig darüber wie mit Denise («Nick ist ein Feigling von der übelsten Sorte», sagte er einmal zu ihr), doch er machte kein Hehl daraus, dass ihm Nicks provokante Reden über den Einsatz von Gewalt und seine hanebüchene Zufriedenheit mit seinem eigenen so genannten Sozialismus zuwider waren. Colleen mochte er ganz gern («Sie hat sicher manches auszuhalten, in so einer Ehe», sagte er zu Denise), doch sobald Nick zu einem seiner Vorträge ansetzte, schüttelte er den Kopf und verließ den Raum. Robin vermied es, sich auszumalen, was ihr Vater und Billy über sie und Brian gesagt hatten. Aber sie war ziemlich sicher, dass etwas gesagt worden war und Rick Flamburg dafür hatte bezahlen müssen. Die Art und Weise, wie Nick auf die Prozessfotos von Flamburg reagierte, erhärtete diesen Verdacht.
Während der Prozess voranging und ihr Vater immer mehr abbaute, lernte Robin in der St.-Dymphna-Gemeinde den Katechismus und zog aus Brians neuem Reichtum zwei weitere Konsequenzen. Zunächst kündigte sie ihre Stellung bei der freien Schule. Es erfüllte sie nicht mehr, für Eltern zu arbeiten, die jährlich $23 ooo pro Kind hinblätterten (obwohl sie und Brian für Sineads und Erins Schulbildung natürlich fast ebenso viel ausgaben). Und dann rief sie ein karitatives Projekt ins Leben. In einem besonders heruntergekommenen Teil von Point Breeze, weniger als zwei Kilometer südlich von ihrem neuen Haus, kaufte sie ein brachliegendes städtisches Grundstück, auf dem in einer Ecke ein einzelnes verfallenes Reihenhaus stand. Außerdem kaufte sie fünf Lastwagenladungen Humus und schloss eine gute Haftpflichtversicherung ab. Ihr Plan war, Teenager aus der Gegend zum Mindestlohn zu beschäftigen, ihnen die Grundlagen organischen Gartenbaus beizubringen und sie an jedem Gewinn, den sie mit eigenhändig verkauftem Gemüse erzielen konnten, zu beteiligen. Mit einer manischen Begeisterung, die selbst für Robins Verhältnisse beängstigend war, stürzte sie sich in ihr Gartenprojekt. Häufig sah Brian sie um vier Uhr morgens an ihrem Global Desktop sitzen, mit beiden Füßen auf den Boden klopfen und verschiedene Tulpensorten vergleichen.
Da Woche für Woche eine andere Handwerksfirma in die Panama Street kam, um Verbesserungen vorzunehmen, und da Robin in einer utopistischen Zeit- und Energieversenkung verschwand, fand Brian sich damit ab, in der trostlosen Stadt seiner Kindheit zu bleiben. Aber er wollte sich amüsieren, notfalls auch allein. Er begann, in den guten Restaurants Philadelphias zu Mittag zu essen, probierte sie alle, eins nach dem anderen, aus, und maß jedes an seinem aktuellen Favoriten, dem Mare Scuro. Als er sicher war, dass ihm das Mare Scuro nach wie vor am besten gefiel, rief er die Küchenchefin an und machte ihr ein Angebot.
«Das erste richtig trendige Restaurant in Philly», sagte er. «Ein Ort, der einem das Gefühl gibt: ‹Hey, in dieser Stadt könnte ich, wenn es sein müsste, leben.› Es ist mir egal, ob das auch anderen so geht. Hauptsache, mir geht es so. Also, was immer Sie jetzt verdienen, ich zahle Ihnen das Doppelte. Sie gehen nach Europa und essen ein paar Monate lang auf meine Kosten. Und dann kommen Sie zurück und eröffnen und führen ein richtig trendiges Lokal.»
«Sie werden einen Haufen Geld verlieren», antwortete Denise, «wenn Sie nicht einen erfahrenen Partner oder einen außergewöhnlich guten Manager auftreiben.»
«Sagen Sie mir, was ich tun muss, und ich tue es», erwiderte Brian.
«Sagten Sie ‹das Doppelte›?»
«Sie haben das beste Restaurant der Stadt.»
«‹Das Doppelte› klingt interessant.»
«Dann willigen Sie ein.»
«Möglich», sagte Denise. «Aber Sie werden trotzdem einen Haufen Geld verlieren. Jedenfalls steht schon mal fest, dass Sie Ihren Küchenchef überbezahlen.»
Nein zu sagen war Denise schon immer schwer gefallen, wenn sie sich auf die richtige Weise gebraucht fühlte. Als Kind im vorstädtischen St. Jude war sie stets in sicherer Entfernung von Leuten gehalten worden, die sie auf solche Weise hätten brauchen können, doch als sie mit der Highschool fertig war, hatte sie einen Sommer lang in der Abteilung Signale der Midland Pacific Railroad gearbeitet, und da, in einem großen, sonnigen Raum mit zwei Reihen Zeichentischen, lernte sie die Sehnsüchte eines Dutzends älterer Männer kennen.
Das Gehirn der Midland Pacific, der Tempel der Firmenseele, war ein aus der Zeit der Depression stammendes Kalksteingebäude mit gerundeten Dachzinnen, die wie die Ränder einer zu dünnen Waffel aussahen. Die höheren Stufen des Bewusstseins hatten ihren kortikalen Sitz im Konferenz- und im Speisesaal der Geschäftsführung im sechzehnten Stock sowie in den Büros der praxisferneren Abteilungen (Betriebstechnik, Recht, Öffentlichkeitsarbeit), deren Direktoren im fünfzehnten saßen. Ganz unten, im Reptiliengehirn des Gebäudes, waren Fakturierung, Lohnbuchhaltung, Personalwesen und das Datenarchiv untergebracht. Dazwischen lagen mittlere Kompetenzbereiche wie die Technische Abteilung, in deren Zuständigkeit Brücken, Gleise, Gebäude und Signale fielen.
Das Streckennetz der Midland Pacific umfasste zwanzigtausend Kilometer, und für jedes Signal und jedes Kabel am Weg, jede Anlage roter und gelber Lichtzeichen, jeden im Schotter vergrabenen Bewegungsmelder, jeden blinkenden Signalarm an den Bahnübergängen, jedes Zeitschalter- und Relais-Aggregat in fensterlosen Aluminiumschuppen gab es im zwölften Stock des Hauptsitzes, wo sich der gepanzerte Lagerraum befand, aktuelle Schaltpläne, aufbewahrt in sechs mit schweren Deckeln versehenen Akten-Containern. Die ältesten Pläne waren freihändig mit Bleistift auf Pergament gezeichnet, die neuesten mit Rapidograph-Stiften auf vorgedruckten Klarsichtformularen.
Die Männer, die diese Dokumente erstellten, stets in enger Zusammenarbeit mit den Außendiensttechnikern, die dafür zu sorgen hatten, dass das Nervensystem der Eisenbahn gesund und unverknäult blieb, stammten aus Texas und Kansas und Missouri: intelligente, einfache, näselnde Männer, die zunächst als ungelernte Arbeiter in Signaltrupps Gleise von Unkraut befreit, Löcher für Masten gegraben und Drähte gespannt und sich dann mühsam immer weiter hochgedient hatten, bis sie, dank ihrer Fähigkeit, mit Schaltplänen umzugehen (und, wie Denise später klar wurde, dank ihrer weißen Hautfarbe), für die Fortbildung und den beruflichen Aufstieg auserkoren worden waren. Keiner von ihnen war länger als ein oder zwei Jahre aufs College gegangen, die meisten hatten nur die Highschool absolviert. An Sommertagen, wenn der Himmel weißer und das Gras brauner wurde und ihre einstigen Kumpel draußen Mühe hatten, keinen Hitzschlag zu bekommen, schätzten diese Zeichner sich glücklich, auf gepolsterten Bürostühlen zu sitzen, drinnen, wo die Luft so kühl war, dass sie in ihren persönlichen Schränken immer eine Strickjacke liegen hatten.
«Du wirst feststellen, dass manche Männer Kaffeepausen machen», sagte Alfred, als sie an Denise' erstem Arbeitsmorgen im rosa Licht der aufgehenden Sonne Richtung Innenstadt fuhren. «Ich möchte, dass dir eines klar ist: Sie werden nicht dafür bezahlt, Kaffeepausen zu machen. Ich erwarte also von dir, dass du keine machst. Die Eisenbahn tut uns einen Gefallen, indem sie dich anstellt, und sie bezahlt dich dafür, dass du acht Stunden arbeitest. Vergiss das nicht. Wenn du mit der gleichen Energie ans Werk gehst, mit der du dich auch deinen Schulaufgaben und deinem Trompetenspiel gewidmet hast, wirst du allen als hervorragende Arbeitskraft in Erinnerung bleiben.»
Denise nickte. Zu sagen, dass sie sich gern mit anderen maß, wäre noch untertrieben gewesen. Im Highschool-Orchester hatte es vierzehn Trompeten gegeben: zwei Mädchen und zwölf Jungen. Die erste Trompete hatte Denise gespielt, dann kamen die zwölf Jungen. (Ganz hinten saß ein Mädchen mit Cherokee-Blut in den Adern, das statt des hohen E meist das mittlere C traf und dazu beitrug, jene Dunstglocke des Missklangs zu erzeugen, die über jedem Schulorchester hängt.) Für Musik empfand Denise keine große Leidenschaft, aber es gefiel ihr, sich hervorzutun, und ihre Mutter glaubte, Orchester seien gut für Kinder. Enid mochte die Orchesterdisziplin, die beschwingte Lauterkeit, den Patriotismus. Gary war zu seiner Zeit ein ganz ordentlicher Trompeter gewesen, und Chip hatte sich (kurz, trötend) am Fagott versucht. Als Denise alt genug war, bat sie, in Garys Fußstapfen treten zu dürfen, aber Enid fand, dass kleine Mädchen und Trompeten nicht zusammenpassten. Zu kleinen Mädchen passten Flöten. Nun bedeutete es Denise nicht sonderlich viel, sich mit Mädchen zu messen. Sie beharrte auf der Trompete, und Alfred sprang ihr bei, und irgendwann ging Enid auf, dass sie Leihgebühren sparen konnten, wenn Denise Garys alte Trompete nahm.
Im Unterschied zu Notenblättern waren Denise die Schaltpläne, die sie in jenem Sommer zum Kopieren und Ablegen in die Hände bekam, leider unverständlich. Da es also zwecklos war, sich mit den Zeichnern zu messen, maß sie sich mit dem jungen Mann, der in den zwei vorangegangenen Sommern in der Abteilung Signale gearbeitet hatte: Alan Jamborets, der Sohn des Firmenjustiziars; und da sie keine Möglichkeit sah, Jamborets' Leistung einzuschätzen, arbeitete sie mit einem Eifer, den garantiert niemand übertreffen konnte.
«Mensch, Denise, verflucht noch mal», sagte Laredo Bob, ein schwitzender Texaner, während sie Pläne zurechtschnitt und sortierte.
«Was ist denn?»
«Sie sind bald ausgepumpt, wenn Sie weiter so schuften.»
«Macht mir eben Spaß», sagte sie. «Wenn ich erst mal in Schwung bin.»
«Na ja», sagte Laredo Bob, «'nen Teil davon können Sie genauso gut bis morgen liegen lassen.»
«So viel Spaß macht es mir nun auch wieder nicht.»
«Gut, okay, aber nun gönnen Sie sich mal 'ne Kaffeepause. Hören Sie?»
Ein paar Zeichner krakeelten auf dem Weg zum Flur.
«Kaffeepause!»
«Der Imbisswagen is da!»
«Kaffeepause!»
Denise arbeitete mit unvermindertem Tempo weiter.
Laredo Bob war der Kuli, an dem die niederen Arbeiten hängen blieben, wenn keine Sommeraushilfe sie ihm abnahm. Es hätte Laredo Bob wurmen können, dass Denise — vor den Augen des Chefs — manche Bürotätigkeiten in einer halben Stunde erledigte, denen er, auf einer Swisher-Sweet-Zigarre herumkauend, gern ganze Vormittage widmete. Doch Laredo Bob glaubte, dass Charakter Schicksal sei. Für ihn bewiesen Denise' Arbeitsgewohnheiten bloß, dass sie die Tochter ihres Vaters war und bestimmt bald selbst eine leitende Stellung innehätte, während er, Laredo Bob, das gemächlichere Tempo beibehalten würde, das man von jemandem, dem es beschieden war, niedere Büroarbeiten auszuführen, erwartete. Außerdem glaubte Laredo Bob, dass Frauen Engel seien und Männer arme Sünder. Der Engel, mit dem er verheiratet war, offenbarte sein gutes, sanftmütiges Wesen hauptsächlich, indem er ihm seine Tabaksucht nachsah und mit einem einzigen, schmalen Einkommen vier Kinder zu ernähren und zu kleiden verstand, aber Laredo Bob war keineswegs überrascht, dass das Ewigweibliche auch übernatürliche Fähigkeiten an den Tag legte, wenn es darum ging, Tausende kartonverstärkter Mikroformulare zu beschriften und alphabetisch in Karteikästen einzuordnen. In Laredo Bobs Augen war Denise ein ganz und gar hinreißendes und süßes Geschöpf. Schon bald begann er damit, einen Country-Refrain zu singen («Denise-uh-why-you-done, what-you-did?»), wenn sie morgens ins Büro kam und wenn sie nach ihrer Mittagspause in der kleinen, baumlosen städtischen Grünanlage auf der anderen Straßenseite zurückkehrte.
Der Chefzeichner Sam Beuerlein sagte zu Denise, dass sie sie nächsten Sommer dafür bezahlen müssten, zu Hause zu bleiben, weil sie in diesem Sommer für zwei arbeite.
Ein grienender Mann aus Arkansas, Lamar Parker, der gewaltige, fingerdicke Brillengläser und krebsartige Geschwülste auf der Stirn hatte, fragte sie, ob ihr Daddy ihr erzählt habe, was für eine gemeine, nutzlose Truppe die Männer von der Abteilung Signale seien.
«Nur nutzlos», sagte Denise. «Von gemein hat er nichts gesagt.»
Lamar lachte meckernd und paffte seine Tareyton und wiederholte ihre Bemerkung, für den Fall, dass die Männer um ihn herum sie nicht gehört hatten.
«He-he-he», brummelte der Zeichner, den sie Don Armour nannten, mit unschönem Sarkasmus.
Don Armour war der einzige Mann in der Abteilung Signale, der Denise nicht zu mögen schien. Er war ein stämmiger, kurzbeiniger Vietnam-Veteran, dessen Wangen, glattrasiert, fast so blau-weißlich schimmerten wie eine Pflaume. Seine Blazer spannten an den massigen Oberarmen; Zeichengeräte erinnerten in seiner Hand an Kinderspielzeug; er sah aus wie ein ans Pult eines Erstklässlers gezwängter Teenager. Anstatt, wie alle anderen, seine Füße auf den Ring des hohen rollenden Stuhls zu setzen, ließ er sie baumeln, sodass seine Zehenspitzen auf dem Boden schleiften. Er drapierte den Oberkörper über den Zeichentisch, die Augen nur Zentimeter vom Rapidograph-Stift entfernt. Hatte er eine Stunde lang so gearbeitet, schienen all seine Kräfte verbraucht, und er drückte die Nase auf die Folie oder verbarg das Gesicht in den Händen und stöhnte. Die Kaffeepausen verbrachte er häufig zusammengesackt wie ein Mordopfer, die Stirn auf dem Tisch, die Plastik-Pilotenbrille in der Faust.
Als Denise Don Armour vorgestellt wurde, schaute er weg und gab ihr einen Toter-Fisch-Handschlag. Oft, wenn sie am anderen Ende des Zeichenraums arbeitete, hörte sie ihn irgend-etwas murmeln, das die anderen Männer in sich hineinlachen ließ; war sie in seiner Nähe, hielt er den Mund und grinste grimmig seinen Zeichentisch an. Er erinnerte sie an die Klugscheißer in der Schule, die am liebsten auf der letzten Bank saßen.
Eines Morgens im Juli, als sie gerade in der Damentoilette war, hörte sie Armour und Lamar draußen im Gang beim Trinkbrunnen, in dem Lamar seine Kaffeebecher spülte, miteinander reden. Sie stellte sich an die Tür und lauschte.
«Weißte noch, wie wir immer fanden, der gute Alan war 'n Arbeitstier?», sagte Lamar.
«Eins muss ich Jamborets lassen», antwortete Don Armour. «Der war verdammt viel weniger belastend für die Augen.»
«Ha ha.»
«Schwer, seine Arbeit zu machen, was, wenn jemand so Hübsches wie Alan Jamborets den ganzen Tag in kurzen Röckchen rumläuft.»
«Jaja, Alan war 'n adrettes Kerlchen.»
Ein Stöhnen war zu hören. «Ich schwör's bei Gott, Lamar», sagte Don Armour, «ich bin drauf und dran, Beschwerde wegen unzumutbarer Arbeitsbedingungen einzulegen. Das is ja nicht mehr feierlich. Haste den Rock gesehen?»
«Hab ich. Aber jetzt sei still.»
«Ich werd noch verrückt.»
«Das is die Jahreszeit, Donald. Hat sich in zwei Monaten von selbst erledigt.»
«Wenn die Wroths mich nicht vorher feuern.»
«Wieso biste eigentlich so sicher, dass das mit der Fusion hinhaut?»
«Acht Jahre hab ich mich draußen an der Front abgeschuftet, um in das Büro hier reinzukommen. Höchste Zeit, dass irgendwas schief läuft und mir die Tour vermasselt.»
Denise trug einen kurzen stahlblauen Rock vom Wühltisch und war selbst überrascht, dass er im Einklang mit dem islamischen Frauenbekleidungskodex ihrer Mutter stand. Sofern sie überhaupt einzuräumen bereit war, dass Lamar und Don Armour von ihr gesprochen hatten — der Gedanke beanspruchte in der Tat einen unbezweifelbaren, seltsamen, migräneähnlichen Wohnrechtsstatus in ihrem Kopf — , fühlte sie sich von Don um so heftiger brüskiert. Es war, als feiere er eine Party in ihrem eigenen Haus, ohne sie eingeladen zu haben.
Als sie ins Zeichenbüro zurückkam, ließ er seinen skeptischen Blick durch den ganzen Raum schweifen, jedermann taxierend, nur nicht sie. Kaum war er mit den Augen über sie hinweggehüpft, hatte sie das eigentümliche Bedürfnis, sich die Fingernägel ins Fleisch zu bohren oder in die Brust zu kneifen.
Es war die Jahreszeit des Donners in St. Jude. Die Luft roch nach mexikanischer Gewalt, nach Hurrikanen oder Staatsstreichen. Mal gab es Morgendonner aus unlesbar aufgewühlten Himmeln, ein unheilschwangeres, dumpfes Grummeln aus Ortschaften im Süden des Bezirks, in denen niemand, den man kannte, je gewesen war. Mal Mittagsdonner, von einem einzelnen Amboss herrührend, der über den ansonsten halbwegs klaren Himmel zog. Und den schlimmeren Donner am Nachmittag, wenn sich im Südwesten meergrüne Wolkenwellen auftürmten, während die Sonne stellenweise um so heller schien und die Hitze noch drückender lastete, als wisse sie, dass wenig Zeit blieb. Und das großartige Schauspiel eines anständigen Abendgewitters, Stürme, die sich im Achtzig-Kilometer-Radius des Radarstrahls sammelten wie große Spinnen in einem kleinen Glas, Wolken, die, aus allen vier Himmelsecken kommend, aneinander rumpelten, und Woge auf Woge pfenniggroßer Regentropfen, die wie Plagen niedergingen, bis das Bild, das man im Fenster sah, schwarz-weiß wurde und verschwamm, Bäume und Häuser im aufflackernden Licht der Blitze taumelten und kleine Kinder in
Badehosen und mit klatschnassen Handtüchern Hals über Kopf, wie Flüchtige, nach Hause rannten. Und das Getrommel spät in der Nacht, die rollenden Munitionswagen des vorbeimarschierenden Sommers.
Und jeden Tag in den Zeitungen von St. Jude das Grollen der Gerüchte von einer drohenden Fusion. Die hartnäckigen Midpac-Freier Hillard und Chauncy Wroth seien in der Stadt, um Gespräche mit drei Gewerkschaften zu führen. Die Zwillingsbrüder seien in Washington, wo sie vor einem Unterausschuss des Senats Aussagen von Midpac-Mitarbeitern entgegenträten. Die Midpac habe die Union Pacific gebeten, ihr Eintänzer zu werden. Die Wroths rechtfertigten die nach dem Kauf der Arkansas Southern vorgenommenen Umstrukturierungen. Die Midpac-Sprecher appellierten an alle betroffenen Bürger von St. Jude, ihre Kongressabgeordneten anzurufen oder ihnen zu schreiben…
Unter einem teilweise bewölkten Himmel verließ Denise das Firmengebäude, um Mittagspause zu machen, da explodierte einen Block von ihr entfernt die Spitze eines Strommastes. Sie sah leuchtendes Rosa und spürte das Krachen des Donners auf ihrer Haut. Sekretärinnen rannten schreiend durch die kleine Grünanlage. Denise drehte auf dem Absatz um und ging mit ihrem Buch, ihrem Sandwich und ihrer Pflaume zurück in den zwölften Stock, wo sich jeden Tag zwei Binokel-Runden bildeten. Sie setzte sich ans Fenster, aber dort Krieg und Frieden zu lesen kam ihr arrogant oder unhöflich vor. Also richtete sie ihre Aufmerksamkeit abwechselnd auf den verrückten Himmel draußen und das Kartenspiel neben ihr. Don Armour wickelte ein Sandwich aus und klappte es auf, sodass eine Scheibe Mortadella zum Vorschein kam, auf der in gelbem Senf die Brottextur lithographiert war. Er sackte in sich zusammen. Dann wickelte er das Sandwich lose wieder in die Folie und schaute Denise an, als wäre sie die jüngste Folter an diesem seinem Tag.
«Sechzehn.»
«Wer hat den Schweinkram hier gemacht?»
«Ed», sagte Don Armour und fächerte seine Karten auf, «pass mal mit deinen Bananen auf.»
Ed Alberding, der dienstälteste Zeichner, hatte einen bowlingkegelförmigen Körper und krauses graues Haar wie das einer älteren Dame mit Dauerwelle. Er zwinkerte hektisch mit den Augen, während er Banane mummelte und sein Blatt studierte. Die Banane lag, geschält, vor ihm auf dem Tisch. Er brach noch einen zarten Bissen davon ab.
«Verdammt viel Kalium in so 'ner Banane», sagte Don Armour.
«Kalium is gesund», sagte Lamar, der ihm gegenübersaß.
Don Armour legte seine Karten ab und schaute Lamar mit ernster Miene an. «Machste Witze? Ärzte geben Kalium, wenn sie 'n Herzstillstand herbeiführen wollen.»
«Eddie isst jeden Tag zwei, drei Bananen», sagte Lamar. «Wie fühlt sich dein Herz denn so, Mr. Ed?»
«Jetzt spielt doch einfach mal aus, Jungs», sagte Ed.
«Ich mach mir halt fürchterliche Sorgen um deine Gesundheit», sagte Don Armour.
«Du lügst zu oft, Mister.»
«Tag für Tag seh ich dich giftiges Kalium schlucken. Als Freund hab ich die Pflicht, dich zu warnen.»
«Du bist dran, Don.»
«Leg 'ne Karte, Don.»
«Und was is der Dank?», sagte Armour in gekränktem Ton. «Nix als Misstrauen und eine Abfuhr nach der ändern.»
«Donald, biste noch mit von der Partie, oder hältste bloß den Stuhl warm?»
«Andererseits, wenn Ed aus den Latschen kippt, Herzstillstand infolge akuter langfristiger Kaliumvergiftung oder so, würd mich das zum Viertdienstältesten machen, und ein Platz in Little Rock bei Arkansas Southern Schrägstrich Midland Pacific wär mir sicher, also, warum verlier ich überhaupt 'n Wort darüber? Bitte sehr, Ed, kannst meine Banane auch noch haben.»
«He, he, sieh dich vor», sagte Lamar.
«Meine Herren, ich glaub, die Stiche hier gehn komplett an mich.»
«Mistkerl!»
Misch, misch. Klatsch, klatsch.
«Ed, da unten in Little Rock ham sie Computer, weißte», sagte Don Armour, ohne ein einziges Mal Denise anzusehen.
«M-hm», sagte Ed. «Computer?»
«Ich warn dich bloß, wenn du da runtergehst, wirste lernen müssen, die Dinger zu bedienen.»
«Eddie schläft eher bei den Engeln, als dass er lernt, 'nen Computer zu bedienen», sagte Lamar.
«Einspruch», sagte Don. «Ed geht nach Little Rock und lernt Computerzeichnen. Dann wird jemand anderem schlecht von seinen Bananen.»
«Sag mal, Donald, warum biste so sicher, dass du nich selber nach Little Rock gehst?»
Don schüttelte den Kopf. «In Little Rock würden wir zwei-, dreitausend Dollar im Jahr weniger ausgeben, und ich würd ziemlich bald 'n paar Tausender jährlich mehr verdienen. Is billig da unten. Patty könnte vielleicht halbtags arbeiten, dann hätten die Mädchen wieder 'ne Mutter. Wir könnten uns 'n Stück Land in den Ozarks kaufen, bevor die Mädchen zu alt sind, um noch was davon zu haben, 'n Grundstück mit 'nem Teich. Meint ihr im Ernst, jemand könnte zulassen, dass ich so was erlebe?»
Ed sortierte, nervös zuckend wie ein Backenhörnchen, seine Karten. «Wozu brauchen die da überhaupt Computer?», fragte er.
«Um nutzlose alte Männer zu ersetzen», sagte Don, und ein uncharmantes Lächeln schlitzte sein Pflaumengesicht auf.
«Uns ersetzen?»
«Warum, glaubste wohl, kaufen die Wroths uns auf und nich umgekehrt?»
Misch, misch. Klatsch, klatsch. Denise sah den Himmel am Horizont von Illinois Blitzgabeln in den Salat aus Bäumen stecken. Während sie den Kopf abwandte, kam es am Tisch zu einer Explosion.
«Herrgott nochmal, Ed», sagte Don Armour, «leck die Karten doch gleich ab, bevor du sie auf den Tisch legst!»
«Ganz ruhig, Don», sagte Sam Beuerlein, der Chefzeichner.
«Bin ich etwa der Einzige, dem's dabei hochkommt?»
«Ganz ruhig. Ruhig.»
Don schmiss seine Karten hin und stieß sich mit seinem Rollenstuhl so heftig ab, dass die Gottesanbeterinnenlampe quietschte und schwankte. «Laredo», rief er, «komm her und übernimm mein Blatt. Ich brauch 'n bisschen bananenfreie Luft.»
«Ganz ruhig, Mann.»
Don schüttelte den Kopf. «Entweder man sagt jetzt, wie's ist, Sam, oder man dreht durch, wenn tatsächlich verkauft wird.»
«Du bist ein cleverer Kerl, Don», sagte Beuerlein. «Du fällst schon auf die Füße, egal, was passiert.»
«Clever? Keine Ahnung. Ich bin nich halb so clever wie Ed. Stimmt's, Ed?»
Eds Nase zuckte. Ungeduldig klopfte er mit seinen Karten auf den Tisch.
«Zu jung für Korea, zu alt für meinen Krieg», sagte Don. «Das nenn ich clever. Clever genug, fünfundzwanzig Jahre lang jeden Morgen aus dem Bus zu steigen und die Olive Street zu überqueren, ohne übern Haufen gefahren zu werden. Clever genug, jeden Abend heil wieder nach Haus zu kommen. Das heißt clever sein in dieser Welt.»
Sam Beuerlein hob die Stimme. «Pass mal auf, Don. Du gehst jetzt spazieren, okay? Geh raus und reg dich ab. Danach kannst du dir überlegen, ob du dich nicht bei Eddie entschuldigen möchtest.»
«Achtzehn», sagte Ed, mit den Karten auf den Tisch schlagend.
Don presste eine Hand gegen sein Kreuz und humpelte kopfschüttelnd den Mittelgang hinunter. Laredo Bob kam mit Eiersalat im Schnurrbart herüber und übernahm Dons Blatt.
«Keine Entschuldigungen», sagte Ed. «Lasst uns einfach das Spiel hier spielen, Jungs.»
Als Denise nach der Mittagspause aus der Damentoilette kam, traf sie vor dem Fahrstuhl auf Don Armour. Er hatte einen Schal aus Regenspuren auf den Schultern. Kaum sah er Denise, rollte er mit den Augen, als fühle er sich schon wieder verfolgt.
«Was?», sagte Denise.
Er schüttelte den Kopf und entfernte sich.
«Was? Was?»
«Mittagszeit is vorbei», sagte er. «Müssten Sie nich bei der Arbeit sein?»
Jeder Schaltplan war mit dem Namen der Strecke und der Meilensteinziffer beschriftet. Der Signal-Ingenieur tüftelte Korrekturen aus, und die Zeichner sandten Kopien der Schaltpläne an den Außendienst, nachdem sie mit gelbem Stift Hinzuzufügendes und mit rotem Stift Wegzunehmendes markiert hatten. Dann machten sich die Techniker vor Ort, oftmals eigene Lösungswege und Abkürzungen beschreitend, an die Arbeit und schickten die Kopien zerfleddert und vergilbt und voller Fettfingerabdrücke, mit Prisen von rotem Staub aus Arkansas oder Unkrautgehäcksel aus Kansas zwischen den Seiten zurück ans Hauptbüro, wo die Zeichner die ausgeführten Korrekturen mit schwarzer Tinte auf den Klarsichtfolien- und den Pergamentoriginalen verzeichneten.
Den ganzen langen Nachmittag über, während das Barschbauchweiß des Himmels allmählich die Farbe von Fischflossen und Fischrücken annahm, faltete Denise die Tausende von Vordrucken, die sie am Morgen zurechtgeschnitten hatte, vorschriftsmäßig so, dass jeweils sechs Exemplare in die Hefter der Außendiensttechniker passten. Es gab Signale an den Meilensteinen 16.2 und 17.4 und 20.1 und 20.8 und 22.0 und so weiter bis hinauf zur Stadt New Chartres bei 74.35, dem Endpunkt der Linie.
Am Abend auf dem Heimweg in die Vororte fragte sie ihren Vater, ob die Wroths die Eisenbahngesellschaft mit der Arkansas Southern fusionieren würden.
«Wer weiß», sagte Alfred. «Ich hoffe nicht.»
Werde die Firma nach Little Rock verlegt?
«Das scheint, falls die Brüder zum Zuge kommen, ihre Absicht zu sein.»
Was werde dann aus den Männern von der Abteilung Signale?
«Ich denke, ein paar von den Dienstälteren würden mitgehen. Die Jüngeren — die würden wahrscheinlich entlassen. Aber ich möchte nicht, dass du darüber sprichst.»
«Mach ich auch nicht», sagte Denise.
Wie jeden Donnerstagabend in den letzten fünfunddreißig Jahren wartete Enid zu Hause mit dem Essen. Sie hatte grüne Paprika gefüllt und sprudelte vor Vorfreude auf das bevorstehende Wochenende.
«Morgen musst du mit dem Bus nach Hause kommen», sagte sie zu Denise, als sie sich an den Tisch setzten. «Dad und ich
fahren mit den Schumperts zu den Fond du Lac Estates.»
«Was sind die Fond du Lac Estates?»
«Kinkerlitzchen», sagte Alfred. «Hätte mich nie darauf einlassen sollen. Aber deine Mutter hat mich beschwatzt.»
«Al», sagte Enid, «da sind keinerlei Bedingungen dran geknüpft. Keiner zwingt uns, an irgendeinem der Seminare teilzunehmen. Wir können das ganze Wochenende tun und lassen, was wir wollen.»
«Ich wette, dass es Auflagen gibt. Der Makler kann doch nicht fortwährend kostenlose Wochenenden anbieten. Er muss Grundstücke verkaufen.»
«In der Broschüre stand, keine Auflagen, keine Erwartungen, keine Bedingungen.»
«Ich habe da meine Zweifel», sagte Alfred.
«Mary Beth sagt, in der Nähe von Bordentown gibt es eine herrliche Weinkellerei, die wir besichtigen können. Und wir können im See schwimmen! Und in der Broschüre steht was von Paddelbooten und einem Feinschmeckerrestaurant.»
«Ich kann mir nicht vorstellen, was an einer Weinkellerei in Missouri mitten im Juli reizvoll sein soll», sagte Alfred.
«Du musst dich nur darauf einlassen», sagte Enid. «Als die Dribletts letzten Oktober dort waren, hatten sie eine so schöne Zeit. Dale hat gesagt, es gab überhaupt keine Auflagen. Fast gar keine.»
«Überleg dir mal, wer das sagt.»
«Wie meinst du das?»
«Ein Mann, der davon lebt, Särge zu verkaufen.»
«Dale ist nicht schlechter als alle anderen.»
«Ich sagte bereits, dass ich meine Zweifel habe. Aber ich komme mit.» An Denise gewandt, fügte er hinzu: «Du kannst mit dem Bus nach Hause fahren. Wir lassen dir ein Auto hier.» «Kenny Kraikmeyer hat heute Morgen angerufen», berichtete Enid. «Er wollte wissen, ob du am Samstagabend Zeit hast.»
Denise schloss ein Auge und öffnete das andere weit. «Und was hast du ihm gesagt?»
«Ich habe gesagt, ich glaubte schon.»
«Du hast was?»
«Entschuldige. Ich wusste nicht, dass du was vorhast.»
Denise lachte. «Das Einzige, was ich im Moment vorhabe, ist, mich nicht mit Kenny Kraikmeyer zu treffen.»
«Er war sehr höflich», sagte Enid. «Weißt du, es kann nicht schaden, wenn du mit jemandem ausgehst, der dich immerhin so nett dazu auffordert. Wenn du dich nicht amüsierst, brauchst du's ja nicht wieder zu tun. Aber du solltest allmählich mal zu jemandem ja sagen. Die Leute denken bestimmt schon, niemand ist dir gut genug.»
Denise legte ihre Gabel hin. «Bei Kenny Kraikmeyer kommt's mir buchstäblich hoch.»
«Denise», sagte Alfred.
«Das ist nicht recht», sagte Enid mit zitternder Stimme. «Ich möchte dich nicht so reden hören.»
«Na gut, tut mir Leid. Aber ich habe am Samstag keine Zeit. Nicht für Kenny Kraikmeyer. Der im Übrigen, wenn er mit mir ausgehen möchte, auch mich selber fragen könnte.»
Denise kam der Gedanke, dass Enid ein Wochenende mit Kenny Kraikmeyer am Fond du Lac vermutlich gefallen könnte und Kenny sich dort vermutlich eher amüsieren würde als Alfred.
Nach dem Essen fuhr sie mit dem Fahrrad zum ältesten Haus in der Gegend, einem Backsteinwürfel mit meterhohen Decken aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg, direkt gegenüber vom zugenagelten Pendlerbahnhof. Das Haus gehörte dem Leiter der Theater-AG an der Highschool, Henry Dusinberre, der gerade einen Monat mit seiner Mutter in New Orleans verbrachte und seine bizarre abessinische Bananenpflanze und die exzentrischen Krotonen und ironisch gemeinten Topfpalmen der Obhut seiner Lieblingsschülerin überlassen hatte. Zu den bordelligen Antiquitäten in Dusinberres Salon gehörten zwölf verschnörkelte Champagnergläser, jedes mit einer im geschliffenen Kristallstiel gefangenen Luftbläschensäule, und von all den jungen Mimen und Literaten, die Samstagabends an seine Hausbar strebten, durfte allein Denise daraus trinken. («Lass die kleinen Biester doch Plastikbecher nehmen», pflegte er zu sagen, während er seine geschwächten Glieder in einem kalbsledernen Clubsessel in die rechten Positionen brachte. Er hatte zwei Runden gegen einen Krebs gekämpft, der sich nun angeblich auf dem Rückzug befand, doch seine glänzende Haut und die hervorquellenden Augen ließen ahnen, dass, onkologisch betrachtet, nicht alles zum Besten stand. «Lambert, außergewöhnliches Geschöpf», sagte er, «setz dich hierhin, damit ich dein Profil sehen kann. Ist dir bewusst, dass die Japaner dich wegen deines Nackens anbeten würden? Anbeten würden sie dich.») In Dusinberres Haus hatte sie ihre erste rohe Auster, ihr erstes Wachtelei, ihren ersten Grappa probiert. Dusinberre bestärkte sie auch in ihrem Entschluss, nicht dem Charme irgendwelcher «verpickelten Jünglinge» (seine Formulierung) zu erliegen. In Antiquitätenläden kaufte er Kleider und Jacken zur Ansicht, und wenn sie Denise passten, schenkte er sie ihr. Zum Glück schätzte Enid, die wünschte, Denise würde sich mehr wie eine Schumpert oder Root kleiden, alte Sachen so gering, dass sie wirklich glaubte, ein fleckenloses, besticktes gelbes Satinpartykleid mit Knöpfen aus Tigeraugenachat habe Denise (wie diese behauptete) zehn Dollar bei der Heilsarmee gekostet. Enids bitteren Einwänden zum Trotz hatte sie das Kleid bei ihrem Highschool-Ball mit Peter Hicks getragen, jenem beträchtlich verpickelten Jüngling, der in der Glasmenagerie, in der sie die Amanda gespielt, den
Tom gegeben hatte. In der Ballnacht hätte Peter Hicks sogar mit ihr und Dusinberre aus den Rokoko-Champagnergläsern trinken dürfen, doch Peter musste noch Auto fahren und blieb bei seinem Plastikbecher Cola.
