JE MEHR ER DARÜBER NACHDACHTE, DESTO WÜTENDER WURDE ER

GARY LAMBERTS profitable Liaison mit der Axon Corporation hatte drei Wochen früher begonnen, an einem Sonntagnachmittag, den er in seiner neuen Farbdunkelkammer verbrachte, aufrichtig bemüht, Vergnügen am Abziehen zweier alter Fotografien seiner Eltern zu finden und, indem er tatsächlich Vergnügen daran fand, fürs Erste nicht mehr an seiner geistigen Gesundheit zu zweifeln.

Gary sorgte sich viel um seine geistige Gesundheit, doch als er am besagten Nachmittag aus seinem großen schiefergedeckten Haus an der Seminole Street trat und durch seinen großen Garten ging und die Außentreppe seiner großen Garage hinaufstieg, war das Wetter in seinem Kopf so warm und freundlich wie draußen, im Nordwesten Philadelphias. Die Septembersonne schien durch ein Gemisch aus Dunst und kleinen, grau gekielten Wolken, und soweit Gary seine Neurochemie überhaupt zu begreifen und nachzuvollziehen vermochte (schließlich war er Abteilungsleiter bei der CenTrust Bank und kein Seelenklempner, vergessen wir das nicht), schienen ihm alle seine Hauptindikatoren einigermaßen stabil.

Obwohl Gary den aktuellen Trend zur individuellen Gestaltung von Altersgeldanlagen und Ferngesprächstarifen und privaten Bildungsoptionen im Prinzip begrüßte, war er alles andere als begeistert, auch die Verantwortung für seine persönliche Hirnchemie aufgehalst zu bekommen, zumal gewisse Menschen in seinem Leben, namentlich sein Vater, sich rundweg weigerten, eine solche Verantwortung zu übernehmen. Doch wenn man von Gary eines sagen konnte, dann das: Er war pflichtbewusst. Als er die Dunkelkammer betrat, schätzte er, dass sein Neurofaktor 3 (also Serotonin, ein sehr, sehr wichtiger Faktor) seit sieben, wenn nicht gar dreißig Tagen einen Höchststand verzeichnete, dass die Performance von Faktor 2 und Faktor 7 ebenfalls die Erwartungen übertraf und dass sich sein Faktor 1 von einem Tief am frühen Morgen, ausgelöst durch ein Glas Armagnac vor dem Schlafengehen, inzwischen erholt hatte. Er ging mit federndem Schritt, war sich seiner überdurchschnittlichen Körpergröße und seiner Spätsommerbräune aufs Angenehmste bewusst. Sein Groll gegen Caroline, seine Frau, hielt sich in wohlkontrollierten Grenzen. Die Leitsymptome seiner Paranoia (d. h. des hartnäckigen Verdachts, dass Caroline und seine beiden älteren Söhne sich über ihn lustig machten) zeigten mehr fallende als steigende Tendenz, und seine jahreszeitlich angepassten Gedanken zur Sinnlosigkeit und Kürze des Lebens korrespondierten mit dem robusten Allgemeinzustand seiner geistigen Ökonomie. Er war nicht das kleinste bisschen klinisch depressiv.

Er zog die samtenen Verdunkelungsvorhänge zu und schloss die lichtundurchlässigen Fensterläden, nahm einen Karton 10 x 15-Papier aus dem großen Stahlkühlschrank und schob zwei Zelluloidstreifen in den mechanischen Negativreiniger — einen aufreizend schweren kleinen Apparat.

Die Bilder seiner Eltern, von denen er Abzüge machen wollte, stammten aus der unglückseligen Dekade ehelichen Golfspiels. Eines zeigte Enid in einem tiefen Rough, wie sie, den Oberkörper vorgebeugt, missmutig durch die Sonnenbrille in die flirrende Herzland-Hitze blickte, mit der linken Hand den Schaft ihres leidgeprüften Holzes 5 umklammernd, während der rechte Arm verwackelt war, weil sie ihren Ball (ein weißer, verwischter Fleck am Rand des Fotos) heimlich auf den Fairway warf. (Sie und Alfred hatten immer nur auf flachen, geraden, kurzen, billigen öffentlichen Golfplätzen gespielt.) Auf dem anderen Foto sah man, wie Alfred, bekleidet mit engen Shorts, einer Midland-Pacific-Schirmmütze, schwarzen Socken und prähistorischen Golfschuhen, seinen prähistorischen Holz-Driver auf eine weiße, grapefruitgroße Tee-Markierung richtete und in die Kamera grinste, als wolle er dem Betrachter bedeuten: Einen so großen Ball könnte ich schlagen!

Nachdem Gary den Abzügen ihr saures Fixierbad verabreicht hatte, machte er wieder Licht und stellte fest, dass beide mit einem Netz aus seltsamen gelben Klecksen überzogen waren.

Er fluchte leise, nicht, weil ihm die Fotos so wichtig waren, sondern weil er seine gute Laune, seine serotoningesättigte Stimmung behalten wollte, und dazu brauchte er von der Welt der Gegenstände ein Minimum an Kooperation.

Das Wetter draußen gerann. Ein Geriesel war in den Rinnsteinen, und auf dem Dach, dort wo Äste überhingen, ein Getrommel von Tropfen. Durch die Wände der Garage hörte Gary, während er zwei weitere Abzüge machte, Caroline und die Jungen im Garten Fußball spielen. Er hörte Laufschritte und Ballgeräusche, seltener Rufe, das seismische Donnern von Ball auf Garage.

Als er das zweite Paar Abzüge mit den gleichen gelben Klecksen aus dem Fixierbad nahm, wusste Gary, dass er es für heute besser sein lassen sollte. Aber da klopfte es an der Außentür, und sein jüngster Sohn Jonah schlüpfte durch den Verdunkelungsvorhang.

«Du ziehst Fotos ab?», fragte Jonah.

Gary faltete die misslungenen Abzüge hastig zweimal zusammen und vergrub sie im Abfalleimer. «Hab gerade erst angefangen.»

Er mischte seine Lösungen neu und öffnete einen zweiten Karton Papier. Jonah setzte sich neben eine Dunkelkammerlampe und flüsterte vor sich hin, während er die Seiten eines der Narnia-Bücher umblätterte, Prinz Kaspian von Narnia, das Garys Schwester Denise ihm geschenkt hatte. Jonah ging in die zweite Klasse, aber als Leser hatte er schon das Niveau eines Fünftklässlers erreicht. Oft sprach er die geschriebenen Worte in einem artikulierten Flüsterton, der typisch für die ganze narnische Liebenswürdigkeit seines Wesens war, vor sich hin. Er hatte strahlende dunkle Augen, eine Oboenstimme und wieselweiches Haar, und selbst Gary sah in ihm bisweilen mehr ein sensibles Tier als einen kleinen Jungen.

Caroline mochte die Chroniken von Narnia nicht besonders — C. S. Lewis war ein notorischer katholischer Propagandist, und Aslan, der narnische Held, eine Christusgestalt mit Fell und Pfoten — , doch Gary hatte den König von Narnia als Junge gern gelesen und war, das konnte wohl als gesichert gelten, trotzdem kein religiöser Spinner geworden. (Vielmehr ein strikter Materialist.)

«Sie töten also einen Bären», berichtete Jonah, «aber es ist kein sprechender Bär, und Aslan kommt zurück, aber nur Lucy sieht ihn, und die anderen glauben ihr nicht.»

Gary tauchte die Abzüge mit der Pinzette ins Unterbrecherbad. «Warum glauben sie ihr nicht?»

«Weil sie die Jüngste ist», sagte Jonah.

Draußen, im Regen, hörte man Caroline lachen und rufen. Sie hatte den Hang, sich völlig zu verausgaben, um mit den Jungen mitzuhalten. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte sie ganztags als Anwältin gearbeitet, doch nach Calebs Geburt war sie durch eine Erbschaft zu Geld gekommen, und seitdem arbeitete sie nur noch halbtags, für ein philanthropisch geringes Gehalt, beim Kinderhilfswerk Children's Defense Fund. Ihr eigentliches Leben kreiste um die Jungen. Sie nannte sie ihre besten Freunde.

Vor sechs Monaten, am Vortag von Garys dreiundvierzigstem Geburtstag, waren, während er mit Jonah seine Eltern in St. Jude besuchte, zwei Monteure gekommen und hatten, als Geburtstagsüberraschung von Caroline, im Obergeschoss der Garage neue Strom- und Wasserleitungen verlegt und alles frisch verputzt. Gary hatte gelegentlich davon gesprochen, von den alten Familienfotos, die ihm die liebsten waren, Abzüge zu machen und sie in einem ledergebundenen Album zu sammeln: die zweihundert definitiven Lamberts. Aber die Bilder hätte ihm auch ein Fotogeschäft abgezogen, und inzwischen brachten die Jungen ihm bei, mit Bildverarbeitungsprogrammen umzugehen, und wenn er trotzdem einmal ein Labor gebraucht hätte, wäre es immer noch möglich gewesen, stundenweise eines zu mieten. Und so war ihm — nachdem Caroline ihn an seinem Geburtstag zur Garage geführt und ihm die Dunkelkammer gezeigt hatte, die er weder wollte noch brauchte — spontan zum Heulen zumute gewesen. Aus populärpsychologischen Büchern auf Carolines Nachttisch hatte er jedoch gelernt, die Warnsignale der klinischen Depression zu erkennen, und eines dieser Warnsignale, darin stimmten alle Experten überein, war die Neigung, in unpassenden Momenten zu weinen, und so hatte er den Kloß in seinem Hals hinuntergeschluckt, war in der teuren Dunkelkammer umhergesprungen und hatte Caroline (die sowohl die Reue des Käufers als auch die Unsicherheit des Schenkenden durchlitt) lautstark versichert, wie hellauf begeistert er sei! Und hatte dann, um sich selbst zu beweisen, dass von einer klinischen Depression keine Rede sein konnte, und um sicherzugehen, dass Caroline nichts dergleichen argwöhnte, beschlossen, zweimal die Woche in der Dunkelkammer zu arbeiten, bis das Album der zweihundert definitiven Lamberts fertig war.

Der Verdacht, Caroline habe ihn, bewusst oder nicht, aus dem Haus verbannen wollen, indem sie die Dunkelkammer in der Garage einrichtete, war ein weiteres Leitsymptom seiner Paranoia.

Als die Stoppuhr klingelte, legte er das dritte Paar Abzüge ins Fixierbad und machte wieder Licht.

«Was sind das für helle Flecken?», fragte Jonah, der in die Schale spähte.

«Ich weiß es auch nicht, Jonah!»

«Die sehen wie Wolken aus», sagte Jonah.

Der Fußball knallte gegen die Seitenwand der Garage.

Gary ließ die missmutige Enid und den grinsenden Alfred in der Fixierlösung und öffnete die Fensterläden. Seine Schuppentanne und das Bambusdickicht gleich daneben glitzerten vom Regen. Mitten im Garten standen Caroline und Aaron in durchnässten, schmutzigen Trikots, die ihnen an den Schulterblättern klebten, und japsten nach Luft, während Caleb sich einen Schuh zuband. Caroline hatte, mit fünfundvierzig, die Beine einer Studentin. Ihr Haar war heute fast genauso blond wie damals, vor zwanzig Jahren, als Gary sie bei einem Bob-Seger-Konzert im Spectrum kennengelernt hatte. Körperlich fühlte sich Gary noch immer stark von seiner Frau angezogen, ihr unangestrengt gutes Aussehen, ihr Quäker-Blut reizten ihn nach wie vor. Aus einem alten Reflex griff er nach der Kamera und richtete das Teleobjektiv auf sie.

Der Ausdruck von Carolines Gesicht erschreckte ihn. Da war etwas Gequältes auf ihrer Stirn, eine Leidensfurche um ihren Mund. Als sie wieder dem Ball nachjagte, humpelte sie.

Gary schwenkte die Kamera auf seinen ältesten Sohn, Aaron, den man am besten unbemerkt fotografierte, bevor er seinen Kopf in jene befangene Schräghaltung brachte, die ihm seiner Meinung nach am meisten schmeichelte. Aarons Gesicht im Nieselregen war gerötet und schmutzbesprenkelt, und Gary drehte am Zoom, um einen schönen Bildausschnitt hinzukriegen. Doch der Groll gegen Caroline legte seine neurochemische Abwehr lahm.

Das Fußballspiel war jetzt zu Ende, und sie lief und humpelte zum Haus.

Lucy vergrub ihren Kopf in seiner Mähne, damit er sie nicht sehen konnte, flüsterte Jonah.

Aus dem Haus kam ein Schrei.

Caleb und Aaron reagierten sofort, indem sie wie Actionfilm-Helden über den Rasen galoppierten und im Nu drinnen verschwanden. Einen Augenblick später tauchte Aaron wieder auf und rief mit seiner neuerdings zur Brüchigkeit neigenden Stimme: «Dad! Dad! Dad! Dad!»

Wenn andere hysterisch wurden, wurde Gary besonnen und ruhig. Er verließ die Dunkelkammer und stieg langsam die regenglatten Stufen hinab. In dem Stück Himmel über den Gleisen der Pendlerstrecke hinter der Garage arbeitete sich das Licht durch die feuchte Luft, als wolle es, sich selbst übertreffend, einen Frühlingsschauer zustande bringen.

«Dad, Grandma ist am Telefon!»

Gary schlenderte durch den Garten und blieb stehen, um die Wunden zu beklagen, die das Fußballspiel dem Rasen zugefügt hatte. Chestnut Hill, das Viertel, in dem sie wohnten, war nicht ganz unnarnisch. Jahrhundertealte Ahornbäume und Ginkgos und Platanen, viele davon verstümmelt, weil Platz für Starkstromleitungen gebraucht wurde, wucherten gewaltig über ausgebesserte und wieder ausgebesserte Straßen, die die Namen dezimierter Indianerstämme trugen. Seminole und Cherokee, Navajo und Shawnee. Im Umkreis vieler Kilometer gab es trotz hoher Bevölkerungsdichte und stattlicher Pro-Kopf-Einkommen keine Schnellstraßen und kaum nützliche Geschäfte. «Das von der Zeit vergessene Land», nannte Gary diese Gegend. Die meisten Häuser hier, einschließlich seines eigenen, waren aus einem Schieferstein gebaut, der an unbearbeitetes Blech erinnerte und genau die Farbe seines Haars hatte.

«Dad!»

«Danke, Aaron, ich hab's gehört.»

«Grandma ist am Telefon!»

«Das weiß ich, Aaron. Du hast es mir eben schon gesagt.»

In der Schieferboden-Küche traf er auf Caroline, die zusammengesackt auf einem Stuhl saß und sich beide Hände ins Kreuz presste.

«Sie hat heute Morgen schon mal angerufen», sagte sie. «Ich hab vergessen, es dir auszurichten. Das Telefon hat alle fünf Minuten geklingelt, und schließlich bin ich hingerannt — »

«Danke, Caroline.»

«Ich bin hingerannt — »

«Danke.» Gary schnappte sich den schnurlosen Apparat und hielt ihn im Gehen auf Armeslänge von sich, als müsse er seine Mutter in Schach halten. Im Esszimmer lauerte ihm Caleb auf, der einen Finger zwischen die glänzenden Seiten eines Katalogs gesteckt hatte. «Dad, kann ich dich mal kurz sprechen?»

«Jetzt nicht, Caleb, deine Großmutter ist am Telefon.»

«Ich will dir nur — »

«Jetzt nicht, hab ich gesagt.»

Caleb schüttelte den Kopf und lächelte ungläubig, wie ein viel gefilmter Sportler, der um einen Strafpunkt herumgekommen ist.

Gary durchquerte den mit Marmor ausgelegten Flur, betrat das geräumige Wohnzimmer und sagte «Hallo» in die Muschel des kleinen Telefons.

«Ich habe Caroline doch gesagt, ich rufe lieber noch mal an, wenn du gerade nicht in der Nähe bist», sagte Enid.

«Deine Anrufe kosten dich sieben Cent die Minute», sagte Gary.

«Oder du hättest mich zurückrufen können.»

«Mutter, es geht um fünfundzwanzig Cent.»

«Ich versuche schon den ganzen Tag, dich zu erreichen», sagte sie. «Der Mann vom Reisebüro braucht bis spätestens morgen früh eine Auskunft von mir. Und du weißt, wir hoffen immer noch, dass ihr zu einem letzten Weihnachten zu uns kommt, so wie ich es Jonah versprochen habe, also — »

«Warte eine Sekunde», sagte Gary. «Ich frag mal eben Caroline.»

«Gary, ihr hattet monatelang Zeit, darüber zu sprechen. Ich werde jetzt nicht hier sitzen und warten, bis du — »

«Moment.»

Er legte den Daumen auf die Sprechmuschellöcher und ging zurück in die Küche, wo Jonah mit einer Packung Schokoladenkekse auf einem Stuhl stand. Caroline, die immer noch zusammengesackt am Tisch saß, atmete flach.

«Ich hab mir», sagte sie, «irgendwas Schreckliches zugezogen, als ich zum Telefon gerannt bin.»

«Davor bist du zwei Stunden lang draußen im Regen rumgerutscht», sagte Gary.

«Nein, es war alles in Ordnung, bis ich zum Telefon gerannt bin.»

«Caroline, ich hab dich schon vorher humpeln sehen.»

«Es war alles in Ordnung», sagte sie, «bis ich zum Telefon gerannt bin, weil es zum fünfzigsten Mal geklingelt hat — »

«Na schön», sagte Gary, «meine Mutter ist schuld. Aber ich muss jetzt wissen, was ich ihr wegen Weihnachten sagen soll.»

«Keine Ahnung. Sie können gern zu uns kommen.»

«Wir hatten doch mal überlegt, zu ihnen zu fahren.»

Caroline schüttelte den Kopf, als radiere sie etwas damit aus. «Nein. Du hast das überlegt. Ich nicht.»

«Caroline — »

«Ich kann das nicht besprechen, während sie am Telefon ist. Sag ihr, sie soll nächste Woche noch mal anrufen.»

Jonah begriff, dass er sich so viele Kekse nehmen konnte, wie er wollte, ohne dass seine Eltern es merkten.

«Sie muss es aber jetzt wissen», sagte Gary. «Sie würden gern entscheiden, ob sie uns nächsten Monat, nach ihrer Kreuzfahrt, besuchen sollen. Und das hängt von Weihnachten ab.»

«Fühlt sich wie ein Bandscheibenvorfall an.»

«Wenn du dich weigerst, darüber zu reden, sage ich ihr, dass wir uns vorstellen können, nach St. Jude zu fahren.»

«O nein! Das ist gegen die Abmachung!»

«Ich denke an eine einmalige Ausnahme von der Abmachung.»

«Nein! Nein!» Nasse blonde Haarsträhnen peitschten hin und her und verdrehten sich. «Du kannst nicht einfach so gegen die Regeln verstoßen.»

«Eine einmalige Ausnahme ist kein Regelverstoß.»

«Gott, ich glaube, ich muss mich röntgen lassen», sagte Caroline.

Gary spürte die Stimme seiner Mutter am Daumen summen. «Heißt das jetzt ja oder nein?»

Caroline stand auf, lehnte sich an ihn und vergrub ihr Gesicht in seinem Pullover. Mit einer kleinen Faust klopfte sie sanft gegen seine Brust. «Bitte», sagte sie und rieb ihre Nase an seinem Schlüsselbein. «Sag ihr, du rufst später noch mal an. Bitte. Mir tut wirklich der Rücken weh.»

Während sie sich an ihn drängte, hielt Gary das Telefon mit durchgedrücktem Arm zur Seite. «Caroline. Sie sind jetzt acht Jahre hintereinander zu uns gekommen. Es ist doch nicht zu viel verlangt, wenn ich dich bitte, ein einziges Mal eine Ausnahme zu machen. Kann ich ihr wenigstens sagen, dass wir es in Betracht ziehen?»

Caroline schüttelte kläglich den Kopf und sank wieder auf den Stuhl.

«Na schön», sagte Gary, «dann entscheide ich eben selbst.»

Er stolzierte ins Esszimmer, wo ihn Aaron, der zugehört hatte, anstarrte, als wäre er ein grausames Monster von einem Ehemann.

«Dad», sagte Caleb, «wenn du doch nicht mit Grandma telefonierst, kann ich dich dann mal was fragen?»

«Nein, Caleb, ich telefoniere noch mit Grandma.» «Und danach?»

«O Gott, o Gott», sagte Caroline.

Im Wohnzimmer hatte Jonah sich mit seinem Keksberg und Prinz Kaspian auf dem größeren Ledersofa niedergelassen.

«Mutter?»

«Ich verstehe das nicht», sagte Enid. «Wenn es dir gerade nicht passt, dann ruf mich doch später zurück, aber mich zehn Minuten warten zu lassen — »

«Jetzt bin ich ja wieder da.»

«Und, wie habt ihr euch entschieden?»

Bevor Gary antworten konnte, drang aus der Küche ein erbarmungswürdiges, raues, katzenartiges Heulen, ein Geräusch, wie Caroline es fünfzehn Jahre früher beim Sex von sich gegeben hatte, als noch keine Jungen da gewesen waren, die sie hätten hören können.

«Entschuldige, Mom, eine Sekunde.»

«Nein, das geht nicht», sagte Enid. «Das ist unhöflich.»

«Caroline», rief Gary in die Küche, «meinst du, wir können uns mal ein paar Minuten lang wie Erwachsene benehmen?»

«Ah, ah, uh! Uh!», jammerte Caroline.

«An Rückenschmerzen ist noch keiner gestorben, Caroline.»

«Bitte», jammerte sie, «ruf sie später wieder an. Ich bin auf der letzten Stufe ausgerutscht, Gary, es tut so weh — »

Er drehte sich mit dem Rücken zur Küche. «Tut mir leid, Mom.»

«Was in aller Welt ist bei euch los?»

«Caroline hat sich beim Fußballspielen am Rücken ein bisschen wehgetan.»

«Weißt du, ich sage das ungern, aber Beschwerden und Schmerzen gehören nun mal zum Älterwerden», sagte Enid. «Wenn ich wollte, könnte ich den ganzen Tag lang über Schmerzen reden. Mit tut ständig die Hüfte weh. Aber mit dem Alter wird man ja hoffentlich auch etwas suverähner.»

«Oh! Ahh! Ahh!», jammerte Caroline wollüstig.

«Ja, das kann man nur hoffen», sagte Gary.

«Also, wie habt ihr euch entschieden?»

«Die Jury ist noch uneins», sagte er, «aber vielleicht solltet ihr auf jeden Fall nach der Kreuzfahrt hier — »

«Au! Au! Au!»

«Es ist schon furchtbar spät, um für Weihnachten Flüge zu buchen», sagte Enid ernst. «Weißt du, die Schumperts haben ihre Hawaii-Reise bereits im April gebucht, denn letztes Jahr, als sie sich bis September Zeit gelassen haben, waren die Plätze, die sie haben wollten, schon — » Aaron kam aus der Küche gerannt. «Dad!»

«Ich bin am Telefon, Aaron.»

«Dad!»

«Ich bin am Telefon, Aaron, das siehst du doch.»

«Dave hat eine Kolostomie», sagte Enid.

«Du musst sofort was unternehmen», sagte Aaron. «Mom hat wirklich Schmerzen. Sie sagt, du musst sie ins Krankenhaus fahren!»

«Ach ja, Dad», sagte Caleb, der sich mit seinem Katalog hereingeschlichen hatte, «dann kannst du mich mitnehmen.»

«Nein, Caleb.»

«Aber es gibt da einen Laden, in den ich unbedingt rein muss.»

«Die erschwinglichen Flüge sind ruck, zuck ausgebucht», sagte Enid.

«Aaron?», rief Caroline aus der Küche. «Aaron! Wo bist du? Wo ist dein Vater? Wo ist Caleb?»

«Wirklich ganz schön laut hier für jemanden, der sich konzentrieren will», sagte Jonah.

«Tut mir Leid, Mutter», sagte Gary, «ich gehe irgendwohin, wo's ruhiger ist.»

«Es ist höchste Zeit», sagte Enid mit der Panik einer Frau in der Stimme, für die jeder Tag, der verging, ja jede Stunde bedeutete, dass weitere Plätze in Dezember-Maschinen reserviert wurden und somit jegliche Hoffnung auf ein letztes gemeinsames Weihnachten mit Gary, Caroline und den Jungen in St. Jude Stück für Stück zerbrach.

«Dad», flehte Aaron, während er Gary ins Obergeschoss folgte, «was soll ich ihr ausrichten?»

«Sag ihr, sie soll die 911 wählen. Nimm dein Handy und ruf einen Krankenwagen.» Gary hob die Stimme. «Caroline? Wähl die 911!»

Nach einer Reise in den Mittelwesten neun Jahre zuvor, zu deren besonderen Torturen nicht nur Eisstürme in Philadelphia und in St. Jude gehört hatten, sondern auch eine vierstündige Verspätung auf dem Rollfeld mit einem quengelnden Fünf- und einem brüllenden Zweijährigen, ein die ganze Nacht heftig brechender Caleb, der (jedenfalls Caroline zufolge) Enids butter- und speckhaltiges Festtagsmenü nicht vertragen hatte, und ein gemeiner Sturz von Caroline auf der spiegelglatten Einfahrt ihrer Schwiegereltern (ihre Rückenprobleme stammten aus ihren Feldhockey-Tagen im Friends' Central, aber nun behauptete sie, die Verletzung sei auf besagter Einfahrt «reaktiviert» worden), nach dieser Reise also hatte Gary seiner Frau versprochen, dass er sie nie wieder bitten werde, Weihnachten nach St. Jude zu fahren. Inzwischen aber waren seine Eltern acht Jahre hintereinander nach Philadelphia gekommen, und obwohl es ihm gar nicht behagte, wie besessen seine Mutter von Weihnachten war — er hielt das ganze Getue für ein Symptom eines umfassenderen Leidens, einer schmerzhaften Leere in ihrem Leben — , konnte er es seinen Eltern kaum verdenken, dass sie dieses Jahr zu Hause bleiben wollten. Außerdem spekulierte Gary darauf, dass Enid St. Jude bereitwilliger verlassen und an die Ostküste umziehen würde, wenn sie ihr «letztes Weihnachten» gehabt hätte. Im Grunde war er dafür, die Reise anzutreten, und er erwartete ein Minimum an Kooperation von seiner Frau: eine souveräne Bereitschaft, auf die besonderen Umstände Rücksicht zu nehmen.