Nachdem sie die Pflanzen gegossen hatte, saß sie in Dusinberres kalbsledernem Sessel und hörte New Order. Sie wünschte, sie hätte Lust gehabt, mit jemandem auszugehen, aber die jungen Männer, die sie respektierte, wie Peter Hicks, ließen sie in romantischer Hinsicht kalt, und der Rest war vom selben Schlag wie Kenny Kraikmeyer, der sich, obwohl er zur Marineakademie wollte und eine Karriere als Nuklearwissenschaftler anstrebte, für ungeheuer ‹hip› hielt und Cream- und Jimi-Hendrix-«Vinyl» (sein Ausdruck) mit einer Leidenschaft sammelte, die ihm von Gott vermutlich eher dazu gegeben worden war, Modell-U-Boote zu bauen. Das Ausmaß ihres Widerwillens machte Denise Sorgen. Sie verstand nicht, warum sie so gehässig war. Sie wollte gar nicht gehässig sein. Irgendetwas stimmte nicht damit, wie sie sich selbst und andere sah.
Sobald allerdings ihre Mutter sie darauf hinwies, hatte sie keine andere Wahl, als sie in der Luft zu zerreißen.
Am nächsten Tag sonnte sie sich während der Mittagspause in einem der knappen, ärmellosen Tops, die sie, ohne dass ihre Mutter davon wusste, unter dem Pullover zur Arbeit trug, da tauchte aus dem Nichts Don Armour in der Grünanlage auf und ließ sich neben sie auf die Bank fallen.
«Sie spielen ja heute gar nicht Karten», sagte sie.
«Ich werd noch wahnsinnig», sagte er.
Sie schaute wieder auf ihr Buch. Deutlich spürte sie seine anzüglichen Blicke. Die Luft war heiß, aber nicht so heiß, dass sie die Hitze auf der ihm zugewandten Seite ihres Gesichts erklären konnte. Er nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. «Hier sitzen Sie also immer.»
«Ja.»
Er war nicht gut aussehend. Sein Kopf wirkte zu groß, sein Haar lichtete sich, und sein Gesicht war, außer, wo sein Bart es blau färbte, nitritrot wie ein Wiener Würstchen oder eine Mortadella. Aber sie erkannte etwas leicht Spöttisches, Aufgewecktes, tierhaft Trauriges in seinem Blick; und die Sattelkurven seiner Lippen waren einladend.
Er las, was auf dem Buchrücken stand. «Graf Leo Tolstoi», sagte er. Er schüttelte den Kopf und lachte lautlos.
«Was?»
«Nix», sagte er. «Ich versuch mir bloß vorzustellen, — wie das so is — Sie zu sein.»
«Wie meinen Sie das?»
«Na ja, schön zu sein. Intelligent. Diszipliniert. Reich. Aufs College zu gehen. Na, wie is das?»
Sie hatte den lächerlichen Impuls, ihm zu antworten, indem sie ihn berührte, ihn fühlen zu lassen, wie das war. Im Grunde gab es keine andere Möglichkeit, darauf zu antworten.
Sie zuckte die Achseln und sagte, dass sie es nicht wisse.
«Ihr Freund muss sehr glücklich sein.»
«Ich habe keinen Freund.»
Don Armour schauderte, als wäre das eine schlechte Nachricht. «Das find ich erstaunlich. Überraschend.»
Denise zuckte erneut die Achseln.
«Als ich siebzehn war, hatte ich auch mal 'nen Sommerjob», sagte Don. «Da hab ich für 'n altes Mennonitenpaar gearbeitet, mit 'nem großen Antiquitätengeschäft. Wir haben da so 'n Zeugs benutzt, Magische Mixtur hieß das — Farbverdünner, Holzgeist, Aceton, Wolframöl. Damit konnte man die Möbel reinigen, ohne dass der Lack abging. Ich hab's den ganzen Tag eingeatmet, und abends bin ich förmlich nach Haus geschwebt. Gegen Mitternacht kriegte ich dann die übelsten
Kopfschmerzen.»
«Wo sind Sie aufgewachsen?»
«Carbondale, Illinois. Irgendwie hatte ich verdammt das Gefühl, dass die Mennoniten mir zu wenig zahlten, trotz der Gratistrips und so. Da hab ich angefangen, mir abends ihren Pick-up auszuborgen. Ich hatte 'ne Freundin, die rumkutschiert werden musste. Dann hab ich den Pick-up zu Schrott gefahren, und erst jetzt kriegten die Mennoniten heraus, dass ich ihn benutzt hab, und mein damaliger Stiefvater sagte, wenn ich bei der Marine anheuern würde, könnte er das mit den Mennoniten und der Versicherung schon regeln, ansonsten müsst ich sehen, wie ich mit den Bullen allein zurechtkam. Also bin ich Mitte der sechziger Jahre zur Marine. Sah eben damals so aus, als ob's das Richtige war. Tolles Timing. Da hab ich wirklich den Bogen raus.»
«Sie waren in Vietnam.»
Don Armour nickte. «Wenn's zur Fusion kommt, bin ich wieder da, wo ich nach meiner Entlassung angefangen hab. Plus drei Kinder und 'n paar Fähigkeiten, die keiner braucht.»
«Wie alt sind Ihre Kinder?»
«Zehn, acht und vier.»
«Ist Ihre Frau berufstätig?»
«Sie is Schulkrankenschwester. Lebt bei ihren Eltern in Indiana. Die haben zwei Hektar Land und 'nen Teich. Schön für die Mädchen.»
«Machen Sie auch mal Urlaub?»
«Zwei Wochen nächsten Monat.»
Denise fiel keine Frage mehr ein. Don Armour saß vornübergebeugt neben ihr, die Hände flach aneinander gepresst zwischen den Knien. Lange Zeit saß er völlig ausdruckslos da. Dann sah sie von der Seite, wie sich das charakteristische Grinsen auf sein Gesicht stahl; anscheinend musste er jeden, der ihn ernst nahm oder Mitgefühl zeigte, dafür bezahlen lassen. Schließlich stand Denise auf und sagte, sie werde jetzt hineingehen, und er nickte, als sei das ein Schlag, auf den er schon gewartet habe.
Sie kam nicht auf die Idee, dass Don Armour lächelte, weil es ihn verlegen machte, so unverhohlen um ihre Gunst zu werben und sie mit solchen abgedroschenen Phrasen ködern zu wollen. Sie kam nicht auf die Idee, dass sein Auftritt am Binokel-Tisch tags zuvor eigens ihretwegen inszeniert worden war. Sie kam nicht auf die Idee, dass er sie hinter der Toilettentür vermutet, ja es regelrecht darauf angelegt hatte, von ihr belauscht zu werden. Sie kam nicht auf die Idee, dass Don Armours Hauptwesenszug das Selbstmitleid war und dass er, mit ebendiesem Selbstmitleid, schon viele Mädchen vor ihr herumgekriegt hatte. Sie kam nicht auf die Idee, dass er längst — seit dem Moment nämlich, da er ihr zum ersten Mal die Hand geschüttelt hatte — plante, ihr an die Wäsche zu gehen. Sie kam nicht auf die Idee, dass er den Blick nicht nur abwandte, weil ihre Schönheit ihm Qualen bereitete, sondern auch weil in jedem der Ratgeber, für die ganz hinten in einschlägigen Männermagazinen geworben wurde («Wie du sie WILD auf dich machst — immer wieder!»), Regel Nr.1 lautete: Ignoriere sie. Sie kam nicht auf die Idee, dass Don Armour der Klassenunterschied zwischen ihnen beiden, der ihr unangenehm war, vielleicht gerade reizte: dass er sie als Luxusgegenstand begehrte oder dass es für einen im Grunde seines Wesens selbstmitleidigen Mann, der um seinen Job fürchten musste, in vielerlei Hinsicht eine Genugtuung wäre, die Tochter des Chefs vom Chef seines Chefs aufs Kreuz zu legen. Nichts von alledem kam Denise in den Sinn, damals ebenso wenig wie später. Auch noch zehn Jahre danach machte sie sich selbst für alles, was geschehen war, verantwortlich.
Was sie an jenem Nachmittag hingegen deutlich sah, waren die Probleme. Dass Don Armour sie anfassen wollte, es aber offenbar nicht hinbekam, war ein Problem. Dass sie durch einen
Zufall der Geburt alles besaß, während der Mann, der sie begehrte, so viel weniger hatte — dieses Ungleichgewicht — , das war ein großes Problem. Und da sie diejenige war, die alles besaß, war es zweifellos an ihr, das Problem zu lösen. Doch jedes ermunternde Wort, das sie ihm sagen, jede solidarische Geste, die sie sich vorstellen konnte, kam ihr herablassend vor.
Sie spürte das Problem intensiv in ihrem Körper. Dass sie mit so viel mehr Talenten und Chancen gesegnet war als Don Armour, manifestierte sich als physische Störung — als ein Unwohlsein, das sie, indem sie sich an ihren empfindlichsten Stellen kniff, zwar bekämpfen, nicht aber besiegen konnte.
Nach der Mittagspause ging sie in den Lagerraum, wo in den sechs mit schweren Deckeln versehenen Containern, die eleganten Müllschluckern glichen, die Originale aller Signalschaltpläne aufbewahrt wurden. Mit den Jahren waren die großen Pappordner in den Containern bis zum Bersten gefüllt worden, sodass sich tief zwischen ihren Deckeln verschollene Pläne gesammelt hatten, und Denise war die befriedigende Aufgabe übertragen worden, hier Ordnung zu schaffen. Die Zeichner, die in den Lagerraum kamen, gingen unbeirrt ihrer Arbeit nach, während Denise die Ordner neu beschriftete und lang vermisste Pergamente zutage förderte. Der größte Container war so tief, dass sie sich bäuchlings, die Beine auf kaltem Metall, auf den benachbarten Container legen und mit beiden Armen hineingreifen musste, um bis ganz nach hinten zu gelangen. Sie ließ die geretteten Pläne auf den Boden fallen und griff von neuem hinein. Als sie wieder auftauchte, um Luft zu schöpfen, merkte sie, dass Don Armour neben dem Container kniete.
Seine Schultern waren muskulös wie die eines Ruderers und zogen seinen Blazer straff. Sie wusste weder, wie lange er schon da war, noch, wohin er geschaut hatte. Jetzt studierte er ein ziehharmonikagefalteltes Pergament, den Schaltplan für ein Stellwerk beim Meilenstein 101.35 an der McCook-Strecke. Es war 1956 freihändig von Ed Alberding gezeichnet worden.
«Ed war noch 'n Bengel, als er das gezeichnet hat. Schönes Ding.»
Denise kletterte herunter, strich ihren Rock glatt und klopfte sich den Staub ab.
«Ich sollte Ed nich so zusetzen», sagte Don. «Er is begabt, wie ich's nie sein werde.»
Allem Anschein nach beschäftigte ihn Denise weniger, als er sie beschäftigte. Während sie neben ihm stand und auf sein jungenhaft verquirltes bleistiftgraues Haar hinabschaute, faltete er einen weiteren zerknitterten Plan auseinander. Sie trat einen Schritt näher zu ihm und beugte sich weiter vor, sodass ihr Oberkörper einen Schatten auf ihn warf.
«Sie stehn mir 'n bisschen im Licht», sagte er.
«Wollen Sie heute Abend mit mir essen gehen?»
Er seufzte schwer. Seine Schultern fielen nach vorn. «Ich muss übers Wochenende eigentlich nach Indiana.»
«Na dann.»
«Aber ich überleg's mir nochmal.»
«Gut. Überlegen Sie es sich.»
Sie klang ganz lässig, aber auf dem Weg zur Damentoilette wurden ihr die Knie weich. Sie schloss sich in eine Kabine ein, setzte sich auf den Klodeckel und machte sich Sorgen, während draußen die Fahrstuhlglocke leise klingelte und der Imbisswagen kam und wieder verschwand. Doch sie wusste gar nicht, was ihr solche Sorgen machte. Ihre Augen hefteten sich auf irgendetwas, den Chromriegel an der Kabinentür oder ein viereckiges Stück Klopapier am Boden, und ehe sie sich's versah, hatte sie es fünf Minuten lang angestarrt und an nichts gedacht. An nichts. Nichts.
Fünf Minuten vor Ende des Arbeitstages, sie war gerade beim Aufräumen, tauchte Don Armours breites Gesicht neben ihrer
Schulter auf, die Lider hinter seinen Brillengläsern schwer vor Müdigkeit.
«Denise», sagte er. «Ich möchte Sie zum Essen einladen.»
Sie nickte rasch. «Na dann.»
In einem rauen Stadtteil nördlich der Innenstadt, mit vorwiegend armer und schwarzer Bevölkerung, gab es ein altmodisches Lokal, das Henry Dusinberre und seine studentischen Mimen gern besuchten. Denise wollte nichts anderes als Eistee und Pommes frites, Don Armour dagegen bestellte sich ein Hamburgermenü und einen Milchshake. Seine Haltung, fand sie, war die eines Frosches. Sein Kopf versank zwischen den Schultern, wenn er sich übers Essen beugte. Er kaute mit Bedacht, gleichsam ironisch. Er blickte milde lächelnd, gleichsam ironisch, durch den Raum. Als er seine Brille den Nasenrücken hochschob, sah sie, dass seine Fingernägel bis aufs rosa Fleisch abgebissen waren.
«Ich würde um diese Gegend 'nen Bogen machen», sagte er.
«Die paar Blocks hier sind einigermaßen sicher.»
«Na, für Sie vielleicht, was», sagte er. «Ein Ort spürt genau, ob man weiß, was Ärger is. Wenn man's nich weiß, wird man in Ruhe gelassen. Aber ich weiß es, leider. Wenn ich 'ne Straße wie die hier langgegangen wär, als ich so alt war wie Sie, wär garantiert was Hässliches passiert.»
«Das verstehe ich nicht.»
«So war das eben. Ich brauchte bloß irgendwo aufzutauchen, schon waren da drei Freunde, die mich nich riechen konnten. So wenig wie ich sie. Das is 'ne Welt, die Sie als erfolgreicher und glücklicher Mensch gar nich sehen können. Jemand wie Sie spaziert da mittendurch. Die Welt wartet bloß drauf, dass einer wie ich, den man zu Hackfleisch machen kann, da vorbeikommt. Die erkennt mich aus 'nem Kilometer Entfernung.»
Don Armour hatte eine große amerikanische Limousine, die so ähnlich war wie die von Denise' Mutter, nur älter. Er lenkte sie in aller Ruhe auf eine Hauptstraße, fuhr gemächlich Richtung Westen und machte sich einen Spaß daraus, über dem Steuer zu hängen («Ich bin ein Lahmarsch; mein Auto is schlecht»), während andere Fahrer links und rechts an ihm vorbeidonnerten.
Denise beschrieb ihm den Weg zu Henry Dusinberres Haus. Tief im Westen über dem sperrholzäugigen Bahnhof schien noch die Sonne, als sie die Stufen zu Dusinberres Veranda hinaufstiegen. So wie Don Armour an den Bäumen hochschaute, hätte man meinen können, dass selbst sie ihm besser, wertvoller vorkamen als anderswo. Denise hatte die Hand schon am Griff der Fliegendrahttür, als sie merkte, dass die Haustür dahinter offen stand.
«Lambert? Bist du's?» Henry Dusinberre trat aus dem Zwielicht seines Salons. Seine Haut war wächserner denn je, seine Augen quollen noch stärker hervor, und seine Zähne schienen länger geworden. «Der Arzt meiner Mutter hat mich nach Hause geschickt», sagte er. «Er wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich glaube, er hatte genug vom Tod.»
Don Armour zog sich gesenkten Kopfes Richtung Wagen zurück.
«Wer ist dieser unglaubliche Koloss?», fragte Dusinberre.
«Ein Arbeitskollege», sagte Denise.
«Also, der kann nicht mit reinkommen. Tut mir Leid. Ich will keine Kolosse im Haus haben. Ihr müsst euch was anderes suchen.»
«Hast du genug zu essen da? Ist alles in Ordnung?»
«Ja, geh du nur. Ich fühle mich schon besser, jetzt, wo ich zurück bin. Der Arzt und ich, wir waren beide ganz betreten wegen meines Zustands. Offenbar, Kind, habe ich so gut wie gar keine weißen Blutkörperchen mehr. Der Mann hat vor Angst regelrecht gezittert. War überzeugt, dass ich gleich an Ort und
Stelle, dort in seiner Praxis, sterben würde. Lambert, er tat mir ja so Leid!» Ein dunkler Heiterkeitsschlund öffnete sich im Gesicht des Kranken. «Ich habe versucht, ihm klar zu machen, dass mein Bedarf an weißen Blutkörperchen quasi zu vernachlässigen ist. Aber er schien mich unbedingt als medizinische Kuriosität betrachten zu wollen. Dann habe ich mit Mutter zu Mittag gegessen und bin mit dem Taxi zum Flughafen gefahren.»
«Kommst du auch wirklich zurecht?»
«Ja. Nun geh schon, mit meinem Segen. Sei närrisch. Aber nicht in meinem Haus. Los.»
Es war unklug, am helllichten Tag auf der Straße vor ihrem Elternhaus, wo aufmerksame Roots und neugierige Dribletts kamen und gingen, mit Don Armour gesehen zu werden, also ließ sie ihn zur Grundschule fahren und führte ihn auf den Rasenplatz dahinter. Sie saßen mitten in der Elektromenagerie des Insektengesumms, der geschlechtlichen Intensität gewisser duftender Sträucher, der abklingenden Hitze eines schönen Julitages. Don Armour schlang seine Arme um ihren Bauch, legte sein Kinn auf ihre Schulter. Sie lauschten den matten Puffen kleinkalibriger Feuerwerkskörper.
Als sie später, nach Einbruch der Dunkelheit, in ihrem bis zur Frostigkeit klimatisierten Haus standen, versuchte sie ihn rasch zur Treppe zu lotsen, doch er verweilte in der Küche, schaute sich in aller Ruhe im Esszimmer um. Der falsche Eindruck, den das Haus ganz offenbar erweckte, gab ihr einen Stich. Obgleich ihre Eltern nicht wohlhabend waren, sehnte sich ihre Mutter so sehr nach einer bestimmten Art von Eleganz und hatte deshalb so viel Aufwand getrieben, dass das Haus in Don Armours Augen wie das Haus reicher Leute aussah. Er schien kaum auf die Teppiche treten zu wollen. Er blieb stehen und betrachtete aufmerksam, wie vielleicht noch keiner vor ihm, die Waterford-Kelchgläser und — Konfektschälchen, die Enid hinter den Glastüren des Wohnzimmerschranks aufbewahrte. Auf jedem
Gegenstand, den Spieldosen, den Pariser Straßenszenen, den farblich aufeinander abgestimmten und wunderschön bezogenen Polstermöbeln, ruhte sein Blick, wie er auf Denise' Körper geruht hatte — war das erst heute gewesen? Heute in der Mittagspause?
Sie schob ihre große Hand in seine noch größere, wob ihre Finger in die seinen und zog ihn zur Treppe.
In ihrem Zimmer, auf den Knien, legte er seine Daumen an ihre Hüftknochen und drückte seinen Mund erst auf ihre Schenkel, dann auf ihr Was-auch-immer; sie fand sich in eine Grimm'sche und C.-S.-Lewis'sche Kindheitswelt zurückversetzt, in der eine Berührung Zauberkraft besaß. Seine Hände verwandelten ihre Hüften in die Hüften einer Frau, sein Mund verwandelte ihre Schenkel in die Schenkel einer Frau, ihr Was- auch-immer in eine Möse. Das waren die Vorteile, wenn jemand Älteres einen begehrte: sich nicht mehr so sehr wie eine geschlechtslose Marionette zu fühlen, eine sachkundige Führung durch das Gelände der eigenen Morphologie zu bekommen, über deren Nützlichkeit aufgeklärt zu werden, noch dazu von einem, für den es das Nonplusultra war.
Jungs in ihrem Alter wollten irgendetwas, ohne genau zu wissen, was. Jungs in ihrem Alter wollten Ungefähres. Denise' Aufgabe — die Rolle, die sie bei mehr als einem lausigen Rendezvous gespielt hatte — war, sie genauer herausfinden zu lassen, was sie wollten, ihre Bluse aufzuknöpfen und ihnen Anstöße zu geben, ihre ziemlich rudimentären Vorstellungen (gewissermaßen) Fleisch werden zu lassen.
Don Armour wollte sie minutiös, Zentimeter für Zentimeter. Sie ergab für ihn offenbar den allerschönsten Sinn. Einen Körper einfach nur zu besitzen hatte Denise nie viel bedeutet, ihn aber als etwas zu betrachten, wonach es sie selbst verlangen könnte — sich auszumalen, sie sei Don Armour auf Knien und begehre die verschiedenen Teile ihrer selbst — , ließ diesen Besitz verzeihlicher erscheinen. Sie hatte, was der Mann zu finden erwartete. Es machte ihr keinerlei Angst, wie er sich ein Merkmal nach dem anderen vornahm und es würdigte.
Als sie ihren BH aufhakte, senkte Don den Kopf und schloss die Augen.
«Was ist?»
«Man könnte sterben, so schön biste.»
Ja, das gefiel ihr.
Was sie empfand, als sie ihn in ihre Hände nahm, war ein Vorgeschmack darauf, was sie einige Jahre später als junge Köchin empfinden sollte, die mit ihren ersten Trüffeln, ihrer ersten Gänseleber, ihrem ersten Rogen hantierte.
An ihrem achtzehnten Geburtstag hatten ihre Theaterfreunde ihr eine ausgehöhlte Bibel geschenkt, in der sie außer einem Schlückchen Seagram's drei bonbonfarbene Kondome versteckt hatten, die sie jetzt gut gebrauchen konnte.
Don Armours Kopf, irgendwo über ihr, war ein Löwenkopf, eine Kürbislaterne. Als er kam, brüllte er. Seine abklingenden Seufzer überschnitten einander, überlappten sich beinah. Oh, oh, oh, oh. Etwas Vergleichbares hatte sie noch nie gehört. Sie blutete proportional zu ihrem Schmerz, der ziemlich schlimm gewesen war, und umgekehrt proportional zu ihrer Lust, die sich hauptsächlich in ihrem Kopf abgespielt hatte.
Nachdem sie aus dem Wäschekorb im Flurschrank ein schmutziges Handtuch gekramt hatte, ballte sie in der Dunkelheit triumphierend die Faust, weil sie, noch bevor sie aufs College ging, den Status der Nichtjungfräulichkeit erreicht hatte.
Weniger erfreulich war die Gegenwart eines stämmigen und etwas blutigen Mannes in ihrem Bett. Es war ein Einzelbett, das einzige, in dem sie je geschlafen hatte, und sie war müde. Das erklärte vielleicht, warum sie sich jetzt lächerlich machte, indem sie, ein Handtuch um den Leib gewickelt, mitten in ihrem
Zimmer stehen blieb und unversehens weinte.
Sie liebte Don Armour dafür, dass er zu ihr kam, seine Arme um sie legte und sich nicht darum scherte, dass sie sich wie ein Kind benahm. Er brachte sie ins Bett, fand ein Pyjamaoberteil für sie, half ihr, es anzuziehen. Dann kniete er sich neben das Bett, deckte sie zu und streichelte ihr über den Kopf, genau so, vermutete sie, wie er seine Töchter streichelte. Das tat er, bis sie fast eingeschlafen war. Dann weitete sich der Schauplatz seiner Liebkosungen auf Regionen aus, die, vermutete sie, bei seinen Töchtern tabu waren. Sie versuchte, im Halbschlaf zu bleiben, doch seine Berührungen wurden immer drängender, immer kratziger. Alles, was er mit ihr anstellte, kitzelte oder tat weh, und als sie zu wimmern wagte, erlebte sie zum ersten Mal, wie Männerhände ihren Kopf nach unten drückten, sie südwärts stießen.
Gott sei Dank machte er, nachdem er fertig war, keine Anstalten, die Nacht bei ihr zu verbringen. Er ging aus dem Zimmer, und sie lag reglos da, angespannt auf seine Schritte horchend. Schließlich — sie mochte zwischendurch eingedöst sein — hörte sie das Haustürschloss klicken und den Anlasser seines großen Wagens wiehern.
Sie schlief bis Mittag, und während sie im Erdgeschossbad unter der Dusche stand und zu begreifen versuchte, was sie getan hatte, hörte sie erneut die Haustür. Hörte Stimmen.
Hektisch spülte sie ihre Haare, hektisch trocknete sie sich ab und stürzte aus dem Bad. Ihr Vater hatte sich im Arbeitszimmer hingelegt. Ihre Mutter wusch in der Küche die Kühltasche aus.
«Denise, du hast ja gar nichts von dem gegessen, was ich dir hingestellt hatte!», rief Enid. «Du hast es überhaupt nicht angerührt!»
«Ich dachte, ihr kämt erst morgen zurück.»
«Fond du Lac war nicht annähernd so, wie wir gedacht hatten», sagte Enid. «Ich weiß nicht, was Dale und Honey daran
fanden. Eine riesengroße Seifenblase, das Ganze.»
Am Fuß der Treppe standen zwei Reisetaschen. Denise eilte daran vorbei und hinauf zu ihrem Zimmer, in dem schon vom Flur aus Kondomhüllen und blutbefleckte Bettwäsche zu sehen waren. Sie zog die Tür hinter sich zu.
Der Rest des Sommers war ruiniert. Sie war absolut einsam, sowohl bei der Arbeit als auch zu Hause. Sie versteckte das blutbefleckte Laken und das blutbefleckte Handtuch in ihrem Schrank, weil sie in ihrer Verzweiflung nicht wusste, was sie sonst damit machen sollte. Enid war von Natur aus wachsam und hatte eine Myriade müßiger Synapsen, die sich Aufgaben wie der, mitzukriegen, wann Denise ihre Periode bekam, hervorragend widmen ließen. Denise hoffte, in zwei Wochen, wenn es wieder so weit war, mit dem ruinierten Handtuch und Laken herausrücken und sich entschuldigen zu können. Enid jedoch hatte genügend Geisteskräfte in Reserve, um ihre Wäschestücke zu zählen.
«Ich vermisse eines meiner guten Badehandtücher mit Monogramm.»
«Oh, Schande, das habe ich im Schwimmbad liegen lassen»
«Denise, warum du auch ein gutes Handtuch mit Monogramm nehmen musst, wo wir doch so viele andere haben… Und ausgerechnet das Handtuch verlierst! Hast du im Schwimmbad angerufen?»
«Ich bin extra nochmal hingegangen und habe es gesucht.»
«Das sind sehr teure Handtücher.»
Fehler wie der, den sie jetzt vorgab, begangen zu haben, unterliefen Denise eigentlich nie. Die Ungerechtigkeit hätte weniger an ihr genagt, wenn das Ganze einem größeren Vergnügen gedient hätte — wenn es möglich gewesen wäre, zu Don Armour zu gehen und mit ihm darüber zu lachen und sich von ihm trösten zu lassen. Aber sie liebte ihn nicht, und er liebte sie nicht.
Im Büro war ihr die Freundlichkeit der anderen Zeichner jetzt suspekt; sie schien allzu leicht aufs Vögeln hinauszulaufen. Don Armour war zu verlegen oder zu diskret, um auch nur ihre Blicke zu erwidern. Er verbrachte seine Tage in apathischer Verbitterung über die Wroth-Brüder und war unfreundlich zu allen um ihn herum. Denise blieb nichts anderes übrig, als zu arbeiten, aber auf einmal wurde ihr der Stumpfsinn dessen, was sie tat, zur Last, auf einmal hasste sie es. Am Ende eines Tages schmerzten ihr Gesicht und ihr Nacken, weil sie ständig mit den Tränen kämpfte und ein Tempo vorlegte, das so ohne weiteres nur durchhalten konnte, wem die Arbeit Spaß machte.
So war das eben, sagte sie sich, wenn man unüberlegt handelte. Sie staunte, dass sie keine zwei Stunden nachgedacht hatte, ehe sie zu der Entscheidung gekommen war. Don Armours Augen und sein Mund hatten ihr gefallen, sie hatte beschlossen, ihm das, was er haben wollte, schuldig zu sein — und mehr war ihr, wenn sie sich recht entsann, nicht durch den Kopf gegangen. Eine schmutzige und reizvolle Gelegenheit war aufgetaucht (heute Nacht könnte ich meine Unschuld verlieren), und sie hatte sich darauf gestürzt.
Sie war zu stolz, vor sich selbst, erst recht aber vor Don Armour zuzugeben, dass er nicht war, was sie wollte. Sie war zu unerfahren, um zu wissen, dass sie einfach hätte sagen können: «Tut mir Leid — großer Fehler.» Stattdessen fühlte sie sich verpflichtet, ihm mehr von dem zu geben, was er wollte. Sie dachte, dass eine Affäre, hatte man sie erst einmal angefangen, auch eine Weile hielt.
Sie büßte für ihr Zaudern. Vor allem im Lauf der ersten Woche, bevor sie sich aufraffte, Don Armour ein zweites Treffen vorzuschlagen, saß ihr immer wieder, und das stundenlang, ein Kloß in der Kehle. Aber so leicht ließ sie sich nicht unterkriegen. Sie traf sich an drei aufeinander folgenden Freitagen mit ihm und erzählte ihren Eltern jedes Mal, sie gehe mit Kenny Kraikmeyer aus. Don Armour lud sie zum Essen in ein Familienlokal ein, das zwischen ein paar Läden an einer Ausfallstraße lag, und nahm sie danach mit zu sich in sein weit draußen gelegenes Kaff mitten in einem Tornadokorridor, eine von fünfzig Ortschaften, die sich St. Jude in seiner Ausbreitungswut nach und nach einverleibte. Er schämte sich dermaßen für sein kleines schäbiges Haus, dass es an Abscheu grenzte. Kein Haus in Denise' Vorort hatte so niedrige Decken oder bestand aus so billigen Materialien oder hatte Türen, die zu leicht waren, um sich ordentlich zuknallen zu lassen, und Fensterrahmen und Fensterschienen aus reinem Plastik. Um ihren Liebhaber zu beruhigen und ihn von dem Thema, dem sie am allerwenigsten abgewinnen konnte («dein Leben vs. mein Leben»), abzubringen, aber auch, um ein paar Stunden zu füllen, die sonst für sie beide bloß peinlich gewesen wären, zog sie ihn auf das ausklappbare Bett in seinem zugemüllten Keller und richtete ihren Perfektionismus auf eine ganz neue Welt der Fertigkeiten.
Don Armour sagte ihr nie, wie er seiner Frau erklärt hatte, warum er am Wochenende nicht nach Indiana kam. Denise scheute sich, ihm auch nur eine einzige seine Frau betreffende Frage zu stellen.
Ohne mit der Wimper zu zucken, ertrug sie die Schelte ihrer Mutter für einen weiteren Fehler, der ihr eigentlich niemals unterlaufen wäre: ein blutbeflecktes Laken nicht sofort in kaltem Wasser eingeweicht zu haben.
Am ersten Freitag im August, unmittelbar bevor Don Armours zweiwöchiger Urlaub anfing, kehrten er und Denise noch einmal ins Büro zurück und schlossen sich im Lagerraum ein. Sie küsste ihn, legte seine Hände auf ihre Brüste und versuchte, seine Finger zu führen, doch seine Hände wollten auf ihren Schultern sein; sie wollten sie auf die Knie drücken. Sein Zeug geriet in ihre Nasenlöcher.
«Hast du dich erkältet?», fragte ihr Vater ein paar Minuten später, als sie die Stadtgrenze hinter sich ließen.
Zu Hause überbrachte Enid ihr die Nachricht, dass Henry Dusinberre («dein guter Freund») am Mittwochabend im St. Luke's gestorben sei.
Denise hätte ein weitaus schlechteres Gewissen gehabt, wenn sie Dusinberre nicht erst am Sonntag in seinem Haus besucht hätte. Sie hatte ihn in den Klauen einer gewaltigen Verärgerung über das Baby seiner Nachbarin angetroffen. «Ich muss ohne weiße Blutkörperchen auskommen», sagte er. «Da könnten sie doch mal ihre verdammten Fenster zumachen. Mein Gott, was hat das Baby für Lungen! Wahrscheinlich sind sie darauf auch noch stolz. Wahrscheinlich ist das wie bei diesen Motorradfahrern, die ihre Auspufftöpfe abmontieren. Irgend so ein albernes, primitives Männlichkeitssymbol.» Dusinberres Schädel und Knochen drückten immer fester gegen seine Haut. Er ließ sich über das Porto einer 90-Gramm-Briefsendung aus. Er erzählte Denise eine verschlungene, unwahre Geschichte über eine Frau mit «Negerblut» in den Adern, mit der er vorübergehend verlobt gewesen sei. («Wenn es mich überrascht hatte, dass sie nur zu sieben Achteln weiß war, dann stell dir erst mal ihre Überraschung vor, als sie erfuhr, dass ich nur zu einem Achtel hetero bin.») Er redete von seinem lebenslangen Kreuzzug für Fünfzig-Watt-Glühbirnen. («Sechziger sind zu hell», sagte er, «und Vierziger zu dunkel.») Etliche Jahre hatte er mit dem Tod gelebt und ihn in Schach gehalten, indem er ihn bagatellisierte. Auch jetzt brachte er noch ein einigermaßen boshaftes Lachen zustande, doch das Bagatellisieren erwies sich am Ende als so hoffnungslos wie alles andere. Denise gab ihm zum Abschied einen Kuss, doch da schien er sie schon nicht mehr zu erkennen. Er lächelte, mit niedergeschlagenen Augen, als wäre er ein besonderes Kind, das für seine Schönheit zu bewundern und für seine tragischen Lebensumstände zu bemitleiden war.
Auch Don Armour sah sie nie wieder.
Am Montag, dem 6. August, erzielten Hillard und Chauncy
Wroth, nach einem Sommer zähen Verhandelns, eine Einigung mit den wichtigsten Eisenbahngewerkschaften. Die Gewerkschaften machten zugunsten einer weniger paternalistischen und dafür innovativeren Geschäftsführung beträchtliche Konzessionen und versüßten so das Wroth'sche Zahlungsangebot an die Midland Pacific von $ 26/Aktie durch die Aussicht auf eine potenzielle kurzfristige Einsparung von $ 200 Millionen. Die Geschäftsleitung der Midpac wollte ihre Entscheidung offiziell erst zwei Wochen später fällen, doch die Sache galt als ausgemacht. Da chaotische Zustände zu befürchten waren, erging aus der Chefetage ein Schreiben an sämtliche Abteilungen, in dem es hieß, dass alle Aushilfskräfte bis spätestens Freitag, 17. August, den Dienst quittieren sollten.
Da es im Zeichenbüro (außer Denise) keine Frauen gab, baten ihre Kollegen die Sekretärin des Chefingenieurs, einen Abschiedskuchen zu backen. Sie stellten ihn Denise an ihrem letzten Arbeitsnachmittag hin. «Is ja 'n beachtlicher Erfolg», sagte Lamar kauend, «dass wir Sie endlich dazu gekriegt haben, 'ne Kaffeepause zu machen.»
Laredo Bob betupfte sich mit einem Taschentuch von der Größe eines Kissenbezugs die Augen.
Am selben Abend gab Alfred im Auto ein Kompliment weiter.
«Sam Beuerlein hat mir gesagt, er habe noch nie jemanden so fabelhaft arbeiten sehen wie dich.»
Denise sagte nichts.
«Du hast auf diese Männer großen Eindruck gemacht. Du hast ihnen die Augen darüber geöffnet, was ein Mädchen alles leisten kann. Ich habe dir das vorher nicht gesagt, aber ich hatte das Gefühl, dass die Männer nicht gerade begeistert waren, für den Sommer ein Mädchen zugeteilt zu bekommen. Ich glaube, sie hatten viel Geplapper und wenig Substanz erwartet.»
Sie war zwar froh über die Anerkennung von ihrem Vater.
Doch seine Freundlichkeit, wie die Freundlichkeit der Zeichner, die nicht Don Armour waren, erreichte sie nicht mehr. Sie schien ihren Körper anzufallen, irgendetwas von ihm zu wollen; und ihr Körper rebellierte.
Denise-uh-why-you-done, what-you-did?
«Na», sagte ihr Vater, «jedenfalls hast du jetzt eine Vorstellung vom Leben in der wirklichen Welt.»
Bevor sie nach Philadelphia kam, hatte ihr die Aussicht, in der Nähe von Gary und Caroline aufs College zu gehen, gefallen. Deren große Villa in der Seminole Street war wie ein Zuhause ohne die Nachteile eines Zuhauses, und auf Caroline, die so schön war, dass das bloße Privileg, mit ihr zu sprechen, Denise bisweilen den Atem nahm, war immer Verlass, wenn es darum ging, Denise zu versichern, dass sie allen Grund hatte, Enids wegen den Verstand zu verlieren. Schon gegen Ende ihres ersten Semesters aber stellte Denise fest, dass sie Gary für jede Nachricht, die er von ihr bekam, drei Nachrichten auf ihr Band sprechen ließ. (Einmal, ein einziges Mal nur, hatte sie eine Nachricht von Don Armour erhalten, auf die sie ebenfalls nicht reagierte.) Auch Garys Angebot, sie in ihrem Wohnheim abzuholen und nach dem Abendessen wieder zurückzufahren, lehnte sie immer häufiger ab. Sie behauptete, arbeiten zu müssen, und schaute dann, anstatt zu arbeiten, zusammen mit Julia Vrais fern. Es war ein Hattrick der Schuldgefühle: Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie Gary belog, ein noch schlechteres, weil sie ihr Studium vernachlässigte, und das allerschlechteste, weil sie Julia vom Lernen abhielt. Denise konnte jederzeit die Nacht durchmachen, aber Julia war nach zweiundzwanzig Uhr zu nichts mehr zu gebrauchen. Julia hatte keinen Motor und kein Ruder. Sie konnte nicht erklären, warum sie im Herbstsemester Italienisch I, Russisch I, Fernöstliche Religionen und Musiktheorie belegt hatte; Denise warf sie vor, bei der Zusammenstellung ihrer ausgewogenen, aus Englisch, Geschichte, Philosophie und Biologie bestehenden akademischen Kost fremde Hilfe gehabt zu haben.