Er zog die Tür seines Arbeitszimmers hinter sich zu und schloss ab, um das Geschrei und Gewinsel seiner Familie, das Fußgetrappel auf der Treppe, den Möchtegern-Notfall auszusperren. Er nahm den Hörer des Telefons auf seinem Schreibtisch ab und schaltete das schnurlose aus.

«Das ist ja wirklich lächerlich», sagte Enid mit entkräfteter Stimme. «Warum rufst du mich nicht zurück?»

«Wir sind noch unschlüssig, was Weihnachten angeht», sagte er, «aber es ist gut möglich, dass wir nach St. Jude kommen. Ich denke also, ihr solltet nach der Kreuzfahrt bei uns vorbeischauen.»

Enid atmete ziemlich laut. «Wir fahren diesen Herbst auf keinen Fall zweimal nach Philadelphia», sagte sie. «Und da ich die Jungen Weihnachten sehen möchte, heißt das für mich, dass ihr nach St. Jude kommt.»

«Nein, Mutter», sagte er. «Nein, nein, nein. Wir haben noch nichts entschieden.»

«Ich habe Jonah versprochen — »

«Jonah ist nicht derjenige, der die Tickets kauft. Jonah hat hier nicht zu bestimmen. Also macht ihr mal eure Pläne, und wir machen unsere, und dann schüttelt sich hoffentlich alles zurecht.»

Seltsam deutlich hörte Gary das missbilligende Schnauben, das aus Enids Nasenlöchern kam. Er hörte das Meeresrauschen ihrer Atmung, und mit einem Schlag wusste er Bescheid.

«Caroline?», sagte er. «Caroline, bist du in der Leitung?»

Das Atmen hörte auf.

«Caroline, belauschst du uns? Bist du in der Leitung?»

Er hörte ein leises Klicken, eine kurze statische Störung.

«Mom, es tut mir Leid — »

Enid: «Was um alles in der Welt — »

Unglaublich! Scheißunglaublich! Gary ließ den Hörer auf seinen Schreibtisch fallen, schloss die Tür auf und rannte den Flur entlang, an einem Kinderzimmer vorbei, in dem Aaron, mit gekräuselter Stirn und schmeichelhaft schräg gehaltenem Kopf, vor seinem Spiegel stand, an der Treppe vorbei, auf der Caleb seinen Katalog umklammerte wie ein Zeuge Jehovas sein Pamphlet, ins Elternschlafzimmer, wo Caroline in ihren verdreckten Kleidern zusammengekrümmt wie ein Embryo auf dem Perserteppich lag und sich ein frostüberzogenes Kältekissen ins Kreuz presste.

«Belauschst du mich?»

Caroline schüttelte matt den Kopf, vielleicht um anzudeuten, dass sie gar nicht genügend Kraft habe, das Telefon neben dem Bett zu erreichen.

«Heißt das nein? Sagst du nein? Du hast nicht mitgehört?»

«Nein, Gary», sagte sie mit Zwergenstimme.

«Ich habe das Klicken gehört, ich habe das Atmen gehört — »

«Nein.»

«Caroline, es gibt drei Anschlüsse für diese Leitung, zwei davon habe ich in meinem Arbeitszimmer, der dritte ist hier. Hallo?»

«Ich habe nicht gelauscht. Ich hab nur den Hörer abgenommen — » Sie atmete durch zusammengebissene Zähne ein. «Um zu sehen, ob die Leitung frei ist. Das ist alles.»

«Und dann hast du dich hingesetzt und zugehört! Du hast gelauscht! Obwohl wir wieder und wieder darüber gesprochen haben, dass wir das niemals tun würden!»

«Gary», sagte sie mit kläglich kleiner Stimme, «ich schwöre, dass ich nicht gelauscht habe. Mein Rücken bringt mich um. Ich konnte den Arm nicht ausstrecken, um wieder aufzulegen. Ich habe den Hörer auf dem Boden liegen lassen. Ich hab nicht gelauscht. Sei lieb, bitte.»

Dass ihr Gesicht wunderschön war und man den gequälten Ausdruck darauf mit Ekstase verwechseln konnte — dass sie Gary, wie sie da zusammengekrümmt und schlammbespritzt und rotwangig und besiegt und mit wilder Mähne auf dem Perserteppich lag, scharfmachte, dass ein Teil von ihm ihren Beteuerungen glaubte und voll Zärtlichkeit für sie war — , all das verstärkte nur sein Gefühl, verraten worden zu sein. Er stürmte über den Flur zurück in sein Arbeitszimmer und knallte die Tür hinter sich zu. «Mutter, hallo, es tut mir Leid.»

Aber die Leitung war tot. Jetzt musste er auf eigene Rechnung in St. Jude anrufen. Durch das Fenster, das auf den Garten hinausging, sah er sonnenbeschienene, muschelschalenrote Regenwolken, aus der Platane aufsteigenden Dunst.

Nun, da nicht mehr sie das Gespräch bezahlte, klang Enid heiterer. Sie fragte Gary, ob er eine Firma namens Axon kenne. «Die sitzen in Schwenksville, Pennsylvania», sagte sie. «Sie wollen Dads Patent kaufen. Hier, ich lese dir mal den Brief vor. Ich bin nicht ganz glücklich damit.»

Bei der CenTrust Bank, wo Gary mittlerweile die Investmentabteilung leitete, war er seit langer Zeit auf große, an der Börse gehandelte Unternehmen spezialisiert und gab sich kaum noch mit kleinen Fischen ab. Der Name Axon sagte ihm nichts. Doch als seine Mutter ihm den Brief vorlas, den Mr. Joseph K. Prager von Bragg Knuter & Speigh geschrieben hatte, meinte er, das Spiel dieser Leute zu durchschauen. Es war klar, dass der Anwalt, der diesen Brief aufgesetzt und ihn an einen alten Mann mit einer Adresse im Mittelwesten geschickt hatte, Alfred nur einen Bruchteil dessen anbot, was das Patent tatsächlich wert war. Gary wusste, wie diese Winkeladvokaten arbeiteten. An Axons Stelle hätte er dasselbe getan.

«Ich finde, wir sollten zehntausend verlangen, nicht fünf-», sagte Enid.

«Wann erlischt das Patent?», fragte Gary.

«In ungefähr sechs Jahren.»

«Sie müssen mit sehr viel Geld rechnen. Sonst würden sie sich um das Patent gar nicht scheren.»

«In dem Brief steht was von ‹früher Testphase› und dass sie ‹nichts garantieren› können.»

«Mutter, das ist es ja. Genau das ist es, was sie einem weismachen wollen. Aber wenn es stimmt, warum befassen sie sich dann jetzt schon damit? Warum warten sie nicht sechs Jahre?»

«Ach so, ich verstehe.»

«Es ist sehr, sehr gut, dass du mir davon erzählt hast, Mutter. Du musst diesen Leuten jetzt zurückschreiben und erst mal eine Lizenzzahlung von 200.000 Dollar verlangen.»

Enid schnappte nach Luft, wie früher auf Familienausflügen, wenn Alfred, um einen Lastwagen zu überholen, in den Gegenverkehr ausgeschert war. «Zweihunderttausend! Guter Gott, Gary — »

«Und eine einprozentige Beteiligung an den Bruttoerträgen ihres Verfahrens. Schreib ihnen, du wärst bereit, deine rechtmäßige Forderung vor Gericht einzuklagen.»

«Aber was ist, wenn sie nein sagen?»

«Glaub mir, diese Leute haben keinerlei Interesse an einer gerichtlichen Auseinandersetzung. Mit der aggressiven Tour kannst du dir in diesem Fall nichts verderben.»

«Na ja, aber es ist Dads Patent, und du weißt ja, wie er darüber denkt.»

«Hol ihn mir mal ans Telefon», sagte Gary.

Seine Eltern ließen sich von jedweder Autorität ins Bockshorn jagen. Wenn Gary sich vergewissern wollte, dass er ihrem Schicksal wirklich entronnen war, wenn er ermessen wollte, wie weit er sich von St. Jude entfernt hatte, dann hielt er sich vor Augen, wie wenig ihn selbst Autoritäten schreckten — einschließlich der seines Vaters.

«Ja», sagte Alfred.

«Dad», sagte er, «ich finde, du solltest diesen Leuten die Hölle heiß machen. Sie sind in einer sehr schwachen Position, und du könntest richtig viel Geld dabei rausschlagen.»

Der alte Mann in St. Jude sagte gar nichts.

«Du willst mir doch nicht erzählen, dass du vorhast, das Angebot anzunehmen», sagte Gary. «Das kommt nämlich überhaupt nicht infrage, Dad. Das steht gar nicht zur Debatte.»

«Ich habe mich entschieden», sagte Alfred. «Was ich tue, geht dich nichts an.»

«O doch, ich habe da auch ein Wörtchen mitzureden.»

«Das hast du nicht, Gary.»

«Ich habe da auch ein Wörtchen mitzureden», wiederholte Gary. Wenn Enid und Alfred irgendwann das Geld ausginge, wären es nicht seine Schwester, die immer knapp bei Kasse war, und sein nichtsnutziger Bruder, sondern er und Caroline, die für ihren Unterhalt aufkommen müssten. Aber er hatte sich gut genug im Griff, um Alfred das nicht vorzubuchstabieren. «Könntest du wenigstens die Güte haben, mir zu sagen, was du zu tun gedenkst?»

«Du hättest die Güte haben können, nicht danach zu fragen», sagte Alfred. «Aber da du nun mal gefragt hast, bitte: Ich gedenke zu nehmen, was sie mir angeboten haben, und die Hälfte davon Orfic Midland zu geben.» Das Universum war mechanistisch: Der Vater sprach, der Sohn reagierte.

«Also wirklich, Dad», sagte Gary mit jener schleppenden, leisen Stimme, die er sich für Situationen vorbehielt, in denen er sehr ärgerlich und sehr sicher war, dass er Recht hatte. «Das kannst du nicht machen.»

«Das kann ich sehr wohl. Und das werde ich auch», sagte Alfred.

«Nein, wirklich, Dad, bitte hör mir zu. Du hast weder rechtlich noch moralisch die geringste Verpflichtung, das Geld mit Orfic Midland zu teilen.»

«Ich habe ihr Material und ihre Geräte benutzt», sagte Alfred. «Es war abgemacht, dass ich eventuelle Erträge aus den Patenten mit ihnen teilen würde. Und Mark Jamborets hat mir damals den Patentanwalt vermittelt. Wahrscheinlich habe ich sogar einen Freundschaftspreis bekommen.»

«Das ist fünfzehn Jahre her! Die Firma existiert gar nicht mehr. Die Leute, mit denen du diese Abmachung hattest, sind tot.»

«Nicht alle. Mark Jamborets nicht.»

«Dad, das ist ein netter Zug von dir. Ich verstehe deine Beweggründe, aber — »

«Ich glaube nicht, dass du das tust.»

«Die Eisenbahngesellschaft ist von den Wroth-Brüdern geplündert und ausgenommen worden.»

«Ich will nicht weiter darüber reden.»

«Das ist krank! Wirklich krank!», sagte Gary. «Du verhältst dich loyal gegenüber einer Firma, die dich und die Stadt St. Jude auf jede nur vorstellbare Weise übers Ohr gehauen hat. Die dich auch jetzt gerade wieder übers Ohr haut — denk an deine Krankenversicherung.»

«Du hast deine Meinung, ich habe meine.»

«Und ich finde das verantwortungslos von dir. Ich finde das egoistisch. Wenn du Erdnussbutter essen und jeden Cent dreimal umdrehen willst, dann ist das deine Sache, aber Mom gegenüber ist es nicht fair, und mir — »

«Es interessiert mich einen feuchten Kehricht, was ihr beide denkt.»

«Und mir gegenüber ist es auch nicht fair! Wer bezahlt denn deine Rechnungen, wenn du in Schwierigkeiten gerätst? Wer gibt dir Rückhalt?»

«Ich werde erdulden, was erduldet werden muss», sagte Alfred. «Ja, und ich esse, wenn's sein muss, auch Erdnussbutter. Ich mag Erdnussbutter. Nichts dagegen einzuwenden.»

«Und wenn Mom Erdnussbutter essen muss, tut sie's auch. Stimmt's? Sie kann auch Hundefutter essen, wenn's sein muss! Wen kümmert es schon, was sie will?»

«Gary, ich weiß, was recht und billig ist. Ich erwarte nicht, dass du das verstehst — ich verstehe ja deine Entscheidungen auch nicht — , aber ich weiß, was sich gehört. Und jetzt Schluss damit.»

«Ich meine, wenn du unbedingt willst, dann gib Orfic Midland eben zweitausendfünfhundert ab», sagte Gary. «Aber dieses Patent ist viel mehr — »

«Schluss damit, hab ich gesagt. Deine Mutter möchte dich noch mal sprechen.»

«Gary», krähte Enid, «das Philharmonische Orchester von St. Jude führt im Dezember den Nussknacker auf! Die machen das ganz reizend, zusammen mit dem hiesigen Ballett, weißt du, und ihre Vorstellungen sind immer so schnell ausverkauft, was meinst du, soll ich nicht neun Karten für Heiligabend reservieren? Es gibt eine Matinee um zwei, aber wir können auch am Dreiundzwanzigsten abends hingehen, wenn dir das lieber ist. Entscheide du.»

«Mutter, hör mir bitte zu. Du darfst nicht zulassen, dass Dad diesem Angebot zustimmt. Sorge dafür, dass er nichts unternimmt, ehe ich den Brief gesehen habe. Bitte schick mir morgen eine Kopie davon mit der Post.»

«Gut, mach ich, aber das Wichtigste ist jetzt Der Nussknacker, dass ich uns schon mal neun Karten reserviere, meine ich, die Vorstellungen sind nämlich immer so schnell ausverkauft, Gary, man glaubt es kaum.»

Als er schließlich aufgelegt hatte, presste Gary die Hände auf die Augen und sah, in Falschfarben auf die Dunkelheit seiner geistigen Kinoleinwand projiziert, zwei Golfbilder: Enid, die sich, aus dem Rough heraus, in eine bessere Lage brachte (Schummeln nannte man das), und Alfred, der sein mangelndes Können herunterspielte.

Vierzehn Jahre früher, als der Verkauf der Midpac an die Wroth-Brüder gerade über die Bühne gegangen war, hatte der alte Herr schon einmal so ein sinnloses Kunststück fertig gebracht. Der neue Geschäftsführer der Midpac, Fenton Creel, hatte Alfred, wenige Monate vor dessen fünfundsechzigstem Geburtstag, zum Mittagessen ins Morelli's eingeladen. Die ganze oberste Riege der Midpac-Angestellten war von den beiden Wroths entlassen worden, weil sie sich der Übernahme widersetzt hatten, doch Alfred, als Chefingenieur, war nicht Teil dieser Palastwache gewesen. In dem Chaos, das durch die Schließung des Werks in St. Jude und die Verlegung der Geschäfte nach Little Rock entstand, brauchten die Wroths jemanden, der die Eisenbahn in Betrieb hielt, während die neue Mannschaft unter der Leitung von Creel sich warm lief. Creel bot Alfred eine fünfzigprozentige Gehaltserhöhung und ein Orfic-Aktienpaket an, wenn er sich einverstanden erklärte, zwei weitere Jahre zu bleiben, den Umzug nach Little Rock zu überwachen und Kontinuität zu gewährleisten.

Alfred verabscheute die Wroths und wollte eigentlich nein sagen, doch am Abend, zu Hause, begann Enid ihn zu bearbeiten. Sie hielt ihm vor Augen, dass die Orfic-Aktien allein 78ooo Dollar wert seien, dass seine Pension sich nach seinen letzten drei Jahresgehältern bemessen werde und dass sich hier eine Chance biete, ihre Alterseinkünfte um fünfzig Prozent zu erhöhen.

Ihre unwiderlegbaren Argumente schienen Alfred zunächst umzustimmen, doch drei Abende später teilte er ihr mit, er habe am Nachmittag seine Kündigung eingereicht und Creel habe sie angenommen. Alfred fehlten zu diesem Zeitpunkt gerade einmal sieben Wochen, um das Jahr seines letzten und höchsten Gehalts voll zu machen; es ergab nicht den geringsten Sinn, vorher aufzuhören. Doch niemandem, weder Enid noch sonst wem, lieferte er damals oder später eine Erklärung für seinen plötzlichen Sinneswandel. Er sagte nur: Ich habe mich entschieden.

Als sie im selben Jahr beim Weihnachtsessen in St. Jude saßen, wenige Augenblicke nachdem Enid verstohlen einen Happen Haselnuss-Gänsefüllung auf Baby Aarons Tellerchen gelegt und Caroline die Füllung vom Teller geschnappt hatte, in die Küche marschiert war und sie mit den Worten «Pures Fett, pfui Teufel» wie einen Haufen Gänsescheiße in den Mülleimer geworfen hatte, platzte Gary der Kragen, und er schrie: Du konntest nicht mal sieben Wochen warten? Du konntest nicht warten, bis du fünfundsechzig warst?

Gary, ich habe mein ganzes Leben lang gearbeitet. Wann ich aufhöre, ist meine Sache, nicht deine.

Und der Mann, der so erpicht darauf gewesen war, sich aus dem Arbeitsleben zurückzuziehen: Was hatte er mit seiner freien Zeit gemacht? Er hatte in seinem blauen Sessel gesessen.

Über Axon wusste Gary nichts, aber Orfic Midland war jener Typ von Mischkonzern, mit dessen Beteiligungs- und Managementstrukturen Schritt zu halten Teil der Aufgabe war, für die man ihn bezahlte. Zufällig wusste er, dass die Wroth-Brüder ihre Anteilsmehrheit verkauft hatten, um Verluste, die sie bei einem kanadischen Goldminen-Unternehmen gemacht hatten, auszugleichen. Orfic Midland hatte sich zu den ununterscheidbaren, gesichtslosen Megafirmen gesellt, deren Hauptsitze die vornehmen Einzugsgebiete der amerikanischen Großstädte übersäten; ihre leitenden Angestellten waren ausgetauscht worden wie die Zellen eines lebendigen Organismus oder wie die Buchstaben in jenem Legespiel, bei dem sich SCHEISS in SCHUSS und SCHUH und KUH und KUR verwandelte, sodass zu dem Zeitpunkt, als Gary den jüngsten Erwerb eines Aktienpakets der OrficM für das Portfolio der CenTrust abgesegnet hatte, von der Firma, die St. Judes drittgrößten Betrieb geschlossen und in weiten Teilen des ländlichen Kansas den Zugverkehr lahm gelegt hatte, nicht die Spur eines menschlichen Wesens mehr übrig geblieben war, das man zum Sündenbock hätte machen können. Orfic Midland hatte sich inzwischen ganz aus dem Transportgeschäft zurückgezogen. Was von den Haupttrassen der Midpac noch vorhanden war, hatte man verkauft, damit die Firma sich auf den Bau und die Verwaltung von Gefängnissen, auf Gourmet-Kaffee und Finanzdienstleistungen konzentrieren konnte; ein nagelneues 144-strängiges Sichtfaserkabelnetz lag im alten Gelände der Eisenbahngesellschaft begraben.

Und das war die Firma, der Alfred die Treue hielt?

Je mehr Gary darüber nachdachte, desto wütender wurde er. Er saß allein in seinem Arbeitszimmer, unfähig, seiner wachsenden Erregung Herr zu werden oder den Dampflok-Rhythmus seines Atems zu drosseln. Er war blind für den hübschen kürbisgelben Sonnenuntergang, der sich in den Tulpenbäumen hinter den Gleisen entfaltete. Er sah nichts als die Grundsätze, die auf dem Spiel standen.

Womöglich hätte er ewig so dagesessen, sich immer weiter in seine Wut hineingesteigert und Beweise gegen seinen Vater aufmarschieren lassen, wenn er nicht draußen vor seiner Tür ein Rascheln gehört hätte. Er sprang auf und öffnete sie.

Caleb saß im Schneidersitz auf dem Boden und studierte den Katalog. «Kann ich jetzt mit dir sprechen?»

«Hast du etwa hier gesessen und mich belauscht?»

«Nein, hab ich nicht. Du hast gesagt, ich kann mit dir sprechen, wenn du fertig bist. Ich wollte dich fragen, welches Zimmer ich überwachen kann.»

Obwohl sie auf dem Kopf standen, konnte Gary erkennen, dass die Preise für das Zubehör in Calebs Katalog — Objekte mit polierten Aluminiumgehäusen, LCD-Farbmonitore — drei- und vierstellig waren.

«Das ist nämlich mein neues Hobby», sagte Caleb. «Ich will einen Raum überwachen. Mom sagt, ich kann die Küche nehmen, wenn du einverstanden bist.»

«Du willst aus Spaß die Küche überwachen?»

«Ja!»

Gary schüttelte den Kopf. Als er klein gewesen war, hatte er viele Hobbys gehabt, und lange Zeit hatte es ihm zugesetzt, dass seine Söhne nicht ein einziges zu haben schienen. Schließlich hatte Caleb begriffen, dass er nur das Wort «Hobby» in den Mund zu nehmen brauchte, damit Gary für Anschaffungen, die er Caroline sonst womöglich untersagt hätte, grünes Licht gab. Und so war das Fotografieren Calebs Hobby gewesen, bis Caroline ihm eine Autofokus-Spiegelreflexkamera mit einem besseren Zoom-Teleobjektiv, als Gary eines hatte, und eine idiotensichere Digitalkamera gekauft hatte. Dann waren Computer sein Hobby gewesen, bis Caroline ihm einen Palmtop und ein Notebook gekauft hatte. Doch inzwischen war Caleb fast zwölf, und Gary hatte das Spielchen einmal zu oft mitgespielt. Er war auf der Hut, was Hobbys betraf. Und er hatte Caroline das Versprechen abgerungen, Caleb keinerlei Zubehör mehr zu kaufen, ohne sich vorher mit ihm zu besprechen.

«Überwachen ist kein Hobby», sagte er.

«Doch, Dad! Mom hat es selbst vorgeschlagen! Sie hat gesagt, ich könnte mit der Küche anfangen.»

Gary nahm es als ein weiteres Warnsignal der Depression, dass er jetzt dachte: In der Küche ist die Hausbar.

«Lass mich lieber erst mal mit Mom darüber reden, okay?»

«Aber der Laden hat nur bis sechs auf», sagte Caleb.

«Du wirst doch wohl ein paar Tage warten können. Erzähl mir nicht, dass es so eilig ist.»

«Aber ich hab schon den ganzen Nachmittag gewartet. Du hast gesagt, du würdest mit mir sprechen, und jetzt ist es fast Abend.»

Dass es fast Abend war, gab Gary eindeutig das Recht, etwas zu trinken. Die Hausbar war in der Küche. Er tat einen Schritt in ihre Richtung. «Um was für Zubehör geht es denn überhaupt?»

«Bloß eine Kamera, ein Mikrofon und eine Fernsteuerung.»

Caleb hielt Gary den Katalog unter die Nase. «Guck hier, ich brauch auch gar nicht das teure Modell. Das da kostet nur sechshundertfünfzig. Mom hat gesagt, das würde gehen.»

Ein ums andere Mal beschlich Gary das Gefühl, dass es irgendetwas Unangenehmes gab, das seine Frau und seine Kinder vergessen wollten, etwas, das im Gedächtnis zu behalten nur ihm wichtig war, und dass ein Kopfnicken, ein «Na gut» von ihm genügen würde, damit es ganz in Vergessenheit geriet. Auch dieses Gefühl war ein Warnsignal.

«Caleb», sagte er, «das hört sich nach etwas an, das dich sehr bald langweilen wird. Es hört sich teuer an und als würdest du nicht lange dabei bleiben.»

«Doch! Doch!», sagte Caleb aufgeregt. «Das interessiert mich total! Dad, es ist ein Hobby.»

«Du warst schon von so manchem, was wir dir geschenkt haben, ziemlich schnell gelangweilt. Sachen, für die du dich angeblich auch jedes Mal ‹sehr interessiert› hast.»

«Diesmal ist es was anderes», bettelte Caleb. «Für das hier interessiere ich mich wirklich, Ehrenwort.»

Ganz offensichtlich war der Junge bereit, jeden Betrag abgewerteter verbaler Währung zu entrichten, um sich die Zustimmung seines Vaters zu erkaufen.

«Ist dir wenigstens klar, was ich meine?», fragte Gary. «Erkennst du das Muster? Dass einem die Sachen, bevor man sie gekauft hat, anders vorkommen als hinterher? Dass sie einem, sobald man sie gekauft hat, gar nicht mehr so viel bedeuten? Ist dir das klar?»

Caleb öffnete den Mund, doch ehe er eine weitere Bitte oder Beschwerde vorbringen konnte, huschte so etwas wie Bauernschläue über sein Gesicht.

«Na ja», sagte er, scheinbar ergeben, «na ja, ich glaube schon.»

«Und meinst du nicht, das wird mit der neuen Ausrüstung auch wieder passieren?»

Caleb gab sich alle Mühe, so auszusehen, als denke er ernsthaft über Garys Frage nach. «Ich glaube, diesmal ist es anders», sagte er schließlich.

«Na schön», sagte Gary. «Aber bitte merk dir, worüber wir gesprochen haben. Ich möchte nicht, dass das noch so ein teures Spielzeug wird, mit dem du dich ein, zwei Wochen beschäftigst, um es dann in der Ecke rumliegen zu lassen. Du bist kein kleiner Junge mehr, und ich möchte allmählich sehen, dass du mal etwas länger bei einer Sache — »

«Gary, das ist nicht fair!», sagte Caroline aufgebracht. Sie kam aus der Schlafzimmertür gehumpelt, eine Schulter hochgezogen und die Hand am Rücken, um das schmerzlindernde Kühlkissen dagegenzupressen.

«Hallo, Caroline. Wusste gar nicht, dass du uns zuhörst.»

«Caleb lässt nichts in der Ecke rumliegen.»

«Genau, tu ich gar nicht», sagte Caleb.

«Was du offenbar noch nicht kapiert hast, ist, dass bei diesem neuen Hobby alles zum Einsatz kommt», sagte Caroline. «Das ist ja das Geniale daran. Er hat einen Dreh gefunden, wie er sein gesamtes Zubehör für eine — »

«Toll, freut mich zu hören.»