Denise ihrerseits war neidisch auf die College-«Männer» in Julias Leben. Anfänglich waren sie beide belagert worden. Unverhältnismäßig viele «Männer» aus den höheren Semestern, die in der Cafeteria ihre Tabletts neben ihnen auf den Tisch knallten, stammten aus New Jersey. Sie hatten nicht mehr ganz junge Gesichter und Megaphonstimmen, mit denen sie Matheaufgaben verglichen oder in Erinnerungen an einen Aufenthalt in Rehoboth Beach schwelgten, wo sie sich dermaßen hatten voll laufen lassen. An Julia und Denise hatten sie nur drei Fragen: (1) Wie heißt ihr? (2) In welchem Wohnheim seid ihr? und (3) Wollt ihr am Freitag zu unserer Party kommen? Denise war erstaunt, welch unverhohlene Grobheit in dieser Schnellprüfung lag, und nicht weniger erstaunt, wie fasziniert sich Julia von den Jungs aus Teaneck mit ihren digitalen Monsterarmbanduhren und zusammengewachsenen Augenbrauen zeigte. Julia reckte den Kopf wie ein Eichhörnchen, wenn es überzeugt ist, dass jemand altes Brot in der Tasche hat. Verließ sie eine Party, zuckte sie die Schultern und sagte zu Denise: «Er hat Stoff, also geh ich mit zu ihm.» Schon bald arbeitete Denise freitagabends allein. Sie handelte sich den Ruf einer Eisprinzessin und möglichen Lesbierin ein. Ihr fehlte Julias Fähigkeit, dahinzuschmelzen, wenn die gesamte College-Fußballmannschaft um drei Uhr nachts vor ihrem Fenster stand und im Chor ihren Namen rief. «Ist das peinlich», stöhnte Julia dann in einer Agonie der Glückseligkeit, während sie um die heruntergelassenen Rollos herumlugte. Die «Männer» draußen vor dem Fenster hatten keine Ahnung, wie glücklich sie sie machten, und ebendeshalb, so Denise' strikte Erstsemester-Meinung, hatten sie Julia nicht verdient.
Den nächsten Sommer verbrachte Denise mit vier zügellosen Kommilitoninnen auf Long Island, in den Hamptons, und tischte ihren Eltern nichts als Lügen auf. Sie schlief in irgendeinem
Wohnzimmer auf dem Boden und jobbte als Tellerwäscherin und Küchenmädchen im Inn at Quogue, wo sie Seite an Seite mit einer hübschen jungen Frau aus Scarsdale namens Suzie Sterling arbeitete und sich in das Leben eines Kochs verliebte. Sie liebte die verrückten Arbeitszeiten, die Intensität der Arbeit, die Schönheit des Produkts. Sie liebte die tiefe Stille unterhalb des Lärms. Ein gutes Team in der kleinen heißen Küchenwelt war wie eine selbst gewählte Familie, in der alle auf derselben Stufe standen und jeder, in seiner Vergangenheit oder in seinem Charakter, irgendwelche Absonderlichkeiten verbarg und noch im schweißtreibendsten Miteinander seine Privatsphäre und Autonomie genoss: Das liebte sie.
Suzie Sterlings Vater Ed hatte Suzie und Denise mehrmals nach Manhattan mitgenommen, bevor er eines Abends im August, als Denise nach Hause radelte und ihn beinahe über den Haufen fuhr, neben seinem BMW stand, eine Dunhill rauchte und hoffte, sie käme allein. Ed Sterling war Anwalt in der Unterhaltungsbranche. Er bekannte sich unfähig, ohne Denise zu leben. Sie versteckte ihr (geliehenes) Fahrrad zwischen den Büschen am Straßenrand. Dass das Fahrrad gestohlen war, als sie am nächsten Tag zurückkehrte, um es zu holen, und sie seinem Eigentümer schwor, es am gewohnten Pfahl angeschlossen zu haben, hätte ihr Warnung genug sein sollen — offenbar betrat sie gefährliches Terrain. Doch was sie mit Sterling dank der gewaltigen hydraulischen Physiologie seiner Lust anstellte, war einfach zu aufregend, und als im September das neue Semester begann, kam sie zu dem Schluss, dass eine geisteswissenschaftliche Fakultät dem Vergleich mit einer Küche nicht standhielt. Sie sah keinen Sinn darin, sich für Seminararbeiten abzurackern, die nur ein einziger Professor jemals las; sie brauchte ein Publikum. Außerdem ärgerte es sie, dass das College ihr ihrer ganzen Vorrechte wegen Schuldgefühle einflößte, während es bestimmten glücklichen Personengruppen einen vollkommenen Ablass davon gewährte.
Sie fühlte sich ohnehin schon schuldig genug, vielen Dank. Fast jeden Sonntag nahm sie die billige, langsame, proletarische SEPTA- und New-Jersey-Transit-Kombination nach New York. Sie ertrug Ed Sterlings paranoide Einbahnstraßen-Telefonate ebenso wie seine Last-Minute-Absagen und seine chronische Zerstreutheit und seine kieferstrapazierenden Versagensängste und ihre eigene Scham, wenn er sie in billige ethnische Restaurants in Woodside, Elmhurst und Jackson Heights ausführte, damit sie ja niemand zusammen sah, den Sterling kannte (denn in Manhattan, sagte er ihr oft genug — sich mit beiden Händen durch sein nerzfelldickes Haar fahrend — , in Manhattan kenne er jeden). Während ihr Liebhaber einem Nervenzusammenbruch und der Unfähigkeit, sich weiter mit ihr zu treffen, immer näher kam, aß Denise uruguayische T-Bone-Steaks, sinokolumbianische Tamales, daumennagelgroße Flusskrebse in rotem Thai-Curry und erlenholzgeräucherte russische Aale. Schönheit oder auch Qualität, wie sie für sie in einem bemerkenswerten Essen verkörpert war, konnte so gut wie jede Demütigung wettmachen. Doch ihr schlechtes Gewissen wegen des Fahrrads blieb. Wegen ihrer hartnäckigen Behauptung, es am gewohnten Pfahl angeschlossen zu haben.
Als sie sich zum dritten Mal mit einem Mann einließ, der doppelt so alt war wie sie, heiratete sie ihn. Sie hatte den festen Entschluss gefasst, keine windelweiche Liberale zu sein. Sie war vom College abgegangen und hatte ein Jahr gearbeitet, um Geld anzusparen, war dann sechs Monate durch Frankreich und Italien gereist und schließlich nach Philadelphia zurückgekehrt, um in einem überlaufenen Fisch-und-Pasta-Lokal unweit der Catharine Street zu kochen. Sobald sie dort ein paar Kenntnisse erworben hatte, bot sie ihre Dienste im Café Louche an, dem damals schillerndsten Lokal der Stadt. Emile Berger stellte sie, kaum hatte er bemerkt, wie sie mit Messern umging und wie hübsch sie aussah, vom Fleck weg ein. Schon nach einer Woche klagte er ihr sein Leid über die kaum tragbare Inkompetenz aller, die in seiner Küche arbeiteten, außer ihm und ihr.
Der arrogante, ironische, hingebungsvolle Emile wurde zu ihrer Zuflucht. In seiner Gegenwart fühlte sie sich unendlich erwachsen. Von der Ehe, sagte er, habe er seit seinem ersten Versuch genug, aber dann tat er Denise doch den Gefallen, mit ihr nach Atlantic City zu fahren und (in den Worten des Barbera D'Alba, mit dem sie sich betrunken hatte, bevor sie um seine Hand anhielt) eine ehrenwerte Frau aus ihr zu machen. Im Cafe Louche arbeiteten sie wie Kollegen, wobei die Erfahrung, die er ihr voraus hatte, in einem steten Strom von seinem in ihren Kopf floss. Sie spotteten gemeinsam über den anmaßenden alten Rivalen, Le Bec-Fin. Einer spontanen Laune folgend, kauften sie sich ein zweistöckiges Reihenhaus in der Federal Street, in einem Viertel mit gemischter schwarzer und weißer und vietnamesischer Bevölkerung unweit vom Italian Market. Sie sprachen über Geschmack wie Marxisten über die Revolution.
Als Emile ihr schließlich all das beigebracht hatte, was er ihr je würde beibringen können, versuchte sie, den Spieß umzudrehen — komm, lass uns die Karte doch mal aufpeppen, wie wär's, wenn wir das Gericht mal mit Gemüsefonds und ein bisschen Kreuzkümmel probieren — , und lief mit Karacho gegen jene Wand aus Ironie und eiserner Überzeugung, die sie geliebt hatte, solange sie auf der richtigen Seite stand. Es kam ihr so vor, als wäre sie begabter und ehrgeiziger und hungriger als ihr weißhaariger Ehemann. Es kam ihr so vor, als wäre sie, während sie geschlafen und gearbeitet und geschlafen und gearbeitet hatte, so schnell gealtert, dass sie an Emile vorbeigezogen und bei ihren Eltern angekommen war. Ihre eng umgrenzte Welt des ständigen Zusammenseins, rund um die Uhr, zu Hause wie am Arbeitsplatz, schien ihr identisch mit dem Zweieruniversum ihrer Eltern. Sie hatte Altweiberschmerzen in ihren jungen Hüften, Knien und Füßen. Sie hatte geschundene Altweiberhände, sie hatte eine trockene Altweibervagina, sie hatte Altweibervorurteile und Altweiberansichten, sie hatte eine
Altweiberabneigung gegen junge Leute mit ihren elektronischen Geräten und ihrer Sprechweise. Sie sagte sich: «Ich bin zu jung, um so alt zu sein.» Und schon kamen die verbannten Schuldgefühle auf den Schwingen der Rache kreischend wieder aus ihrer Höhle gestoben, weil Emile ihr unverändert ergeben und seinem gleich bleibenden Selbst treu wie eh und je war und weil sie, und nicht er, auf einer Heirat bestanden hatte.
So verließ sie in freundschaftlichem Einvernehmen mit Emile seine Küche und heuerte bei einem Konkurrenzlokal an, dem Ardennes, das einen zweiten Küchenchef suchte und ihrer Meinung nach dem Cafe Louche in jeder Hinsicht überlegen war, nur nicht in der Kunst, scheinbar mühelos Bestleistungen zu erbringen. (Virtuosität ohne jeden Tropfen Schweiß war zweifelsfrei Emiles größte Gabe.)
Im Ardennes verspürte sie alsbald den Wunsch, die junge Frau, die bei den Vorbereitungen half und den Gardemanger abgab, zu erwürgen. Becky Hemerling, Absolventin eines Kochinstituts, hatte welliges blondes Haar, einen zierlichen, flachen Körper und helle Haut, die in der Küchenhitze scharlachrot wurde. Alles an Becky Hemerling machte Denise krank — ihre Ausbildung am Kulinarischen Institut von Amerika (Denise war ein autodidaktischer Snob), ihr plumpvertraulicher Umgang mit erfahreneren Köchen (insbesondere Denise), ihr Bedürfnis, jeden wissen zu lassen, wie sehr sie Jodie Foster verehrte, die dummen Fisch-und-Fahrrad-Sprüche auf ihren T-Shirts, ihr ständiger Gebrauch der verstärkenden Vorsilbe «Scheiß», ihre selbstbewusste lesbische «Solidarität» mit den «Latinos» und «Asiaten» in der Küche, ihre Verallgemeinerungen über «die Rechten» und das «reaktionäre Kansas» und «fremdenfeindliche Peoria», die Leichtigkeit, mit der ihr Wendungen wie «farbige Männer und Frauen» über die Lippen kamen, die ganze strahlende Aura einer Anspruchshaltung, die daher rührte, dass sie sich in der Anerkennung von Pädagogen gesonnt hatte, die gern genauso marginalisiert und zum Opfer gestempelt und frei von Schuldgefühlen gewesen wären wie sie. Was macht diese Person in meiner Küche? fragte sich Denise. Köche hatten nicht politisch zu sein. Köche waren die Mitochondrien der Menschheit; sie hatten ihre eigene DNA, sie schwammen in einer Zelle und trieben sie an, ohne eigentlich dazuzugehören. Denise argwöhnte, dass Becky Hemerling Köchin geworden war, um ein politisches Statement abzugeben: Seht her, ich bin ein taffes Mädel, das sich zwischen Kerlen behaupten kann. Denise verabscheute das Motiv umso mehr, als auch sie ein Körnchen davon in sich trug. Hemerling hatte eine Art, sie zu mustern, als kenne sie Denise besser, als Denise sich selbst kannte — eine Anmaßung, die ebenso empörend wie unmöglich zu widerlegen war. In der Nacht, wenn sie wach neben Emile im Bett lag, malte Denise sich aus, Hemerling die Kehle zuzudrücken, bis ihre blauen, blauen Augen hervorquollen. Sie malte sich aus, ihre Daumen auf Hemerlings Luftröhre zu pressen, bis es knackte.
Dann, eines Nachts, schlief sie ein und träumte, dass sie Becky würgte und Becky nichts dagegen hatte. Beckys blaue Augen forderten sie sogar auf, sich weitere Freiheiten herauszunehmen. Der Griff der Würgerinnenhände lockerte sich, und sie wanderten an Beckys Wangen hinauf und an ihren Ohren vorbei bis zur weichen Haut an ihren Schläfen. Beckys Lippen öffneten sich, und ihre Augen fielen, wie vor Wonne, zu, als die Würgerin die Beine auf ihren Beinen und die Arme auf ihren Armen ausstreckte
Denise konnte sich nicht erinnern, dass sie es jemals mehr bedauert hatte, aus einem Traum aufzuwachen.
«Wenn du solche Gefühle im Traum haben kannst», sagte sie sich, «muss es auch möglich sein, sie in Wirklichkeit zu haben.»
Als ihre Ehe scheiterte — als sie für Emile zu einer der Schaum schlagenden, massenbeglückenden Trend-Jäger vom Ardennes geworden war und Emile sich in ihren Augen in einen
Erziehungsberechtigten verwandelt hatte, den sie mit jedem Wort, ob ausgesprochen oder nicht, verriet — , fand sie Trost in dem Gedanken, dass ihre Schwierigkeiten mit Emile seinem Geschlecht zuzuschreiben waren. Dieser Gedanke ließ die Klinge ihrer Schuldgefühle stumpf werden. Er half ihr über die furchtbare Eröffnung hinweg, die sie ihm zu machen hatte, er schaffte Emile aus der Tür, er bugsierte sie heil durch ein sagenhaft unerquickliches erstes Rendezvous mit Becky Hemerling. Sie klammerte sich an den Glauben, lesbisch zu sein, hielt ihn krampfhaft fest und ersparte sich so noch schlimmere Schuldgefühle, was sie wenigstens in die Lage versetzte, es Emile zu überlassen, seine Koffer zu packen — damit zu leben, dass sie ihn auszahlte und selber blieb — , ihm diesen moralischen Vorteil gönnen zu können.
Leider nur kamen Denise, sobald er fort war, Zweifel. Sie und Becky hatten wunderschöne und lehrreiche Flitterwochen, dann begannen sie zu streiten. Und immer mehr zu streiten. Ihr Streitleben, genau wie das Sexleben, das ihm für so kurze Zeit vorausgegangen war, hatte etwas von einem Ritual. Sie stritten darüber, warum sie so viel stritten, wessen Schuld das war. Sie stritten spätnachts im Bett, sie schöpften aus ungeahnten Quellen einer Art Libido, und am Morgen hatten sie vom vielen Streiten einen Katzenjammer. Sie stritten sich die kleinlichen Gehirne aus den Köpfen. Stritten stritten stritten. Stritten im Treppenhaus, stritten in der Öffentlichkeit, stritten auf Autositzen. Und auch wenn sie sich regelmäßig zu Höhepunkten steigerten — sich, rotgesichtig, in Schreikrämpfen entluden, Türen schlugen, gegen Wände traten und dann, nassgesichtig, erschöpft, in sich zusammensanken — , erlosch die Lust am Kampf nie für lange Zeit. Sie band sie aneinander, überwand ihre gegenseitige Antipathie. So wie die Stimme oder das Haar oder die Hüftrundung eines Geliebten immer wieder das Bedürfnis weckt, alles stehen und liegen zu lassen, um zu vögeln, hatte Becky ein Dutzend Provokationen auf Lager, die
Denise' Herzfrequenz zuverlässig an die Decke jagten. Die schlimmste davon war die Behauptung, dass Denise, im Grunde ihres Herzens, eine liberale, kollektivistische, lupenreine Lesbierin sei und es bloß noch nicht gemerkt habe.
«Du bist dir dermaßen entfremdet», sagte Becky. «Es ist ja ganz offensichtlich, dass du lesbisch bist. Immer schon gewesen bist.»
«Ich bin überhaupt nichts», sagte Denise. «Ich bin bloß ich.»
Sie wollte in allererster Linie eine Privatperson sein, ein unabhängiges Individuum. Sie wollte keiner Gruppe angehören, schon gar nicht einer Gruppe von Leuten mit schlechten Haarschnitten und merkwürdig miesepetrigen Kleiderdebatten. Sie wollte kein Etikett, sie wollte keinen Lebensstil, und so landete sie wieder dort, wo sie angefangen hatte: bei dem Wunsch, Becky Hemerling zu erwürgen.
Sie hatte (im Hinblick auf ihr Schuldgefühl-Management) Glück, dass ihr Scheidungsverfahren bereits lief, als sie und Becky ihren letzten, nicht mehr beizulegenden Streit hatten. Emile war nach Washington gezogen, um für ein Riesengehalt Küchenchef des Hotels Belinger zu werden. Das Wochenende der Tränen, an dem er mit einem Lastwagen nach Philadelphia gekommen war und sie ihre irdischen Güter aufgeteilt und alles, was ihm zufiel, eingepackt hatten, lag lange zurück, da entschied Denise, als Replik auf Becky sozusagen, dass sie doch nicht lesbisch sei.
Sie kündigte beim Ardennes und wurde Küchenchefin im Mare Scuro, einem neuen adriatischen Fischrestaurant. Ein ganzes Jahr lang gab sie jedem Mann, der mit ihr anbändeln wollte, einen Korb, nicht nur weil sie kein Interesse hatte (es waren Kellner, Lieferanten, Nachbarn), sondern auch weil ihr davor graute, in der Öffentlichkeit mit einem Mann gesehen zu werden. Ihr graute vor dem Tag, an dem Emile herausfinden würde (oder an dem sie es ihm, damit er es nicht zufällig erfuhr, erzählen müsste), dass sie sich in einen anderen Mann verliebt hatte. Da war es besser, hart zu arbeiten und sich mit niemandem einzulassen. Leben hatte, das war ihre Erfahrung, eine Art samtenen Schimmer: Man schaute sich von einer Warte aus an und sah nichts als Verschrobenheit. Dann drehte man den Kopf ein wenig, und schon wirkte alles einigermaßen normal. Solange sie einfach nur arbeitete, dachte sie, konnte sie niemanden verletzen.
An einem sonnigen Morgen im Mai parkte Brian Callahan seinen alten Volvo-Kombi, der die Farbe von Pistazieneis hatte, vor Denise' Haus in der Federal Street. Wenn man schon einen alten Volvo kaufte, war Blassgrün die Farbe, die man haben musste, und Brian gehörte zu den Menschen, die einen Oldtimer nur in der besten aller Farben kauften. Jetzt, wo er reich war, hätte er natürlich jedes Auto umlackieren lassen können. Doch wie Denise gehörte Brian zu den Menschen, für die das Schummelei gewesen wäre.
Als sie in den Wagen stieg, fragte er, ob er ihr die Augen verbinden dürfe. Sie blickte auf das schwarze Tuch in seiner Hand. Sie blickte auf seinen Ehering.
«Vertrauen Sie mir», sagte er. «Es lohnt sich.» Schon bevor er Eigenmelodie für 19,5 Millionen Dollar verkauft hatte, war Brian wie ein Golden Retriever durchs Leben getrabt. Sein Gesicht war fleischig und alles andere als hübsch, aber er hatte gewinnende blaue Augen und sandfarbenes Haar und die Sommersprossen eines kleinen Jungen. Er sah aus wie das, was er war: ein ehemaliger Haverford-Lacrossespieler und grundanständiger Mann, dem noch nie etwas Böses widerfahren war und den man deshalb nicht enttäuschen wollte.
Denise ließ zu, dass er ihr Gesicht berührte. Ließ zu, dass seine großen Hände in ihr Haar griffen, um das Tuch festzuknoten, ließ zu, dass er sie kampfunfähig machte.
Der Motor des Wagens sang ein Lied von der Mühe, einen klobigen Klotz Metall eine Straße entlangzutreiben. Brian spielte auf seiner herausnehmbaren Stereoanlage ein Stück von einem Girl-Group-Album. Denise gefiel die Musik, aber eine Überraschung war das nicht. Brian legte es ganz offenbar darauf an, nichts zu spielen und zu sagen und zu tun, das ihr missfiel. Drei Wochen lang hatte er sie immer wieder angerufen und mit tiefer Stimme Nachrichten auf ihr Band gesprochen. («Hey. Ich bin's.») Sie sah seine Liebe kommen wie einen Zug, und das gefiel ihr. Und erregte sie. Nicht, dass sie ihre Erregung mit Verliebtheit verwechselte (so weit hatte Hemerling sie immerhin gebracht: dass sie ihren Gefühlen nicht mehr traute), aber sie konnte nicht umhin, Brian in seiner Werbung um sie zu unterstützen; und dementsprechend hatte sie sich, an diesem Morgen, auch zurechtgemacht. Wie sie sich zurechtgemacht hatte, war schon nicht mehr fair.
Brian fragte, wie sie das Stück finde.
«Hm.» Sie zuckte die Achseln, um die Grenzen seiner Gefallsucht auszuloten. «Ganz gut.»
«Da bin ich, gelinde gesagt, erstaunt», sagte er. «Ich war ziemlich sicher, dass Sie begeistert wären.» «Stimmt. Ich bin auch begeistert.» Sie dachte: Was ist mit mir los?
Sie fuhren auf einer schlechten Straße, immer wieder Kopfsteinpflaster. Sie überquerten Eisenbahngleise und kamen auf einen gewundenen Schotterweg. Brian parkte. «Ich habe mir die Option auf das Gelände mit einem Dollar gesichert», sagte er. «Wenn's Ihnen nicht gefällt, bin ich's für einen Dollar wieder los.» Sie hob die Hand an die Augenbinde. «Ich nehm die jetzt mal ab.»
«Nein. Wir sind gleich da.»
Er fasste sie, ganz sittsam, beim Ellbogen und führte sie über warmen Schotter in den Schatten. Sie konnte den Fluss riechen, die Ruhe spüren, die dessen Nähe schuf, seine schallschluckende, flüssige Sphäre. Sie hörte Schlüssel und einen Riegel, das Quietschen schwerer Scharniere. Kühle, lang angestaute Industrieluft strömte ihr über die nackten Schultern, zwischen die bloßen Beine. Es roch nach einer Höhle, die nichts Organisches enthielt.
Brian stieg mit ihr vier Metalltreppen hinauf, entriegelte eine weitere Tür und führte sie in einen wärmeren Raum, dessen Widerhall bahnhof- oder kathedralenartige Grandeur hatte. Die Luft schmeckte nach trockenen Schimmelpilzen, die von trockenen Schimmelpilzen lebten, die von trockenen Schimmelpilzen lebten.
Als Brian ihr die Binde abnahm, wusste sie augenblicklich, wo sie war. Die Philadelphia Electric Company, kurz PECO, hatte in den siebziger Jahren ihre Kohlekraftwerke stillgelegt — majestätische Gebäude wie das hier gleich südlich von Center City, das Denise jedes Mal wenn sie daran vorbeikam, ehrfürchtig das Tempo drosseln ließ. Der Raum war hell und weit, die Decke zwanzig Meter hoch; Reihen riesiger Fenster wie in Chartres durchbrachen die nördliche und südliche Wand. Der Betonboden, mehrfach ausgebessert und von Materialien, noch härter als er selbst, tief ausgehöhlt, war eher ein Gelände als ein Fußboden. In der Mitte des Raums standen die Außenskelettreste zweier Boiler-und-Turbinen-Anlagen, die aussahen wie hausgroße Grillen ohne Gliedmaßen und Fühler. Vom Rost zerfressene, schwarze elektromotorische Quader einstiger Leistungskraft. Zum Fluss hin gab es riesenhafte Luken, durch die die Kohle hereingekommen und die Asche hinausgewandert war. Spuren nicht mehr vorhandener Rutschen und Rohre und Treppen hellten die rauchigen Wände auf.
Denise schüttelte den Kopf. «Hier kann man kein Restaurant eröffnen.»
«Ich hatte befürchtet, dass Sie das sagen würden.» «Sie werden Ihr Geld in den Sand setzen, noch bevor ich die Chance habe, es selbst zu tun.»
«Ich würde vielleicht sogar Geld von der Bank bekommen.» «Ganz zu schweigen von dem ganzen PCB und Asbest, das wir gerade einatmen.»
«Da irren Sie sich», sagte Brian. «Wenn das Objekt für Superfund-Gelder in Frage käme, stünde es gar nicht zum Verkauf. Ohne Superfund-Gelder kann die PECO sich einen Abriss überhaupt nicht leisten. Der Bau ist zu sauber.»
«Pech für die PECO.» Sie näherte sich den Turbinen. Egal, ob sich die Halle eignete oder nicht, sie war entzückt von ihr. Der industrielle Verfall Philadelphias, der verkommene Zauber der Werkstatt der Welt, das Überleben von Megaruinen in Mikrozeiten: Denise, hineingeboren in eine Familie älterer Menschen, die im Keller, in uralten Kisten, eingemottete Gegenstände aus Wolle und Eisen aufbewahrten, kannte diese Stimmung. Sie war in einer hellen, modernen Umgebung zur Schule gegangen und nachmittags in eine ältere, dunklere Welt zurückgekehrt.
«Man kann die Halle weder beheizen noch kühlen», sagte sie. «Ein Albtraum an Nebenkosten.»
Brian, der Retriever, musterte sie aufmerksam. «Mein Architekt sagt, wir können auf der ganzen Länge der südlichen Fensterwand einen Boden einziehen. Der ungefähr achtzehn Meter in den Raum ragt. Die drei anderen Seiten verglasen. Darunter die Küche einbauen. Die Turbinen dampfreinigen, ein paar Scheinwerfer aufhängen und die Haupthalle lassen, wie sie ist.»
«Das ist das reinste Geldgrab.»
«Haben Sie bemerkt, dass es hier keine Tauben gibt?», sagte Brian. «Keine Pfützen?»
«Aber Sie müssen doch so rechnen: ein Jahr für die Genehmigungen, ein weiteres für den Bau, ein drittes für die Abnahme. Wenn das keine lange Zeit ist, um mich für nichts und wieder nichts zu bezahlen.»
Brian erwiderte, er peile eine Eröffnung im Februar an. Er habe Architektenfreunde und Handwerkerfreunde, und er sehe keinerlei Schwierigkeiten mit dem gefürchteten städtischen Baugenehmigungs- und Bauaufsichtsamt. «Der Leiter», sagte er, «ist ein Freund meines Vaters. Sie spielen jeden Donnerstag zusammen Golf.»
Denise lachte. Brians Zielstrebigkeit und Kompetenz machten sie, um ein Wort ihrer Mutter zu gebrauchen, ganz «duselig». Sie schaute hoch zu den Fensterbögen. «Ich weiß nicht, welche Art von Essen Ihrer Meinung nach hier drinnen funktionieren soll.»
«Irgendwas Dekadentes und Grandioses. Das ist die Aufgabe, die Sie zu lösen haben.»
Als sie zum Wagen zurückgingen, dessen Grün genau zum Grün des Unkrauts auf dem leeren Schotterplatz passte, fragte Brian, ob sie schon Pläne für Europa habe. «Sie sollten sich mindestens zwei Monate Zeit nehmen», sagte er. «Ich habe da einen Hintergedanken.»
«Ja?»
«Wenn Sie dort sind, komme ich für ein paar Wochen nach. Ich möchte essen, was Sie essen. Ich möchte hören, was Sie denken.»
Er sagte das mit entwaffnendem Eigeninteresse. Wer würde nicht gern eine hübsche Frau, die sich mit Wein und Essen auskannte, auf ihrer Reise durch Europa begleiten? Wäre ein anderer der Glückliche, und nicht er, würde er sich genauso für diesen anderen freuen, wie er jetzt erwartete, dass der sich für ihn freute. Das besagte sein Ton.
Jener Teil von Denise, der vermutete, dass sie mit Brian besseren Sex haben könnte als je zuvor mit einem Mann, jener Teil von ihr, der in ihm die eigene Zielstrebigkeit wieder erkannte, willigte ein, sechs Wochen in Europa zu verbringen und sich in Paris mit ihm zu treffen.
Der andere, argwöhnischere Teil von ihr sagte: «Und wann lerne ich Ihre Familie kennen?»
«Wie wär's mit nächstem Wochenende? Besuchen Sie uns doch draußen in Cape May.»
Cape May, New Jersey, bestand aus einem Kern hypereleganter viktorianischer Villen und modisch heruntergekommener Bungalows, umgeben von neuen Schaltplan-Trakten abscheulichsten städtischen Wachstums. Selbstverständlich besaßen die Callahans, da sie nun einmal Brians Eltern waren, einen der schönsten alten Bungalows. Dahinter lag ein Pool für die Frühsommer-Wochenenden, wenn das Meer noch kalt war. Hier tummelten sich, als Denise am späten Samstagnachmittag ankam, Brian und seine Töchter, während eine maushaarige Frau, schweiß- und rostbedeckt, mit einer Drahtbürste einem schmiedeeisernen Tisch zu Leibe rückte.
Denise hatte erwartet, dass Brians Frau ironisch und schick und überhaupt ein Klasseweib wäre. Robin Passafaro trug gelbe Jogginghosen, eine Malermütze, einen Phillies-Pullover in unvorteilhaftem Rot sowie eine scheußliche Brille. Sie wischte sich die Hand an ihrer Hose ab und gab sie Denise. Ihre Begrüßung war piepsig und seltsam förmlich: «Freut mich, Sie kennen zu lernen.» Dann ging sie unverzüglich wieder an die Arbeit.
Ich mag dich auch nicht, dachte Denise.
Sinead, ein mageres hübsches Mädchen von zehn Jahren, saß mit einem Buch auf dem Schoß auf dem Sprungbrett. Sie winkte Denise zaghaft zu. Erin, ein jüngeres und stämmigeres Mädchen, trug Kopfhörer und beugte sich, die Stirn konzentriert in Falten gelegt, über einen Picknicktisch. Leise pfiff sie vor sich hin.
«Erin lernt Vogelstimmen», sagte Brian.
«Warum?»
«Wenn wir das wüssten.»
«Elster», verkündete Erin. «Keckeckeckek?»
«Vielleicht wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, das mal wegzulegen», sagte Brian.
Erin nahm die Kopfhörer ab, lief zum Sprungbrett und versuchte ihre Schwester herunterzuschubsen. Beinahe wäre Sineads Buch über Bord gegangen. Mit einer eleganten Geste fing sie es auf. «Dad-!»
«Schätzchen, das ist ein Sprungbrett und kein Lesebrett.»
Robins Bürsterei hatte etwas von einem Schnellvorlauf, etwas Zugekokstes. Ihre Bewegungen wirkten spitz und gereizt und machten Denise nervös. Auch Brian seufzte und betrachtete seine Frau. «Bist du bald damit fertig?»
«Soll ich aufhören?»
«Das wäre nett, ja.»
«Gut.» Robin ließ die Bürste fallen und ging zum Haus. «Kann ich Ihnen was zu trinken anbieten, Denise?»
«Ein Glas Wasser, gern.»
«Pass auf, Erin», sagte Sinead. «Ich bin ein Schwarzes Loch, und du bist ein Roter Zwerg.»
«Ich will ein Schwarzes Loch sein.»
«Nein, das Schwarze Loch bin ich. Der Rote Zwerg läuft im Kreis drum herum und wird von starken Anziehungskräften immer weiter nach innen gesogen. Das Schwarze Loch sitzt da und liest.»
«Stoßen wir zusammen?», fragte Erin.
«Ja», schaltete sich Brian ein, «aber keine Silbe von diesem Ereignis dringt je an die Außenwelt. Es ist eine vollkommen geräuschlose Kollision.»
Robin kam, in einem schwarzen Badeanzug, wieder heraus. Mit einer gerade noch höflichen Geste reichte sie Denise das
Glas Wasser.
«Danke», sagte Denise.
«Bitte!», sagte Robin. Sie nahm ihre Brille ab und sprang, dort wo er tief war, in den Pool. Während sie unter Wasser schwamm, lief Erin um den Pool herum und stieß Schreie aus, die dem Schauspiel eines sterbenden Hauptreihensterns angemessen gewesen wären. Als Robin an der flachen Seite auftauchte, sah sie, halb blind ohne Brille, nackt aus. Jetzt ähnelte sie schon eher der Frau, die Denise sich vorgestellt hatte — in Strömen von Kopf und Schultern fließendes Haar, Wangenknochen und dunkle Augenbrauen, die glitzerten. Als sie aus dem Pool kletterte, perlte Wasser an den Säumen ihres Badeanzugs und rieselte durch die unrasierten Schamhaare in ihrer Bikinizone. Eine alte, unaufgelöste Verwirrung stieg wie Asthma in Denise auf. Sie spürte das dringende Bedürfnis, sich zurückzuziehen und zu kochen.
«Ich habe alles Nötige eingekauft», sagte sie zu Brian.
«Kommt mir nicht gerade fair vor, unseren Gast für uns arbeiten zu lassen», sagte er.
«Ich hab's doch selber angeboten, außerdem bezahlen Sie mich.»
«Das ist wahr, ja.»
«Jetzt bist du ein Krankheitserreger, Erin», sagte Sinead, die sich ins Wasser gleiten ließ, «und ich bin ein Leukozyt.»
Denise machte einen einfachen Salat aus roten und gelben Kirschtomaten. Sie machte Quinoa mit Butter und Safran und Heilbuttsteaks mit einer Fahnenwache aus Muscheln und gerösteter Paprika. Erst als sie beinahe fertig war, kam sie auf die Idee, einen Blick in die mit Folie abgedeckten Behälter im Kühlschrank zu werfen: ein gemischter Blattsalat, ein Obstsalat, ein Teller Maiskolben und (war es möglich?) eine Platte Würstchen im Schlafrock.
Brian saß allein auf der Veranda und trank ein Bier.
«Da ist ein Abendessen im Kühlschrank», sagte Denise. «Da ist bereits ein Abendessen.»
«Ach herrje», sagte Brian. «Dann muss Robin wohl — ich nehme an, als die Mädchen und ich beim Angeln waren.»
«Jedenfalls ist da ein komplettes Abendessen. Und ich hab gerade ein zweites gekocht.» Denise lachte, ernsthaft verärgert. «Reden Sie beide nicht miteinander?»
«Na ja, heute war tatsächlich nicht unser kommunikativster Tag. Robin wollte irgendwas für ihr Gartenprojekt tun und eigentlich dort bleiben. Ich musste sie mehr oder weniger hierher schleppen.»
«Verdammt.»
«Passen Sie auf», sagte Brian, «wir essen heute, was Sie gekocht haben, und morgen, was Robin gekocht hat. Das Ganze ist absolut meine Schuld.»
«Scheint mir auch so!»
Sie fand Robin auf der anderen Terrasse, wo sie Erin die Fußnägel schnitt. «Ich habe gerade gemerkt», sagte sie, «dass ich ein Abendessen zubereitet habe, obwohl Sie schon eins gemacht hatten.»
Robin zuckte die Achseln. «Egal.»
«Nein, mir ist das wirklich unangenehm.»
«Egal», sagte Robin. «Die Mädchen werden sich freuen, dass Sie was gekocht haben.»
«Tut mir Leid.»
«Egal.»
Am Tisch trieb Brian seine schüchterne Brut an, Denise' Fragen zu beantworten. Jedes Mal wenn sie die Mädchen beim Herüberschielen ertappte, schlugen sie die Augen nieder und wurden rot. Vor allem Sinead schien zu wissen, auf welche
Weise Denise gebraucht werden wollte. Robin aß schnell, mit gesenktem Kopf, und nannte das Essen «bekömmlich». Es war nicht klar, wie viel von ihrer Unwirschheit Brian galt und wie viel Denise. Bald nach den Mädchen ging sie ins Bett, und als Denise am nächsten Morgen aufstand, war sie schon auf dem Weg zum Gottesdienst.
«Kurze Frage», sagte Brian, während er ihr Kaffee einschenkte. «Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich und die Mädchen heute Abend mit nach Philly zu nehmen? Robin möchte so schnell wie möglich zu ihrem Gartenprojekt.»
Denise zögerte. Sie fühlte sich von Robin geradezu in Brians Arme gedrängt.
«Wenn Sie nicht möchten, kein Problem», sagte er. «Sie fährt sonst auch mit dem Bus und überlässt uns den Wagen.»
Mit dem Bus? Mit dem Bus?
Denise lachte. «Nein, ich nehme Sie schon mit.» Robin nachäffend, fügte sie noch «Egal» hinzu.
Am Strand, wo die Sonne die metallischen Küstenwolken des Morgens nach und nach verbrannte, schauten sie und Brian zu, wie Erin in der Brandung hierhin und dorthin hüpfte und Sinead ein flaches Grab schaufelte.
«Ich bin Jimmy Hoffa», sagte Sinead, «und ihr seid der Mob.»
Sie gruben das Mädchen im Sand ein, glätteten die kühlen Wölbungen ihres Grabhügels, klopften auf die Mulden des lebendigen Körpers darunter. Der Grabhügel war geologisch aktiv und neigte zu kleinen Erdbeben; ein Netz von Rissen breitete sich aus, wo Sineads Bauch sich hob und senkte.
«Mir wird gerade erst klar», sagte Brian, «dass Sie mit Emile Berger verheiratet waren.»
«Kennen Sie ihn?»
«Nicht persönlich, aber ich kenne das Cafe Louche. Habe dort oft gegessen.»
«Das Cafe Louche, das waren wir.»
«Zwei ziemlich große Egos für eine so kleine Küche.»
«Tja.»
«Vermissen Sie ihn?»
«Meine Scheidung ist der große Kummer meines Lebens.»
«Das ist eine Antwort», sagte Brian, «aber nicht auf meine Frage.»