«Er macht etwas Kreatives, und du flößt ihm Schuldgefühle ein.»

Einmal, als Gary laut darüber nachgedacht hatte, ob Calebs Phantasie nicht zu verkümmern drohe, wenn sie ihm so viele Gerätschaften schenkten, hatte Caroline ihm vorgeworfen, er verunglimpfe seinen eigenen Sohn. Zu ihren bevorzugten Erziehungsratgebern gehörte Die technologische Phantasie: Was Kinder heute ihren Eltern beibringen können, ein Buch, in dem Dr. Nancy Claymore dem «müden Paradigma» vom begabten Kind als sozial isoliertem Genius das «dynamische Paradigma» vom begabten Kind als kreativ vernetztem Verbraucher gegenüberstellte und die These vertrat, elektronisches Spielzeug werde schon bald so preiswert und weit verbreitet sein, dass die kindliche Phantasie sich nicht mehr an bunten Bildchen und erfundenen Geschichten, sondern an der Synthese und Nutzung existierender Technologien entzünden werde — ein Gedanke, den Gary so überzeugend wie niederschmetternd fand. Als er kaum jünger als Caleb gewesen war, hatte er aus Eisstielen Modelle gebaut.

«Heißt das, dass wir jetzt in den Laden gehen?», fragte Caleb.

«Nein, Caleb, heute nicht mehr, es ist schon fast sechs», sagte Caroline.

Caleb stampfte mit dem Fuß auf. «So ist das immer! Ich warte und warte, und dann ist es zu spät.»

«Wir leihen uns ein Video aus», sagte Caroline. «Du darfst dir aussuchen, welches.»

«Ich will kein Video. Ich will eine Überwachungsanlage.»

«Daraus wird heute nichts mehr», sagte Gary. «Also fang an, dich damit abzufinden.»

Caleb ging in sein Zimmer und knallte die Tür zu. Gary folgte ihm und riss sie wieder auf. «Jetzt reicht's», sagte er. «In diesem Haus werden keine Türen geknallt.»

«Du knallst selber Türen!»

«Ich will kein Wort mehr von dir hören.»

«Du knallst selber Türen!»

«Willst du die ganze Woche in deinem Zimmer verbringen?»

Caleb verdrehte die Augen und kniff die Lippen zusammen: kein Wort mehr.

Gary ließ seinen Blick durch das Kinderzimmer schweifen, das er sich sonst nach Möglichkeit nicht genauer anschaute. Wie die Beute in der Wohnung eines Diebs lag und stand hier stapelweise neues Computer-, Video- und Fotozubehör, dessen Gesamtwert vermutlich das Jahreseinkommen von Garys Sekretärin bei der CenTrust überstieg, unbeachtet in den Ecken herum. Eine solche Luxusorgie in der Höhle eines Elfjährigen! Verschiedenste chemische Stoffe, von molekularen Schleusen den ganzen Nachmittag in Schach gehalten, brachen mit einem Schlag los und fluteten Garys Nervenbahnen. Ein Wasserfall von Reaktionen, ausgelöst durch Faktor 6, regte seine Tränendrüsen an und schickte eine Welle von Übelkeit seinen Vagus hinunter: die «Ahnung», dass er von Tag zu Tag nur überlebte, weil er sich von unterschwelligen Tatsachen ablenkte, die doch von Tag zu Tag unbezweifelbarer und zwingender wurden. Der Erkenntnis, dass er sterben würde. Dass es einen auch nicht rettete, Schätze auf sein Grab zu häufen.

Das Licht in den Fenstern schwand rapide.

«Und du wirst diese ganze Ausrüstung wirklich benutzen?», fragte er mit Beklemmung in der Brust.

Caleb, die Lippen noch immer zusammengekniffen, zuckte die Achseln.

«Niemand sollte Türen knallen», sagte Gary. «Auch ich nicht. Einverstanden?»

«Ja, Dad. Egal.»

Als er aus Calebs Zimmer in den schattigen Flur trat, stieß er beinahe mit Caroline zusammen, die, nur mit Socken an den Füßen, auf Zehenspitzen Richtung Schlafzimmer eilte.

«Schon wieder? Schon wieder? Ich sage, bitte belausch mich nicht, und was machst du?»

«Ich habe nicht gelauscht. Ich muss mich hinlegen.» Und sie huschte, humpelnd, ins Schlafzimmer.

«Lauf ruhig weg, ich krieg dich doch», sagte Gary und folgte ihr. «Ich möchte wissen, warum du mich belauschst.»

«Das ist deine Paranoia, sonst nichts.»

«Meine Paranoia?»

Caroline ließ sich auf das extrabreite Eichenholzbett fallen. Kaum hatten sie geheiratet, war sie fünf Jahre lang zweimal wöchentlich zur Therapie gegangen, der am Ende vom Therapeuten «uneingeschränkter Erfolg» bescheinigt worden war. Das hatte ihr in ihrer beider Wettlauf um geistige Gesundheit einen lebenslangen Vorsprung vor Gary verschafft.

«Du scheinst zu glauben, dass jeder ein Problem hat, nur du nicht», sagte sie. «Und genau das glaubt auch deine Mutter. Ohne jemals — »

«Caroline. Beantworte mir eine Frage. Sieh mir in die Augen und beantworte mir eine Frage. Heute Nachmittag, als du — »

«Ach, Gary, nicht schon wieder. Wenn du dich selber hören könntest.»

«Als du da im Regen rumgaloppiert bist und dich völlig verausgabt hast, um mit einem Elfjährigen und einem Vierzehnjährigen mitzuhalten — »

«Du bist ja besessen! Du bist besessen davon!»

«Als du da im Regen rumgerannt und rumgerutscht bist und Fußball gespielt hast — »

«Du sprichst mit deinen Eltern, und dann lässt du deinen Ärger an uns aus.»

«Hast du schon gehumpelt, bevor du reingekommen bist?» Gary fuchtelte mit dem Finger vor der Nase seiner Frau herum. «Sieh mich an, Caroline, sieh mir in die Augen. Komm schon! Sag es! Sieh mir in die Augen und sag mir, dass du da noch nicht gehumpelt hast!»

Caroline wand sich vor Schmerzen. «Du telefonierst fast eine Stunde mit ihnen — »

«Du kannst es nicht!», rief Gary, bitteren Triumph in der Stimme. «Du lügst und kannst nicht zugeben, dass du lügst!»

«Dad! Dad!», schrie jemand in der Tür. Gary drehte sich um und sah Aaron, der, außer sich, das hübsche Gesicht verzerrt und tränenverschmiert, wie wild den Kopf schüttelte. «Hör auf, sie anzuschreien!»

Der Reue-Faktor (Neurofaktor 26) flutete die Bereiche in Garys Gehirn, die von der Evolution maßgeschneidert waren, um auf ihn anzuspringen.

«In Ordnung, Aaron», sagte er.

Aaron wandte sich von ihm ab und wandte sich ihm wieder zu und marschierte auf der Stelle, machte große Schritte ins Nirgendwo, als versuche er, die beschämenden Tränen aus seinen Augen in seinen Körper zurückzuzwingen, durch die Beine nach unten, und sie in den Boden zu stampfen. «Bitte, Dad, schrei — sie — nicht — an.»

«Ist gut, Aaron», sagte Gary. «Niemand schreit mehr.»

Er streckte die Hand aus, um seinen Sohn an der Schulter zu berühren, doch Aaron flüchtete über den Flur. Gary ließ Caroline allein und folgte ihm; jetzt, wo er gesehen hatte, dass seine Frau starke Verbündete im Haus besaß, fühlte er sich noch isolierter. Die Söhne würden sie vor ihrem Mann beschützen. Ihrem Mann, der schrie und brüllte. Wie vor ihm sein Vater. Sein Vater, der heute depressiv war. Der jedoch damals, in seinen besten Jahren, als er noch schrie und brüllte, dem kleinen Gary solche Angst eingeflößt hatte, dass es ihm nie in den Sinn gekommen war, seiner Mutter beizuspringen.

Aaron lag mit dem Gesicht nach unten auf seinem Bett. Inmitten der Tornado-Trümmer aus Schmutzwäsche und Zeitschriften auf dem Fußboden waren die einzigen Ruhepunkte die Bundy-Trompete (mit Dämpfern und einem Notenständer) und eine riesige, alphabetisch geordnete CD-Sammlung, darunter Gesamtausgaben von Dizzy und Satchmo und Miles Davis, außerdem Unmengen Chet Baker und Wynton Marsalis und Chuck Mangione und Herb Alpert und Al Hirt, die Gary ihm allesamt geschenkt hatte, um sein Interesse an Musik zu fördern.

Gary hockte sich auf die Bettkante. «Es tut mir Leid», sagte er. «Du weißt ja, ich kann ein gemeiner, ungerechter alter Mistkerl sein. Und deiner Mutter fällt es manchmal schwer zuzugeben, dass sie im Unrecht ist. Vor allem, wenn — »

«Ihr. Rücken. Tut. Weh», kam Aarons Stimme kaum hörbar aus dem Ralph-Lauren-Federbett. «Sie lügt nicht.»

«Ich weiß, dass ihr der Rücken wehtut, Aaron. Ich liebe deine Mutter sehr.»

«Dann schrei sie nicht an.»

«Okay. Niemand schreit mehr. Lass uns was zu Abend essen.» Gary gab Aaron einen leichten Karateschlag auf die Schulter. «Was meinst du.»

Aaron rührte sich nicht. Offenbar waren noch weitere aufmunternde Worte angezeigt, doch Gary fielen keine ein. Er registrierte einen bedenklichen Engpass bei den Faktoren 1 und 3. Gerade eben noch hatte er das Gefühl gehabt, dass Caroline drauf und dran gewesen war, ihm vorzuhalten, er sei «depressiv», und wenn die Idee, er sei depressiv, erst einmal in Umlauf kam, dann, so fürchtete er, könnte er sein Recht auf eine eigene Meinung in den Wind schreiben. Dann könnte er seine moralischen Überzeugungen in den Wind schreiben; jedes Wort, das er von da an sagte, würde zum Krankheitssymptom; er würde nie wieder einen Streit gewinnen.

Umso wichtiger schien es ihm deshalb, dass er sich jetzt gegen die Depression zur Wehr setzte — dass er sie mit der Wahrheit bekämpfte.

«Pass auf», sagte er. «Du hast doch mit Mom zusammen da draußen Fußball gespielt. Sag mir bitte, ob ich Recht habe. Hat sie schon gehumpelt, bevor sie ins Haus ging?»

Einen Moment lang, als Aaron sich langsam vom Bett erhob, glaubte Gary, die Wahrheit würde siegen. Doch das Gesicht, das Aaron ihm zeigte, war eine rötlich weiße Rosine des Abscheus und des Unglaubens.

«Du bist furchtbar!», sagte Aaron. «Furchtbar!» Und er rannte aus dem Zimmer.

Normalerweise hätte Gary Aaron so etwas nicht durchgehen lassen. Normalerweise hätte er seinen Sohn, falls nötig, den ganzen Abend lang drangsaliert, um ihm eine Entschuldigung abzuringen. Doch seine mentalen Märkte — Blutzuckergehalt, innere Sekretion, Synapsenfreiverkehr — waren im Begriff einzubrechen. Er fand sich gemein, und wenn er Aaron jetzt drangsalierte, würde ihn das nur noch gemeiner machen, und vielleicht war das Gefühl, gemein zu sein, das wichtigste Warnsignal überhaupt.

Er begriff, dass er gleich zwei fatale Fehler begangen hatte. Er hätte Caroline nie versprechen dürfen, dass es keine weiteren Weihnachten in St. Jude geben werde. Und er hätte, als sie durch den Garten humpelte und das Gesicht verzog, wenigstens ein Foto von ihr schießen sollen. Jetzt beklagte er die moralischen Vorteile, um die diese Fehler ihn gebracht hatten.

«Ich bin nicht klinisch depressiv», sagte er zu seinem Spiegelbild im beinahe dunklen Kinderzimmerfenster. Mit einer gewaltigen, ihn bis aufs Mark strapazierenden Willensanstrengung erhob er sich von Aarons Bett und trat an, sich selbst zu beweisen, dass er sehr wohl einen ganz normalen Abend verleben konnte.

Jonah kam mit Prinz Kaspian die dunklen Treppen herauf. «Ich hab das Buch durchgelesen», sagte er.

«Hat's dir gefallen?»

«Ich fand's toll», sagte Jonah. «Ein richtig gutes Kinderbuch. Aslan hat eine Tür in die Luft gemacht, und da sind Leute durchgegangen und verschwunden. Sie haben Narnia verlassen und sind in die wirkliche Welt zurückgekehrt.»

Gary ging in die Hocke. «Umarm mich mal.»

Jonah schlang seine Arme um ihn. Gary konnte die Geschmeidigkeit der kindlichen Gelenke spüren, ihre welpenhafte Biegsamkeit, die Hitze, die Jonahs Kopfhaut und Wangen abstrahlten. Er hätte sich die Kehle durchgeschnitten, wenn der Junge Blut gebraucht hätte; so gesehen, war seine Liebe grenzenlos; und dennoch fragte er sich, ob es nur Liebe war, wonach er sich im Augenblick sehnte, oder ob er nicht auch dabei war, eine Koalition zu bilden. Sich einen taktischen Verbündeten für die eigene Mannschaft zu sichern.

Was diese stagnierende Wirtschaft jetzt dringend braucht, dachte Zentralbankratsmitglied Gary R. Lambert, ist eine gehörige Infusion Bombay-Sapphire-Gin.

In der Küche lümmelten Caroline und Caleb am Tisch, tranken Cola und aßen Kartoffelchips. Caroline hatte die Füße auf einen zweiten Stuhl gelegt und sich Kissen unter die Knie gesteckt.

«Was wollen wir heute Abend essen?», fragte Gary.

Seine Frau und sein mittlerer Sohn wechselten Blicke, als wäre dies genau die Art von Deppenfrage, für die er berühmt war. An der Chipskrümeldichte auf dem Tisch konnte er unschwer erkennen, dass sie auf dem besten Weg waren, sich den Appetit zu verderben.

«Gemischten Grillteller, denke ich», sagte Caroline.

«O ja, Dad, gemischten Grillteller!», sagte Caleb in einem Ton, den man ebenso gut für ironisch wie für begeistert halten konnte.

Gary fragte, ob Fleisch da sei.

Caroline stopfte sich Chips in den Mund und zuckte die Achseln.

Jonah bat um die Erlaubnis, das Grillfeuer zu machen.

Gary, der gerade Eis aus dem Gefrierschrank nahm, gab sie ihm.

Ganz normaler Abend. Ganz normaler Abend.

«Wenn ich die Kamera über dem Tisch anbringe», sagte Caleb, «kriege ich auch einen Teil vom Esszimmer drauf.»

«Dann geht dir aber die ganze Ecke hier flöten», sagte Caroline. «Von der Hintertür aus könntest du Schwenks in beide Richtungen machen.»

Gary verschanzte sich hinter der Tür der Hausbar, während er 120 Milliliter Gin auf Eis goss.

«‹Fünfundachtzig Grad›?», las Caleb aus dem Katalog vor.

«Das heißt, dass man die Kamera beinahe senkrecht nach unten richten kann.»

Immer noch hinter der Schranktür verschanzt, nahm Gary einen ordentlichen lauwarmen Schluck Gin. Dann schloss er die Tür und hielt, für den Fall, dass es jemanden interessierte, was für einen relativ maßvollen Drink er sich eingeschenkt hatte, das Glas in die Höhe.

«Tut mir Leid, dich enttäuschen zu müssen», sagte er, «aber Überwachen ist out. Es ist als Hobby ungeeignet.»

«Dad, du hast gesagt, es wär okay, solange ich dabeibleibe.»

«Ich habe gesagt, ich denke noch mal drüber nach.»

Caleb schüttelte heftig den Kopf. «Nein! Hast du nicht! Du hast gesagt, ich kann es machen, wenn ich nicht gleich wieder das Interesse verliere.»

«Genau das hast du gesagt», bestätigte Caroline mit einem unschönen Lächeln.

«Ja, Caroline, ich bezweifle nicht, dass du jedes Wort gehört hast. Aber diese Küche wird nicht überwacht. Caleb, ich erlaube dir nicht, diese Gerätschaften zu kaufen.»

«Dad!»

«Das ist mein letztes Wort.»

«Das tut nichts zur Sache, Caleb», sagte Caroline. «Gary, das tut rein gar nichts zur Sache. Caleb hat nämlich eigenes Geld. Und das kann er ausgeben, wofür er will. Stimmt's, Caleb?»

Unter dem Tisch, so, dass Gary es nicht sehen konnte, gab sie ihm ein Zeichen.

«Genau, ich hab selber Geld gespart!» Calebs Ton erneut ironisch oder begeistert oder, womöglich, beides zugleich.

«Wir unterhalten uns später darüber, Caro», sagte Gary. Wärme und Perversität und Stumpfsinn, jedes für sich eine Folge des Gins, wanderten von irgendwo hinter seinen Ohren an Armen und Rumpf hinunter.

Jonah kam wieder herein, nach Mesquiteholz riechend. Caroline hatte eine weitere große Tüte Kartoffelchips geöffnet.

«Verderbt euch nicht den Appetit, Leute», sagte Gary gezwungen, während er Lebensmittel aus Plastikfächern nahm.

Erneut wechselten Mutter und Sohn Blicke.

«Stimmt», sagte Caleb. «Wir müssen ja noch Platz für den gemischten Grillteller lassen!»

Energisch schnitt Gary Fleisch und spießte Gemüse auf. Jonah deckte den Tisch, und zwar so, wie er es liebte, mit präzisen Abständen zwischen Geschirr und Besteck. Der Regen hatte aufgehört, doch die Holzdielen der Veranda waren noch rutschig, als Gary hinaustrat.

Es hatte als Familienwitz angefangen: Immer bestellt Dad im Restaurant gemischten Grillteller, immer will Dad nur in Restaurants, die gemischten Grillteller auf der Speisekarte haben. Und tatsächlich, so ein Teller mit einem Stück Lamm, einem Stück Schwein, einem Stück Kalb und einem oder zwei mageren, zarten Würstchen moderner Machart, so ein klassischer gemischter Grillteller eben, hatte für Gary etwas grenzenlos Köstliches, etwas unwiderstehlich Luxuriöses. Und weil das so war, hatte er begonnen, zu Hause selbst gemischte Grillteller zuzubereiten, die neben Pizza, Essen vom Chinesen und Pasta-Eintöpfen bald zu einem der Standardgerichte der Familie geworden war. Caroline tat das Ihre dazu, indem sie jeden Samstag schwere, blutfeuchte Tüten mit Fleisch und Wurst anschleppte, und binnen kurzem machte Gary zwei- oder sogar dreimal die Woche gemischten Grillteller, noch dem scheußlichsten Wetter auf der Veranda die Stirn bietend, und er liebte es. Er grillte Rebhuhnbrüste, Hühnerleber, Filets Mignons und mexikanisch gewürzte Truthahnwürstchen. Er grillte Zucchini und rote Paprika. Er grillte Auberginen, gelbe Paprika, Lammkoteletts, italienische Würstchen. Er erfand eine phantastische Bratwurst-Ribeye-Bok-Choy-Kombination. Er liebte es und liebte es und liebte es, und dann, auf einmal, war es ihm gleich.

Die klinische Bezeichnung ANHEDONIE war ihm in einem Buch begegnet, das auf Carolines Nachttisch lag und den Titel Befinden: EINS A! (von Dr. med. Ashley Tralpis) trug. Mit einem Schauder des Wiedererkennens, einem fast bösartigen Ja, ja, hatte er im Lexikon unter ANHEDONIE nachgelesen: «Seelischer Zustand, gekennzeichnet durch die Unfähigkeit, in Situationen, die normalerweise Vergnügen bereiten, auch Vergnügen zu empfinden.» ANHEDONIE war mehr als ein Warnsignal, es wir ein waschechtes Symptom. Eine trockene Fäulnis, die sich von Vergnügen zu Vergnügen ausbreitete, ein Pilz, der Gary die Freude am Luxus und die Lust am Müßiggang verdarb, Wonnen, die so viele Jahre lang seinen Widerstand gegen die kleinkarierte Gesinnung seiner Eltern befeuert hatten.

Letzten März in St. Jude hatte Enid angemerkt, dass Gary für einen Abteilungsleiter bei der Bank, dessen Frau nur halbtags und ehrenamtlich für den Children's Defense Fund arbeitete, ganz schön viel zu kochen scheine. Gary war es nicht schwergefallen, seiner Mutter in die Parade zu fahren; sie sei mit einem Mann verheiratet, der nicht mal ein Ei kochen könne, und offensichtlich neidisch. An seinem Geburtstag aber, nachdem er mit Jonah aus St. Jude zurückgekommen war, das teure Geschenk eines Farbfotolabors bekommen und die Willenskraft aufgebracht hatte, Eine Dunkelkammer, phantastisch, wie schön, wie schön! zu rufen, da hatte Caroline ihm eine Platte mit rohen Garnelen und kruden Schwertfischsteaks zum Grillen gereicht, und er war unsicher geworden, ob seine Mutter nicht doch Recht gehabt hatte. Als er auf der Terrasse, in glühender Hitze, die Garnelen schwarz briet und den Schwertfisch versengte, überkam ihn Müdigkeit. Die Aspekte seines Lebens, die nichts mit Grillen zu tun hatten, erschienen ihm auf einmal wie bloße Echoimpulse einer fremden Existenz mitten im Dauerbeschuss jener Momente, in denen er Mesquiteholz anzündete und auf der Terrasse hin- und herlief, um dem Rauch auszuweichen. Sobald er die Augen schloss, sah er verdrehte Popel von bräunendem Fleisch auf einem Grill aus Chrom und höllischen Kohlen. Die ewige Glut, Glut der Verdammnis. Die sengenden Qualen der zwanghaften Wiederholung. An den Innenwänden des Grills hatte sich ein Florteppich aus schwarzen Phenolfetten gebildet. Der Boden hinter der Garage, auf den er die Asche schüttete, glich einer Mondlandschaft oder dem Hof einer Zementfabrik. Er hatte gemischte Grillteller sehr, sehr satt, und am nächsten Morgen sagte er zu Caroline: «Ich koche zu viel.»

«Dann koch eben weniger. Wir können ja essen gehen.»

«Ich möchte zu Hause essen und weniger kochen.»

«Dann bestell was per Lieferservice», sagte sie.

«Das ist nicht das Gleiche.»

«Du bist derjenige, der so hinter diesen gemeinsamen Mahlzeiten her ist. Die Jungs können gut darauf verzichten.»

«Ich aber nicht. Mir sind sie wichtig.»

«Schön, Gary. Aber mir sind sie nicht wichtig, den Jungen sind sie nicht wichtig — und trotzdem sollen wir für dich kochen?»

Er konnte es Caroline nicht verübeln. In den Jahren, als sie ganztags gearbeitet hatte, war es ihm nie eingefallen, sich über tiefgefrorenes, aus dem Restaurant mitgebrachtes oder vorgefertigtes Essen zu beschweren. Jetzt kam es Caroline vermutlich so vor, als ändere er einfach die Spielregeln. Gary dagegen kam es vor, als ändere sich das Wesen des Familienlebens selbst — als zählten Zusammensein und Kindesliebe und Brüderlichkeit nicht mehr so viel wie einst, als er jung war.

Und nun stand er wieder da und grillte. Durch die Küchenfenster beobachtete er, wie Caroline sich mit Jonah im Fingerhakeln maß. Er beobachtete, wie sie Aarons Kopfhörer nahm, um seine Musik zu hören, beobachtete, wie sie im Takt mit dem Kopf wippte. Es sah doch ganz nach Familienleben aus. War hier wirklich nichts faul und das einzige Problem die klinische Depression des Mannes, der hineinspähte?

Caroline schien vergessen zu haben, wie sehr ihr Rücken schmerzte, erinnerte sich aber sofort wieder daran, als er mit der dampfenden, qualmenden Platte vulkanisierten tierischen Eiweißes eintrat. Sie setzte sich seitwärts zum Tisch, stocherte mit der Gabel im Essen und wimmerte leise. Caleb und Aaron musterten sie mit ernsthafter Besorgnis.

«Will sonst keiner wissen, wie Prinz Kaspian ausgeht?», fragte Jonah. «Interessiert das niemanden?»

Carolines Augenlider flatterten, ihr Mund stand kläglich offen, ihr Atem ging flach. Gary überlegte krampfhaft, was er Undeprimiertes, einigermaßen Unfeindseliges sagen könnte, aber er war ziemlich betrunken.

«Herrgott, Caroline», sagte er, «wir wissen, dass dein Rücken wehtut, wir wissen, dass es dir dreckig geht, aber wenn du nicht mal gerade am Tisch sitzen kannst — »

Ohne ein Wort rutschte sie von ihrem Stuhl, hinkte mit ihrem Teller zum Spülbecken, schob ihr Abendessen in den Abfallzerkleinerer und hinkte die Treppe hinauf. Caleb und Aaron entschuldigten sich, zerkleinerten gleichfalls ihr Abendessen und folgten ihr. Alles in allem verschwand Fleisch im Wert von ungefähr dreißig Dollar in der Kanalisation, doch Gary, der den Pegel seines Faktors 3 über null zu halten versuchte, gelang es recht gut, nicht an die Tiere zu denken, die zu diesem Zweck ihr Leben gelassen hatten. Er saß im bleiernen Zwielicht seines Rausches, aß, ohne etwas zu schmecken, und lauschte Jonahs ungerührtem, fröhlichem Geplapper.

«Das ist ein köstliches Rindersteak, Dad, und ich hätte gern noch ein Stück von den gegrillten Zucchini, bitte.»