Sinead hatte begonnen, ihren Sarkophag langsam von innen zu zerstören: Zehen wackelten sich ans Tageslicht, ein Knie brach hervor, rosa Finger sprossen aus feuchtem Sand. Erin warf sich in eine Lache aus Sand und Wasser, stand auf und warf sich wieder hin.
Ich könnte diese Mädchen lieb gewinnen, dachte Denise.
Am Abend, als sie wieder zu Hause war, rief sie ihre Mutter an und hörte sich, wie jeden Sonntag, Enids Litanei über Alfreds Sünden an, seine Verstöße gegen eine gesunde Denkweise, gegen gesunde Lebensgewohnheiten, gegen ärztliche Anordnungen, gegen den bewährten Vierundzwanzig-Stunden-Rhythmus, gegen allgemein anerkannte Prinzipien der Vertikalität bei Tag, gegen Regeln des gesunden Menschenverstands in puncto Leitern und Treppen, ja gegen alles, was in Enids Wesen lebenslustig und optimistisch war. Nach fünfzehn zermürbenden Minuten fragte Enid schließlich: «Und, wie geht es dir?»
Im Zuge ihrer Scheidung hatte Denise beschlossen, ihre Mutter seltener zu belügen, und so zwang sie sich jetzt, mit ihren beneidenswerten Reiseplänen herauszurücken. Lediglich die Tatsache, dass sie sich mit dem Mann einer anderen Frau in Frankreich treffen würde, ließ sie unerwähnt; diese Tatsache roch bereits nach Ärger.
«Ach, ich wünschte, ich könnte mit dir fahren!», sagte Enid. «Ich liebe Österreich doch so!»
Mannhaft schlug Denise vor: «Könntest du nicht einen Monat Ferien machen und mich begleiten?»
«Denise, es ist ausgeschlossen, dass ich Dad allein lasse.» «Er könnte ja mitkommen.»
«Du weißt doch, was er sagt. Mit Besichtigungstouren ist für ihn Schluss. Seine Beine machen das nicht mehr mit. Also, fahr du nur hin und erleb eine herrliche Zeit für mich. Grüß mir meine Lieblingsstadt! Und besuch auf jeden Fall Cindy Meisner. Sie und Klaus haben ein Chalet in Kitzbühel und eine riesengroße, elegante Wohnung in Wien.»
Für Enid war Österreich gleichbedeutend mit der «Blauen Donau» und «Edelweiß». Die Spieldosen in ihrem Wohnzimmer mit den Blumen- und Alpenintarsien hatte sie allesamt aus Wien. Enid erzählte gern, dass die Mutter ihrer Mutter «Wienerin» gewesen sei, weil das, ihrem Verständnis nach, ein Synonym für «Österreicherin» war, was für sie so viel hieß wie «aus Österreich-Ungarn stammend» — einem Reich, das zur Zeit der Geburt ihrer Großmutter Gebiete nördlich von Prag bis südlich von Sarajewo umfasste. Denise, die als Mädchen für Barbera Streisand in Yentl geschwärmt hatte und als Teenager eine Weile ganz im Bann von I. B. Singer und Scholem Alejchem gestanden hatte, war Enid eines Tages so lange auf die Nerven gegangen, bis sie zugegeben hatte, dass ihre Großmutter in Wirklichkeit Jüdin gewesen war. Was, wie Denise triumphierend geschlussfolgert hatte, sowohl sie als auch Enid, in direkter mütterlicher Linie, ebenfalls zu Jüdinnen machte. Doch Enid hatte schnell den Rückwärtsgang eingelegt und gesagt, nein, nein, ihre Großmutter sei Katholikin gewesen.
Denise hatte ein professionelles Interesse an gewissen Facetten der Kochkunst ihrer Urgroßmutter — an Rippchen und frischem Sauerkraut, an Stachelbeeren und Heidelbeeren, an Klößen, Forellen und Würsten. Die kulinarische Herausforderung lag darin, zierlichen 36er-Größen mitteleuropäische Herzhaftigkeit schmackhaft zu machen. All die Titan-Kreditkartenbesitzerinnen wollten keine dicken wagnerianischen Sauerbratenscheiben, keine handballgroßen Semmelknödel und keine alpinen Schlagsahneberge. Vielleicht aber würden sie Sauerkraut essen. Wenn das kein Gericht für Mädels mit Zahnstocherbeinen war: fettarm und geschmacksintensiv und vielseitig, bereit, mit Schwein, mit Gans, mit Huhn, mit Kastanien ins Bett zu hüpfen, bereit, den Sprung ins Ungewisse mit Makrelen-Sashimi oder geräuchertem Blaufisch zu wagen…
Sie kappte ihre letzten Verbindungen zum Mare Scuro und flog, als bezahlte Angestellte Brian Callahans und mit einer American-Express-Karte in der Tasche, über die sie unbegrenzt verfügen durfte, nach Frankfurt. In Deutschland fuhr sie mit 160 über die Autobahn, und trotzdem hingen ihr andere lichthupend auf der Stoßstange. In Wien suchte sie nach einem Wien, das es nicht gab. Nichts von dem, was sie aß, hätte sie nicht selbst besser zubereiten können; eines Abends probierte sie ein Wiener Schnitzel und dachte, tja, das ist also ein Wiener Schnitzel, m- hm. Ihre Vorstellung von Österreich war weitaus lebhafter als Österreich selbst. Sie ging ins Kunsthistorische Museum und ins Konzerthaus; sie warf sich vor, eine schlechte Touristin zu sein. Schließlich wurden ihre Langeweile und Einsamkeit so groß, dass sie Cindy Müller-Karltreu (geborene Meisner) anrief und sich in deren höhlenartiges «Nouveau Penthouse» mit Blick aufs Michaelertor zum Abendessen einladen ließ.
Cindy war um die Mitte herum füllig geworden und sah, wie Denise fand, erheblich schlechter aus als nötig. Ihre Gesichtszüge verschwanden hinter Grundierung, Rouge und Lippenstift. Ihre schwarze Seidenhose war an den Hüften weit und an den Knöcheln eng. Während sich bei der Begrüßung ihre Wangen streiften und Denise der Tränengasattacke von Cindys Parfüm standhielt, nahm sie überrascht bakteriellen Atem wahr.
Cindys Ehemann Klaus hatte schrankbreite Schultern, schmale Hüften und ein faszinierend winziges Gesäß. Das
Müller-Karltreu'sche Wohnzimmer, eine Häuserzeile lang, war mit barocken Zweisitzern und Biedermeierstühlen möbliert. An den Wänden hingen Soft-Bouguereaus oder Bouguereau-Verschnitte neben Klaus' olympischer Bronzemedaille, die, hinterlegt und gerahmt, unterhalb des größten Wandleuchters prangte.
«Was Sie hier sehen, ist nur eine Nachbildung», erklärte Klaus Denise. «Die Originalmedaille befindet sich in sicherer Verwahrung.»
Auf einer Anrichte, die entfernt an Jugendstil erinnerte, standen Teller mit Brotscheiben, zerkleinertem Räucherfisch von dosenthunfischähnlicher Konsistenz und einem nicht besonders großen Stück Emmentaler.
Klaus nahm eine Flasche aus einem silbernen Kübel und schenkte mit schwungvoller Geste Sekt ein. «Auf unsere kulinarische Pilgerin», sagte er und hob sein Glas. «Willkommen in der heiligen Stadt Wien.»
Der Sekt war süß und mit zu viel Kohlensäure versetzt und schmeckte auffallend nach Sprite.
«Es ist so prima, dass du hier bist!», rief Cindy. Sie schnippte wie verrückt mit den Fingern, bis durch eine Seitentür ein Dienstmädchen herbeigeeilt kam. «Mirjana, Liebes», sagte Cindy, auf einmal mit der Stimme eines Kleinkinds, «hatte ich nicht gesagt, wir nehmen das Roggenbrot und nicht das Weißbrot?»
«Ja, Madame», sagte die nicht mehr junge Mirjana.
«Nun, jetzt ist es eigentlich zu spät, weil das Weißbrot ja für später gedacht war, dennoch möchte ich Sie bitten, es wieder mitzunehmen und uns stattdessen das Roggenbrot zu bringen! Und dann vielleicht jemanden loszuschicken, der uns für später noch Weißbrot besorgt!» Zu Denise sagte Cindy: «Sie ist so lieb, aber auch so, so dumm. Nicht wahr, Mirjana? Bist du nicht ein dummes Ding?»
«Ja, Madame.»
«Na ja, als Küchenchefin kennst du das bestimmt», sagte Cindy wieder zu Denise, während Mirjana abtrat. «Die Dummheit der Leute ist für dich wahrscheinlich ein noch größeres Problem.»
«Dummheit und Arroganz», sagte Klaus.
«Bitte jemanden, etwas zu tun», sagte Cindy, «und er tut einfach etwas anderes, es ist frustrierend! So frustrierend!»
«Meine Mutter lässt euch grüßen», sagte Denise.
«Deine Mom ist so prima. Sie war immer so nett zu mir. Klaus, erinnerst du dich noch an das winzig kleine Haus, in dem meine Familie früher wohnte (vor ganz langer Zeit, meine ich, als ich ein winzig kleines Mädchen war), na ja, damals waren Denise' Eltern unsere Nachbarn. Meine Mom und ihre Mom sind noch heute gute Freundinnen. Deine Eltern wohnen vermutlich noch heute in dem kleinen alten Haus, oder?»
Klaus lachte rau und schaute Denise an. «Wissen Sie, was ich an St. Dschud so schrecklich finde?»
«Nein», sagte Denise. «Was finden Sie denn an St. Jude so schrecklich?»
«Was ich so schrecklich finde, ist diese Pseudodemokratie. Die Leute dort tun, als wären sie alle gleich. Alles ist sehr nett. Nett, nett, nett. Aber die Leute sind nicht alle gleich. Ganz und gar nicht. Es gibt Klassenunterschiede, es gibt Rassenunterschiede, es gibt gewaltige — entscheidende — finanzielle Unterschiede, aber was das betrifft, ist niemand ehrlich. Alle spielen sie Theater! Ist Ihnen das mal aufgefallen?»
«Meinen Sie zufällig die Unterschiede zwischen meiner Mutter und Cindys Mutter?», fragte Denise.
«Nein, ich kenne Ihre Mutter doch gar nicht.»
«Klaus, das stimmt nicht!», sagte Cindy. «Du hast sie mal kennen gelernt. An Thanksgiving vor drei Jahren, bei unserem
Empfang. Weißt du noch?»
«Tja, sehen Sie, alle sind gleich», erklärte Klaus. «Genau das meine ich. Wie soll man die Leute auseinander halten, wenn sie so tun, als wären sie alle gleich?»
Mirjana kam und brachte denselben trostlosen Teller mit anderem Brot.
«Hier, probier mal von dem Fisch», forderte Cindy Denise auf. «Ist der Sekt nicht herrlich? Wirklich etwas Besonderes! Klaus und ich mochten früher trockeneren Sekt lieber, aber dann haben wir den entdeckt und sind ganz hingerissen.»
«Trockener Sekt hat Snob-Eppiel», sagte Klaus. «Aber wer sich wirklich auskennt, der weiß, dass dieser Kaiser, der Extratrocken, doch eher nackt ist.»
Denise schlug die Beine übereinander und sagte: «Meine Mutter hat mir erzählt, Sie seien Arzt.»
«Ja, Sportmediziner», sagte Klaus.
«Die ganzen Spitzenskiläufer kommen zu Klaus!», sagte Cindy.
«Auf diese Weise zahle ich der Gesellschaft meine Schulden zurück», sagte Klaus.
Obwohl Cindy sie gebeten hatte zu bleiben, flüchtete Denise noch vor neun aus der Müller-Karltreu'schen Wohnung und flüchtete gleich am nächsten Morgen auch aus Wien, fuhr durch das nebelweiße Tal der mittleren Donau gen Osten davon. In dem Bewusstsein, dass alles Geld, das sie ausgab, Brian gehörte, arbeitete sie unermüdlich, erlief sich Budapest Stadtteil für Stadtteil, machte sich nach jedem Essen Notizen, testete Bäckereien und kleine Imbissbuden und kavernenartige Restaurants, die gerade noch vor der endgültigen Verwahrlosung hatten gerettet werden können. Sie reiste weiter gen Osten bis nach Ruthenien, Geburtsland von Enids Großeltern väterlicherseits, inzwischen transkarpatische Provinz der Ukraine. In den Gegenden, die sie durchquerte, war vom Schtetl nichts zu sehen. Keine nennenswerte jüdische Bevölkerung, außer in den großen Städten. Alles so spröde, öde nichtjüdisch, wie sie es selbst zu sein mittlerweile akzeptiert hatte. Das Essen war, alles in allem, primitiv. Das Bergland der Karpaten, überall von den Stichwunden des Kohle- und Pechblendebergbaus gezeichnet, sah aus, als sei es ein geeigneter Ort für Massengräber, in denen man kalkgesprenkelte Leichen beerdigen konnte. Denise blickte in Gesichter, die zwar dem ihren ähnelten, aber verschlossen und frühzeitig verwittert waren, in den Augen nicht ein Wort Englisch. Sie hatte hier keine Wurzeln. Das war nicht ihre Heimat.
Sie flog nach Paris und traf sich in der Lobby des Hotel des Deux lies mit Brian. Im Juni hatte er davon gesprochen, seine Familie mitzubringen, doch nun war er allein gekommen. Er trug amerikanische Kakihosen und ein stark zerknittertes weißes Hemd. Denise fühlte sich so einsam, dass sie sich ihm beinahe in die Arme geworfen hätte.
Wie blöd muss man sein, fragte sie sich, um seinen Ehemann mit jemandem wie mir nach Paris fahren zu lassen?
Am Abend aßen sie im La Cuillere Curieuse, einem Lokal mit zwei Michelin-Sternen, das in Denise' Augen zu hoch hinauswollte. Ihr stand nicht der Sinn nach rohem Gelbschwanz oder Papayaconfit, wenn sie in Frankreich war. Andererseits hatte sie Gulasch mehr als über.
Brian, sich gänzlich ihrem Urteil unterwerfend, ließ Denise den Wein und das Essen bestellen. Beim Kaffee fragte sie ihn, warum Robin ihn nicht begleitet habe.
«Weil beim Gartenprojekt die erste Zucchini-Ernte ansteht», sagte er mit untypischer Bitterkeit.
«Manche finden reisen anstrengend», sagte Denise.
«Robin aber eigentlich nicht», sagte Brian. «Wir haben sehr schöne Reisen gemacht, quer durch den amerikanischen Westen.
Und jetzt, wo wir's uns wirklich leisten können, will sie nicht mehr. Als ob sie gegen das Geld streiken würde.»
«Es muss ein Schock sein, auf einmal so viel davon zu haben.»
«Ich will mir doch nur mal etwas gönnen, verstehen Sie», sagte Brian. «Ich will kein anderer Mensch sein. Aber in Sack und Asche zu gehen, dazu bin ich nicht bereit.»
«Tut Robin das denn?»
«Seit ich die Firma verkauft habe, ist sie jedenfalls nicht mehr glücklich.»
Nehmen wir eine Eieruhr, dachte Denise, und schauen mal, wie lange diese Ehe noch hält.
Als sie nach dem Essen am Quai entlangschlenderten, wartete sie vergebens, dass Brian, wie flüchtig auch immer, ihre Hand berühren würde. Immer wieder schaute er sie hoffnungsvoll an, als wolle er sich vergewissern, dass sie auch nichts dagegen habe, vor diesem Schaufenster stehen zu bleiben oder in jene Seitenstraße einzubiegen. Er hatte eine treuherzige, hündische Art, ihre Zustimmung einzuholen, ohne unsicher zu wirken. Seine Pläne für den Generator schilderte er ihr, als gehe es um eine Party, auf der sie sich seiner Meinung nach ziemlich sicher amüsieren werde. Offenbar überzeugt, dass er genau das tat, was sie von ihm wollte, das Richtige nämlich, wahrte er hygienischen Abstand von ihr, als sie sich in der Lobby des Deux lies Gute Nacht wünschten.
Zehn Tage lang hielt sie seine Unverbindlichkeit aus. Am Ende konnte sie ihren eigenen Anblick im Spiegel nicht mehr ertragen, so zerfurcht fand sie ihr Gesicht, so schlapp ihren Busen, so fusselig ihre Haare, so heruntergereist ihre Kleidung. Sie war, unterm Strich, entsetzt, dass dieser unglückliche Ehemann ihr widerstand. Auch wenn er allen Grund hatte, ihr zu widerstehen! Er war der Vater zweier niedlicher Töchter! Und sie war seine Angestellte! Sie respektierte seine Haltung, genau so, dachte sie, sollten sich erwachsene Menschen benehmen; und trotzdem war sie kreuzunglücklich.
Sie bot ihren ganzen Willen auf, um sich nicht übergewichtig vorzukommen und zu fasten. Es half nicht gerade, dass sie das ewige Zu-Mittag- und Zu-Abend-Essen satt hatte und nur noch picknicken wollte. Nur noch Baguette, weiße Pfirsiche, trockenen Ziegenkäse und Kaffee. Sie hatte es satt, Brian beim genüsslichen Speisen zuzusehen. Sie hasste Robin, weil sie einen Mann hatte, dem sie so sehr vertrauen konnte. Sie hasste Robin für ihre Schroffheit in Cape May. Sie verfluchte sie im Stillen, nannte sie eine Fotze und drohte ihr, mit ihrem Mann zu vögeln. An manchen Abenden, nach dem Essen, überlegte sie, gegen ihre eigene verquere Moral zu verstoßen und sich Brian einfach zu nehmen (denn bestimmt würde er sich ihrem Urteil unterwerfen; würde bestimmt, wenn er nur ihre Erlaubnis hätte, auf ihr Bett hüpfen und hecheln und grienen und ihr die Hand lecken), doch letztlich fehlte ihr wegen ihrer Haare und ihrer Kleidung dann doch der Mut. Sie war so weit, dass sie nach Hause wollte.
Zwei Abende vor ihrer Abreise klopfte sie vor dem Essen an Brians Tür, und er zog sie zu sich ins Zimmer und küsste sie.
Nichts hatte auf seinen Sinneswandel hingedeutet. Sie wandte sich an den Beichtvater in ihrem Kopf und konnte ihm sagen: «Nichts! Ich kann nichts dafür! Ich habe an die Tür geklopft, und im nächsten Moment war er auf den Knien.»
Kniend presste er ihre Hände an sein Gesicht. Sie sah ihn an, wie sie vor langer Zeit Don Armour angesehen hatte. Seine Lust verschaffte der Trockenheit und Rissigkeit, dem Ganzkörpernotstand ihrer Person, kühle örtliche Erleichterung. Sie folgte ihm ins Bett.
Brian, der in allem gut war, küsste auch gut, natürlich, und zwar auf jene indirekte Art, die ihr gefiel. «Ich liebe deinen Geschmack», murmelte sie doppelsinnig. Er berührte sie überall dort wo sie es erwartet hatte. Sie knöpfte sein Hemd auf, wie eine Frau es eben irgendwann tut. Mit den nickenden, bestimmten Kopfbewegungen einer sich putzenden Katze leckte sie seine Brustwarze. Sie legte eine geübte hohle Hand auf die Schwellung in seiner Hose. Sie war eine wunderschöne, leidenschaftliche Ehebrecherin, und sie wusste es. Und so machte sie sich an Schnallenprobleme, an Haken- und Knopfprojekte, an Gummizugaufgaben heran, bis, kaum merklich zuerst, dann offenkundig, und dann nicht mehr nur offenkundig, sondern mit zunehmend schmerzhaftem Druck auf Bauchfell und Augäpfel und Arterien und Hirnhaut, ein menschengroßer, robingesichtiger Unrechts-Ballon in ihr anschwoll.
Brians Stimme war in ihrem Ohr. Er stellte die Verhütungsfrage. Er hatte ihr Unbehagen als ein Hinauszögern, ihr Sichwinden als eine Aufforderung missverstanden. Damit er klarer sah, rollte sie sich aus dem Bett und kauerte sich in eine Ecke des Hotelzimmers. Sie könne nicht, sagte sie.
Brian setzte sich auf und gab keine Antwort. Sie riskierte einen Blick und stellte fest, dass seine Ausstattung dem entsprach, was ein Mann, der alles hatte, erwarten ließ. Sie vermutete, dass sie das Bild dieses Schwanzes so schnell nicht vergessen würde. Dass sie es, sobald sie die Augen zumachte, vor sich sähe, in unpassenden Momenten, in abwegigen Zusammenhängen.
Sie entschuldigte sich.
«Nein, du hast Recht», sagte Brian, sich ihrem Urteil unterwerfend. «Ich fühle mich schrecklich. Ich habe so was noch nie gemacht.»
«Ich schon», sagte sie, damit er sie nicht für schüchtern hielt. «Mehr als einmal. Und ich will das nicht mehr.»
«Natürlich nicht, nein, du hast ja Recht.»
«Wenn du nicht verheiratet wärst — wenn ich nicht deine
Angestellte wäre — »
«Lass nur, ich komm schon damit klar. Ich geh jetzt ins Badezimmer. Ich komm schon klar.»
«Danke.»
Ein Teil von ihr dachte: Was ist mit mir los?
Ein anderer Teil von ihr dachte: Wenigstens einmal in meinem Leben tue ich das Richtige.
Sie verbrachte vier Tage allein im Elsaß, bevor sie von Frankfurt aus wieder nach Hause flog. Als sie sah, wie weit Brians Team in ihrer Abwesenheit mit dem Generator vorangekommen war, erschrak sie. Das Balkenwerk des Gebäudes im Gebäude stand, der Beton des eingezogenen Bodens war gegossen. Sie konnte den späteren Effekt schon erkennen: eine strahlende Luftblase der Modernität im Zwielicht eines monumentalen Industriegehäuses. Obwohl sie ihren Kochkünsten vertraute, machte die Grandiosität des Ortes sie nervös. Sie wünschte, sie hätte auf einer normalen, schlichten Räumlichkeit bestanden, in der ihr Essen ganz für sich allein hätte glänzen können. Eingeseift und über den Löffel halbiert, so fühlte sie sich: als hätte Brian, ohne ihr Wissen, mit ihr um die Aufmerksamkeit der Welt gewetteifert. Als hätte er es, in seiner umgänglichen Art, von vornherein darauf abgesehen, den Generator zu seinem und nicht zu ihrem Restaurant zu machen.
Genauso, wie sie es befürchtet hatte, verfolgte sie das Nachbild seines Schwanzes. Sie war froher und froher, sich ihm verweigert zu haben. Er besaß alle Vorteile, die sie selbst hatte, und eine Menge eigener dazu. Er war männlich, er war reich, er war der geborene Insider, er war frei von Lambert'schen Absonderlichkeiten oder Überzeugungen, ein Amateur, der außer überzähligem Geld nichts zu verlieren hatte, und alles, was er zum Erfolg brauchte, waren eine gute Idee und jemand (sie), der die harte Arbeit machte. Was für ein Glück, dass sie ihn, in dem Hotelzimmer da, als ihren Widersacher erkannt hatte! Zwei Minuten länger, und sie hätte sich aufgelöst. Wäre eine weitere Facette seines amüsanten Lebens geworden, ihre Schönheit nichts als ein Spiegel seiner Unwiderstehlichkeit, ihre Talente nichts als eine Zutat zum Ruhm seines Restaurants. Was hatte sie für ein Glück gehabt, was für ein Glück.
Sie sah das so: Wenn der Generator seine Tore öffnete und die Kritiker der Räumlichkeit mehr Beachtung schenkten als dem Essen, dann hatte sie verloren und Brian gewonnen. Also legte sie sich ins Zeug. Sie röstete Rippchen im Umluftherd, bis sie braun waren, schnitt sie, immer darauf bedacht, dass das Auge mitaß, entlang der Faserung in dünne Scheiben, kochte den Sauerkrautsaft ein und bräunte ihn, um seinen nussigen, erdigen, krautigen, schweinefleischigen Geschmack herauszubringen, und gab dem Ganzen mittels eines Hodenpaars neuer Kartoffeln, einer Traube Rosenkohlköpfchen und eines Löffels gedünsteter, hauchfein mit geröstetem Knoblauch gewürzter weißer Bohnen den letzten Schliff. Sie dachte sich lukullische neue Weißwürstchen aus. Sie verband einen Hauch von Fenchel, Röstkartoffeln und guten, bitteren, gesunden Löwenzahn mit phantastischen Schweinekoteletts, die sie direkt von einem alten Sechziger-Jahre-Bauern bezog, der organische Viehzucht betrieb und noch selbst schlachtete und lieferte. Sie lud den Mann zum Essen ein, besichtigte seinen Bauernhof in Lancaster County und lernte die nämlichen Schweine kennen, nahm ihr eklektisches Futter (gekochte Yamswurzeln und Hühnerflügel, Eicheln und Kastanien) in Augenschein und sah sich den schallgedämpften Raum an, in dem sie geschlachtet wurden. Sie bekniete ihre alte Mannschaft beim Mare Scuro, bis sie Zusagen bekam. Brians AmEx in der Tasche, ging sie mit ehemaligen Kollegen essen und prüfte die örtliche Konkurrenz (die zum größten Teil beruhigend durchschnittlich war) und kostete Desserts, um herauszufinden, ob es nicht irgendwo einen Konditormeister gab, den es abzuwerben lohnte. Sie veranstaltete Ein-Frauen-Mitternachts-Fleischfüllungs-Festivals.
In ihrem Keller bereitete sie in Zwanzig-Liter-Eimern Sauerkraut zu: mit Rotkohl oder in Krautsaft eingelegten Grünkohlstreifen, mit Wacholderbeeren oder schwarzen Pfefferkörnern. Sie beschleunigte den Gärungsprozess mit Hundert-Watt-Birnen.
Noch immer rief Brian sie jeden Tag an, aber er fuhr sie nicht mehr in seinem Volvo spazieren, spielte ihr keine Musik mehr vor. Hinter seinen höflichen Fragen spürte sie, dass sein Interesse schwand. Sie empfahl Rob Zito, einen alten Freund von ihr, als Geschäftsführer des Generators, und als Brian sie beide zum Essen einlud, blieb er nur eine halbe Stunde. Er hatte noch eine Verabredung in New York.
Eines Abends rief Denise bei ihm zu Hause an, und Robin Passafaro war am Apparat. Robins knappe Antworten- «Klar», «Egal», «Ja», «Ich sag's ihm», «Klar» — ärgerten Denise so, dass sie Robin länger als nötig in der Leitung hielt. Sie fragte nach dem Gartenprojekt.
«Läuft gut», sagte Robin. «Ich sag Brian, dass Sie angerufen haben.»
«Könnte ich nicht irgendwann mal vorbeikommen und es mir ansehen?»
«Warum?», fragte Robin hemmungslos schroff.
«Na ja», sagte Denise, «Brian spricht öfter davon» (das war eine Lüge; er erwähnte es selten), «es ist ein interessantes Projekt» (in Wahrheit fand sie, dass es utopisch und versponnen klang), «und wissen Sie, ich mag Gemüse.»
«Aha.»
«Vielleicht mal an einem Samstagnachmittag oder so.»
«Egal.»
Einen Augenblick später knallte Denise den Hörer hin. Sie ärgerte sich, unter anderem, weil sie sich in ihren eigenen Ohren so falsch angehört hatte. «Ich hätte deinen Mann vögeln können!», sagte sie. «Und hab es nicht getan! Wie wär's mit ein bisschen Freundlichkeit?»
Wäre sie ein besserer Mensch gewesen, hätte sie Robin vielleicht in Ruhe gelassen. Vielleicht wollte sie Robin die Genugtuung verweigern, die für sie darin lag, Denise nicht zu mögen: wollte diesen Achtungswettstreit gewinnen. Vielleicht nahm sie auch nur den Fehdehandschuh auf. Aber der Wunsch, gemocht zu werden, war echt. Sie war besessen von dem Gedanken, dass Robin damals mit ihr und Brian in dem Hotelzimmer gewesen war; jenem Gefühl von Robins berstender Gegenwart in ihrem Körper.
Am letzten Samstag der Baseball-Saison stand sie acht Stunden lang zu Hause in ihrer Küche, schweißte Forellen ein, jonglierte mit einem halben Dutzend Krautsalaten und vermählte den Saft sautierter Nieren mit reizvollen Spirituosen. Später am Tag ging sie spazieren, überquerte, da sie zufällig in Richtung Westen unterwegs war, die Broad Street und gelangte ins Schwarzenghetto von Point Breeze, wo Robin ihr Projekt hatte. Das Wetter war schön. Der Frühherbst in Philadelphia brachte den Geruch nach kühlem Meer- und Flutwasser mit sich, allmählich sinkende Temperaturen, einen stillen Kontrollverzicht der feuchten Luftmassen, die den auflandigen Wind den ganzen Sommer lang in Schach gehalten hatten. Denise kam an einer alten Frau im Kittel vorbei, die Wache schob, während zwei staubige Männer Lebensmittel aus dem Heck eines rostigen Pinto luden. Fenster wurden hier bevorzugt mit Schlackenstein abgedunkelt. Sie sah ausgebrannte Imbiss-Buden und Pizzerias. Bröckelnde Häuser mit Betttuchvorhängen. Flächen frischen Asphalts, die das Schicksal des Viertels eher zu besiegeln als Erneuerung zu verheißen schienen. Denise war es gleich, ob sie Robin antreffen würde oder nicht. In gewisser Weise war es fast besser, wenn sie den Punkt heimlich erzielte — wenn Robin von Brian erfuhr, dass sie sich die Mühe gemacht hatte, beim Projekt vorbeizuschauen.
Sie gelangte zu einem Grundstück, in dessen Maschendrahtgrenzen kleine Mulchhügel und große Haufen verwelkter Vegetation zu sehen waren. Am äußersten Ende des Grundstücks, hinter dem einzigen Haus, das dort noch stehen geblieben war, bearbeitete jemand mit einer Schaufel steinigen Erdboden.
Die Eingangstür des einsamen Hauses stand offen. Ein schwarzes Mädchen im College-Alter saß in einem Büro, das außer dem Schreibtisch ein grässlich hässliches Karosofa und eine Rolltafel enthielt, auf die jemand eine Spalte mit Namen (Lateesha, Latoya, Tyrell) geschrieben hatte und daneben die Spalten STUNDEN und DOLLARS.
«Ist Robin hier?», fragte Denise.
Mit einem Nicken deutete das Mädchen auf die Hintertür. «Da draußen.»
Der Garten war unwirtlich, aber friedvoll. Außer Kürbissen und deren Verwandten schien hier nicht viel angebaut worden zu sein, doch es gab großflächige Beete mit Rebengewächsen, und die Gerüche nach Mulch und Erde waren, wie der auflandige Herbstwind, voller Kindheitserinnerungen.
Robin schaufelte Geröll in ein behelfsmäßiges Sieb. Sie hatte dünne Ärmchen und den Stoffwechsel eines Kolibris und nahm viele kleine schnelle Happen von dem Geröll anstatt wenige größere. Sie trug ein schwarzes Halstuch und ein sehr schmutziges T-Shirt mit dem Aufdruck ERSTKLASSIGE KINDERBETREUUNG: ZAHLEN SIE JETZT ODER SPÄTER. Denise zu sehen schien sie weder zu überraschen noch zu freuen.
«Ganz schön groß, das Projekt», sagte Denise.
Robin zuckte die Achseln, die Schaufel mit beiden Händen haltend, als wolle sie unterstreichen, dass sie sich gestört fühlte.
«Brauchen Sie Hilfe?», fragte Denise.
«Nein. Eigentlich sollten die Jugendlichen das hier machen, aber unten am Fluss läuft gerade ein Spiel. Ich räume nur auf.»
Sie klatschte mit der Schaufel auf das Geröll im Sieb, um ein bisschen Erde durchzuzwängen. Im Drahtgeflecht waren Backstein- und Mörtelstücke, Dachteerklumpen, Ailanthusspinner-Beine, versteinerter Katzenkot sowie an Glasscherben haftende Baccardi- und Yuengling-Etiketten hängen geblieben.
«Und was haben Sie angebaut?», fragte Denise.
Robin zuckte wieder die Achseln. «Nichts, was Sie beeindrucken würde.»
«Was denn zum Beispiel?»
«Zucchini und Kürbis.»
«Nehme ich beides zum Kochen.»
«Klar.»
«Wer ist das Mädchen?»
«Ich habe ein paar Halbtagskräfte, denen ich was bezahle. Sara ist Studentin an der Temple-Uni, fünftes Semester.»
«Und wer sind die Jugendlichen, die eigentlich hier sein sollten?»
«Zwölf- bis Sechzehnjährige aus dem Viertel.» Robin nahm ihre Brille ab und rieb sich mit einem schmutzigen Ärmel Schweiß vom Gesicht. Denise hatte vergessen oder noch nie bemerkt, was für einen hübschen Mund sie hatte. «Sie kriegen einen Mindestlohn, plus Gemüse, plus einen Anteil von allem, was wir gemeinsam verdienen.»
«Ziehen Sie die Kosten ab?»
«Das würde sie frustrieren.»
«Stimmt.»
Robin sah zur Seite, über die Straße, auf eine Reihe leer stehender Gebäude mit rostenden Simsen aus Blech. «Brian sagt, Sie sind sehr ehrgeizig.»
«Ach ja?»
«Er sagt, er würde sich nicht gern mit Ihnen im Armdrücken messen.»
Denise fuhr zusammen.
«Er sagt, er wäre nicht gern Koch in Ihrer Küche.»
«Die Gefahr ist gering», sagte Denise.
«Er sagt, er würde nicht gern Scrabble mit Ihnen spielen.»
«M-hm.»
«Er sagt, er würde nicht gern Trivial Pursuit mit Ihnen spielen.»
Ist ja gut, dachte Denise.
Robin atmete schwer. «Egal.»
«Ja, egal.»
«Ich erzähle Ihnen jetzt, warum ich nicht mit nach Paris gekommen bin», sagte Robin. «Ich fand, dass Erin noch zu klein dafür war. Sinead war im Kunst-Ferienlager, wo es ihr sehr gut gefiel, und ich hatte hier alle Hände voll zu tun.»
«Genauso hatte ich es auch verstanden.»
«Und ich konnte mir denken, dass ihr zwei den ganzen Tag über Essen reden würdet. Und Brian sagte, es wäre rein geschäftlich. Also.»
Denise schaute vom Boden auf, schaffte es aber nicht, Robin in die Augen zu sehen. «Es war rein geschäftlich.»
Robins Lippen zitterten. «Egal!», sagte sie.
Über dem Ghetto hatte sich eine Flotte kupferbödiger Wolken, Kochtopfwolken, nach Nordwesten hin verzogen. Es war der Moment, in dem der blaue Himmelshintergrund grauer und grauer wurde, bis er den Farbton der Stratuswolkenformationen im Vordergrund angenommen hatte, der Moment, in dem Abendlicht und Tageslicht sich im Gleichgewicht befanden.
«Wissen Sie, ich bin an Männern gar nicht so interessiert», sagte Denise.
«Wie bitte?»
«Ich meine, ich schlafe nicht mehr mit Männern. Seit ich geschieden bin.»
Robin runzelte die Stirn, als ergäbe das für sie nicht den geringsten Sinn. «Weiß Brian das?»
«Keine Ahnung. Nicht von mir.»
Robin dachte einen Augenblick darüber nach und fing dann an zu lachen. Sie sagte: «Hi hi hü» Sie sagte: «Ha ha ha!» Ihr Lachen war kehlig und beschämend und, wie Denise fand, zugleich wunderschön. Es hallte von den rostsimsigen Häusern wider. «Armer Brian!», sagte sie. «Armer Brian!»
Auf der Stelle wurde Robin herzlicher. Sie legte ihre Schaufel aus der Hand und führte Denise durch den Garten — «mein kleines Zauberreich», nannte sie ihn. Kaum war sie sich Denise' Aufmerksamkeit gewiss, wagte sie, Enthusiasmus zu zeigen. Hier sei ein neues Spargelbeet, da eine Doppelreihe junger Birn- und Apfelbäume, die sie zu Spalieren hoffe, dort die späte Sonnenblumen-, Kürbis und Grünkohl ernte. Diesen Sommer sei sie beim Anbau auf Nummer Sicher gegangen, weil sie eine Kerntruppe örtlicher Teenager ködern und sie für die undankbare Aufgabe belohnen wollte, eine Infrastruktur zu schaffen: die Beete vorzubereiten, Rohre zu legen, für Entwässerung zu sorgen und die Regenrinnen mit den Regentonnen zu verbinden.
«Das Ganze ist im Prinzip ein egoistisches Projekt», sagte Robin. «Ich habe mir immer einen großen Garten gewünscht, und jetzt hab ich die ganze Innenstadt einfach wieder in Ackerland verwandelt. Aber die Jugendlichen, die es besonders nötig hätten, mit ihren bloßen Händen draußen zu arbeiten und zu lernen, wie frische Lebensmittel schmecken, genau die sind nicht hier. Schlüsselkinder. Sie kiffen, sie haben Sex, oder sie hocken bis sechs Uhr abends in irgendeinem Klassenzimmer vor dem Computer. Dabei sind sie immer noch in einem Alter, in dem es Spaß machen kann, im Dreck zu spielen.»
«Wenn auch vielleicht nicht so viel Spaß wie Sex oder Kiffen.»
«Für neunzig Prozent der Jugendlichen womöglich nicht», sagte Robin. «Aber ich möchte, dass es auch für die anderen zehn Prozent etwas gibt. Irgendeine Alternative, die nichts mit Computern zu tun hat. Ich möchte, dass Sinead und Erin mit Kindern zusammenkommen, die anders sind als sie. Sie sollen lernen, was Arbeit ist. Sie sollen lernen, dass Arbeit nicht nur bedeutet, eine Maus hin- und herzuschieben.»
«Hut ab», sagte Denise.
Robin, die ihren Ton missverstand, sagte: «Egal.»
Denise setzte sich auf den Plastiküberzug eines Ballens Torfmoos, während Robin sich waschen und umziehen ging. Vielleicht war es, weil sie die Samstagabende im Herbst, die sie seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr außerhalb einer Küche verbracht hatte, an einer Hand abzählen konnte, vielleicht auch, weil irgendein sentimentaler Teil von ihr auf das egalitaristische Ideal hereingefallen war, das Klaus Müller-Karltreu in St. Jude als so verlogen empfunden hatte — auf jeden Fall hätte sie auf Robin Passafaro, die ihr Leben lang in Philadelphia gewohnt hatte, am liebsten das Wort «mittelwestlich» angewandt. Was so viel heißen sollte wie hoffnungsvoll oder enthusiastisch oder von Gemeinschaftsgeist beseelt.
Auf einmal war es ihr gar nicht mehr so wichtig, gemocht zu werden. Sie merkte, dass sie selbst mochte. Als Robin zurück nach draußen kam und das Haus absperrte, fragte Denise, ob sie Zeit habe, mit ihr zu Abend zu essen.
«Brian und sein Vater sind mit den Mädchen zum Phillies-Spiel gegangen», sagte Robin. «Die kommen vollgestopft mit Stadion-Futter nach Hause. Also, warum nicht. Wir können essen gehen.»
«Ich habe noch ein paar Sachen in meiner Küche», sagte Denise. «Wäre Ihnen das recht?»
«Was auch immer. Egal.»
Normalerweise schätzte sich jeder, der von einem Profikoch zum Essen eingeladen wurde, glücklich und zeigte das auch. Robin jedoch schien entschlossen, sich unbeeindruckt zu geben.
Es war Nacht geworden. Die Luft in der Catharine Street roch nach letztem Baseball-Wochenende. Während sie Richtung Osten gingen, erzählte Robin Denise die Geschichte ihres Bruders Billy. Denise hatte diese Geschichte schon von Brian gehört, aber Teile von Robins Version waren neu für sie.
«Moment mal», sagte sie. «Brian hat seine Software an die W — Corporation verkauft, dann hat Billy einen der W — Direktoren k. o. geschlagen, und Sie glauben, es gibt da einen Zusammenhang?»
«Gott, ja», sagte Robin. «Das ist doch das Furchtbare.»
«Davon hat Brian gar nichts erzählt.»
Da schrillte es aus Robin hervor: «Ich glaub es nicht! Das ist doch der springende Punkt! Herrgott nochmal! Es sieht ihm dermaßen ähnlich, nichts davon zu sagen. Weil es die Sache für ihn nämlich richtig schwierig machen könnte, verstehen Sie, genauso schwierig wie für mich. Es könnte ihm den Spaß verderben, wenn er nach Paris reist oder mit Harvey Keitel zu Mittag isst oder weiß der Geier was tut. Ich fass es nicht, dass er nichts davon gesagt hat.»
«Erklären Sie mir, was das Problem ist?»
«Rick Flamburg ist für den Rest seines Lebens behindert», sagte Robin. «Mein Bruder sitzt die nächsten zehn oder fünfzehn Jahre im Gefängnis, diese schreckliche Firma richtet die städtischen Schulen zugrunde, mein Vater pumpt sich mit Psychopharmaka voll, und Brian sagt, hey, guck doch mal, was W — gerade für uns getan hat, komm, lass uns nach Mendocino umziehen!»
«Aber Sie persönlich haben nichts Böses getan», sagte Denise. «Sie sind für nichts davon verantwortlich.»
Robin drehte sich zur Seite und sah ihr ins Gesicht. «Wozu leben wir?»
«Ich weiß es nicht.»
«Ich auch nicht. Aber ich bezweifle, dass es ums Gewinnen geht.»
Schweigend liefen sie weiter. Denise, der Gewinnen durchaus wichtig war, stellte missmutig fest, dass Brian, zusätzlich zu all seinem anderen Glück, auch noch eine Frau mit Prinzipien und Charakter geheiratet hatte.
Was sie allerdings auch feststellte, war, dass Robin nicht sonderlich loyal zu sein schien.
Denise' Wohnzimmer hatte sich, seit Emile es drei Jahre zuvor leer geräumt hatte, kaum verändert. Damals, am Wochenende der Tränen, war Denise in ihrem Selbstverleugnungswettstreit doppelt im Vorteil gewesen, weil sie sich schuldiger fühlte als Emile und weil sie bereits eingewilligt hatte, das Haus zu behalten. Am Ende hatte sie Emile überredet, von ihrem gemeinsamen Besitz fast alles mitzunehmen, was ihr lieb und teuer war, und vieles andere mehr, das sie zwar nicht mochte, aber gut hätte gebrauchen können.
Die Leere des Hauses hatte Becky Hemerling abgestoßen. Es sei kalt, es drücke Selbsthass aus, es sei ein Kloster.
«Schön schlicht», bemerkte Robin.
Denise ließ sie an der halben Tischtennisplatte Platz nehmen, die ihr als Küchentisch diente, öffnete eine Fünfzig-Dollar-Flasche Wein und machte sich daran, Robin zu verköstigen. Mit ihrem Gewicht hatte sie selten kämpfen müssen, aber wenn sie so gegessen hätte wie Robin, wäre sie binnen eines Monats aus dem Leim gegangen. Ehrfürchtig sah sie zu, wie ihr Gast mit fliegenden Ellbogen zwei Nieren und eine selbst gemachte Wurst verschlang, jeden einzelnen Krautsalat probierte und Butter auf die dritte gesunde Scheibe Vollkornbrot strich.
Sie selbst hatte Schmetterlinge im Bauch und aß so gut wie nichts.
«St. Jude, aha. Judas Thaddäus ist einer meiner Lieblingsheiligen», sagte Robin. «Hat Brian Ihnen erzählt, dass ich in letzter Zeit viel in die Kirche gehe?»
«Ja, davon hat er gesprochen.»
«Das kann ich mir vorstellen. Bestimmt war er unheimlich verständnisvoll und tolerant!» Robins Stimme war laut, ihr Gesicht vom Wein gerötet. Denise spürte eine Beklemmung in ihrer Brust. «Egal, jedenfalls gehört das zu den Vorzügen des Katholischseins, dass einem solche Heiligen wie Judas Thaddäus zur Seite stehen.»
«Der Schutzheilige der hoffnungslosen Fälle?»
«Genau. Wofür ist die Kirche da, wenn nicht für aussichtslose Fälle?»
«Im Sport ist das auch so», sagte Denise. «Wer gewinnt, braucht keine Unterstützung.»
Robin nickte. «Sie verstehen, was ich meine. Aber wenn man mit Brian zusammenlebt, fängt man an zu glauben, dass mit Verlierern irgendwas nicht stimmt. Nicht, dass er einen kritisieren würde. Nein! Er ist immer verständnisvoll und geduldig und zärtlich. Brian ist klasse! Nichts gegen Brian! Nur dass er eben lieber einen Gewinner anfeuern würde. Und so ein Gewinner bin ich nun mal nicht. Und möchte es auch gar nicht sein.»
Nie hätte Denise so über Emile geredet. Selbst jetzt nicht.
«Aber Sie, Sie sind so ein Gewinner», sagte Robin. «Deshalb hab ich, offen gestanden, in Ihnen schon so was wie meinen Ersatz gesehen. Meine Nachfolgerin.»
«Nix da.»
Da waren sie wieder, Robins verlegen-erfreute Laute. Sie sagte: «Hi hi hü»
«Zu Brians Verteidigung — ich glaube nicht, dass Sie Brooke Astor sein müssen, um ihn zufriedenzustellen», sagte Denise. «Ich glaube, ein bisschen Bürgerlichkeit würde es auch tun.»
«Ich könnte damit leben, bürgerlich zu sein», sagte Robin. «So ein Haus wie das hier gefällt mir schon. Und ich find's klasse, dass Ihr Küchentisch eine halbe Tischtennisplatte ist.»
«Für zwanzig Mäuse gehört sie Ihnen.»
«Brian ist wunderbar. Er ist der Mensch, mit dem ich mein Leben verbringen wollte, er ist der Vater meiner Kinder. Ich bin diejenige, die nicht ins Programm passt. Ich bin diejenige, die zum Kommunionsunterricht geht. Sagen Sie, haben Sie vielleicht eine Jacke für mich? Mir ist eiskalt.»
Die niedrigen Kerzen tropften im Oktoberluftzug. Denise holte ihre Lieblingsjeansjacke, eine von Levi's mit wollenem Innenfutter, die es so nicht mehr zu kaufen gab, und sah sie Robins schmalere Schultern verschlingen, sah sie an ihren dünneren Armen schlackern wie die Sportjacke eines Ballspielers an dessen Freundin.
Am nächsten Tag, als sie die Jacke selbst trug, kam sie ihr weicher und leichter vor als sonst. Sie schlug den Kragen hoch und zog die Jacke mit beiden Händen eng um sich.
Einerlei, wie viel sie in diesem Herbst schuftete, sie hatte mehr Freiräume und flexiblere Arbeitszeiten, als sie es seit etlichen Jahren gewohnt war. Sie fing an, Selbstgekochtes im Projekt vorbeizubringen. Sie fuhr zu Brians und Robins Haus in der Panama Street, hörte, dass Brian fort war, und blieb den ganzen Abend dort. Ein paar Tage später backte sie mit den Mädchen Madeleines, und Brian, gerade nach Hause gekommen, benahm sich, als habe er sie schon hundertmal in seiner Küche angetroffen.
Als Nachzüglerin zu einer vierköpfigen Familie dazuzustoßen und von allen geliebt zu werden, darin hatte sie lebenslange Übung. Ihre nächste Eroberung in der Panama Street war Sinead, die Leseratte, das Modepüppchen. Samstags ging Denise mit ihr bummeln. Sie kaufte ihr modische Ketten und Armbänder, ein antikes toskanisches Schmuckkästchen, Disco- und Protodisco-Alben aus den Siebzigern, alte, reich bebilderte Bücher über Kostüme, die Antarktis, Jackie Kennedy und Schiffsbau. Sie half Sinead, größere, buntere, weniger wertvolle Geschenke für Erin auszusuchen. Sinead, wie ihr Vater, hatte untadeligen Geschmack. Sie trug schwarze Jeans und Cordminiröcke und Trägerkleidchen, silberne Armreifen und extralange Bänder aus Plastikperlen in ihrem ohnehin sehr langen Haar. Nach dem Einkaufen, in Denise' Küche, schälte sie feinsäuberlich Kartoffeln oder rollte einfachen Teig aus, während die Meisterköchin Leckerbissen für kindliche Gaumen ersann: Birnenstücke, Streifen hausgemachter Mortadella, Holunderbeersorbet in einem winzigen Schälchen Holunderbeersuppe, Lammfleischravioli, auf die sie mit leicht minzigem Olivenöl Kreuze malte, oder gebratene Polentawürfel.
In den seltenen Fällen, wenn Robin und Brian, etwa bei Hochzeiten, noch gemeinsam ausgingen, hütete Denise in der Panama Street ein. Sie brachte den Mädchen bei, wie man Spinatpasta machte und Tango tanzte. Sie hörte zu, wenn Erin die amerikanischen Präsidenten aufzählte. Sie durchsuchte mit Sinead die Schubladen nach Kostümen.
«Denise und ich sind jetzt mal Ethnologen», sagte Sinead, «und du kannst eine Hmong sein, Erin.»
Wenn sie Sinead mit Erin zusammen überlegen sah, was wohl eine Hmong-Frau auszeichnete, wenn sie beobachtete, wie
Sinead mit trägem, halb gelangweiltem Minimalismus zu Donna Summer tanzte, wie sie die Füße kaum vom Boden hob, ganz leicht die Schultern rollte und ihr Haar über den Rücken gleiten und schwingen ließ (während Erin epileptische Anfälle bekam), liebte Denise nicht nur das Mädchen, sondern auch dessen Eltern für das Erziehungswunder, das sie, auf welche Weise auch immer, an ihm vollbracht hatten.
Robin war weitaus weniger beeindruckt. «Klar, dass sie dich lieben», sagte sie. «Du versuchst ja auch nicht, Sinead die Kletten aus dem Haar zu kämmen. Du streitest dich nicht zwanzig Minuten lang mit ihnen darüber, was ‹Bettenmachen› heißt. Du kennst Sineads Mathenoten nicht.»
«Sind die nicht gut?», fragte die vernarrte Babysitterin.
«Sie sind verheerend. Wenn sie nicht besser werden, könnten wir ihr demnächst damit drohen, dass sie dich nicht mehr sehen darf.»
«O nein, bitte nicht.»
«Vielleicht willst du ja mal periodische Dezimalbrüche mit ihr üben.»
«Klar, auch das.»
An einem Sonntag im November, als die fünfköpfige Familie im Fairmount Park spazieren ging, sagte Brian zu Denise: «Robin hat dich richtig ins Herz geschlossen. Ich war mir da vorher nicht so sicher.»
«Ich mag Robin sehr», sagte Denise.
«Am Anfang fühlte sie sich, glaube ich, ein bisschen von dir eingeschüchtert.»
«Aus gutem Grund. Nicht wahr.»
«Ich hab ihr nie etwas erzählt.»
«Na, besten Dank.»
Denise entging nicht, dass dieselben Eigenschaften, die es Brian ermöglicht hätten, Robin zu betrügen — seine
Anspruchshaltung, seine treuherzige Überzeugung, dass alles, was er tat, in jedermanns Sinn war — , es einem auch leicht machen würden, ihn selbst zu betrügen. Denise spürte, dass sie für Brian allmählich zu einer Erweiterung von «Robin» wurde, und da «Robin» in Brians Augen dauerhaften Großartigkeitsstatus besaß, brauchte er weder über sie noch über «Denise» weiter nachzudenken.
Ähnlich absolutes Vertrauen schien Brian in Denise' Freund Rob Zito als Geschäftsführer des Generators zu setzen. Brian versuchte, einigermaßen auf dem Laufenden zu bleiben, doch je kälter es draußen wurde, desto häufiger war er nicht da. Denise fragte sich kurz, ob er eine andere hatte, doch wie sich herausstellte, war seine neue Flamme ein freischaffender Regisseur, Jerry Schwartz, der für seine hervorragenden Soundtracks ebenso bekannt war wie für die Gabe, immer wieder jemanden aufzutreiben, der seine künstlerisch wertvollen Rote-Zahlen-Projekte finanzierte. («Ein Film, den man am besten mit geschlossenen Augen genießt», schrieb Entertainment Weekly über Schwartz' trübseligen Messerstecher-Streifen Moody Fruit.) Gerade als Schwartz die Hauptszenen einer zeitgenössischen Verbrechen und Strafe — Verfilmung zu drehen begann, in der Raskolnikow, gespielt von Giovanni Ribisi, ein junger, irgendwo im nördlichen Philadelphia untergetauchter Anarchist und Hifi-Fan war, kam Brian, ein glühender Bewunderer der Schwartz'schen Soundtracks, wie ein Engel mit den rettenden fünfzig Mille herabgeschwebt. Während Denise und Rob Zito im Generator Technik- und Beleuchtungsentscheidungen trafen, besuchte er Schwartz und Ribisi et al. am Drehort in den seelenvollen Ruinen von Nicetown, tauschte mit Schwartz aus identischen CD-Köfferchen mit Reißverschluss CDs oder aß mit ihm und Greil Marcus oder Stephen Malkmus im Pastis, New York, zu Abend.
Ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein, hatte Denise geglaubt, dass Brian und Robin kein Sexleben mehr hätten. Als sie Silvester gemeinsam mit vier Paaren und einer Horde Kinder in der Panama Street verbrachte und Brian und Robin in der Küche knutschen sah, zerrte sie ihren Mantel unter dem Mantelhaufen hervor und rannte aus dem Haus. Eine gute Woche lang war sie zu aufgewühlt, um Robin anzurufen oder sich mit den Mädchen zu treffen. Sie hatte ein Auge auf eine heterosexuelle Frau geworfen, die mit einem Mann verheiratet war, den sie unter Umständen gern selbst geheiratet hätte. Es war ein einigermaßen hoffnungsloser Fall. Und St. Judas gab, und St. Judas nahm.
Robin beendete Denise' Moratorium mit einem Anruf. Sie kreischte vor Wut. «Weißt du, wovon Jerry Schwartz' Film handelt?»
«Hm, Dostojewski in Germantown?»
«Du weißt es also. Wie kommt es, dass ich es nicht wusste? Weil er es mir verheimlicht hat, weil ihm klar war, was ich davon halten würde!»
«Das ist ein Giovanni-Ribisi-als-dünnbärtiger-Raskolnikow-Verschnitt, so was in der Art», sagte Denise.
«Mein Mann», sagte Robin, «hat fünfzigtausend Dollar, die er von der W — Corporation bekommen hat, in einen Film über einen Anarchisten aus Nordphilly gesteckt, der zwei Frauen den Schädel einschlägt und dafür in den Knast muss! Er geilt sich daran auf, wie cool es ist, mit Giovanni Ribisi und Jerry Schwartz und Ian Schießmichtot und Stephen Sowieso rumzuhängen, während mein anarchistischer Bruder aus Nordphilly, der wirklich jemandem den Schädel eingeschlagen hat — »
«Ich sehe schon, aha», sagte Denise. «Klarer Fall von mangelndem Feingefühl.»
«Das glaube ich nicht mal», sagte Robin. «Ich glaube, er hat die Schnauze voll von mir und weiß es nur noch nicht.»
Von Stund an wurde Denise zu einer heimlichen Wegbereiterin des Ehebruchs. Sie fand heraus, dass sie Brian, sobald er es auch nur ein bisschen an Feingefühl mangeln ließ, bloß verteidigen musste, um Robin zu gewichtigeren Vorwürfen anzustacheln, und denen schloss sie sich dann widerstrebend an. Sie hörte zu und hörte zu. Sie gab sich Mühe, Robin besser zu verstehen als irgendjemand zuvor. Sie bestürmte sie mit Fragen, die Brian ihr nicht stellte: über Billy, über ihren Vater, über die Kirche, über ihre Gartenprojektpläne, über das halbe Dutzend Teenager, die sich mit dem Gärtnereibazillus angesteckt hatten und nächsten Sommer wiederkommen wollten, über das amouröse und akademische Kreißen ihrer jungen Halbtagskräfte. Sie nahm an der «Nacht der Samenkataloge» im Projekt teil und ordnete den Namen von Robins Lieblingsschülern Gesichter zu. Sie übte mit Sinead periodische Dezimalbrüche. Sie lenkte die Gespräche behutsam auf Filmstars oder Popmusik oder Mode, die heikelsten Themen in Robins Ehe. Für das ungeschulte Ohr klang es, als bereite sie nur einer engeren Freundschaft den Weg; aber sie hatte Robin essen sehen: Sie kannte den Hunger dieser Frau.
Als ein Abwasserproblem die Eröffnung des Generators verzögerte, nutzte Brian die Gelegenheit, um mit Jerry Schwartz das Kalamazoo-Filmfestival zu besuchen, und Denise nutzte die Gelegenheit, um fünf Abende nacheinander mit Robin und den Mädchen zu verbringen. Am letzten Abend stand sie in einem Videoladen gequält vor den Regalen. Nach langem Hin und Her entschied sie sich für Warte, bis es dunkel wird (schrecklicher Mann bedroht erfinderische Audrey Hepburn, deren Haarfarbe und Teint zufällig denen einer gewissen Denise Lambert ähnelten) und Gefährliche Freundin (die verrückte, wunderschöne Melanie Griffith befreit Jeff Daniels aus einer kaputten Ehe). Als sie in der Panama Street damit ankam, wurde Robin schon beim Lesen der Titel rot.
Zwischen den Filmen, es war bereits nach Mitternacht, tranken sie auf dem Wohnzimmersofa Whiskey, da fragte Robin mit einer Stimme, die selbst für ihre Verhältnisse ungewöhnlich piepsig war, ob sie Denise eine persönliche Frage stellen dürfe.
«Wie oft, äh, in der Woche», sagte sie, «habt ihr miteinander geschlafen, Emile und du?»
«Mich musst du nicht fragen, wenn du wissen willst, was normal ist», antwortete Denise. «Das hab ich bisher höchstens mal im Rückspiegel gesehen.»
«Ich weiß. Ich weiß.» Robin starrte auf den blauen Fernsehbildschirm. «Aber was ist deiner Meinung nach normal?»
«Damals hatte ich, glaube ich, das Gefühl», sagte Denise und dachte hohe Zahl, nenn eine hohe Zahl, «dass ungefähr dreimal die Woche normal sein könnte.»
Robin seufzte. Vier, fünf Quadratzentimeter ihres linken Knies berührten das rechte von Denise. «Sag mir einfach, was du normal findest.»
«Ich glaube, manche haben es gern einmal am Tag.»
Robins Stimme klang wie ein Eiswürfel, der zwischen Backenzähnen zermalmt wird. «Das könnte mir auch gefallen. Hört sich nicht schlecht an.» Ein Taubwerden und Prickeln und Brennen befiel den besagten Teil von Denise' Knie.
«Ich schließe daraus, dass es nicht so ist?»
«Ungefähr zweimal im MONAT», sagte Robin gepresst. «Zweimal im MONAT.»
«Glaubst du, dass Brian eine andere hat?»
«Keine Ahnung, was er macht. Jedenfalls bin ich davon ausgeschlossen. Und ich komme mir schon fast wie ein Monster vor.»
«Du bist kein Monster. Ganz im Gegenteil.»
«Also, wie heißt noch mal der andere Film?»
«Gefährliche Freundin.»
«Na, egal. Los, den gucken wir jetzt auch.»
In den nächsten zwei Stunden achtete Denise in erster Linie auf ihre Hand, die sie in bequemer Reichweite von Robins Hand auf das Sofakissen gelegt hatte. Die Hand fühlte sich dort nicht wohl, sie wollte zurückgezogen werden, aber Denise war nicht bereit, das mühsam erkämpfte Terrain wieder aufzugeben.
Als der Film zu Ende war, schauten sie fern, und dann schwiegen sie eine Weile, unfassbar lange, fünf Minuten oder ein Jahr, und noch immer verschmähte Robin den warmen, fünffingrigen Köder. Hier und jetzt wäre Denise ein bisschen drängende männliche Sexualität ganz willkommen gewesen. Im Rückblick waren die anderthalb Wochen, die sie gewartet hatte, bis Brian sie in sein Zimmer zerrte, schnell wie ein Herzschlag vergangen. Um vier stand sie, krank vor Müdigkeit und Ungeduld, auf. Robin zog ihre Schuhe und den purpurnen Nylonparka an und begleitete sie zum Wagen. Da, endlich, nahm sie Denise' Hand in ihre beiden Hände. Mit ihren trockenen Daumen, den Daumen einer erwachsenen Frau, rieb sie über Denise' Handfläche. Sie sei froh, mit ihr befreundet zu sein, sagte sie.
Bleib standhaft, ermahnte sich Denise. Benimm dich wie eine Schwester.
«Geht mir auch so», sagte sie.
Robin gab jenes gesprochene Keckem von sich, das Denise inzwischen als reine, destillierte Verlegenheit zu deuten wusste. Sie sagte: «Hi hi hü!» Dann blickte sie auf Denise' Hand, die sie jetzt hektisch knetete. «Wäre nicht ganz ohne Ironie, wenn ich Brian betrügen würde, was?»
«O Gott», sagte Denise unwillkürlich.
«Keine Sorge.» Robin schloss die Faust um Denise' Zeigefinger und drückte fest, in Spasmen, zu. «War bloß ein Witz.»
Denise starrte sie an. Hörst du überhaupt, was du da redest? Merkst du nicht, was du mit meinem Finger machst?
Robin presste Denise' Hand an ihren Mund und biss mit lippengepolsterten Zähnen zu, knabberte gewissermaßen zart darauf herum, ließ sie dann fallen und stob zum Haus. Dort sprang sie von einem Fuß auf den anderen. «Also, bis bald.»
Am nächsten Tag kam Brian aus Michigan zurück und machte der Party ein Ende.
Denise flog für ein langes Osterwochenende nach St. Jude, wo Enid, wie ein Spielzeugklavier mit nur einer heilen Taste, tagaus, tagein, von ihrer alten Freundin Norma Greene und Norma Greenes tragischer Beziehung zu einem verheirateten Mann erzählte. Um das Thema zu wechseln, sagte Denise, Alfred sei lebhafter und im Kopf viel klarer, als Enid ihn in ihren Briefen und sonntäglichen Telefonaten geschildert habe.
«Wenn du hier bist, reißt er sich zusammen», konterte Enid. «Wenn wir allein sind, ist er unmöglich.»
«Vielleicht bist du, wenn ihr allein seid, zu sehr auf ihn fixiert.»
«Denise, wenn du mit einem Mann zusammenleben würdest, der den ganzen Tag in seinem Sessel sitzt und schläft — »
«Mutter, je mehr du nörgelst, um so bockiger wird er.»
«Du kriegst das ja gar nicht mit, weil du nur ein paar Tage hier bist. Aber ich weiß, wovon ich rede. Und ich weiß nicht, was ich machen soll.»
Wenn ich mit jemandem zusammenleben würde, der ständig etwas an mir auszusetzen hätte, dachte Denise, würde ich mich auch in einen Sessel setzen und schlafen.
Als sie nach Philadelphia zurückkam, war die Küche im Generator endlich fertig. Denise' Leben nahm wieder fast normale Wahnsinnsgrade an: Sie stellte ihre Mannschaft zusammen und wies sie ein, sie ließ zwei Konditormeister zum Kopf-an-Kopf-Rennen antreten und löste tausend Probleme rund um Anlieferung, Zeitplan, Zubereitung und Preiskalkulation. Architektonisch gab sich das Restaurant genauso grandios, wie sie befürchtet hatte, doch zum ersten Mal in ihrer Karriere hatte sie eine Speisekarte sorgsam durchdacht und zwanzig Trümpfe parat. Das Essen war ein Trialog zwischen Paris, Bologna und Wien, eine kontinentale Schaltkonferenz, der Denise ihr ureigenes Geschmack-vor-Glanz-Gepräge gegeben hatte. Kaum stand ihr Brian, den sie so lange nur mit Robins Augen gesehen hatte, wieder persönlich gegenüber, fiel ihr ein, wie sehr sie ihn mochte. Sie erwachte sozusagen aus ihren Eroberungsträumen. Während sie den Garland-Herd anheizte, ihr Personal drillte und ihre Messer wetzte, dachte sie: Müßiggang ist aller Laster Anfang. Hätte sie so hart gearbeitet, wie Gott es von ihr erwartete, dann wäre ihr niemals Zeit geblieben, jemandes Ehefrau nachzustellen.
Sie schaltete auf Vermeidung, indem sie sich von sechs Uhr früh bis zwölf Uhr nachts abrackerte. Je mehr Tage sie außerhalb des Banns verbrachte, in den Robins Körper und Körperwärme und Hunger sie schlugen, umso größer wurde ihre Bereitschaft zuzugeben, wie wenig ihr Robins ausgesprochen uncoole Art — ihre Fahrigkeit, ihr schlechter Haarschnitt, ihre noch schlechtere Kleidung, ihre Reibeisenstimme und das gezwungene Lachen — noch gefiel. Brians freundliche Distanz gegenüber seiner Frau, seine Nichteinmischungshaltung, wie sie in dem ewigen «Ja, Robin ist klasse» zum Ausdruck kam, leuchtete Denise jetzt viel mehr ein. Robin war klasse; und dennoch, wenn man mit ihr verheiratet war, brauchte man vielleicht dann und wann ein bisschen Abstand von ihrer weiß glühenden Energie, freute sich vielleicht über ein paar Tage für sich allein in New York und Paris und Sundance…
Aber es war zu spät. Denise' Ehebruch-Taktik hatte offenbar gewirkt. Mit einer Beharrlichkeit, die um so irritierender war, als sie mit Schüchternheit und Ausflüchten einherging, begann Robin ihr nachzulaufen. Sie kam zum Generator. Sie lud Denise zum Mittagessen ein. Sie rief Denise um Mitternacht an und plauderte über die mäßig interessanten Dinge, an denen Denise lange Zeit größtes Interesse geheuchelt hatte. Sie tauchte an einem Sonntagnachmittag bei Denise zu Hause auf und trank, unter ständigem Rotwerden und Hi-hi, an der halben Tischtennisplatte Tee.
Und während der Tee kalt wurde, dachte ein Teil von Denise: Mist, jetzt fährt sie richtig auf mich ab. Dieser Teil von ihr fasste, wie eine Bedrohung, den strapaziösen Umstand ins Auge: Sie will jeden Tag Sex. Derselbe Teil von ihr dachte auch: Mein Gott, wie sie isst. Und: Ich bin keine «Lesbe».
Ein anderer Teil von ihr schwamm jedoch buchstäblich vor Verlangen. Noch nie hatte sie so klar erkannt, was für eine Krankheit das war, Sex, was für eine Ansammlung körperlicher Symptome, denn noch nie war sie auch nur annähernd so krank gewesen, wie Robin sie jetzt machte.
In einer Pause ihres Geplauders nahm Robin, unter einer Ecke der Tischtennisplatte, Denise' geschmackvoll beschuhten Fuß zwischen ihre beiden klobigen, purpurrot-orange akzentuierten weißen Sneakers. Einen Augenblick später beugte sie sich vor und ergriff Denise' Hand. Ihr Erröten sah lebensbedrohlich aus.
«Also», sagte sie. «Ich habe nachgedacht.»
Am 23. Mai, genau ein Jahr nachdem Brian begonnen hatte, Denise ein überhöhtes Gehalt zu zahlen, eröffnete der Generator. Die Eröffnung war um eine letzte Woche verschoben worden, damit Brian und Jerry Schwartz zu den Filmfestspielen nach Cannes fliegen konnten. Solange er fort war, zahlte Denise ihm seine Großzügigkeit und sein Vertrauen jede Nacht zurück, indem sie in die Panama Street fuhr und mit seiner Frau schlief. Möglich, dass ihr Gehirn sich anfühlte wie das Gehirn eines zweifelhaften Kalbskopfs von einem Billigschlachter in der Ninth Street, aber nie war sie so müde, wie sie anfänglich geglaubt hatte, es zu sein. Ein Kuss, eine Hand auf ihrem Knie genügten, und ihr Körper war hellwach. Sie fühlte sich von dem Gespenst jeder einzelnen geschlechtlichen Begegnung, um die sie in ihrer Ehe eine Bogen gemacht hatte, verfolgt, belebt, auf Touren gebracht. Den Kopf in Robins Rücken, schloss sie die Augen und bettete ihre Wange zwischen die Schulterblätter, während ihre Hände Robins Brüste hielten, die rund und flach und sonderbar leicht waren; sie kam sich wie ein Kätzchen vor, das mit zwei Puderquasten spielte. Sie döste ein paar Stunden, dann schälte sie sich aus den Laken, sperrte die Tür auf, die Robin, um vor Überraschungsbesuchen von Erin oder Sinead gefeit zu sein, abgeschlossen hatte, tappte todmüde die Treppe hinunter und, heftig zitternd, nach draußen, in die feuchte Morgendämmerung von Philadelphia.
Brian hatte auffallende, hintergründige Anzeigen für den Generator in lokalen Wochen- und Monatszeitschriften geschaltet und auf die Mund-zu-Mund-Propaganda in seinen Kreisen gesetzt, doch 26 Gedecke am Mittag des ersten Tages und 45 am Abend stellten Denise' Küche noch nicht ernsthaft auf die Probe. Der verglaste Raum, im blauen Tscherenkow-Schein hoch oben in der Luft schwebend, bot Platz für 140 Gäste; auf Abende mit bis zu 300 Gedecken war sie vorbereitet. Brian, Robin und die Mädchen kamen an einem Samstag zum Abendessen ins Restaurant und schauten kurz in der Küche vorbei. Denise gab eine gute Vorstellung als Freundin der Mädchen, und Robin, die, mit rot geschminkten Lippen und in einem kleinen Schwarzen, großartig aussah, gab eine gute Vorstellung als Brians Ehefrau.
So gut sie konnte, arrangierte sich Denise mit den Autoritäten in ihrem Kopf. Sie rief sich in Erinnerung, dass Brian in Paris vor ihr auf die Knie gefallen war; dass sie nichts Schlimmeres tat, als sich an seine Spielregeln zu halten; dass sie Robin den ersten Schritt hatte machen lassen. Doch ihre moralische Haarspalterei erklärte nicht das völlige, geisterhafte Ausbleiben von Gewissensbissen. Wenn sie sich mit Brian unterhielt, war sie abwesend und begriffsstutzig. Als spreche er Französisch, erfasste sie die Bedeutung seiner Worte immer erst im letzten Augenblick. Natürlich hatte sie allen Grund, abgespannt zu sein sie schlief jede Nacht nur vier Stunden, und die Küche lief schon bald auf Hochtouren — , außerdem war Brian, von seinen Filmprojekten abgelenkt, genauso leicht zu betrügen, wie sie es vorhergesehen hatte. Aber «betrügen» war gar nicht das richtige Wort. «Abspalten» kam der Sache viel näher. Ihre Affäre war wie ein Traumleben, das sich in jenen abgeschlossenen und schallgedämpften Gemächern ihres Gehirns entfaltete, in denen sie, als Heranwachsende in St. Jude, ihre Sehnsüchte zu verstecken gelernt hatte.
Ende Juni fielen die Kritiker im Generator ein und zogen zufrieden von dannen. Der Inquirer bemühte das Bild der Ehe: Die «Vermählung» eines «ganz und gar einzigartigen» Rahmens mit «wahrhaftigem und wahrhaft köstlichem Essen» von der «Perfektionistin» Denise Lambert mache den Besuch zu einem «Muss», das Philadelphia «im Alleingang» auf die «Landkarte des Trends» befördert habe. Brian war euphorisch, Denise war es nicht. Sie fand, so beschrieben höre sich der Generator nach einem bescheuertem, mittelmäßigen Lokal an. Sie zählte vier Absätze zur Architektur und Einrichtung, drei Absätze zu nichts, zwei zum Service, einen zum Wein, zwei zu den Desserts und nur sieben zu ihrem Essen.
«Sie haben mein Sauerkraut nicht erwähnt», sagte sie, vor Wut den Tränen nahe.
Das Telefon für Tischreservierungen läutete Tag und Nacht. Sie musste arbeiten, arbeiten. Robin aber rief sie mitten am Vormittag oder mitten am Nachmittag auf ihrer Restaurantchef-Leitung an, die Stimme vor Schüchternheit gequetscht, der Rhythmus ihrer Sätze synkopisch vor lauter Verlegenheit: «Also ich dachte — meinst du — könnte ich dich für eine Minute sehen?» Und anstatt nein zu sagen, sagte Denise immer wieder ja. Delegierte oder verschob immer wieder heikle Lagerbestandsaufnahmen, prekäres Vorkochen und Anbraten sowie notwendige Lieferantentelefonate, um sich davonzustehlen und im nächstgelegenen schmalen Stück Park am Schuylkill Robin zu treffen. Manchmal saßen sie bloß auf einer Bank, hielten verstohlen Händchen und sprachen, obwohl arbeitsferne Gespräche während der Arbeitszeit Denise extrem nervös machten, über Robins Schuldgefühle und ihren eigenen unerklärlichen Mangel daran und was es bedeutete, wenn man tat, was sie taten, ja wie es überhaupt dazu gekommen war. Doch bald hörte das Reden auf. Robins Stimme auf der Restaurantchef-Leitung bedeutete nur noch Zunge. Sie hatte kaum ein Wort gesagt, da war Denise' schon nicht mehr bei der Sache. Robins Zunge und Lippen fuhren fort, die von den Zwängen des Tages diktierten Instruktionen zu formen, doch in Denise' Ohr sprachen sie bereits jene andere Sprache des Auf und Nieder und Rundherum, die ihr Körper intuitiv verstand und wie von selbst befolgte; mitunter schmolz sie beim Klang dieser Stimme so sehr dahin, dass ihr Unterleib nachgab und sie sich krümmen musste; dann gab es für die nächste gute Stunde nichts auf der Welt außer Zunge, keine Vorratslisten, keine gebutterten Fasane, keine unbezahlten Lieferanten; wie hypnotisiert verließ sie den Generator, ihr Kopf schwirrte, ihre Reflexe waren fast ausgeschaltet, und der Geräuschpegel der Welt sank gegen null — zum Glück beachteten andere Autofahrer die grundlegenden Verkehrsregeln. Ihr Wagen glich einer Zunge, die über den Schmelz der Asphaltstraßen glitt, ihre Füße einem Zungenpaar, das das Pflaster leckte, die Eingangstür des Hauses in der Panama Street einem Mund, der sie verschlang, der Persianer im Flur vor dem Schlafzimmer einer lockenden Zunge, das Bett mit seinem Mantel aus Steppdecke und Kissen einer großen weichen Zunge, die hinuntergedrückt werden wollte, und dann.
Das alles war Neuland, keine Frage. So sehr wie dies hatte Denise noch nie in ihrem Leben etwas gewollt, schon gar nicht Sex. Einen Orgasmus zu haben war für sie, in ihrer Ehe mit Emile, irgendwann zu einer Art mühseliger, gelegentlich unvermeidbarer Hausarbeit geworden. Sie hatte jeden Tag vierzehn Stunden lang in der Küche gestanden und war abends immer wieder in ihren Straßenkleidern eingeschlafen. Das Letzte, wonach es sie spät in der Nacht verlangte, war, sich einem komplizierten und zunehmend zeitaufwendigen Rezept für ein Gericht zu widmen, das sie vor lauter Müdigkeit ohnehin nicht mehr hätte genießen können. Vorbereitungszeit mindestens fünfzehn Minuten. Und selbst danach, beim eigentlichen Kochen, ging selten alles glatt. Die Hitze war entweder zu groß oder zu klein, die Zwiebeln ließen sich nicht karamellisieren oder wurden sofort schwarz und setzten an; man musste die Pfanne beiseite stellen, damit sie abkühlte, musste noch einmal von vorn anfangen, nach einer quälenden Diskussion mit dem inzwischen verärgerten und gepeinigten zweiten Küchenchef, und unweigerlich wurde das Fleisch hart und zäh, die Sauce verlor nach all dem Strecken und Einkochen die Substanz, und es war scheißspät, und die Augen brannten einem, und na ja, mit etwas Zeit und Mühe brachte man das Zeug meistens doch auf den Tisch, nur war es dann oft so, dass man es nicht einmal seinem Bedienungspersonal mehr hätte anbieten mögen; man schlang es hinunter («na gut», dachte man, «ich bin gekommen») und schlief, mit einem dumpfen Schmerz, ein. Und es war die Mühe nicht annähernd wert. Trotzdem hatte sie sich ihr jede Woche oder jede zweite Woche unterzogen, weil es Emile wichtig war, dass sie kam, und sie ein schlechtes Gewissen hatte. Ihn konnte sie so geschickt und unfehlbar (und, binnen Kurzem, auch so spielend) glücklich machen, wie sie Consommé kochte; und mit wie viel Stolz und Freude erfüllte es sie, ihr Können unter Beweis zu stellen! Emile hingegen schien zu glauben, dass ihre Ehe in Gefahr sei, wenn Denise nicht wenigstens ein bisschen schauderte und halbherzig seufzte, und obwohl der spätere Gang der Dinge ihm zu hundert Prozent Recht gab, war nichts daran zu ändern, dass sie, in den Jahren bevor Becky Hemerling ihr über den Weg lief, an der Orgasmus-Front hauptsächlich mit Schuldgefühlen, Stress und Widerwillen kämpfte.