Aus dem Fernsehzimmer im ersten Stock drang das Gebell der Hauptsendezeit. Kurz verspürte Gary Mitleid mit Aaron und Caleb. Eine Mutter zu haben, die einen so sehr brauchte, ja für deren Glück geradezu verantwortlich zu sein, war eine Last, das wusste Gary. Er wusste auch, dass Caroline, anders als er, sehr allein auf der Welt war. Ihren Vater, einen gut aussehenden, charismatischen Anthropologen, hatte sie mit elf Jahren bei einem Flugzeugabsturz in Mali verloren. Die Eltern des Vaters, alte Quäker, die einen bisweilen mit «Ihr» anredeten, hatten Caroline die Hälfte ihres Anwesens vermacht, einschließlich eines wertvollen Andrew Wyeth, dreier Aquarelle von Winslow Homer und sechzehn Hektar bewaldeten Landes nahe Kennett Square, für das ein Bauträger eine unfassbare Summe gezahlt hatte. Carolines Mutter, inzwischen sechsundsiebzig und beängstigend gesund, wohnte mit ihrem zweiten Mann in Laguna Beach und war eine wichtige Wohltäterin der kalifornischen Demokraten; einmal im Jahr, im April, kam sie an die Ostküste und brüstete sich damit, keine «dieser alten Frauen» zu sein, die nur für ihre Enkelkinder lebten. Carolines einziger Bruder, Philip mit Namen, war Junggeselle, ein gönnerhafter Festkörper-Physiker mit Ärmelschonern, den ihre Mutter auf ziemlich beklemmende Weise vergötterte. Gary kannte in St. Jude keine vergleichbaren Familien. Von Anfang an hatte er Caroline wegen ihrer unglücklichen, einsamen Kindheit geliebt und bedauert. Und er hatte sich zum Ziel gesetzt, ihr eine bessere Familie zu bieten.

Nach dem Abendessen jedoch, während er und Jonah die Spülmaschine einräumten, erklang oben im ersten Stock weibliches Gelächter, richtig lautes Gelächter, und auf einmal war er überzeugt, dass Caroline ein ganz übles Spiel mit ihm trieb. Er war versucht, hinaufzugehen und die Party platzen zu lassen. Doch als das Summen des Gins in seinem Kopf verebbte, wurde der metallische Ton einer älteren Sorge hörbar. Einer Sorge, die Axon betraf. Er fragte sich, warum eine kleine Firma, die ein hochexperimentelles Verfahren entwickelte, seinem Vater Geld anbot.

Dass der Brief an Alfred von Bragg Knuter & Speigh stammte, einer Kanzlei, die eng mit Investmentbänkern zusammenarbeitete, ließ auf die Vorbereitung eines Börsengangs schließen: Da wurden am Vorabend eines großen Ereignisses fein säuberlich Kommata und i-Tüpfelchen gesetzt.

«Möchtest du nicht zu deinen Brüdern raufgehen?», sagte

Gary. «Klingt, als hätten sie viel Spaß da oben.»

«Nein», sagte Jonah. «Ich will den nächsten Narnia-Band lesen, da gehe ich lieber in den Keller, wo es ruhig ist. Kommst du mit?»

Das alte Spielzimmer im Keller, immer noch trocken und mit Teppichboden ausgelegt und kiefernholzgetäfelt, immer noch schön, war von jenem Müllbrand befallen, der einem Wohnraum früher oder später den Garaus macht: Lautsprecherboxen, geometrische Verpackungskörper aus Styropor, ausgediente Ski- und Strandausrüstungen in allerschönsten Verwehungen. In fünf großen und einem Dutzend kleineren Kisten lagen Aarons und Calebs alte Spielsachen. Niemand außer Jonah rührte sie je an, und angesichts einer solchen Schwemme ging auch er, ob allein oder mit einem Freund, im Wesentlichen archäologisch zu Werke. Manchen Nachmittag brachte er damit zu, eine große Kiste zur Hälfte auszupacken und geduldig Action-Figuren samt Zubehör, Fahrzeugen und Modellhäuschen nach Größe und Hersteller zu sortieren (was zu nichts anderem passte, warf er hinters Sofa), doch selten war er am Boden einer Kiste angelangt, bevor sein Freund nach Hause musste oder das Essen auf dem Tisch stand, woraufhin er alles, was er ausgegraben hatte, wieder verscharrte, und so wurde mit den Sachen, die in ihrem Überfluss für einen Siebenjährigen das Himmelreich hätten sein müssen, praktisch nicht gespielt — eine weitere Lektion in ANHEDONIE, die Gary ignorierte, so gut er eben konnte.

Während Jonah zu lesen anfing, schaltete Gary Calebs «alten» Laptop an und ging online. Er gab die Suchbegriffe axon und schwenksville ein. Eine der beiden Sites, auf die er verwiesen wurde, war die Axon Corporation Home Page, aber als Gary sie besuchen wollte, erfuhr er, dass sie sich IN ÜBERARBEITUNG befand. Das andere Link führte ihn zu einer Seite, die tief in der Website von Westportfolio Biofunds nistete und deren Verzeichnis interessanter, nicht gelisteter Unternehmen ein virtuelles Notstandsgebiet trostloser Grafik und fehlerhafter Rechtschreibung war. Die Axon — Seite war zum letzten Mal vor einem Jahr auf den neuesten Stand gebracht worden.

Axon Corporation, 24 East Industrial Serpentine, Schwenksville, PA, Gesellschaft mit beschränkter Haftung, handelsrechtlich eingetragen im Staat Delaware, hält die weltweiten Rechte am Eberle-Verfahren der Gezielten Neurochemotaxis. Das Eberle-Verfahren ist geschützt durch die US-Patente 5.101.239, 5.101.599, 5.103.628, 5.103.629 und 5.105.996, deren alleiniger und exklusiver Lizenzgeber die Axon Corporation ist. Axon kümmert sich um Optimierung, Vermarktung und Vertrieb des Eberle-Verfahrens an Krankenhäuser und Kliniken weltweit sowie um die Forschung und Weiterentwicklung verwandter Technologien. Ihr Gründer und Geschäftsführer ist Dr. Earl H. Eberle, ehemals Professor für Angewandte Neurobiologie an der Johns Hopkins School of Medicine.

Das Eberle-Verfahren der Gezielten Neurochemotaxis, auch bekannt als Eberle'sche Reversiv-Tomographische Chemotherapie, hat die Behandlung inoperabler Neuroblastome und einer Vielzahl anderer morphologischer Gehirnschäden revolutioniert.

Das Eberle-Verfahren verwendet computergesteuerte Hochfrequenzstrahlen, um starke Zytostatika, Mutagene und bestimmte unspezifische Toxine auf krankes Gehirngewebe zu lenken und sie vor Ort zu aktivieren, ohne das umgebende gesunde Gewebe zu schädigen.

Gegenwärtig muss der Patient beim Eberle-Verfahren aufgrund von Einschränkungen in der Computerleistung für bis zu sechsunddreißig Stunden in einem Eberle-Zylinder sediert und immobilisiert werden, während genauestens aufeinander abgestimmte Felder therapeutisch aktive Liganden und ihre inerten «Huckepack»-Träger auf den Krankheitsherd lenken. Die nächste Generation der Eberle-Zylinder soll die maximale Behandlungsdauer auf insgesamt weniger als zwei Stunden reduzieren.

Das Eberle-Verfahren ist im Oktober 1996 als «sichere und wirksame» Behandlungsmethode im Sinne des Lebens- und Arzneimittelgesetzes uneingeschränkt anerkannt worden. Seitdem hat sich mit seiner klinischen Anwendung auf der ganzen Welt, wie in den zahlreichen unten aufgeführten Publikationen im Detail nachzulesen, die Sicherheit und Wirksamkeit nur bestätigt.


Ohne den allfälligen Internet-Hype schwanden Garys Hoffnungen, mit Axon über Nacht den großen Reibach zu machen, dahin. Ein wenig e-müde, einem e-Kopfschmerz trotzend, gab er den Suchbegriff earl eberle ein. Zu den mehreren hundert Fundstellen zählten Artikel wie NEUE HOFFNUNG FÜR NEUROBLASTOME, EIN RIESENSCHRITT VORWÄRTS und DIESE THERAPIE KÖNNTE WUNDER WIRKEN. Eberle und seine Mitarbeiter waren außerdem mit «Remote Computer-Aided Stimulation of Receptor Sites 14, 16A und 21: A Practical Demonstration», «Four Low-Toxicity Ferroacetate Complexes That Cross the BBB», «In-Vitro RF Stimulation of Colloidal Microtubules» sowie mit einem Dutzend weiterer Aufsätze in Fachzeitschriften vertreten. Der Hinweis aber, der Gary am meisten interessierte, war vor sechs Monaten in der Zeitschrift Forbes ASAP erschienen:

Manche dieser Erfindungen, wie der Fogarty-Ballonkatheter und die Lasik-Hornhautchirurgie, sind für die Gesellschaften, die das entsprechende Patent halten, regelrechte Goldesel. Andere, mit so esoterischen Namen wie Eberle-Verfahren der Gezielten Neurochemotaxis, machen ihre Erfinder auf herkömmliche Weise reich: ein Mann, ein Vermögen. Das Eberle-Verfahren, das noch im Jahre 1996 nicht offiziell anerkannt war, heute dagegen als goldener Standard für die Behandlung einer großen Anzahl von Hirntumoren und — läsionen gilt, bringt seinem Erfinder, dem Johns-Hopkins- Neurobiologen Earl H. («Krauskopf») Eberle, weltweit schätzungsweise bis zu 40 Millionen Dollar jährlich an Lizenzgebühren und anderen Erträgen ein.


Vierzig Millionen Dollar jährlich klang schon besser. Vierzig Millionen Dollar jährlich, das belebte Garys Hoffnungen und ließ ihn gleich wieder stocksauer werden. Earl Eberle scheffelte vierzig Millionen Dollar jährlich, während Alfred Lambert, ebenfalls ein Erfinder, aber seinem Temperament nach (gestehen wir's uns ein) ein Verlierer — einer der Schwachen dieser Welt — , für seine Mühe ganze fünftausend erhalten sollte. Und auch noch vorhatte, diese Krumen mit Orfic Midland zu teilen!

«Das ist so ein tolles Buch», berichtete Jonah. «Es wird vielleicht sogar mein Lieblingsbuch.»

Warum dann, dachte Gary, diese Eile, an Dads Patent heranzukommen, hm, Krauskopf? Warum dieses Gedrängel? Die Intuition des Finanzmanns, ein warmes Kribbeln in den Lenden, sagte ihm, dass ihm hier vielleicht eine Insider-Information in den Schoß gefallen war. Eine Insider-Information aus einer zufällig aufgespürten (und daher vollkommen legalen) Quelle. Ein saftiges Stück Fleisch ganz für ihn allein.

«Es ist, als wären sie auf einer Luxuskreuzfahrt», sagte Jonah, «bloß dass sie versuchen, ans Ende der Welt zu segeln. Da wohnt nämlich Aslan, weißt du, am Ende der Welt.»

In der SEC's Edgar Database fand Gary einen vorbörslichen Verkaufsprospekt, einen so genannten Red-Herring-Prospekt, über eine Neuemission von Axon-Aktien. Der Börsengang war für den 15. Dezember angesetzt, das war in gut drei Monaten.

Hauptverantwortlich zeichnete Hevy & Hodapp, eine der Elite-Investmentbanken. Gary überprüfte bestimmte Vitalfunktionen — Cashflow, Emissionsvolumen, Floatvolumen — und drückte, mit kribbelnden Lenden, auf Später Herunterladen.

«Jonah, neun Uhr», sagte er. «Ab in die Badewanne.»

«Ich würde so gern mal eine Luxuskreuzfahrt machen, Dad», sagte Jonah, schon an der Treppe, «wenn das irgendwann möglich wäre.»

In einem anderen Suchen-Feld gab Gary, mit leicht parkinsonschen Händen, die Wörter hübsch, nackt und blond ein.

«Schließ bitte die Tür, Jonah.»

Auf dem Monitor baute sich das Bild einer hübschen nackten Blondine auf. Gary klickte sie an, und ein sonnengebräunter nackter Mann, hauptsächlich von hinten fotografiert, aber auch in Nahaufnahme von den Knien bis zum Nabel, konnte dabei beobachtet werden, wie er der hübschen nackten Blondine seine ganze geschwollene Aufmerksamkeit zuwandte. Die Bilder hatten etwas Fließbandartiges an sich. Die hübsche nackte Blondine war das Rohmaterial, dem der nackte, sonnengebräunte Mann eifrigst mit seinem Werkzeug zu Leibe rückte. Zunächst wurde die bunte Stoffhülle entfernt, dann wurde das Material auf die Knie hinuntergedrückt, und der halbgelernte Arbeiter steckte ihm sein Werkzeug in den Mund, dann wurde das Material auf den Rücken gelegt, während der Arbeiter es mit dem Mund kalibrierte, dann brachte der Arbeiter das Material in eine Reihe horizontaler und vertikaler Positionen, drehte und bog es zurecht, wie er es für nötig hielt, und bearbeitete es sehr energisch mit seinem Werkzeug… Die Bilder ließen Gary eher weich werden als hart. Er fragte sich, ob er schon in dem Alter war, wo Geld ihn mehr erregte als eine hübsche nackte Blondine beim Sex, oder ob die ANHEDONIE, des einsamen Vaters Depression in einem Kellerraum, auch hier ihr Unwesen trieb.

Es klingelte an der Haustür. Jugendliche Füße kamen vom ersten Stock heruntergetrampelt.