Robin war prete-a-manger. Man brauchte kein Rezept, man brauchte keine Vorbereitungszeit, um einen Pfirsich zu essen. Hier war der Pfirsich, peng, und schon kam der Genuss. Denise hatte Ansätze solcher Leichtigkeit mit Hemerling erlebt, doch erst jetzt, im Alter von zweiunddreißig Jahren, wurde ihr klar, worum alle Welt einen solchen Zirkus machte. Und sobald es ihr klar geworden war, wurde es zum Problem. Im August fuhren die Mädchen ins Ferienlager, und Brian flog nach London, und die Chefin des beliebtesten neuen Restaurants in der Gegend stieg nur noch aus dem Bett, um sich sofort auf irgendeinem Teppich wieder zu finden, zog sich nur noch an, um sofort alles wieder auszuziehen, schaffte es mit Ach und Krach, bis zum Windfang zu flüchten, und dort, mit dem Rücken zur Haustür, kam sie; mit Gummiknien und Schlitzaugen schleppte sie sich in eine Küche zurück, die sie für höchstens fünfundvierzig Minuten zu verlassen versprochen hatte. Und das war nicht gut. Das Restaurant litt darunter. Es kam zum Stillstand im Glied, zu Verzögerungen an der Front. Zweimal musste sie Hauptgerichte von der Karte streichen, weil die Küche ohne sie mit der Vorbereitungszeit nicht ausgekommen war. Und trotzdem entfernte sie sich, auch während des zweiten Abendansturms, unerlaubt von der Truppe. Sie fuhr durch Crack Haven und die Junk Row hinunter und an der Blunt Alley vorbei zum Gartenprojekt, wo Robin eine Decke hatte. Der größte Teil des Gartens war jetzt gemulcht und mit Kalk gedüngt und bepflanzt. In abgefahrenen, mit Drahtgitterzylindern ausgekleideten Reifen waren Tomaten gewachsen. Und die Scheinwerfer und Tragflächenlichter landender Flugzeuge, die smogverstümmelten Sternbilder und der Radiumschein von der Uhr des Veterans-Stadions, das Wärmegewitter über Tinicum und der Mond, den das verdreckte Camden, als er aufging, mit Hepatitis angesteckt hatte, all diese kompromittierten städtischen Lichter spiegelten sich in den jugendlichen Auberginen, jungen Paprikaschoten und Gurken, den pubertierenden Wassermelonen. Denise, nackt inmitten der Stadt, rollte sich von der Decke auf die nachtkühle Erde, einen sandigen, frisch umgegrabenen Lehmboden. Sie legte eine Wange darauf, steckte ihre robinösen Finger hinein.
«He, halt, halt», quiekte Robin, «das ist unser neuer Salat.»
Dann war Brian wieder da, und sie begannen, dumme Risiken einzugehen. Robin erklärte Erin, Denise hätte sich nicht wohl gefühlt und sich im Schlafzimmer aufs Bett legen müssen. Es gab eine fieberhafte Episode in der Callahanschen Speisekammer, während Brian keine zwanzig Schritt davon entfernt laut E. B. White las. Schließlich, eine Woche vor dem Labor Day, kam ein Morgen im Büro des Gartenprojekts, an dem das Gewicht zweier Körper auf Robins antikem hölzernem Schreibtischstuhl dessen Lehne brechen ließ. Sie lachten, da hörten sie plötzlich Brians Stimme.
Robin sprang auf und drückte die Klinke herunter, gleichzeitig den Schlüssel im Schloss herumdrehend, um zu vertuschen, dass die Tür abgesperrt gewesen war. Brian hielt einen Korb gesprenkelter grüner Erektionen im Arm. Er war überrascht — aber wie immer erfreut — , Denise zu sehen. «Was ist denn hier los?»
Denise kniete, das Hemd über der Hose, neben Robins Schreibtisch. «Der Stuhl ist zusammengebrochen», sagte sie. «Ich schleck mir die Belehrung gerade an.»
«Ich hab Denise gefragt, ob sie ihn nicht reparieren könnte!», quiekte Robin.
«Was machst du hier eigentlich?», fragte Brian Denise sehr neugierig.
«Ich hatte die gleiche Idee wie du», sagte sie. «Zucchini.»
«Sara hat gesagt, es wäre niemand da.»
Robin sah ihre Chance, sich zu verdrücken. «Ich gehe mal zu ihr. Sie sollte eigentlich wissen, ob ich da bin oder nicht.»
«Wie hat Robin den denn kaputtgekriegt?», fragte Brian Denise.
«Weiß nicht», sagte sie. Am liebsten hätte sie wie ein böses Kind, das auf frischer Tat ertappt wurde, auf der Stelle losgeheult.
Brian hob den oberen Teil des Stuhls vom Boden auf. Er hatte Denise bisher noch nie an ihren Vater erinnert, doch jetzt war sie tief bewegt zu sehen, wie sehr er in seinem umsichtigen Erbarmen mit dem kaputten Objekt Alfred ähnelte. «Das ist gute Eiche», sagte er. «Komisch, dass der einfach so zerbricht.»
Sie stand auf und wanderte in den Vorraum, im Gehen Hemd in Hose steckend. Wanderte immer weiter, bis sie draußen war, und stieg in ihr Auto. Fuhr die Bambridge Street hinauf zum Fluss. Hielt an einer feuerverzinkten Leitplanke und würgte den Motor ab, indem sie den Fuß von der Kupplung nahm, sodass der Wagen gegen die Leitplanke ruckte, zurückprallte und zum Stillstand kam, und erst jetzt, endlich, brach sie in Tränen aus und beweinte den kaputten Stuhl.
Als sie zum Generator zurückkehrte, sah sie klarer. Sie sah, dass sie an allen Fronten in der Klemme saß. Auf ihrem Anrufbeantworter waren Nachrichten von einem Journalisten der Times, einem Redakteur des Gourmet und einem frisch gebackenen Restaurantbesitzer eingegangen, der hoffte, Brian die Chefköchin ausspannen zu können. Im Vorratsraum waren ungebratene Entenbrüste und Kalbsschnitzel im Wert von eintausend Dollar verdorben. Jeder in der Küche wusste — aber keiner hatte es ihr erzählt — , dass in der Mitarbeitertoilette eine Nadel gefunden worden war. Der Konditormeister behauptete, er habe Denise zwei Zettel, vermutlich zum Thema Gehalt, auf den Schreibtisch gelegt, an die Denise sich nicht erinnerte.
«Warum bestellt hier keiner Rippchen?», fragte Denise Rob Zito. «Warum machen die Kellner keine Reklame für meine phänomenal köstlichen und einzigartigen Rippchen?»
«Amerikaner mögen kein Sauerkraut», sagte Zito.
«Quatsch. Wann immer es jemand bestellt hat, habe ich in den Tellern, die zurückgekommen sind, mein Spiegelbild gesehen. Ich konnte meine Wimpern zählen.»
«Möglich, dass unter den Gästen ab und zu ein paar Deutsche sind», sagte Zito. «Vielleicht sind hauptsächlich Leute mit deutschem Pass für die sauberen Teller verantwortlich.»
«Könnte es sein, dass du selbst kein Sauerkraut magst?»
«Ist ein interessantes Gericht», sagte Zito.
Sie hörte nichts von Robin, und sie rief sie auch nicht an. Sie gab der Times ein Interview und ließ sich fotografieren, sie hätschelte das Ego des Konditormeisters, sie blieb bis spät in der Nacht im Restaurant und schaffte heimlich das verdorbene Fleisch fort, sie feuerte den Tellerwäscher, der sich im Klo einen Schuss gesetzt hatte, und bei jedem Essen, egal, ob mittags oder abends, saß sie ihren Angestellten im Nacken und fahndete, sobald etwas schief lief, nach dem Grund.
Am Labor Day: Totenstille. Sie zwang sich, ihr Büro zu verlassen, lief durch die leere, heiße Stadt und lenkte ihre Schritte, vor lauter Einsamkeit, zur Panama Street. Kaum sah sie das Haus, hatte sie einen feuchten Pawlow'schen Reflex. Die Sandsteinfassade war immer noch ein Gesicht, die Haustür immer noch eine Zunge. Robins Wagen stand am Straßenrand, Brians nicht; sie waren nach Cape May gefahren. Denise klingelte, obwohl sie schon an der Staubigkeit rund um die Tür erkennen konnte, dass niemand da war. Mit dem Sicherheitsschlüssel, auf den sie «R/B» geschrieben hatte, verschaffte sie sich Einlass. Sie stieg die zwei Stockwerke zum Elternschlafzimmer hinauf. Die für teures Geld nachgerüstete Klimaanlage des Hauses tat ihren Dienst, ließ die kühle, konserviert riechende Luft mit den Labor-Day-Sonnenstrahlen wetteifern. Als sie sich auf das ungemachte Ehebett legte, fühlte sie sich an den Geruch und die Ruhe der Sommernachmittage in St. Jude erinnert, wenn sie allein im Haus war und, ein paar Stunden lang, so absonderlich sein konnte, wie sie wollte. Sie befriedigte sich selbst. Lag auf den wirren Laken, wo ihr ein Streifen Sonnenlicht auf die Brust fiel. Sie gönnte sich noch eine Portion von sich und streckte genüsslich die Arme aus. Unter einem der elterlichen Kissen kratzte sie sich die Hand an der Kante von etwas Kondomhüllenähnlichem auf.
Es war eine Kondomhülle. Aufgerissen und leer. Sie wimmerte, als sie sich den Akt, von dem die Hülle Zeugnis gab, in all seiner Eindringlichkeit vor Augen führte. Sie hielt sich den Kopf.
Dann rappelte sie sich auf und strich sich das Kleid über den Hüften glatt. Sie suchte die Laken nach anderen abscheulichen Überraschungen ab. Na klar hatte ein verheiratetes Paar Sex. Klar. Aber Robin hatte ihr erzählt, sie nehme die Pille nicht, sie hatte gesagt, dafür schliefen sie und Brian nicht oft genug miteinander; außerdem hatte Denise den ganzen Sommer über am Körper ihrer Geliebten keine Spur von einem Ehemann wahrgenommen, weder geschmeckt noch gerochen, und so hatte sie sich erlaubt, das Selbstverständliche einfach zu vergessen.
Sie kniete sich vor den Papierkorb neben Brians Kommode. Sie rührte in Taschentüchern, Kontrollabschnitten und Zahnseide herum und fand eine zweite Kondomhülle. Hass auf Robin, Hass und Eifersucht, fiel sie an wie Migräne. Sie ging ins elterliche Badezimmer und fand im Mülleimer unter dem Waschbecken zwei weitere Hüllen und einen völlig verknoteten Gummi.
Sie hämmerte mit den Fäusten gegen ihre Schläfen. Sie hörte den Atem zwischen ihren Zähnen, als sie die Treppen hinunter und nach draußen rannte, in den Spätnachmittag. Es waren fünfunddreißig Grad, und sie zitterte wie Espenlaub.
Absonderlich, absonderlich. Sie lief zu Fuß zum Generator zurück und betrat das Gebäude von hinten, über die Laderampe. Sie machte eine Bestandsliste von Öl und Käse und Mehl und Gewürzen, füllte akribisch Bestellzettel aus, sprach mit einer humorlosen, deutlichen und höflichen Stimme Nachrichten auf zwanzig Anrufbeantworter, erledigte ihre E-Mail-Pflichten, briet sich auf dem Garland eine Niere, spülte mit einem einzigen Schluck Grappa hinterher und rief sich um Mitternacht ein Taxi.
Am nächsten Morgen kreuzte Robin unangekündigt in der Küche auf. Sie trug ein weites weißes Hemd, das aussah, als habe es einmal Brian gehört. Denise' Magen tat einen Sprung. Sie nahm sie mit in ihr Büro und schloss die Tür.
«Ich kann so nicht weitermachen», sagte Robin.
«Gut, ich auch nicht, also dann.»
Robins Gesicht war ein einziger roter Fleck. Sie kratzte sich am Kopf, zog andauernd, marottenhaft, die Nase hoch und drückte immer wieder mit dem Finger gegen ihren Brillensteg. «Ich war seit Juni nicht mehr in der Kirche», sagte sie. «Sinead hat mich bei ungefähr zehn verschiedenen Lügen ertappt. Sie möchte wissen, warum du nie mehr kommst. Ich kenne nicht mal die Hälfte der Jugendlichen, die in letzter Zeit im Projekt auftauchen. Überall herrscht Chaos, und ich kann so nicht weitermachen.»
Denise würgte eine Frage heraus: «Wie geht's Brian?»
Robin wurde rot. «Er weiß von nichts. Ihm geht's wie immer. Du weißt schon — er mag dich, er mag mich.»
«Toll.»
«Es ist alles so — komisch geworden.»
«Tja, und ich hab hier massenhaft zu tun, also dann.»
«Brian hat mir nie was Böses getan. Er hat das nicht verdient.»
Denise' Telefon klingelte, und sie ließ es klingeln. Der Kopf wollte ihr zerspringen. Sie konnte es nicht ertragen, dass Robin Brians Namen sagte.
Robin hob das Gesicht zur Decke; Tränenperlen reihten sich auf ihren Wimpern. «Ich weiß nicht, warum ich hergekommen bin. Ich weiß nicht, was ich rede. Ich fühle mich nur richtig, richtig mies und allein.»
«Finde dich damit ab», sagte Denise. «So werde ich's jedenfalls machen.»
«Warum bist du so kalt?»
«Weil ich ein kalter Mensch bin.»
«Wenn du mich anrufen würdest, wenn du mir sagen würdest, dass du mich liebst — »
«Finde dich damit ab! Herrgott nochmal! Finde dich damit ab!»
Robin schaute sie flehentlich an; doch selbst wenn sich die Sache mit den Kondomen klären ließe, was sollte Denise tun? Aufhören, in dem Restaurant zu arbeiten, das sie zum Star machte? Ins Schwarzenghetto ziehen und eine von Sineads und Erins beiden Mamis sein? Anfangen, klobige Sneakers zu tragen und vegetarisch zu kochen?
Sie wusste, dass sie sich selbst belog, aber sie hatte keine Ahnung, was von all den Dingen, die ihr durch den Kopf gingen, Lüge und was Wahrheit war. Sie starrte auf ihren Schreibtisch, bis Robin die Tür aufriss und floh.
Am nächsten Morgen schaffte es der Generator auf die erste Seite des Gastronomieteils der New York Times, gleich unterhalb des Knicks. Der Schlagzeile («Ein Generator erregt Megawatt-Aufsehen») folgte ein Foto von Denise, während die Aufnahmen der Innen- und Außenarchitektur auf Seite sechs verbannt worden waren, wo sie auch ihre Rippchen mit Sauerkraut abgebildet fand. So war es ihr recht. Das war schon viel besser. Bis zum Mittag hatte man ihr bereits einen
Gastauftritt im Food Channel und eine monatliche Kolumne im Philadelphia angeboten. Ohne Rob Zito zu informieren, wies sie das Mädchen, das die Reservierungen machte, an, jeden Abend um vierzig Plätze zu überbuchen. Gary und Caroline gratulierten ihr, jeder einzeln, am Telefon. Sie kanzelte Zito ab, weil er sich geweigert hatte, einer ortsansässigen NBC-Moderatorin für das Wochenende einen Tisch zu reservieren; sie erlaubte sich, ihn ein bisschen schlecht zu behandeln, es tat ihr einfach gut.
Betuchte Leute von der Sorte, wie sie in Philadelphia bislang rar gewesen war, drängten sich in drei Reihen an der Bar, als Brian mit einem Dutzend Rosen hereinkam. Er umarmte Denise, und sie schmiegte sich an ihn. Gab ihm ein wenig von dem, was Männern gefiel.
«Wir brauchen mehr Tische», sagte sie. «Drei Vierer und einen Sechser mindestens. Wir brauchen jemanden, der sich ganztags um die Reservierungen kümmert und was vom Sieben versteht. Wir brauchen eine bessere Parkplatzbewachung. Wir brauchen einen Konditormeister mit mehr Phantasie und weniger Allüren. Und denk mal darüber nach, ob wir nicht statt Rob lieber jemanden aus New York einstellen sollten, der mit dem neuen Kundenprofil, das wir jetzt kriegen werden, umgehen kann.»
Brian war überrascht. «Das willst du Rob antun?»
«Er wollte keine Reklame für meine Rippchen mit Sauerkraut machen», sagte Denise. «Die Times mochte meine Rippchen mit Sauerkraut. Wenn du mich fragst: Scheiß auf ihn, wenn er der Aufgabe nicht gewachsen ist.»
Die Härte in ihrer Stimme brachte Glanz in Brians Augen. Auch so schien er sie zu mögen.
«Was immer du willst», sagte er.
Am Samstag schloss sie sich Brian und Jerry Schwartz und zwei Blondinen mit hohen Wangenknochen sowie dem Leadsänger und dem Leadgitarristen einer ihrer Lieblingsbands an, die spätnachts auf dem Dach des Generators, wo Brian einen kleinen Zaun gezogen hatte, noch ein paar Drinks zu sich nahmen. Die Nacht war warm, und die Insekten am Fluss waren fast so laut wie die Schuylkill-Schnellstraße. Beide Blondinen sprachen in ihre Handys. Der Gitarrist, noch heiser von einem Gig, bot ihr eine Zigarette an und begutachtete ihre Narben.
«Mannomann, Ihre Hände sehn ja schlimmer aus als meine.»
«Mein Job», sagte sie, «besteht nun mal darin, Schmerzen auszuhalten.»
«Köche sind ja auch berühmt dafür, dass sie von allem gern 'ne Überdosis nehmen.»
«Ich trinke meist einen gegen Mitternacht», sagte sie. «Und wenn ich morgens um sechs aufstehe, schlucke ich zwei Aspirin.»
«Keiner hält mehr aus als Denise», entblödete sich Brian nicht, über die Antennen der Blondinen hinweg zu prahlen.
Das beantwortete der Gitarrist, indem er die Zunge herausstreckte, seine Zigarette wie eine Flasche Augentropfen darüber hielt und die Glut langsam in den glitzernden Spalt hinabsenkte. Es zischte laut genug, um die Blondinen von ihren Telefonaten abzulenken. Die größere von beiden kreischte und rief den Namen des Gitarristen.
«Also, ich frage mich, wovon Sie eine Überdosis genommen haben», sagte Denise.
Der Gitarrist behandelte die Brandwunde mit kaltem Wodka. Die größere Blondine, der sein Auftritt gar nicht behagte, antwortete: «Klonopin und Jameson's und was er da gerade trinkt.»
«Tja, und eine Zunge, die ist nass», sagte Denise und drückte ihre eigene Zigarette auf der zarten Haut hinter ihrem Ohr aus. Es fühlte sich an, als hätte sie eine Kugel in den Kopf bekommen, aber sie schnippte die Kippe lässig Richtung Fluss.
Auf dem Dach wurde es sehr still. Denise' Absonderlichkeit trat so deutlich zutage, wie sie sie früher nie hatte zutage treten lassen. Nur weil es nicht nötig war — weil sie jetzt auch ein Lammkotelett hätte zurechtschneiden oder ein Gespräch mit ihrer Mutter hätte führen können — , stieß sie einen erstickten Schrei aus, ein albernes Geräusch, bloß dazu da, ihr Publikum zu beruhigen.
«Geht's dir gut?», fragte Brian sie später auf dem Parkplatz.
«Ich hab mich schon schlimmer verbrannt, wenn auch aus Versehen.»
«Nein, ich meine, geht's dir gut? Das war ein bisschen unheimlich, vorhin.»
«Du hast doch damit geprahlt, was ich alles aushalten kann.»
«Ich versuche ja gerade zu sagen, dass es mir Leid tut.»
Vor Schmerzen lag sie die ganze Nacht wach.
Eine Woche später stellten sie und Brian den ehemaligen Geschäftsführer des Union-Square-Cafés ein und feuerten Rob Zito.
Noch eine Woche später kamen der Bürgermeister von Philadelphia, einer von New Jerseys Senatoren, der Vorstandsvorsitzende der W — Corporation und Jodie Foster in das Restaurant.
Noch eine Woche später brachte Brian Denise abends nach Hause, und sie bat ihn herein. Bei dem gleichen Fünfzig-Dollar-Wein, den sie einst seiner Frau vorgesetzt hatte, fragte er sie, ob zwischen ihr und Robin etwas vorgefallen sei.
Denise schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. «Ich habe nur sehr viel zu tun.»
«Das dachte ich mir. Ich war fast sicher, dass es nicht mit dir zusammenhängt. Robin regt sich in letzter Zeit über alles auf. Besonders über mich.»
«Ich würde die Mädchen gern mal wieder sehen. Sie fehlen mir», sagte Denise.
«Glaub mir, du fehlst ihnen auch», sagte Brian. Mit einem leichten Stottern fügte er hinzu: «Ich — überlege auszuziehen.»
Denise sagte, es tue ihr Leid, das zu hören.
«Das Sack-und-Asche-Problem ist außer Kontrolle geraten», sagte er und schenkte nach. «Seit drei Wochen geht sie jeden Abend zur Messe. Ich wusste nicht mal, dass die so oft stattfinden. Und ich kann kein einziges Wort über den Generator sagen, ohne eine Explosion auszulösen. Sie dagegen redet davon, die Mädchen selbst zu unterrichten. Sie findet unser Haus zu groß. Sie möchte ins Projekthaus ziehen und die Mädchen selbst unterrichten, vielleicht zusammen mit ein paar von den Projektgören. ‹Rasheed›? ‹Marilou›? Also ehrlich, ein tolles Zuhause für Sinead und Erin, so ein Acker in Point Breeze. Wir sind nicht mehr weit von der Klapsmühle entfernt. Ich meine, Robin ist klasse. Sie glaubt an viel bessere Dinge als ich. Ich bin bloß nicht sicher, ob ich sie noch liebe. Oft habe ich das Gefühl, mich mit Nicky Passafaro zu streiten. Klassenhass, zweite Folge.»
«Robin steckt voller Schuldgefühle», sagte Denise.
«Sie ist nicht weit davon entfernt, eine verantwortungslose Mutter zu sein.»
Halb erstickt fragte Denise: «Würdest du die Mädchen nehmen wollen, im Fall der Fälle?»
Brian schüttelte den Kopf. «Ich weiß gar nicht, ob Robin, im Fall der Fälle, überhaupt versuchen würde, das Sorgerecht zu bekommen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie alles hinschmeißt.»
«Da wär ich mir nicht so sicher.»
Denise dachte daran, wie Robin Sinead die Haare bürstete und vermisste urplötzlich — leidenschaftlich, unbändig — Robins verrücktes Verlangen, ihre Maß- und Haltlosigkeit, ihre Unschuld. Ein Schalter wurde umgelegt, und Denise' Gehirn verwandelte sich in eine stumme Leinwand, auf die schlaglichtartig alles projiziert wurde, was den Menschen, den sie fortgejagt hatte, auszeichnete. Robins geringste Angewohnheiten und Gesten und besondere Kennzeichen kamen ihr jetzt wieder in den Sinn: ihre Vorliebe für kochend heiße Milch im Kaffee und die farblich abweichende Krone auf dem Schneidezahn, den ihr Bruder ihr einmal mit einem Stein abgebrochen hatte, und ihre Art, wie ein Ziegenbock den Kopf zu senken, um Denise zärtliche Stöße zu versetzen.
Denise schützte Müdigkeit vor und bat Brian zu gehen. Früh am nächsten Morgen zog ein tropisches Tief die Küste herauf, eine feuchtwarme, hurrikanähnliche Störung, in deren Zuge sich die Bäume launisch hin und her warfen und Wasser über Randsteine schwappte. Denise überantwortete den Generator ihren Angestellten und setzte sich in den Zug nach New York, um ihrem nichtsnutzigen Bruder aus der Patsche zu helfen und sich ihrer Eltern anzunehmen. Beim spannungsgeladenen Mittagessen stellte Denise, während Enid Wort für Wort die Geschichte von Norma Greene wiederholte, keine Veränderung an sich fest. Sie hatte ein immer noch funktionierendes altes Ich, eine Version 3.2 oder 4.0, die das Beklagenswerte an Enid beklagte und das Liebenswerte an Alfred liebte. Erst als sie am Pier stand und ihre Mutter sie küsste und eine völlig andere Denise, eine Version 5.0, der hübschen alten Frau beinahe die Zunge in den Mund schob, beinahe die Hände an ihren Hüften und Schenkeln hinabgleiten ließ, beinahe klein beigab und versprach, Weihnachten so lange, wie Enid es wollte, zu bleiben: Erst da offenbarte sich ihr die Korrektur, die gerade mit ihr vorging, in ihrem ganzen Ausmaß.
Sie saß im Zug nach Süden, und regenglasierte Bahnsteige schossen mit Intercity-Geschwindigkeit an ihr vorbei. Ihr Vater hatte am Mittagstisch keinen guten Eindruck auf sie gemacht. Und wenn er tatsächlich den Verstand verlor, dann war es möglich, dass Enid ihre Schwierigkeiten mit ihm gar nicht übertrieben hatte, möglich, dass Alfred sehr wohl ein Wrack war und sich bloß in Gegenwart seiner Kinder zusammenriss, möglich, dass Enid nicht nur die Nörglerin und Nervensäge war, die Denise die letzten zwanzig Jahre in ihr gesehen hatte, möglich, dass Alfreds größtes Problem nicht darin lag, mit der falschen Frau verheiratet zu sein, möglich, dass Enids größtes Problem darin lag, mit dem falschen Mann verheiratet zu sein, möglich, dass Denise ihrer Mutter mehr glich, als sie jemals geglaubt hatte. Sie lauschte dem Pa-tum Pa-tum Pa-tum der Räder auf dem Gleis und schaute zu, wie der Oktoberhimmel dunkelte. Vielleicht hätte es Hoffnung für sie gegeben, wenn sie im Zug hätte sitzen bleiben können, aber die Fahrt nach Philadelphia war kurz, und im Handumdrehen stand sie wieder in ihrem Restaurant und hatte keine Zeit mehr, über irgendetwas anderes nachzudenken, bis zu dem Tag, an dem sie mit Gary zu jener Axon-Show ging und sich selbst überraschte, indem sie in der darauf folgenden Auseinandersetzung nicht nur Alfreds, sondern auch Enids Partei ergriff.
Sie konnte sich nicht erinnern, ihre Mutter irgendwann einmal geliebt zu haben.
Am selben Abend gegen neun Uhr, sie lag gerade in der Badewanne, rief Brian an und lud sie ein, mit ihm, Jerry Schwartz, Mira Sorvino, Stanley Tucci, einem «berühmten amerikanischen Regisseur», einem «berühmten britischen Autor» und anderen Lichtgestalten essen zu gehen. Der berühmte Regisseur war gerade mit einem Film in Camden fertig geworden, und Brian und Schwartz hatten es geschafft, ihn mit einer privaten Vorführung von Verbrechen und Strafe und Rock 'n' Roll zu ködern.
«Heute ist mein freier Abend», sagte Denise.
«Martin schickt dir seinen Fahrer», sagte Brian. «Ich wär dir dankbar, wenn du kommen würdest. Meine Ehe ist kaputt.»
Sie zog ein schwarzes Kaschmirkleid an, aß eine Banane, um im Restaurant nicht so hungrig zu wirken, und ließ sich vom Fahrer des Regisseurs zum Tacconelli's chauffieren, einer Ladenfront-Pizzeria in Kensington. Ein Dutzend berühmter und semiberühmter Leute, plus Brian und dem affenartigen, rundschultrigen Jerry Schwartz, hatten drei Tische im hinteren Teil des Lokals in Beschlag genommen. Denise küsste Brian auf den Mund und setzte sich zwischen ihn und den berühmten britischen Autor, der anscheinend genügend geistreiche Cricket- und Darts-Sprüche auf Lager hatte, um Mira Sorvino einen ganzen Abend lang zu unterhalten. Der berühmte Regisseur erzählte Denise, er habe ihre Rippchen mit Sauerkraut gegessen und sie köstlich gefunden, doch sie wechselte eiligst das Thema. Ihre Rolle war eindeutig die, Brians Begleiterin zu sein; die Filmleute interessierten sich weder für ihn noch für sie. Wie zum Trost legte sie ihre Hand auf Brians Knie.
«Raskolnikow mit Walkman, wie er Trent Reznor hört, während er die alte Dame erschlägt, das ist so perfekt», sagte die am wenigsten berühmte Person am Tisch, eine junge Assistentin des Regisseurs, aufgeregt zu Jerry Schwartz.
«Er hört die Nomatics», korrigierte Schwartz sie mit erschütterndem Mangel an Herablassung.
«Nicht die Nine Inch Nails?»
Schwartz senkte die Lider und schüttelte, kaum merklich, den Kopf. «Nomatics, 1980, ‹Held in Trust ›. Später mit unzureichender Befugnis von jener Person gecovert, deren Namen Sie gerade genannt haben.»
«Jeder klaut von den Nomatics», sagte Brian.
«Sie haben am Kreuz der Bedeutungslosigkeit gelitten, nur damit andere ewigen Ruhm genießen können», sagte Schwartz.
«Welches ist ihre beste Platte?»
«Geben Sie mir Ihre Adresse, ich brenne Ihnen eine CD», sagte Brian.
«Die sind alle brillant», sagte Schwartz, «jedenfalls bis zu ‹Thorazine Sunrise›. Danach ist Tom Paquette ausgestiegen, aber die Band hat erst zwei Alben später gemerkt, dass sie tot war. Irgendjemand musste es ihnen verklickern.»
«Ich denke, ein Land, das in den Schulen die Lehre vom allmächtigen Schöpfer verbreitet», sagte der berühmte britische Autor zu Mira Sorvino, «kann nichts dafür, wenn es glaubt, dass Baseball nicht auf Cricket zurückgeht.»
Denise fiel ein, dass Stanley Tucci in ihrem Lieblings-Restaurantfilm Regie geführt und die Hauptrolle gespielt hatte. Munter fachsimpelte sie mit ihm drauflos, grollte der schönen Sorvino ein bisschen weniger und genoss, wenn nicht die Gesellschaft selbst, so doch immerhin die Tatsache, dass sie sich nicht von ihr einschüchtern ließ.
Brian fuhr sie in seinem Volvo vom Tacconelli's nach Hause. Sie fühlte sich befugt und attraktiv und spritzig und lebendig. Brian dagegen war wütend.
«Eigentlich hätte Robin dabei sein sollen», sagte er. «Nenn es ein Ultimatum. Immerhin hatte sie sich bereit erklärt, heute Abend mit essen zu gehen. Ich wollte, dass sie wenigstens einen Hauch, eine Spur von Interesse daran bekundet, was ich mit meinem Leben anstelle, auch wenn mir klar war, dass sie sich wie eine Studentin kleiden würde, nur um mich in Verlegenheit zu bringen und Flagge zu zeigen. Dafür wollte ich dann den ganzen nächsten Samstag mit ihr im Projekt sein. Das war die Abmachung. Und dann beschließt sie heute Morgen, an einer Demo gegen die Todesstrafe teilzunehmen. Ich bin kein Fan der Todesstrafe, aber Khellye Withers ist nicht gerade mein Idealbild von einem Kerl, mit dem man für mehr Milde wirbt. Außerdem: versprochen ist versprochen. Ich sehe jedenfalls nicht ein, dass eine Kerze mehr auf dem Lichtermarsch einen so großen Unterschied machen soll. Ich habe gesagt, lass doch um meinetwillen mal eine Demo aus. Wie wär's, hab ich gesagt, ich stell dem Bürgerrechtsbund einen Scheck aus, die Höhe
bestimmst du. Das war keine so gute Idee.»
«Schecks ausstellen, nein, gar nicht gut», sagte Denise.
«Hab ich gemerkt. Aber es sind Sätze gefallen, die man schwer wieder zurücknehmen kann. Und offen gestanden ist mein Bedürfnis, sie zurückzunehmen, auch nicht besonders groß.»
«Man kann nie wissen», sagte Denise.
Die Washington Avenue zwischen dem Fluss und der Broad Street war, um elf an einem Montagabend, menschenleer. Zum ersten Mal in seinem Leben schien Brian wirklich enttäuscht worden zu sein, und er konnte nicht aufhören, davon zu reden. «Weißt du noch, wie du gesagt hast, wenn ich nicht verheiratet wäre und du nicht meine Angestellte wärst — ?»
«Ja.»
«Gilt das noch?»
«Komm doch auf ein Glas mit zu mir», sagte Denise.
Und so ergab es sich, dass Brian am nächsten Morgen um halb zehn in ihrem Bett lag und schlief, als es an ihrer Tür läutete.
Sie hatte noch viel von dem Alkohol im Blut, der jenes Bild von Absonderlichkeit und moralischem Chaos, das ihr Leben mehr und mehr abzugeben schien, weiter vervollständigt hatte. Unter ihrer Benebelung spürte sie jedoch ein angenehmes Ich-bin-wer-Prickeln, das ebenfalls von der letzten Nacht herrührte. Es war stärker als alles, was sie für Brian empfand.
Es läutete wieder. Sie stand auf, zog sich einen kastanienbraunen Morgenrock über und schaute aus dem Fenster. Ihr Blick fiel auf Robin Passafaro. Brians Volvo parkte auf der anderen Straßenseite.
Denise erwog, einfach nicht aufzumachen, doch Robin hätte es kaum hier versucht, wenn sie nicht vorher schon beim Generator gewesen wäre.
«Es ist Robin», sagte sie. «Bleib du hier und sei still.»
Im Morgenlicht hatte Brian noch den gleichen Schnauze-voll-Gesichtsausdruck wie am Abend zuvor. «Von mir aus kann sie ruhig wissen, dass ich hier bin.»
«Toll, von mir aus aber nicht.»
«Tja, mein Auto steht gleich gegenüber.»
«Ist mir schon klar.»
Auch sie hatte von Robin seltsamerweise die Schnauze voll. Den ganzen Sommer über, während sie Brian betrogen hatte, war nie so viel Verachtung in ihr gewesen, wie sie jetzt, als sie die Treppe hinunterging, für seine Frau empfand. Dumme Robin, sture Robin, kreischende Robin, johlende Robin, stillose Robin, schimmerlose Robin.
Doch siehe da: In dem Augenblick, wo sie die Tür öffnete, erkannte ihr Körper, was er wollte. Er wollte Brian auf der Straße und Robin in ihrem Bett.
Robin klapperte mit den Zähnen, obwohl der Morgen nicht kalt war. «Kann ich reinkommen?»
«Ich muss gleich zur Arbeit», sagte Denise.
«Fünf Minuten», sagte Robin.
Es schien ausgeschlossen, dass sie den pistaziengrünen Wagen auf der anderen Straßenseite nicht bemerkt hatte. Denise ließ sie in den Flur und machte die Tür zu.
«Meine Ehe ist kaputt», sagte Robin. «Letzte Nacht ist er nicht mal mehr nach Hause gekommen.»
«Das tut mir Leid.»
«Ich habe für meine Ehe gebetet, aber der Gedanke an dich bringt mich immer wieder auf Abwege. Ich knie in der Kirche nieder, und schon denke ich an deinen Körper.»
Angst befiel Denise. Sie fühlte sich nicht unbedingt schuldig — die Eieruhr einer kränkelnden Ehe war abgelaufen; im schlimmsten Fall hatte sie den Prozess beschleunigt — , aber es tat ihr Leid, dass sie diesem Menschen unrecht getan, dass sie sich mit ihm gemessen hatte. Sie ergriff Robins Hände und sagte: «Ich möchte dich sehen und mit dir sprechen. Ich finde das, was da passiert ist, auch nicht schön. Aber jetzt muss ich unbedingt zur Arbeit.»
Im Wohnzimmer klingelte das Telefon. Robin biss sich auf die Lippen und nickte. «Gut.»
«Treffen wir uns um zwei?»
«Gut.»
«Ich rufe dich vom Restaurant aus an.»
Robin nickte erneut. Denise ließ sie hinaus, schloss die Tür und stieß für fünf Atemzüge Luft aus.
«Denise, hier ist Gary. Ich weiß nicht, wo du bist, aber bitte ruf mich an, sobald du dies hörst, es hat einen Unfall gegeben, Dad ist vom Schiff gefallen, ungefähr acht Etagen tief, ich habe gerade mit Mom gesprochen — »
Sie rannte zum Telefon und nahm ab. «Gary.»
«Ich hab's schon im Restaurant versucht.»
«Lebt er?»
«Eigentlich müsste er tot sein», sagte Gary. «Aber er lebt.»
In Notfällen lief Gary zur Bestform auf. Die Eigenschaften, die sie noch am Tag zuvor zur Weißglut gebracht hatten, waren ihr jetzt ein Trost. Sie wollte, dass er alles wusste. Sie wollte, dass er, ob seiner Gelassenheit, selbstzufrieden klang.
«Offenbar haben sie ihn an die zwei Kilometer durch fünfzehn Grad kaltes Wasser geschleppt, bevor das Schiff anhalten konnte», sagte Gary. «Sie haben einen Hubschrauber gerufen, der ihn nach New Brunswick bringen soll. Aber er hat sich nicht das Genick gebrochen. Sein Herz schlägt noch. Und er kann sprechen. Ein zäher alter Bursche, was. Gut möglich, dass er sich wieder völlig erholt.» «Wie geht es Mom?»
«Es setzt ihr zu, dass die Kreuzfahrt nicht weitergehen kann, bis der Hubschrauber kommt. Dass sie anderen Leuten Umstände machen.»
Denise lachte erleichtert. «Arme Mom. Sie hatte sich so auf die Kreuzfahrt gefreut.»
«Tja, ich fürchte, ihre Kreuzfahrtzeiten mit Dad sind vorbei.»
Es läutete wieder an der Tür. Gleich darauf hämmerte jemand dagegen, hämmerte und trat.
«Gary, warte mal eine Sekunde.»
«Was ist da los?»
«Ich ruf dich gleich zurück.»
Es läutete so lange und laut, dass sich der Klingelton veränderte; er klang jetzt flach, ein bisschen heiser fast.
Sie öffnete einem zitternden Mund und hasserfüllten Augen die Tür.
«Geh mir aus dem Weg», sagte Robin, «ich will keinen Zentimeter von dir berühren.»
«Ich habe gestern Nacht einen ganz großen Fehler begangen.»
«Geh mir aus dem Weg!»
Denise trat zur Seite, und Robin stürmte die Treppe hinauf. Denise setzte sich auf den einzigen Stuhl in ihrem Wohnzimmer, ihrer Büßerkammer, und hörte zu, wie oben geschrien wurde.
Plötzlich wurde ihr bewusst, wie selten sich ihre Eltern, jenes andere verheiratete Paar in ihrem Leben, jene anderen beiden nicht zueinander passenden Menschen, in ihrer Kindheit angeschrien hatten. Sie hatten stillgehalten und zugelassen, dass im Kopf ihrer Tochter ein Stellvertreterkrieg ausbrach.
Wann immer sie mit Brian zusammen wäre, würde sie sich nach Robins Körper und ihrer Aufrichtigkeit und ihren guten Werken sehnen und sich von Brians kühler Blasiertheit abgestoßen fühlen, und wann immer sie mit Robin zusammen wäre, würde sie sich nach Brians gutem Geschmack und der Übereinstimmung zwischen ihnen sehnen und wünschen, Robin würde endlich einmal bemerken, wie sensationell ihr schwarzer Kaschmir stand.
Ihr habt's leicht, dachte sie. Ihr seid zwei.
Die Schreierei hörte auf. Robin kam die Treppe heruntergerannt und lief, ohne abzubremsen, aus der Haustür.
Brian folgte ihr ein paar Minuten später. Mit Robins Missbilligung hatte Denise gerechnet, damit konnte sie umgehen, von Brian hingegen erhoffte sie sich irgendein verständnisvolles Wort.
«Du bist gefeuert», sagte er.
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THEMA: Vielleicht sollten wir uns nächstes Mal etwas mehr Mühe geben
Schön, dass wir uns Samstag gesehen haben. War wirklich nett von dir, gleich zurückzukommen und mir beizustehen.
In der Zwischenzeit ist Dad vom Schiff gefallen und mit gebrochenem Arm, ausgekugelter Schulter, abgelöster Netzhaut, vorübergehendem Gedächtnisverlust und wahrscheinlich einem leichten Schlaganfall aus eisigem Wasser gezogen und, zusammen mit Mom, per Hubschrauber nach New Brunswick geflogen worden, mich hat man gefeuert (einen so guten Job kriege ich bestimmt nie wieder), und Gary und ich haben von einer brandneuen medizinischen Technologie erfahren, die du bestimmt genauso grauenvoll, dystopisch und bösartig finden würdest wie ich, nur dass sie gut gegen Parkinson ist und Dad vielleicht helfen könnte.
Davon abgesehen, gibt's nicht viel zu berichten.
Ich hoffe, dir geht's gut, wo immer du Scheißkerl stecken magst. Julia sagt, in Litauen, und erwartet auch noch, dass ich das glaube.
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THEMA: Re: Vielleicht sollten wir uns nächstes Mal etwas mehr Mühe geben
Jobgelegenheit in Litauen. Julias Ehemann Gitanas bezahlt mich dafür, dass ich eine profitable Homepage einrichte. Macht ziemlichen Spaß und ist nicht unlukrativ.
Alle deine Highschool-Lieblingsbands kommen hier im Radio. Smiths, New Order, Billy Idol. Die Vergangenheit lässt grüßen. Ich habe gesehen, wie ein alter Mann in der Nähe des Flughafens mitten auf der Straße ein Pferd erschossen hat. Da war ich gerade mal fünfzehn Minuten auf baltischem Boden. Willkommen in Litauen!
Heute Morgen mit Mom gesprochen, die ganze Geschichte gehört, mich entschuldigt — mach dir deswegen also keine Sorgen.
Das mit deinem Job tut mir Leid. Um ehrlich zu sein: Ich bin sprachlos. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass dich jemand feuert.
Wo arbeitest du jetzt?
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THEMA: Feiertagspflichten
(Vilnius!)
Mom muss dich falsch verstanden haben. Bitte klär mich auf.
Da du gefragt hast: Im Augenblick arbeite ich nirgends. Helfe gelegentlich im Mare Scuro aus, schlafe ansonsten bis zwei. Wenn das so weitergeht, muss ich vielleicht was Therapeutisches anfangen, in der Art, wie du es gefressen hast. Muss irgendwie die Lust am Shoppen und an anderem kostspieligen Konsumverhalten wiederfinden.
Das Letzte, was ich von Gitanas Miesepetrius gehört habe, war, dass er Julia zwei Veilchen verpasste. Aber egal.
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THEMA: Re: Feiertagspflichten
Ich fahre nach St. Jude, sobald ich ein bisschen Geld verdient habe. Vielleicht schon zu Dads Geburtstag. Aber Weihnachten ist die Hölle, das weißt du doch. Eine schlimmere Zeit gibt es nicht. Du kannst Mom sagen, ich komme irgendwann bald nach Neujahr.
Mom behauptet, Caroline und die Jungen würden Weihnachten in St. Jude verbringen. Ist das wirklich wahr?
Nimm bloß nicht meinetwegen keine Psychopharmaka.
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THEMA: «Das Einzige, was verletzt wurde, war meine Würde»
War einen Versuch wert, aber nein, tut mir Leid, ich bestehe darauf, dass du an Weihnachten dabei bist.
Ich habe mit Axon gesprochen, und im Moment sieht es so aus, dass Dad gleich nach Neujahr sechs Monate lang Korrektal bekommt und so lange mit Mom bei mir wohnt. (Passenderweise liegt mein Leben gerade in Trümmern, ich kann das also leicht einrichten.) An diesem Plan ändert sich nur dann etwas, wenn Axons Mediziner meinen, dass Dads Demenz nicht von seinen Medikamenten herrührt. Ich gebe zu, er hat in New York einen ziemlich wackligen Eindruck auf mich gemacht, aber am Telefon klingt er ganz gut. «Das Einzige, was bei dem Sturz verletzt wurde, war meine Würde», usw. Den Gips haben sie ihm eine Woche früher als geplant vom Arm abgenommen.
Wie auch immer, geh davon aus, dass er an seinem Geburtstag bei mir in Philly sein wird, und für den Rest des Winters und den Frühling auch, also kannst du zu keiner anderen Zeit als Weihnachten nach St. Jude kommen. Hör auf,
mit mir zu diskutieren, und komm einfach. Ich warte gespannt (aber zuversichtlich) auf deine Zusage. PS: Caroline, Aaron und Caleb bleiben in Philly. Gary kommt mit Jonah und fliegt am 25. gegen Mittag zurück. PPS: Keine Sorge, ich sage NEIN zu Drogen.
VON: exprof@gaddisfly.com
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THEMA: Re: «Das Einzige, was verletzt wurde, war meine Würde»
Gestern Abend habe ich mit angesehen, wie einem Mann sechsmal in den Bauch geschossen wurde. Ein Auftragsmord in einem Club, der Musmiryte heißt. Es hatte nichts mit uns zu tun, aber dabei zu sein war trotzdem nicht eben witzig.
Mir will nicht einleuchten, warum ich an irgendeinem bestimmten Tag nach St. Jude kommen muss. Wären Mom und Dad meine Kinder, die ich aus dem Nichts, und ohne sie um Erlaubnis zu fragen, gezeugt hätte, dann würde ich ja noch einsehen, dass ich für sie verantwortlich bin. Eltern haben nun mal ein beispiellos fest eingebautes Darwinsches Interesse am Wohlergehen ihrer Kinder. Aber Kinder, will mir scheinen, haben ihren Eltern gegenüber eine derartige Verpflichtung nicht.
Im Grunde habe ich diesen Leuten sehr wenig zu sagen.
Außerdem bezweifle ich, dass sie das, was ich zu sagen habe, hören wollen.
Warum kann ich mich nicht mit ihnen treffen, wenn sie in Philadelphia sind? Das klingt auf alle Fälle netter. Auf die Weise können wir alle neun, anstatt, wie jetzt, nur zu sechst zusammentreffen.
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AN: exprof@gaddisfly.com
THEMA: Eine Standpauke von deiner stinksauren Schwester
Mein Gott, klingst du selbstmitleidig.
Und ich sage, komm MIR zuliebe. MIR zuliebe. Und auch dir SELBST zuliebe, denn mir ist schon klar, dass man sich unheimlich toll und erwachsen fühlt, wenn man beobachtet, wie jemand ein paar Schüsse in den Bauch kriegt, aber du hast nur zwei Eltern, und wenn du die Zeit mit ihnen verpasst, gibt dir keiner nochmal eine Chance.
Ich geb's ja zu: Ich bin ein Wrack.
Ich erzähle dir jetzt — weil ich es irgendeinem mal erzählen muss — und obwohl du mir nie erzählt hast, warum man DICH gefeuert hat — , dass ich gefeuert wurde, weil ich mit der Frau meines Chefs geschlafen habe. Was glaubst du also, habe *ich* «diesen Leuten» zu sagen? Wie, glaubst du, sind derzeit meine Sonntagspläuschchen mit Mom?
Du schuldest mir 20500,- Dollar. Ganz hübsche Summe, was?
Kauf dir das verdammte Ticket. Das Geld kriegst du von mir wieder.
Ich hänge an dir, und ich vermisse dich. Frag mich nicht, wieso.
VON: Denise3@cheapnet.com
AN: exprof@gaddisfly.com
THEMA: Reue
Tut mir Leid, dass ich dir eine Standpauke gehalten habe. Der letzte Satz war der einzige, den ich ernst meinte. E-Mails schreiben liegt mir nicht. Bitte antworte mir. Bitte komm an Weihnachten.
VON: Denise3@cheapnet.com
AN: exprof@gaddisfly.com
THEMA: Sorge
Bitte, bitte, bitte mach das nicht; mir erst von Leuten erzählen, die erschossen werden, und dann nichts mehr von dir hören lassen.
VON: Denise3@cheapnet.com
AN: exprof@gaddisfly.com
THEMA: Nur noch sechs Einkaufstage bis Weihnachten!
Chip? Bist du da? Bitte schreib mir oder ruf mich an.
Globale Erwärmung erhöht den Wert der Litauen AG
VILNIUS, 30. OKTOBER. In Anbetracht der Tatsache, dass der Meeresspiegel weltweit an die drei Zentimeter pro Jahr steigt und täglich Millionen Kubikmeter Meeresstrand abgetragen werden, hat der Europäische Rat für Bodenschätze diese Woche davor gewarnt, dass Europa noch vor Ablauf dieses Jahrzehnts mit einer «katastrophalen» Sand- und Kiesknappheit konfrontiert sein könnte.
«Zu allen Zeiten haben die Menschen Sand und Kies für unerschöpfliche Naturreichtümer gehalten», sagt der Vorsitzende des ERB, Jacques Dormand. «Leider werden viele mitteleuropäische Länder, darunter Deutschland, die sich bisher allzu sehr auf fossile, Treibhausgas erzeugende Brennstoffe verlassen haben, über kurz oder lang in die Abhängigkeit von Sand- und Kies-Kartellstaaten, insbesondere dem sandreichen Litauen, geraten, wenn sie weiterhin Straßen und Häuser bauen möchten.» Gitanas R. Misevicius, Gründer und Geschäftsführer von Litauens Parteigesellschaft Freier Markt, vergleicht die drohende europäische Sand- und Kieskrise mit der Ölkrise des Jahres 1973. «Damals», sagt Misevicius, «waren es winzige erdölproduzierende Länder wie Bahrain und Brunei, die den Großmächten die Zähne zeigten. Morgen wird es Litauen sein.»
Dormand beschreibt die prowestliche, unternehmerfreundliche Parteigesellschaft Freier Markt als «die derzeit einzige politische Kraft in Litauen, die bereit ist, fair und verantwortungsvoll mit westlichen Kapitalmärkten umzugehen.»
«Unser Pech ist», sagt Dormand, «dass sich der Großteil der Sand- und Kies-Reserven Europas in den Händen baltischer Nationalisten befindet, neben denen sich Muammar Gaddafi wie Charles de Gaulle ausnimmt. Ich übertreibe kaum, wenn ich sage, dass die wirtschaftliche Stabilität der EU künftig von einer Handvoll mutiger osteuropäischer Kapitalisten wie Herrn Misevicius abhängt…»
Das Schöne am Internet war, dass Chip ganzleinene Lügengeschichten hineinstellen konnte, ohne sich auch nur der Mühe zu unterziehen, seine Rechtschreibung zu überprüfen. Inwieweit das Web einem zuarbeitete, hatte zu achtundneunzig Prozent damit zu tun, wie professionell und zeitgemäß die eigene Homepage gestaltet war. Chip persönlich kannte sich mit dem Internet zwar nicht besonders gut aus, aber er war ein Amerikaner unter vierzig, und Amerikaner unter vierzig waren allesamt Experten darin zu beurteilen, was professionell und zeitgemäß aussah und was nicht. Er und Gitanas gingen in eine Kneipe, die Prie Universiteto hieß, engagierten für dreißig Dollar am Tag plus Millionen wertloser Aktien-Optionen fünf junge Litauer, die Phish- und R.E.M.-T-Shirts trugen, und einen Monat lang setzte Chip diesen slangschleudernden Webheads erbarmungslos zu. Er zwang sie, amerikanische Seiten wie nbci.com und Oracle unter die Lupe zu nehmen. Er sagte ihnen, so müssten sie es machen, so müsse es aussehen.
Lithuania.com wurde offiziell am 5. November ins Netz gestellt. Untermalt von sechzehn heiteren Petruschka-Takten aus dem «Tanz der Kutscher und Stallknechte», entrollte sich, in hoher Auflösung, ein Banner — DEMOKRATIE WIRFT HÜBSCHE DIVIDENDEN AB. Unter dem Banner fanden sich, nebeneinander und auf tiefblauem Hintergrund, eine schwarz-weiße Vorher — Aufnahme geschossnarbiger Häuserfassaden und zersplitterter Linden auf dem Gedimino-Prospektas («Sozialistisches Vilnius») und, in Farbe, eine prächtige Nachher-Fotografie («Marktwirtschaftliches Vilnius») der neu entstandenen, in honigfarbenes Licht getauchten Hafenanlage mit Boutiquen und Bistros. (Die Anlage befand sich in Wirklichkeit in Dänemark.) Eine Woche lang hatten Chip und Gitanas jeden Abend bis spät in die Nacht Bier getrunken und weitere Seiten eingerichtet, die etwaigen Investoren die diversen Eponymen- und Verewigungsprivilegien aus Gitanas erstem spöttischem Aufruf versprachen, sowie, abhängig von der Höhe der monetären Einlage,
Nutzung ministerieller Strandvillen in Palanga auf Timeshare-Basis!
anteilsbezogene Bergbau- und Forstanrechte in allen Nationalparks!
Anspruch auf die Dienste ausgewählter Verwaltungsbeamter und Richter vor Ort!
Rund-um-die-Uhr-Parkerlaubnis für die Altstadt von Vilnius!
fünfzig Prozent Rabatt auf die Miete ausgewählter litauischer Nationalgardisten und militärischer Ausrüstung (vorherige Anmeldung erforderlich), außer in Kriegszeiten!
unkomplizierte Adoption weiblicher litauischer Säuglinge!
unbürokratische Befreiung von dem Verbot, bei Rot links abzubiegen!
Ihr Konterfei auf Sondermarken, Sammlermünzen, Mikrobrauerei-Bieretiketten, litauischen Basrelief-Keksen mit Schokoladenglasur, Visitenkarten mit «Helden der Zeit»-Motiv, bedrucktem Seidenpapier für Weihnachtsclementinen etc.!
Ehrendoktorwürde in den Humanwissenschaften, verliehen von der im Jahr 1578 gegründeten Universität Vilnius!
Zugang zu Abhörgeräten und anderen Apparaturen der Staatssicherheit, «garantiert ohne Rückfragen»!
einen für die Dauer des Aufenthalts auf litauischem Boden rechtlich einklagbaren Anspruch auf Titel und Ehrentitel wie «Eure Hoheit», «Eure Durchlaucht» und «Euer Gnaden»; Missachtung durch Dienstpersonal kann mit öffentlichem Auspeitschen und bis zu sechzig Tagen Gefängnis geahndet werden!
Last-minute-Ellbogen-Vorrechte auf Sitzplätze in Bahnen und Flugzeugen, bei kulturellen Großereignissen sowie in bestimmten Fünf-Sterne-Restaurants und Nachtclubs!
absoluten Vorrang bei Leber-, Herz- und Hornhauttransplantationen in der berühmten Antakalnis-Klinik in Vilnius!
unbegrenzte Jagd- und Fischereirechte, außerdem gewisse Nachsaison-Privilegien in nationalen Wildreservaten!
Ihr Name in Großbuchstaben am Rumpf großer Schiffe!
etc., etc.!
Die Lektion, die Gitanas bereits gelernt hatte und die auch Chip jetzt lernte, war die: Je offenkundiger satirisch die Versprechungen, desto kräftiger der Zustrom amerikanischen Kapitals. Am laufenden Band produzierte Chip Pressemitteilungen, Pseudobilanzen, seriöse Abhandlungen über die Hegel'sche Unumgänglichkeit einer schamlos kommerziell ausgerichteten Politik, schwärmerische Augenzeugenberichte über Litauens beginnenden Wirtschaftsboom, lässig in Investment-Chatrooms geworfene Softball-Fragen und hart an der Linie entlanggetriebene Homerun-Antworten. Wenn er für seine Lügen oder seine Unkenntnis Prügel bezog, suchte er eben einen anderen Chatroom auf. Er schrieb den Text für die Aktienzertifikate und die Begleitbroschüre («Herzlichen Glückwunsch — Sie sind jetzt ein Freier-Markt-Patriot Litauens») und ließ sie verschwenderisch auf stark baumwollhaltigem Papier drucken. Er hatte das Gefühl, hier, im Reich der reinen Hirngespinste, endlich sein Metier gefunden zu haben. Genau wie Melissa Paquette es vor langer Zeit behauptet hatte, war es eine Mordsgaudi, ein Unternehmen zu gründen, eine Mordsgaudi, das Geld hereinkommen zu sehen.
Ein Reporter von USA Today fragte per E-Mail: «Ist das Ihr Ernst?»
Chip schrieb zurück: «Natürlich. Der Nationalstaat als Profitcenter, mit einer über die ganze Welt verstreuten Einwohnerschaft von Aktionären, ist die nächste Stufe in der Evolution der politischen Ökonomie. Der aufgeklärte Neotechnofeudalismus› blüht und gedeiht in Litauen. Kommen Sie her und sehen Sie selbst. Ich garantiere Ihnen ein mindestens neunzigminütiges Gespräch mit G. Misevicius.»
Eine Antwort von USA Today blieb aus. Chip fürchtete, sich zu weit aus dem Fenster gelehnt zu haben; aber schon bald überstiegen die wöchentlichen Bruttoeinnahmen vierzigtausend Dollar. Das Geld kam in Form von Bankwechseln, Kreditkartennummern, E-cash-Verschlüsselungscodes, Überweisungen an die Credit Suisse und Hundertdollarnoten in
Luftpost-Briefumschlägen. Gitanas steckte einen Großteil davon in Nebengeschäfte, verdoppelte jedoch, vereinbarungsgemäß, Chips Gehalt, sobald die Gewinne stiegen.
Chip wohnte mietfrei in der Stuckvilla, in der der Kommandeur der sowjetischen Garnison einst Fasane verspeist, Gewürztraminer getrunken und auf wanzenfreien Leitungen mit Moskau telefoniert hatte. Die Villa war im Herbst 1990 mit Steinen beworfen, geplündert und siegestrunken bekritzelt worden und hatte dann leer gestanden, bis die VIPPPAKJRIINPB17 abgewählt und Gitanas von der UN zurückgerufen wurde. Abgesehen vom unschlagbaren Preis der Villa (sie war umsonst gewesen) und ihren hervorragenden Sicherheitsvorkehrungen (inklusive eines bewehrten Turms und eines Zauns, der einer US-Botschaft würdig war), hatte Gitanas die Chance gereizt, im Schlafzimmer jenes Kommandeurs zu nächtigen, der ihn sechs Monate lang in den alten sowjetischen Kasernen gleich nebenan hatte foltern lassen. Gitanas und andere Parteimitglieder waren an den Wochenenden mit Maurerkellen und Spachteln ans Werk gegangen, um die Villa zu restaurieren, doch die Partei hatte sich aufgelöst, bevor sie ihre Arbeit zu Ende bringen konnten. Jetzt stand die Hälfte der Zimmer leer, und die Böden waren mit Glasscherben übersät. Wie überall in der Altstadt stammten Wärme und heißes Wasser vom zentralen Mammut-Boiler der Stadt und vergeudeten auf dem langen Weg durch unterirdische Rohre und undichte Steigleitungen bis zu den Duschen und Heizkörpern der Villa beträchtliche Energie. Gitanas hatte das Büro der Parteigesellschaft Freier Markt im ehemaligen großen Ballsaal untergebracht, selbst das größte Schlafzimmer in Besitz genommen, Chip in der Suite des ehemaligen Adjutanten im zweiten Stock einquartiert und die jungen Webheads ihr Lager aufschlagen lassen, wo immer sie wollten.
Obwohl Chip die Miete für seine New Yorker Wohnung und das monatliche Minimum seiner Visa-Rechnungen weiterhin bezahlte, kam er sich in Vilnius angenehm wohlhabend vor. Er bestellte im Restaurant die teuersten Speisen, teilte Alkohol und Zigaretten mit den vom Schicksal weniger Begünstigten und sah im Naturkostladen unweit der Universität, wo er seine Lebensmittel kaufte, nie auf die Preise.
Wie Gitanas vorausgesagt hatte, waren in den Bars und Pizzerien jede Menge stark geschminkte Minderjährige zu haben, doch seit Chip New York verlassen hatte und vor den «Akademischen Würden» geflüchtet war, schien ihm jegliches Verlangen, sich in fremde junge Frauen zu verlieben, abhanden gekommen zu sein. Zweimal die Woche gingen er und Gitanas in den Club Metropol und fanden ihre Bedürfnisse, nach einer Massage und vor der Sauna, auf gleichgültig sauberen Schaumkissen wirkungsvoll befriedigt. Die meisten der weiblichen Angestellten des Metropol waren in den Dreißigern und führten bei Tag ein Leben, das sich um die Kindererziehung oder die Pflege eines Elternteils oder den Studiengang Internationaler Journalismus an der Universität oder politisch gefärbte Kunst drehte, die keiner ihnen abkaufen wollte. Chip war überrascht, dass diese Frauen, während sie sich anzogen und das Haar richteten, ganz normal mit ihm redeten. Er war verblüfft, wie viel Freude ihnen ihr Leben bei Tag offenbar bereitete, wie fade, wie vollkommen bedeutungslos, verglichen damit, ihr Abend-Job für sie war; und da ihm seine Arbeit bei Tag neuerdings selber Spaß machte, wurde er, mit jeder therapeutischen (Trans-Aktion auf der Massagematte, ein wenig besser darin, seinen Körper in seine Schranken zu weisen, seine sexuelle Begierde in ihre Schranken zu weisen, ja zu begreifen, was Liebe war und was nicht. Mit jedem im Voraus bezahlten Samenerguss befreite er sich von einem weiteren Gramm jener erblichen Scham, die gegen fünfzehn Jahre theoretischen Dauerbeschusses resistent gewesen war. Was blieb, war ein Gefühl der Dankbarkeit, das er mit zweihundertprozentigen Trinkgeldern zum Ausdruck brachte. Gegen zwei oder drei Uhr morgens, wenn eine scheinbar wochenalte Dunkelheit auf der Stadt lastete, kehrten er und Gitanas durch stark schwefelhaltigen Rauch und Schnee oder Nebel oder Nieselregen in die Villa zurück.
Chips wahre Liebe in Vilnius war Gitanas. Ihm gefiel vor allem, wie sehr er Gitanas gefiel. Wo immer die beiden Männer zusammen auftauchten, wurden sie gefragt, ob sie Brüder seien, doch in Wahrheit kam sich Chip nicht so sehr wie Gitanas' Bruder, sondern eher wie dessen Freundin vor. Er kam sich vor wie Julia: fortwährend fürstlich bewirtet, auf Händen getragen und in puncto Gefälligkeiten, Informationen und Dingen des täglichen Lebens nahezu vollständig auf Gitanas angewiesen. Er sang für sein Essen, wie vor ihm Julia. Er war ein geschätzter Mitarbeiter, ein empfindsamer und liebenswerter Amerikaner, ein Objekt der Belustigung und nachsichtigen Milde, ein wenig geheimnisvoll; und wie gut es tat, zur Abwechslung einmal der Umworbene zu sein — Eigenschaften und Wesenszüge zu haben, nach denen es einen anderen so sehr verlangte.
Alles in allem ließ es sich mit Schmorbraten und Kohl und Kartoffelpuffer, mit Bier und Wodka und Tabak, mit Kameradschaft, subversivem Unternehmertum und Sex, in Vilnius trefflich leben. Ein Klima und ein Breitengrad, die weitgehend auf Tageslicht verzichten mussten, waren ganz nach Chips Geschmack. Selbst wenn er lange schlief, konnte er noch bei Sonnenaufgang aufstehen, und schon bald nach dem Frühstück war es Zeit für eine abendliche Kaffee- und Zigarettenpause. Halb führte er ein Studentenleben (das Studentenleben hatte ihm immer gelegen) und halb ein Leben auf der Überholspur der Dot.com-Startups. Aus der Entfernung von siebentausend Kilometern wirkte alles, was er in den Vereinigten Staaten zurückgelassen hatte — seine Eltern, seine Schulden, seine Misserfolge, seine Trennung von Julia — , überschaubar klein. An der Arbeitsfront und an der Sexfront und an der Freundschaftsfront ging es ihm so viel besser, dass er eine Zeit lang ganz vergaß, was Kummer war. Er beschloss, in Vilnius zu bleiben, bis er genug Geld verdient hätte, um Denise und den versammelten Kreditkartenausstellern seine Schulden zurückzuzahlen. Sechs Monate, glaubte er, würden dafür reichen.
Wie absolut typisch war es da für sein Glück, dass, noch bevor er auch nur zwei gute Monate in Vilnius verbringen konnte, sowohl sein Vater als auch Litauen in die Knie gingen.
Denise hatte Chip in ihren E-Mails mit immer neuen Meldungen über Alfreds Gesundheitszustand gepiesackt und darauf bestanden, dass er Weihnachten nach St. Jude komme, doch die Aussicht, im Dezember nach Hause zu fahren, barg wenig Reiz. Er fürchtete, dass ihn irgendetwas Albernes an der Rückkehr hindern würde, wenn er die Villa auch nur für eine Woche verlassen müsste. Ein Bann wäre gebrochen, ein Zauber dahin. Doch dann schickte ihm Denise, der gleichmütigste Mensch, den er kannte, eine E-Mail, in der sie geradezu verzweifelt klang. Chip überflog die Nachricht, bevor ihm klar wurde, dass er sie lieber nicht hätte lesen sollen, weil darin die Summe genannt war, die er Denise schuldete. Der Kummer, dessen Wesen er vergessen zu haben glaubte, die Schwierigkeiten, die aus der Ferne klein gewirkt hatten, füllten seinen Kopf aufs Neue aus.
Er löschte die E-Mail und bereute es sofort. Er hatte eine traumartige, halb deutliche Erinnerung an den Nebensatz weil ich mit der Frau meines Chefs geschlafen habe. Aber das kam ihm, als Äußerung von Denise, dermaßen unwahrscheinlich vor und sein Auge war so schnell darüber hinweggehuscht, dass er der Erinnerung nicht traute. Wenn seine Schwester auf dem Weg war, sich als Lesbierin zu outen (was, wenn er es recht bedachte, manche Aspekte ihres Leben erklären würde, über die er sich immer gewundert hatte), dann konnte sie die Unterstützung ihres foucaultschen älteren Bruders jetzt sicher gut gebrauchen; Chip aber war noch nicht bereit, nach Hause zu fahren, und deshalb nahm er an, dass seine Erinnerung ihn getäuscht und sich der Nebensatz auf etwas anderes bezogen hatte.
Während er drei Zigaretten hintereinander rauchte, wandelten sich seine Ängste zu Rechtfertigungen und Gegenvorwürfen und einer noch stärkeren Entschlossenheit, so lange in Litauen zu bleiben, bis er in der Lage wäre, seiner Schwester die $ 20.500,- zurückzuzahlen. Wenn Alfred tatsächlich bis Juli bei Denise wohnen sollte, konnte Chip noch weitere sechs Monate in Litauen bleiben und trotzdem sein Versprechen halten, an einem Familientreffen in Philadelphia teilzunehmen.
Leider holperte Litauen in diesem Moment schon den steinigen Abhang zur Anarchie hinunter.
Den ganzen Oktober und November gab sich Vilnius, trotz der weltweiten Finanzkrise, noch den Anstrich der Normalität. Bauern brachten weiterhin Geflügel und Vieh auf den Markt, und mit den Litas, die sie dafür bekamen, kauften sie russisches Benzin, litauisches Bier und litauischen Wodka, stonewashed Jeans, Spice-Girls-Sweatshirts und Raubkopien von Akte-X–Videos aus Ländern, die wirtschaftlich noch angeschlagener waren als Litauen. Die Fernfahrer, die das Benzin lieferten, und die Arbeiter, die den Wodka brannten, und die alten, kopftuchtragenden Frauen, die auf ihren Holzkarren die Spice-Girls-Sweatshirts feilboten, sie alle kauften den Bauern das Rind- und Hühnerfleisch ab. Das Land produzierte, der Litas rollte, und zumindest in Vilnius hatten die Kneipen und Clubs bis spät in der Nacht geöffnet.
Doch Wirtschaft war nicht bloß eine nationale Angelegenheit. Man konnte dem russischen Ölexporteur, der das Land mit Benzin versorgte, zwar Litas in die Hand drücken, aber es war sein gutes Recht zu fragen, für welche litauischen Waren oder Dienstleistungen er seine Litas denn bitte schön ausgeben solle. Zum offiziellen Kurs Litas zu kaufen, nämlich vier für einen Dollar, war kein Problem. Für vier Litas einen Dollar zu kaufen dagegen schon! Waren wurden, dem bekannten Paradoxon einer Flaute gemäß, knapp, weil es keine Käufer gab. Je schwerer es war, Alufolie oder Hackfleisch oder Motoröl aufzutreiben, um so reizvoller wurde es, Lastwagen, die diese Güter geladen hatten, zu überfallen oder sich rücksichtslos in den Verteilungskampf hineinzudrängen. Indessen bezogen Angestellte des öffentlichen Dienstes (in erster Linie die Polizei) weiterhin feste Gehälter in unerheblich gewordenen Litas. Die Untergrundwirtschaft lernte bald, den Wert eines Revierhauptmanns genauso unfehlbar zu bestimmen wie den einer Kiste Glühbirnen.
Chip war überrascht, als er feststellte, wie sehr sich der schwarze Markt Litauens und der freie Markt Amerikas ähnelten. In beiden Ländern konzentrierte sich der Wohlstand in den Händen weniger; jede belangvolle Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Sektor war verwischt; Handelskapitäne lebten in ständiger Anspannung und weiteten ihre Imperien deshalb skrupellos aus; einfache Bürger lebten in ständiger Angst, gefeuert zu werden, und in ständiger Ungewissheit darüber, welches mächtige private Interesse irgendeine ehemals öffentliche Institution gerade regierte; und die Wirtschaft wurde im Wesentlichen von der unersättlichen Nachfrage der Elite nach Luxusgütern angeheizt. (In Vilnius, im November dieses grauen Herbstes, sorgten fünf kriminelle Oligarchen dafür, dass Tausende von Tischlern, Maurern, Handwerkern, Köchen, Prostituierten, Barkeepern, Automechanikern und Leibwächtern eingestellt wurden.) Der Hauptunterschied zwischen Amerika und Litauen lag, soweit Chip das beurteilen konnte, darin, dass in Amerika die wenigen Wohlhabenden die vielen Nichtwohlhabenden mittels geisteinlullender und seelentötender Zerstreuungen und Technikkinkerlitzchen und Pharmazeutika unterdrückten, während in Litauen die wenigen Mächtigen die vielen Ohnmächtigen unterdrückten, indem sie ihnen Gewalt androhten.
In gewisser Weise wärmte es sein foucaultsches Herz, dass er in einem Land lebte, in dem der Besitz von Privateigentum und die Kontrolle des öffentlichen Diskurses so offenkundig davon abhingen, wer die Knarren hatte.
Der Litauer mit den meisten Knarren war ein gebürtiger Russe namens Victor Litschenkew, der die Liquidität seines Heroin- und Ecstasy-beinahe-Monopols in eine absolute Herrschaft über die Bank von Litauen umgemünzt hatte, nachdem deren vorheriger Eigentümer, FrendLeeTrust of Atlanta, einer katastrophalen Fehleinschätzung unterlegen war, was das Verlangen der Konsumenten nach seinen Peanuts-Master-Cards anging.
Victor Litschenkews Barreserven versetzten ihn in die Lage, einen fünfhundert Mann starken «Polizeitrupp» zu bewaffnen und im Oktober den Kernreaktor vom Typ Tschernobyl in Ignalina, 120 Kilometer nordöstlich von Vilnius, der drei Viertel des Landes mit Elektrizität versorgte, in einem dreisten Manöver umstellen zu lassen. Die Belagerung brachte Litschenkew, der den landesweit größten Versorgungsbetrieb kaufen wollte, in eine ausgezeichnete Verhandlungsposition gegenüber dem Noch-Eigentümer, einem rivalisierenden Oligarchen, der den Reaktor in der Zeit der großen Privatisierung für einen Pappenstiel erstanden hatte. Von einem Tag auf den anderen konnte Litschenkew jeden einzelnen Litas, der über jeden einzelnen Stromzähler im Land hereinkam, für sich verbuchen; doch aus Angst, dass seine russische Herkunft nationalistische Feindseligkeiten heraufbeschwören könnte, achtete er darauf, seine neue Machtstellung nicht zu missbrauchen. Als Geste des guten Willens senkte er die Strompreise um just jene fünfzehn Prozent, die sein Vorgänger draufgeschlagen hatte. Auf der Welle seiner Popularität schwimmend, gründete er eine neue politische Partei (die «Volksstrom-Partei») und stellte eine Kandidatenliste für die Mitte Dezember geplanten Parlamentswahlen auf.
Und immer noch produzierte das Land, immer noch rollte der Litas. Im Lietuva- und im Vingis-Kino lief ein Messerstecher-Streifen mit dem Titel Moody Fruit an. In der Fernsehsendung Friends kamen litauische Witze über Jennifer Anistons Lippen. Angestellte der Stadtreinigung leerten betonverkleidete Müllbehälter auf dem Vorplatz von St. Katharinen aus. Jeder Tag allerdings war dunkler und kürzer als der davor.
Auf der Weltbühne hatte Litauen seit dem Tod von Großfürst Witold im Jahre 1430 eine immer unbedeutendere Rolle gespielt. Sechshundertjahrelang war das Land zwischen Polen, Preußen und Russland herumgereicht worden wie ein häufig recyceltes Hochzeitsgeschenk (der lederbemantelte Eiskübel; das Salatbesteck). Zwar hatten Landessprache und Erinnerungen an bessere Zeiten überlebt, doch entscheidend für Litauen war und blieb, dass es nicht groß war. Im zwanzigsten Jahrhundert hatten die Gestapo und die SS 200.000 litauische Juden liquidieren und die Sowjets weitere 250 000 Litauer nach Sibirien deportieren können, ohne übermäßige internationale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Gitanas Misevicius stammte aus einer Familie von Priestern und Soldaten und Beamten aus dem Grenzgebiet zu Weißrussland. Sein Großvater väterlicherseits, der in seiner Heimatstadt als Richter gearbeitet hatte, war 1940 bei einer Frage-und-Antwort-Stunde der neuen kommunistischen Regierung durchgefallen und, zusammen mit seiner Frau, in den Gulag geschickt worden; seitdem hatte man nie wieder von ihm gehört. Gitanas' Vater betrieb eine Kneipe in Vidiskes und hatte die Widerstandsbewegung der Partisanen (die so genannten Waldbrüder) mit Rat und Tat unterstützt, bis die Feindseligkeiten 1953 endeten.
Ein Jahr nach Gitanas' Geburt wurden Vidiskes und acht weitere umliegende Ortschaften von der Marionettenregierung evakuiert, um den Weg für das erste von zwei Atomkraftwerken frei zu machen. Den fünfzehntausend Menschen, die auf diese Weise («aus Sicherheitsgründen») zwangsumgesiedelt wurden, bot man Unterkünfte in einer brandneuen, hochmodernen Kleinstadt an, Kruschtschewai, die hastig im Seengebiet westlich von Ignalina erbaut worden war.
«Bisschen trostlos, alles aus Schlackenstein, nirgends Bäume», erzählte Gitanas Chip. «Die neue Kneipe meines Vaters hatte einen Schlackensteintresen, Sitzecken aus Schlackenstein, Schlackensteinregale. Die sozialistische Planwirtschaft in Weißrussland hatte zu viel Schlackenstein produziert und gab ihn jetzt zu Schleuderpreisen an uns ab. So hieß es jedenfalls. Na schön, wir ziehen da also alle hin. Wir hatten unsere Schlackensteinbetten und unseren Spielplatz mit Schlackensteingeräten und unsere Parkbänke aus Schlackenstein. Die Jahre vergehen, ich bin zehn, und plötzlich haben alle Mütter oder Väter Lungenkrebs. Ich meine, alle. Tja, und dann hat auch mein Vater einen Lungentumor, und schließlich kommen die Verantwortlichen und schauen sich Kruschtschewai an, und siehe da: Wir haben ein Radonproblem. Ein ernsthaftes Radonproblem. Ein richtig beschissenes Radonproblem, um ehrlich zu sein. Es stellt sich nämlich raus, dass diese Schlackensteine leicht radioaktiv sind! Und in jedem geschlossenen Raum in Kruschtschewai sammelt sich Radon. Vor allem in stickigen Räumen, in denen der Besitzer sich den ganzen Tag aufhält und Zigaretten raucht. Wie mein Vater in seiner Kneipe. Tja, Weißrussland, unsere sozialistische Schwesterrepublik (die, nebenbei bemerkt, früher zu Litauen gehörte), Weißrussland sagt, tut uns wirklich Leid. Da muss irgendwie Pechblende in den Schlackenstein geraten sein, sagt Weißrussland. Großes Versehen. Tut uns Leid, tut uns Leid, tut uns Leid. Also ziehen wir alle aus Kruschtschewai fort, und mein Vater stirbt, ganz grauenvoll, kurz nach Mitternacht, zehn Minuten nachdem sein Hochzeitstag vorbei ist, weil er nicht möchte, dass meine Mutter sich an ihrem Hochzeitstag jedes
Mal an seinen Tod erinnert, und dann gehen dreißig Jahre ins Land, und Gorbatschow tritt ab, und endlich können wir Einsicht in die alten Archive nehmen, und was soll ich sagen? Es gab gar keine Schlackensteinschwemme. Es gab gar kein heilloses Durcheinander im Fünfjahresplan. Schwach radioaktiven Atommüll als Baumaterial wieder zu verwerten war vielmehr eine wohl überlegte Taktik. Weil man davon ausging, dass der Zement im Schlackenstein die Radioisotopen unschädlich macht! Aber die Weißrussen hatten Geigerzähler, und das war das Ende des schönen Traums von der Unschädlichkeit, und so landeten tausend Zugladungen Schlackenstein bei uns, die wir keinen Grund hatten anzunehmen, dass irgendwas faul war.»
«Autsch», sagte Chip.
«Das ist jenseits von autsch», sagte Gitanas. «Es hat meinen Vater umgebracht, als ich elf war. Und den Vater meines besten Freundes. Und über die Jahre hinweg Hunderte anderer. Und alles passte ins Konzept. Immer war da ein Feind mit einer großen roten Zielscheibe auf dem Rücken. Der böse Papa UdSSR, den wir alle hassen konnten. Bis die neunziger Jahre kamen.»
Das Parteiprogramm der VIPPPAKJRIINPB17, die Gitanas nach der Unabhängigkeitserklärung gründen half, ruhte auf einem breiten, tragenden Fundament: Die Sowjets sollten für die Vergewaltigung Litauens büßen. Eine Zeit lang war es möglich, das Land nur auf der Basis von Hass zu regieren. Doch schon bald tauchten andere Parteien auf, die den Revanchismus ebenfalls berücksichtigten, zugleich aber darüber hinausweisen wollten. Als die VIPPPAKJRIINPB17 Ende der neunziger Jahre ihren letzten Sitz im Seimas verlor, war alles, was von der Partei überdauert hatte, ihre halb renovierte Villa.
Gitanas versuchte sich einen Reim auf das Weltgeschehen zu machen, doch vergebens. Als die Rote Armee ihn unrechtmäßig gefangen gehalten und ihm Fragen gestellt hatte, die zu beantworten er sich weigerte, und nach und nach seine linke Körperhälfte mit Verbrennungen dritten Grades überzogen worden war, da hatte er die Welt noch verstanden. Seit der Unabhängigkeit aber ergab die Politik in seinen Augen keinen Sinn mehr. Selbst ein so simples und lebenswichtiges Thema wie die sowjetischen Wiedergutmachungsleistungen an Litauen war verhext, weil die Litauer sich während des Zweiten Weltkriegs an der Judenverfolgung beteiligt hatten und weil viele, die jetzt im Kreml saßen, früher antisowjetische Patrioten gewesen waren, die ein beinahe ebenso großes Recht auf Wiedergutmachung hatten wie die Litauer.
«Was mache ich jetzt», fragte Gitanas Chip, «wo der Aggressor keine Armee mehr ist, sondern ein System und eine Kultur? Das Beste, was ich mir heute für mein Land erhoffen kann, ist, dass es eines Tages wie ein zweitklassiges westliches Land aussieht. Wie ein Allerweltsland also.»
«Wie Dänemark mit seinen reizvollen Hafenbistros und Hafenboutiquen», sagte Chip.
«Solange wir auf die Sowjets zeigen und sagen konnten: Nein, so wie die sind wir nicht, haben wir uns litauisch gefühlt. Aber wenn ich sage: Nein, wir haben keine freie Marktwirtschaft, die Globalisierung betrifft uns nicht, fühle ich mich doch deswegen nicht litauisch. Da komme ich mir eher bescheuert und steinzeitlich vor. Wie kann ich jetzt ein Patriot sein? Für welche positive Sache stehe ich? Wie definiert sich mein Land positiv?»
Gitanas residierte weiter in der halb verfallenen Villa. Die Suite des Adjutanten bot er seiner Mutter an, aber sie zog es vor, am Stadtrand von Ignalina wohnen zu bleiben. So, wie es von allen litauischen Funktionären der damaligen Zeit, vor allem von Revanchisten wie ihm, erwartet wurde, erwarb er einen Anteil ehemals kommunistischen Eigentums — eine zwanzigprozentige Beteiligung an Sucrosas, der Rübenzuckerraffinerie, die Litauens zweitgrößter Arbeitgeber mit nur einem Standort war — und lebte als pensionierter Patriot ziemlich komfortabel von den Dividenden.
Eine ganze Weile sah Gitanas, wie später Chip, einen Rettungsschimmer in der Person Julia Vrais' aufblitzen: in ihrer Schönheit, in der typisch amerikanischen Unbekümmertheit, mit der sie ihr Glück auf dem Weg des geringsten Widerstands suchte. Dann ließ Julia ihn in einem Flugzeug, das nach Berlin fliegen sollte, sitzen. Das war das jüngste Täuschungsmanöver in einem Leben, das ihm immer mehr wie eine einzige Aneinanderreihung von Täuschungsmanövern vorkam. Die Sowjets hatten ihn reingelegt, die litauischen Wähler hatten ihn reingelegt, Julia hatte ihn reingelegt. Am Ende legten ihn auch noch der IWF und die Weltbank rein, und vierzig Jahre Bitterkeit mündeten in den Scherz mit der Litauen AG.
Chip die Geschäfte der Parteigesellschaft Freier Markt zu übertragen war die erste gute Entscheidung, die er seit Langem getroffen hatte. Gitanas war nach New York geflogen, um sich einen Scheidungsanwalt zu suchen und, mit etwas Glück, einen billigen, nach Möglichkeit mittelalten und erfolglosen amerikanischen Schauspieler zu engagieren, der ihn nach Vilnius begleiten und allen, die bei der Litauen AG anrufen oder ihre Homepage besuchen würden, Vertrauen einflößen sollte. Warum ein so junger und talentierter Mann wie Chip sich bereitfand, für ihn zu arbeiten, war ihm ein Rätsel. Dass Chip mit seiner Frau geschlafen hatte, bestürzte ihn nur vorübergehend. Nach Gitanas' Erfahrung täuschte ihn über kurz oder lang ja ohnehin jeder. Er wusste es zu schätzen, dass Chip sein Täuschungsmanöver schon beendet hatte, bevor sie sich überhaupt begegnet waren.
Was Chip anging, so wurde sein Minderwertigkeitsgefühl als «armseliger Amerikaner» in Vilnius, der weder Russisch noch Litauisch sprach und dessen Vater nicht in den besten Jahren an Lungenkrebs gestorben war und dessen Großeltern nicht in Sibirien verschollen waren und den man noch nie seiner Ideale wegen in einer ungeheizten Zelle eines Militärgefängnisses gefoltert hatte, durch seinen Status als fähiger Mitarbeiter und durch die Erinnerung an einige äußerst schmeichelhafte Vergleiche aufgewogen, die Julia wiederholt zwischen ihm und Gitanas gezogen hatte. In den Kneipen und Clubs, in denen sich die beiden Männer oft gar nicht mehr die Mühe machten, die Frage, ob sie Brüder seien, mit Nein zu beantworten, hatte Chip den Eindruck, der Erfolgreichere von ihnen beiden, das sei er.
«Als stellvertretender Premierminister war ich ziemlich gut», sagte Gitanas trübsinnig. «Aber ein sonderlich guter krimineller Kriegsherr bin ich nicht.»
Kriegsherr war in der Tat eine etwas glorifizierende Bezeichnung für das, was Gitanas trieb. Es gab erste Anzeichen, die auf ein Scheitern hindeuteten und Chip nur allzu vertraut waren. Jede Minute, die er handelte, kostete ihn eine Stunde Gegrübel. Investoren aus aller Welt schickten ihm stattliche Summen, die er jeden Freitagnachmittag auf sein Konto bei der Credit Suisse einzahlte, doch er konnte sich nicht entscheiden, was er tun sollte; das Geld «ehrlich» verwenden (d. h. für die Parteigesellschaft Freier Markt Sitze im Parlament kaufen) oder schamlos Betrug begehen und seine unrechtmäßig erworbene harte Währung in noch illegitimere Geschäfte stecken. Eine Zeit lang tat er, wenn man so wollte, beides und nichts von beidem. Schließlich überzeugten ihn seine Markt-Recherchen (die darin bestanden, in der Kneipe betrunkene Ausländer zu befragen), dass im gegenwärtigen wirtschaftlichen Klima selbst ein Bolschewist bessere Chancen hatte, Wählerstimmen zu gewinnen, als eine Partei, die die Worte «Freier Markt» im Namen führte.
Als er auch den letzte Gedanken, sauber zu bleiben, aufgegeben hatte, stellte er Leibwächter ein. Schon bald fragte Victor Litschenkew seine Spione: Warum glaubt dieser gewesene Patriot Misevicius, dass er Schutz braucht? Als unbewachter gewesener Patriot hatte Gitanas lange nicht so viel zu befürchten gehabt wie jetzt, wo er zehn stramme Kalaschnikow-Jungs befehligte. Er war gezwungen, noch mehr Leibwächter einzustellen, und Chips Angst, erschossen zu werden, war so groß, dass er das Quartier nicht mehr ohne Begleitschutz verließ.
«Ihnen kann gar nichts passieren», versicherte ihm Gitanas. «Schon möglich, dass Litschenkew mich töten und die Firma übernehmen will. Aber Sie sind die Gans mit den goldenen Eierstöcken.»
Dennoch, wann immer Chip in der Öffentlichkeit herumlief, prickelte es ihm im Nacken, so verwundbar fühlte er sich. Am Abend des amerikanischen Thanksgiving wurde er Zeuge, wie zwei von Litschenkews Männern sich in einem Club mit dem Namen Musmiryte einen Weg durch die Menge bahnten, die sich auf dem klebrigen Fußboden drängte, und einem rothaarigen «Wein- und Spirituosenimporteur» sechs Löcher in den Bauch schossen. Dass Litschenkews Männer an Chip vorbeimarschiert waren, ohne ihm etwas anzutun, mochte zwar als Beweis für Gitanas' Behauptung durchgehen. Doch so, wie der «Wein- und Spirituosenimporteur» dalag, sah Chip außerdem, dass ein Körper, im Vergleich zu MP-Kugeln, genauso weich war, wie er immer befürchtet hatte. Enorme elektrische Ladungen fluteten die Nerven des sterbenden Mannes. Heftige Krämpfe, verborgene Vorräte an galvanischer Energie, ungemein quälende elektrochemische Prozesse in seinem Körper hatten offensichtlich sein Leben lang auf diesen Moment gewartet.
Gitanas tauchte eine halbe Stunde später im Musmiryte auf. «Mein Problem ist», sagte er, während er die Blutflecken betrachtete, «dass es mir leichter vorkommt, erschossen zu werden, als selbst zu schießen.»
«Sie machen sich schon wieder kleiner, als Sie sind», sagte Chip.
«Ich bin besser im Einstecken als im Austeilen.» «Im Ernst. Seien Sie nicht so streng mit sich.» «Töten oder getötet werden. Keine einfache Alternative.» Gitanas hatte sehr wohl versucht, selbst der Angreifer zu sein. Als krimineller Kriegsherr hatte er einen schönen Trumpf in der Hand: das Bargeld, das durch die Parteigesellschaft Freier Markt hereingekommen war. Nachdem Litschenkews Trupps den Reaktor in Ignalina umstellt und den Verkauf des litauischen Elektrizitätswerks erzwungen hatten, veräußerte Gitanas seine lukrativen Sucrosas-Anteile, plünderte die Schatzkammern der Parteigesellschaft Freier Markt und sicherte sich eine maßgebliche Beteiligung an der wichtigsten Mobiltelefongesellschaft Litauens. Die Firma, Transbaltikum Mobil, war in der Preisklasse, die für Gitanas in Frage kam, der einzige Anbieter. Er garantierte seinen Leibwächtern monatlich 1000 Freiminuten für Inlandsgespräche inklusive kostenloser Mailbox und Rufnummernanzeige, damit sie die Gespräche auf Litschenkews zahlreichen Transbaltikum-Handys abhörten. Als er auf diese Weise Wind davon bekam, dass Litschenkew kurz davor war, seine gesamten Aktien der Nationalen Gesellschaft für Gerberei- und Viehprodukte abzustoßen, konnte Gitanas seine eigenen Anteile ungedeckt verkaufen. Dieser Schachzug bescherte ihm einen hübschen Reingewinn, war auf lange Sicht aber fatal. Litschenkew, dem irgendjemand gesteckt hatte, dass seine Telefone abgehört wurden, wechselte zu einem sichereren regionalen Anbieter, der von Riga aus operierte. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und griff Gitanas an.
Am Vorabend der Wahlen vom 20. Dezember legte ein «Störfall» in einem elektrischen Umspannwerk die Schaltzentrale der Transbaltikum Mobil sowie sechs ihrer Relaisstationen lahm. Eine Meute zorniger junger Handy-Benutzer aus Vilnius mit rasierten Schädeln und Ziegenbärten versuchte daraufhin, die Büroräume der Transbaltikum Mobil zu stürmen. Deren Geschäftsführung rief über herkömmliche Kupferdrahtleitungen um Hilfe; die zum Tatort eilenden «Polizisten» assistierten der Meute dabei, das Büro auszuräumen und dessen Schätze zu beschlagnahmen, bis drei Wagenladungen «Polizisten» aus dem einzigen Bezirk eintrafen, den Gitanas hatte schmieren können. Nach einer offenen Feldschlacht trat die erste Gruppe von «Polizisten» den Rückzug an, während die verbliebenen «Polizisten» die Meute auseinander trieben.
Die ganze Freitagnacht bis hinein in den Samstagmorgen arbeiteten die Techniker der Telefongesellschaft fieberhaft, um den Generator aus der Breschnew-Ära, der die Schaltzentrale mit Notstrom versorgte, zu reparieren. Die Sammelschiene des Generators war stark verrostet, und als der verantwortliche Mechaniker daran rüttelte, um ihre Festigkeit zu prüfen, brach sie aus ihrer Verankerung. Bei dem Versuch, sie im Licht von Kerzen und Taschenlampen wieder anzubringen, brannte der Mechaniker mit seiner Lötlampe ein Loch in die Hauptinduktionsspule, und da es, wegen der politischen Instabilität im Vorfeld der Wahlen, in ganz Vilnius keine anderen gasgetriebenen Wechselstromgeneratoren zu kaufen gab (und erst recht keine altmodischen Dreiphasengeneratoren, auf die man die Schaltzentrale umgerüstet hatte, bloß weil ein solcher Dreiphasengenerator aus der Breschnew-Ära damals billig zu haben gewesen war) und polnische und finnische Lieferfirmen sich, wegen nämlicher politischer Instabilität, inzwischen sträubten, irgendetwas nach Litauen zu verschiffen, ohne im Voraus harte westliche Währung dafür zu sehen, fiel das ganze Land, dessen Bürger, wie etliche ihrer westlichen Zeitgenossen, im Zuge der Verbilligung und immer universaleren Nutzung des Handys ihre Kupferdrahttelefone kurzerhand abgemeldet hatten, in puncto Kommunikation auf den Stand des neunzehnten Jahrhunderts zurück: Es herrschte tiefes Schweigen.
An einem sehr trüben Sonntagmorgen erhoben Litschenkew und seine aus Schmugglern und Killern bestehende
Kandidatentruppe der Volksstrom-Partei Anspruch auf 38 der 141 Sitze im Seimas. Doch der litauische Präsident, Audrius Vitkunas, ein charismatischer und paranoider Erznationalist, der Russland und den Westen gleichermaßen leidenschaftlich hasste, weigerte sich, die Wahlergebnisse für gültig zu erklären.
«Der tollwütige Litschenkew und seine schaummäuligen Höllenhunde machen mir keine Angst!», rief Vitkunas in einer Fernsehansprache am Sonntagabend. «Örtlicher Stromausfall, ein fast totaler Zusammenbruch des Telekommunikationssystems der Hauptstadt und ihres Umlands sowie die Präsenz schwer bewaffneter, aus Litschenkews bezahlten, schaummäuligen, speichelleckerischen Höllenhunden bestehender ‹Einsatztruppen› können mich nicht überzeugen, dass die gestrige Wahl den ureigenen Willen und kerngesunden Menschenverstand des großartigen und glorreichen, unsterblichen litauischen Volks widerspiegelt! Unter keinen Umständen werde, kann, darf und sollte ich diese dreckbesudelten, madenzerfressenen, tertiärsyphilitischen Ergebnisse der nationalen Parlamentswahlen für gültig erklären!»
Gitanas und Chip schauten sich diesen Auftritt im ehemaligen Ballsaal der Villa im Fernsehen an. Zwei Leibwächter saßen in einer Ecke des Raums am Computer und spielten leise Dungeonmaster, während Gitanas für Chip die prächtigeren Perlen der Vitkunas'schen Rhetorik übersetzte. In den Flügelfenstern war das torfige Licht des kürzesten Tags tiefer Dunkelheit gewichen.
«Ich hab bei der Sache ein ungutes Gefühl», sagte Gitanas. «Ich glaube, Litschenkew will Vitkunas über den Haufen schießen und dann sein Glück mit dem Nachfolger versuchen, wer immer das ist.»
Chip, der sich größte Mühe gab zu vergessen, dass in vier Tagen Weihnachten war, wollte nicht unbedingt in Vilnius bleiben, nur um eine Woche nach den Feiertagen fortgejagt zu werden. Er fragte Gitanas, ob er schon daran gedacht habe, das
Credit-Suisse-Konto aufzulösen und das Land zu verlassen.
«O ja, natürlich.» Gitanas trug seine rote Motocross-Jacke und schlang sich die Arme um den Körper. «Jeden Tag träume ich davon, bei Bloomingdale's einkaufen zu gehen. Jeden Tag denke ich an den großen Baum vorm Rockefeller Center.»
«Was hält Sie dann noch hier?»
Gitanas kratzte sich am Kopf und roch an seinen Fingernägeln, das Kopfhautaroma mit den Hautfettgerüchen seiner Nasenpartie mischend; offensichtlich fand er Trost im Talg. «Wenn ich abhaue», sagte er, «und der Sturm sich legt, wo stehe ich dann? Ich bin doch dreifach angeschmiert. In Amerika kann mich keiner einstellen. Ab nächstem Monat bin ich nicht mehr mit einer Amerikanerin verheiratet. Und meine Mutter lebt in Ignalina. Was soll ich in New York?»
«Wir könnten in New York weitermachen.»
«Da gibt's Gesetze. Die würden uns innerhalb einer Woche den Hahn zudrehen. Ich bin dreifach angeschmiert.»
Gegen Mitternacht ging Chip nach oben und schob sich zwischen seine dünnen, kalten Ostblocklaken. In seinem Zimmer hing der Geruch von feuchtem Mörtel, Zigaretten und intensiven synthetischen Shampooduftnoten, wie sie der baltischen Nase schmeichelten. Seine Gedanken nahmen ihr eigenes Schwirren wahr. Es gelang ihm nicht, in den Schlaf zu sinken, er zuckte immer wieder hoch wie ein übers Wasser hüpfender Stein. Mehrfach hielt er das Licht, das von der Straße durch sein Fenster fiel, für Tageslicht. Er ging hinunter und stellte fest, dass es schon später Nachmittag war, Heiligabend; da ergriff ihn die panische Angst eines Menschen, der verschlafen hatte, die Angst, ins Hintertreffen geraten zu sein, ein Informationsdefizit zu haben. Seine Mutter bereitete in der Küche das Weihnachtsabendessen zu. Sein Vater, jugendlich in Lederjacke, saß im dämmrigen Ballsaal und schaute die CBS-Abendnachrichten mit Dan Rather. Höflichkeitshalber fragte Chip ihn, was es für Neuigkeiten gebe.
«Sag Chip», antwortete Alfred, der ihn nicht erkannte, «dass da im Osten Unruhen sind.»
Das wirkliche Tageslicht kam um acht. Geschrei auf der Straße weckte ihn. Sein Zimmer war ausgekühlt, aber nicht eisig; der Heizstrahler roch nach warmem Staub — der zentrale Heißwasserspeicher der Stadt funktionierte, die gesellschaftliche Ordnung war noch intakt.
Durch die Zweige der Fichten vor seinem Fenster sah er, dass sich hinter dem Zaun mehrere Dutzend Männer und Frauen in unförmigen Mänteln zu einer Menge zusammengerottet hatten.
Eine feine Schicht Schnee war in der Nacht gefallen. Zwei von Gitanas' Sicherheitsleuten, die Brüder Jonas und Aidaris — große blonde Kerle mit halb automatischen Gewehren über der Schulter — , verhandelten durch die Stäbe des vorderen Gittertors mit zwei mittelalten Frauen, deren messingfarbenes Haar und rote Gesichter, wie die Wärme des Heizstrahlers, Zeugnis vom Fortgang des alltäglichen Lebens gaben.
Unten hallte der Ballsaal von emphatischen litauischen Fernsehansprachen wider. Gitanas saß an derselben Stelle, wo Chip ihn am vergangenen Abend zurückgelassen hatte, trug jedoch andere Kleider und schien geschlafen zu haben.
Das graue Morgenlicht, der Schnee auf den Bäumen und das gewisse Vorgefühl von Chaos und Auflösung erinnerten an das Ende eines Herbstsemesters, den letzten Prüfungstag vor den Weihnachtsferien. Chip ging in die Küche und goss Vitasoy-Delite-Vanillesojamilch auf eine Schüssel «Barbaras unbehandelte leicht bekömmliche Vollwertflocken». Er trank ein wenig von dem dickflüssigen deutschen Bio-Schwarzkirschsaft, den er kürzlich für sich entdeckt hatte. Dann kochte er zwei Becher Instantkaffee und nahm sie mit in den Ballsaal, wo Gitanas inzwischen den Fernseher ausgeschaltet hatte und wieder an seinen Fingernägeln schnüffelte.
Chip fragte ihn, was es für Neuigkeiten gebe.
«Alle meine Leibwächter außer Jonas und Aidaris sind abgehauen», sagte Gitanas. «Mit dem VW und dem Lada. Ich glaube kaum, dass sie zurückkommen.»
«Wer braucht schon Angreifer, wenn er solche Beschützer hat?», sagte Chip.
«Sie haben uns den Stomper hier gelassen; der zieht Verbrechen geradezu magnetisch an.»
«Wann war das?»
«Ich vermute, gleich nachdem Präsident Vitkunas die Armee in Alarmbereitschaft versetzt hatte.»
Chip lachte. «Und wann war das?»
«Heute Morgen. In der Stadt läuft offenbar noch alles normal — mit Ausnahme von Transbaltikum Mobil natürlich», sagte Gitanas.
Die Menge auf der Straße war angewachsen. Vielleicht hundert Leute standen jetzt vor dem Haus und hielten allesamt ihre Handys hoch, aus denen ein schauriger, engelhafter Gesang ertönte. Es war der ZUR ZEIT AUSSER BETRIEB-Refrain.
«Ich möchte, dass Sie nach New York zurückkehren», sagte Gitanas. «Was hier passiert, werden wir sehen. Vielleicht komme ich nach, vielleicht auch nicht. Über Weihnachten muss ich erst mal zu meiner Mutter. Hier ist Ihre Abfindung.»
Er warf Chip einen dicken braunen Umschlag zu, und im selben Moment hallten die Außenwände der Villa von vielfachen dumpfen Schlägen wider. Chip ließ den Umschlag fallen. Ein Stein krachte durch eines der Fenster, prallte einmal vom Boden ab und blieb neben dem Fernseher liegen. Der Stein war vierkantig: die abgebrochene Ecke eines Granitpflastersteins. Er war mit frischer Feindseligkeit überzogen und sah leicht verlegen aus.
Gitanas rief über die Kupferdrahtleitung bei der «Polizei» an und meldete erschöpft, was passiert war. Die Brüder Jonas und Aidaris, Finger am Abzug, kamen durch die Eingangstür, kalte Luft mit einem fichtigen Jularoma hereinbringend. Die Brüder waren Gitanas' Vettern; das erklärte vermutlich, warum sie nicht mit den anderen desertiert waren. Gitanas legte auf und besprach sich mit ihnen auf Litauisch.
Der braune Umschlag enthielt ein sattes Bündel Fünzig- und Hundertdollarscheine.
Chips banges Traumgefühl, er könne zu spät bemerkt haben, dass Weihnachten war, hielt auch bei Tageslicht vor. Keiner der jungen Webheads war heute zur Arbeit erschienen, und gerade hatte er von Gitanas etwas geschenkt bekommen, und Schnee klebte an Fichtenzweigen, und Weihnachtssänger in unförmigen Mänteln standen vor dem Tor…
«Packen Sie Ihre Sachen», sagte Gitanas. «Jonas fährt Sie zum Flughafen.»
Mit leerem Kopf und leerem Herzen ging Chip nach oben. Auf der Veranda vor dem Haus hörte er Schüsse, das Tingeling fallender Patronenhülsen, Jonas und Aidaris, die (hoffte er) in den Himmel zielten. Kling, Glöckchen, kling.
Er zog seine Lederhose und Lederjacke an. Das Packen seiner Sachen verband ihn mit dem Moment des Auspackens Anfang Oktober, eine Zeitschleife wurde vollendet und eine Zugschnur festgezurrt, die die dazwischen liegenden zwölf Wochen verschwinden ließ. Da stand er nun wieder und packte.
Gitanas, den Blick auf die Nachrichten geheftet, roch an seinen Fingern, als Chip in den Ballsaal zurückkam. Auf dem Fernsehbildschirm bewegte sich Victor Litschenkews Schnurrbart rauf und runter.
«Was sagt er da?»
Gitanas zuckte die Achseln. «Dass Vitkunas der Situation geistig nicht gewachsen sei und so weiter. Dass Vitkunas einen Putsch inszeniere, um die rechtmäßige Entscheidung des litauischen Volkes aufzuheben und so weiter.»
«Sie sollten mit mir kommen», sagte Chip.
«Erst muss ich zu meiner Mutter», sagte Gitanas. «Ich ruf Sie nächste Woche an.»
Chip schloss seinen Freund in die Arme und drückte ihn an sich. Er konnte das Kopfhautfett riechen, das Gitanas in seiner Aufregung geschnüffelt hatte. Ihm war, als umarme er sich selbst, als spüre er seine eigenen Primatenschulterblätter, das Kratzen seines eigenen Wollpullovers. Er spürte auch die Schwermut seines Freundes — wie nicht anwesend, wie abgelenkt oder verschlossen er war — und fühlte sich sofort genauso verloren.
Draußen auf dem Kiesweg vor der Haustür hupte Jonas.
«Wir sehen uns in New York», sagte Chip.
«Gut, vielleicht.» Gitanas machte sich los und ging wieder zum Fernseher.
Als Jonas und Chip durch das geöffnete Tor brausten, wurde der Stomper von den wenigen Demonstranten, die noch übrig geblieben waren, mit Steinen beworfen. Sie fuhren aus dem Stadtzentrum hinaus Richtung Süden, vorbei an abweisenden Tankstellen und braunwandigen, verkehrsnarbigen Gebäuden, die an Tagen wie diesem, wenn das Wetter rau und das Licht karg war, umso glücklicher und authentischer wirkten. Jonas konnte nur wenig Englisch, schaffte es aber, sich Chip gegenüber tolerant, vielleicht sogar freundlich zu geben, während er immer wieder in den Rückspiegel sah. Verkehr herrschte an diesem Morgen kaum, und große Geländewagen, die Arbeitspferde der Kriegsherrenkaste, erregten, in Zeiten politischer Instabilität, ein ungesundes Maß an Aufmerksamkeit.
Der kleine Flughafen war von jungen Leuten belagert, die in den Sprachen des Westens durcheinander redeten. Seit der Quad Cities Fund die Lietuvos Avialinijos aufgelöst hatte, waren einige der Strecken von anderen Fluggesellschaften übernommen worden, doch der eingeschränkte Flugplan (vierzehn Flüge am Tag in die Hauptstädte Europas) war nicht darauf ausgelegt, mit einem solchen Passagieraufkommen fertig zu werden. Hunderte von britischen, deutschen und amerikanischen Studenten und Geschäftsleuten, darunter viele Gesichter, die Chip von seinen Zechtouren mit Gitanas her kannte, drängelten sich an den Ticketschaltern von Finnair, Lufthansa, Aeroflot und der polnischen LOT.
Tapfere Stadtbusse karrten immer neue Ladungen ausländischer Bürger heran. Soweit Chip erkennen konnte, bewegte sich keine der Schlangen an den Schaltern auch nur einen Millimeter vorwärts. Er studierte die Abflugtafel und entschied sich für die Gesellschaft mit der höchsten Flugfrequenz: Finnair.
Am Ende der sehr langen Finnair-Schlange standen zwei amerikanische Studentinnen mit Schlaghosen und anderen Sechziger-Jahre-Revival-Kleidungsstücken. Sie hießen Tiffany und Cheryl, wenn er ihren Gepäckaufklebern Glauben schenken durfte.
«Habt ihr Tickets?», fragte Chip.
«Für morgen», sagte Tiffany. «Aber hier sieht's ja irgendwie übel aus, also.»
«Bewegt sich die Schlange vorwärts?» «Weiß ich nicht. Wir sind erst seit zehn Minuten hier.» «Sie hat sich seit zehn Minuten nicht vorwärts bewegt?» «Da vorn am Schalter sitzt bloß eine einzige Figur», sagte Tiffany. «Aber nicht, dass es hier irgendwo 'n anderen, besseren Finnair-Schalter gäbe oder so.»
Chip war verwirrt und musste sich beherrschen, nicht ein Taxi zu rufen und zu Gitanas zurückzufahren.
Cheryl sagte zu Tiffany: «Mein Dad also zu mir, du musst untervermieten, wenn du nach Europa willst, und ich zu ihm, ich hab Anna aber versprochen, dass sie an den Heimspielwochenenden bei mir wohnen kann, um mit Jason zu schlafen, okay? Das kann ich ja wohl schlecht wieder zurücknehmen — oder? Und da wird mein Dad auf einmal so oberpedantisch, und ich dann, hallo, das ist meine Wohnung, ja? Du hast sie für mich gekauft, oder? Und ich soll da irgend so 'nen Fremden reinlassen, verstehst du — irgend so 'nen Typen, der was auf meinem Herd brutzelt und in meinem Bett schläft?» Tiffany sagte: «Das ist ja so was von herbe.» Cheryl sagte: «Und mein Kopfkissen benutzt?» Zwei weitere Nichtlitauer, ein belgisches Paar, stellten sich hinter Chip an. Allein die Tatsache, nicht mehr der Letzte in der Schlange zu sein, brachte schon ein wenig Erleichterung. Auf Französisch bat Chip die Belgier, auf seine Tasche aufzupassen und seinen Platz für ihn zu halten. Er ging in die Herrentoilette, schloss sich in einer Kabine ein und zählte das Geld, das Gitanas ihm gegeben hatte. Es waren 29250 Dollar.
Das verstörte ihn irgendwie. Machte ihm Angst. Eine Lautsprecherstimme in der Toilette sagte, zuerst auf Litauisch, dann auf Russisch, dann auf Englisch, dass der LOT-Flug Nummer 331 aus Warschau gestrichen worden sei.
Chip steckte zwanzig Hunderter in seine T-Shirt-Tasche, zwanzig Hunderter in seinen linken Stiefel und schob den Rest des Geldes wieder in den Umschlag, den er unter seinem T-Shirt, direkt am Bauch, verbarg. Er wünschte, Gitanas hätte ihm das Geld nicht gegeben. Ohne das Geld hätte er einen guten Grund gehabt, in Vilnius zu bleiben. Jetzt, wo es dazu keinen guten Grund mehr gab, trat eine einfache, im Lauf der letzten zwölf Wochen schön verhüllte Tatsache in der fäkalen, urinösen Toilettenkabine splitternackt zutage: die einfache Tatsache, dass er Angst hatte, nach Hause zu fahren.
Kein Mensch sieht gern seiner eigenen Feigheit ins Auge, Chip war wütend auf das Geld, wütend auf Gitanas, der es ihm gegeben hatte, und wütend auf Litauen, das in die Knie ging, doch die Tatsache, dass er Angst hatte, nach Hause zu fahren, blieb bestehen, und außer ihm selbst war niemand daran schuld.
Er nahm seinen Platz in der Finnair-Schlange, die sich noch immer keinen Zentimeter bewegt hatte, wieder ein. Lautsprecher verkündeten, Flug Nummer 1048 aus Helsinki sei gestrichen worden. Ein allgemeines Stöhnen erhob sich, und Körper schoben sich weiter, sodass die Spitze der Schlange am Schalter stumpf wie ein Delta wurde.
Cheryl und Tiffany beförderten ihre Taschen mit Fußtritten vorwärts. Chip beförderte seine Tasche mit Fußtritten vorwärts. Er fühlte sich der Welt zurückgegeben, und das behagte ihm nicht. Eine Art Krankenhauslicht, ein Licht voller Ernst und Unausweichlichkeit, fiel auf die Mädchen und das Gepäck und das uniformierte Finnair-Personal. Nirgendwo konnte Chip sich verstecken. Alle, die in seiner Nähe standen, lasen Romane. Er selbst hatte seit mindestens einem Jahr keinen Roman mehr gelesen. Der Gedanke ängstigte ihn beinahe genauso wie der Gedanke an Weihnachten in St. Jude. Am liebsten wäre er hinausgegangen, um sich ein Taxi herbeizuwinken, doch er vermutete, dass Gitanas bereits aus der Stadt geflohen war.
Er stand im harten Licht, bis es 14.00 Uhr und dann 14.30 Uhr war — früher Morgen in St. Jude. Während die Belgier erneut auf seine Tasche aufpassten, stellte er sich ans Ende einer anderen Schlange, um ein Ferngespräch zu führen.
Enids Stimme war undeutlich und klein. «Hallo?»
«Hi, Mom, ich bin's.»
Augenblicklich verdreifachten sich Höhe und Lautstärke ihrer Stimme. «Chip? Oh, Chip! Al, es ist Chip! Es ist Chip! Chip, wo bist du?»
«Ich bin am Flughafen von Vilnius. Ich bin auf dem Weg nach Hause.»
«Oh, wie herrlich! Wie herrlich! Wie herrlich! Wann kommst du hier an?»
«Ich habe noch kein Ticket», sagte er. «Hier geht im Moment alles Drunter und Drüber. Aber irgendwann morgen Nachmittag.
Spätestens Mittwoch.»
«Herrlich!»
Auf die Freude in der Stimme seiner Mutter war er nicht ge-fasst gewesen. Falls er jemals gewusst hatte, dass er einem anderen Menschen Freude bereiten konnte, hatte er es längst vergessen. Er bemühte sich, seine Stimme unter Kontrolle und die Anzahl seiner Wörter gering zu halten. Er sagte, er werde wieder anrufen, sobald er an einem besseren Flughafen sei.
«Das sind ja herrliche Nachrichten», sagte Enid. «Ich bin ja so froh!»
«Gut, also dann, bis bald.»
Schon bahnte sich von Norden her die gewaltige baltische Winternacht ihren Weg. Veteranen von der Spitze der Finnair-Schlange berichteten, alle Maschinen an diesem Tag seien ausgebucht und mindestens eine davon werde wahrscheinlich noch gestrichen, doch Chip hoffte, er brauche nur ein paar Hunderter zu zücken, um sich jene «Ellbogen-Vorrechte» zu sichern, die er auf Lithuania.com verspottet hatte. Und falls das misslang, wollte er jemandem für viel Bargeld ein Ticket abkaufen.
Cheryl sagte: «O Gott, Tiffany, vom Laufband kriegt man ja einen so totalen Muskelhintern!»
Tiffany sagte: «Nur wenn man ihn rausstreckt, sag ich mal.»
Cheryl sagte: «Alle strecken ihn raus. Das geht gar nicht anders. Die Beine werden so müde.»
Tiffany sagte: «Maann! Das ist ein Laufband! Die Beine sollen müde werden!»
Cheryl schaute aus dem Fenster, und ihr studentischer Hochmut schwand hörbar, als sie fragte: «Entschuldigt mal, warum steht da ein Panzer mitten auf dem Rollfeld?»
Eine Minute später gingen die Lichter aus, und die Telefonleitungen waren tot.