Rasch reinigte Gary den Bildschirm und ging nach oben, gerade noch rechtzeitig, um Caleb mit einer großen Pizzaschachtel wieder ins Obergeschoss laufen zu sehen. Er folgte ihm und blieb einen Moment, den Geruch von Peperoni in der Nase und das wortlose, geräuschvolle Kauen seiner Frau und seiner Söhne im Ohr, vor dem Fernsehzimmer stehen. Etwas Militärisches, ein Panzer oder Lastwagen, dröhnte zur Begleitung von Kriegsfilmmusik.

«Wirr errhöhen Drruuck, Leutnant. Jetzt Sie werrden rreden? Jetzt?»

In Hände weg: Pädagogische Fähigkeiten für das nächste Jahrtausend warnte Dr. Harriet L. Schachtman: Allzu oft «schützen» ängstliche Eltern heutzutage ihre Kinder vor den angeblich «verheerenden Einflüssen» von Fernsehen und Computerspielen, nur um sie den weit schädlicheren Einflüssen der sozialen Ächtung durch Altersgenossen auszusetzen.

Gary, der als Kind eine halbe Stunde am Tag hatte fernsehen dürfen und sich nicht geächtet vorgekommen war, schien Schachtmans Theorie ein Patentrezept dafür zu sein, wie man die nachgiebigsten Eltern einer Gemeinschaft die Maßstäbe diktieren ließ und alle anderen zwang, ihre Werte entsprechend weit herunterzuschrauben. Doch Caroline hing dieser Theorie vorbehaltlos an, und da sie die alleinige Sachwalterin seines Ehrgeizes war, nicht wie sein Vater zu sein, und da sie glaubte, dass Kinder durch die Interaktion mit Altersgenossen mehr lernten als durch elterliche Erziehung, fügte Gary sich ihrem Urteil und ließ die Jungen nahezu unbegrenzt fernsehen.

Was er nicht bedacht hatte, war, dass er selbst der Geächtete sein würde.

Er zog sich in sein Arbeitszimmer zurück und rief ein zweites Mal in St. Jude an. Das schnurlose Küchentelefon lag noch auf seinem Schreibtisch, eine Erinnerung an frühere Unerquicklichkeiten und zukünftige Konflikte.

Er hätte lieber mit Enid gesprochen, aber es war Alfred, der abnahm und ihm sagte, sie sei drüben bei den Roots, ein wenig plaudern. «Wir hatten heute Abend ein Nachbarschaftstreffen», sagte er.

Gary erwog, später noch einmal anzurufen, doch er wollte sich von seinem Vater nicht einschüchtern lassen. «Dad», sagte er, «ich habe mich ein bisschen kundig gemacht. Axon ist eine Firma mit sehr viel Geld.»

«Gary, ich habe dir doch gesagt, dass du mir da nicht reinfuhrwerken sollst», antwortete Alfred. «Außerdem ist es jetzt müßig.»

«Was meinst du mit ‹müßig›?»

«Müßig eben. Hat sich erledigt. Die Dokumente sind notariell beglaubigt. Ich ziehe noch die Notarkosten ab, und das war's.»

Gary drückte zwei Finger gegen seine Stirn. «Mein Gott. Du warst beim Notar, Dad? An einem Sonntag?»

«Ich richte deiner Mutter aus, dass du angerufen hast.»

«Schick diese Dokumente nicht ab. Hörst du?»

«Gary, jetzt reicht es mir.»

«Tja, so ein Pech aber auch, ich komme gerade erst in Fahrt!»

«Ich habe dich gebeten, nicht mehr davon anzufangen. Wenn du dich nicht wie ein anständiger, zivilisierter Mensch benehmen kannst, habe ich keine andere Wahl — »

«Deine ganze Anständigkeit ist doch Blödsinn. Deine Zivilisiertheit ist Blödsinn. Schwäche ist das! Angst! Blödsinn!»

«Ich wünsche, nicht darüber zu sprechen.»

«Dann vergiss es.»

«Das habe ich vor. Kein Wort mehr davon. Deine Mutter und

ich kommen nächsten Monat für zwei Tage zu euch, und wir hoffen, euch im Dezember bei uns zu sehen. Es ist mein Wunsch, dass wir uns dann alle vernünftig benehmen.»

«Egal, wie es unter der Oberfläche aussieht. Hauptsache, wir sind alle ‹vernünftig›.»

«Im Kern ist das meine Überzeugung, jawohl.»

«Also, meine ist es nicht», sagte Gary.

«Das weiß ich. Deshalb bleiben wir auch nur achtundvierzig Stunden, nicht länger.»

Gary legte auf, wütender denn je. Er hatte gehofft, seine Eltern würden im Oktober eine ganze Woche bleiben. Er wollte, dass sie in Lancaster County Kuchen aßen, eine Theateraufführung im Annenberg Center besuchten, in West Chester Äpfel pflückten, Aaron Trompete spielen hörten, Caleb Fußball spielen sahen, sich an Jonahs Gesellschaft erfreuten und einfach mitbekamen, was für ein gutes Leben Gary hatte, wie sehr es Respekt und Bewunderung verdiente; und achtundvierzig Stunden reichten dafür nicht aus.

Er verließ sein Arbeitszimmer und gab Jonah einen Gutenachtkuss. Dann duschte er und legte sich auf das große Eichenbett und versuchte, sich auf die neueste Ausgabe des Inc. zu konzentrieren. Aber er konnte nicht aufhören, sich in Gedanken mit Alfred zu streiten.

Während seines Besuchs bei den Eltern im März war er erschüttert gewesen, wie sehr die Kräfte seines Vaters in den wenigen Wochen seit Weihnachten nachgelassen hatten. Ob Alfred Flure entlangschlurfte, Treppen mehr oder weniger hinunterrutschte oder seine Zähne in ein Sandwich grub, aus dem es Salatblätter und Hackfleisch regnete, stets schien er am Rand einer Entgleisung; unentwegt auf die Uhr schauend und mit den Augen umherwandernd, sobald ein Gespräch ihn nicht unmittelbar betraf, raste das alte Dampfross auf eine Katastrophe zu, und Gary konnte es kaum ertragen hinzusehen.

Denn wer, wenn nicht er, würde letztlich die Verantwortung übernehmen? Enid war hysterisch und moralinsauer, Denise lebte in Fantasialand, und Chip war seit drei Jahren nicht mehr in St. Jude gewesen. Wer, wenn nicht Gary, würde sagen: Dieser Zug sollte nicht mehr auf der alten Strecke fahren?

Ganz oben auf der Tagesordnung stand, wie Gary es sah, der Verkauf des Hauses. Einen Spitzenpreis erzielen, seinen Eltern eine kleinere, neuere, sicherere, billigere Bleibe besorgen und den Rest aggressiv investieren. Das Haus war Enids und Alfreds einziger großer Vermögenswert, und Gary nahm sich einen Vormittag lang Zeit, das ganze Anwesen, innen wie außen, zu inspizieren. Er fand Risse im Putz, Rostäderchen in den Waschbecken, eine feuchte Stelle an der Schlafzimmerdecke. Er entdeckte Regenflecken an der Innenwand der rückwärtigen Veranda, einen Bart aus getrocknetem Seifenschaum am Kinn der alten Spülmaschine, ein alarmierendes Rumpeln im Gebläse der Belüftungsanlage, Warzen und Furchen im Asphalt der Einfahrt, Termiten im Brennholzstapel, einen Eichenast, der wie ein Damoklesschwert über einer Gaube hing, fingerbreite Risse im Fundament, tragende Wände mit Schlagseite, schaumgekrönte Wellen aus abblätternder Farbe an Fensterrahmen, riesige, kühn gewordene Spinnen im Keller, ganze Felder vertrockneter Asseln und Grillenhülsen, mysteriöse pilzige und enterale Gerüche, kurz: entropischen Zerfall, wo immer er hinsah. Selbst bei anziehendem Markt begann das Haus im Wert zu sinken, und Gary dachte: Wir müssen das Scheißding jetzt verkaufen, wir dürfen keinen Tag mehr verlieren. Am letzten Morgen seines Aufenthalts fuhr Gary, während Jonah Enid einen Geburtstagskuchen backen half, mit Alfred zum Eisenwarengeschäft. Kaum saßen sie im Auto, sagte er, es sei an der Zeit, das Haus auf den Markt zu bringen.

Alfred, auf dem Beifahrersitz des greisenhaften Oldsmobils, blickte starr geradeaus. «Warum?»

«Wenn du die Frühjahrssaison verpasst», sagte Gary, «musst du ein ganzes Jahr warten. Und das kannst du dir nicht leisten. Du kannst dich nicht darauf verlassen, dass du gesund bleibst, und das Haus verliert an Wert.»

Alfred schüttelte den Kopf. «Ich habe mich lange dafür starkgemacht. Eine Zweizimmerwohnung mit Küche und Bad ist alles, was wir brauchen. Ein Plätzchen zum Kochen für deine Mutter, zum Sitzen für uns. Aber es ist zwecklos. Sie will hier nicht weg.»

«Dad, wenn ihr nicht in eine Wohnung zieht, die besser zu handhaben ist, tust du dir irgendwann noch was. Du landest im Pflegeheim.»

«Ich habe nicht die Absicht, in ein Pflegeheim zu gehen. So.»

«Dass du nicht die Absicht hast, heißt noch lange nicht, dass es nicht passiert.»

Alfred schaute im Vorbeifahren zu Garys alter Grundschule. «Wo geht's hin?»

«Du fällst die Treppen runter, du rutschst auf dem Eis aus und brichst dir die Hüfte, und schon bist du im Pflegeheim. Carolines Großmutter — »

«Ich habe nicht verstanden, wo es hingeht.»

«Zum Eisenwarengeschäft», sagte Gary. «Mom möchte einen Dimmer für die Küchenlampe haben.»

Alfred schüttelte den Kopf. «Sie und ihre romantische Beleuchtung.»

«Sie hat eben Freude daran», sagte Gary. «Woran hast du Freude?»

«Wie meinst du das?»

«Ich meine, dass du ihr das Leben ziemlich schwer machst.»

Alfreds Hände, immer in Bewegung, griffen auf seinem Schoß ins Leere — strichen einen inexistenten Pokereinsatz ein. «Ich bitte dich noch mal, dich nicht einzumischen», sagte er.

Das Licht eines spätwinterlichen Tauwettermorgens, die Stille einer Unstunde in St. Jude — Gary fragte sich, wie seine Eltern das ertrugen. Die Eichen waren genauso ölig schwarz wie die Krähen, die darin hockten, der Himmel genauso salzweiß wie das Pflaster, auf dem ältere Verkehrsteilnehmer, sedierende Geschwindigkeitsbegrenzungen einhaltend, ihre Ziele ansteuerten: die Einkaufszentren mit Pfützen von Schmelzwasser auf den Wellblechdächern; die Ausfallstraße vorbei an Puddelstahlbauhöfen und der staatlichen Nervenklinik und den Sendemasten, die Seifenopern und Spielshows in den Äther einspeisten; die Ringstraßen und, jenseits davon, Hunderttausende Hektar tauenden Hinterlands, wo Kleintransporter achsentief im Lehm stecken blieben, in den Wäldern.22er abgefeuert wurden und im Radio nichts als Gospels und Hawaiigitarren zu hören waren; Wohnblocks mit dem gleichen farblos-grellen Leuchten in jedem Fenster, eichhörnchenverseuchten gelben Vorgärten, in denen hier und da ein Plastikspielzeug halb im Schmutz verbuddelt lag, einem Postboten, der irgendetwas Keltisches pfiff und die Briefkästen lauter als nötig zuknallte, weil die Totenstille dieser Straßen einem, zu einer solchen Unstunde, in einer solchen Unjahreszeit, wahrhaft den Rest geben konnte.

«Bist du glücklich mit deinem Leben?», fragte Gary, während er auf den Linksabbieger-Pfeil wartete. «Kannst du von dir behaupten, dass du jemals glücklich bist?»

«Ich habe ein Gebrechen, Gary — »

«Viele Menschen haben Gebrechen. Wenn das deine Entschuldigung ist, bitte, wenn du dir Leid tun willst, bitte, aber warum musst du Mom mit runterziehen?»

«Tja. Du fährst morgen ab.»

«Und das bedeutet? Dass du weiter in deinem Sessel sitzt und Mom für dich kocht und putzt?»

«Es gibt Dinge im Leben, die schlicht und einfach ausgehalten werden müssen.»

«Warum überhaupt am Leben bleiben, wenn das deine Einstellung ist? Worauf kannst du dich noch freuen?»

«Das frage ich mich jeden Tag.»

«Na, und wie lautet deine Antwort?»

«Wie lautet deine? Worauf sollte ich mich denn deiner Meinung nach freuen?»

«Aufs Reisen.»

«Ich bin genug gereist. Dreißig Jahre lang.»

«Darauf, dass du Zeit für die Familie hast. Für die Menschen, die du liebst.»

«Kein Kommentar.»

«Was soll das heißen?»

«Nichts weiter: kein Kommentar.»

«Du bist immer noch sauer wegen Weihnachten.»

«Interpretier das, wie du willst.»

«Wenn du sauer wegen Weihnachten bist, könntest du vielleicht die Güte haben, es zu sagen — »

«Kein Kommentar.»

«Anstatt dich in Anspielungen zu ergehen.»

«Wir hätten zwei Tage später kommen und zwei Tage früher wieder abfahren sollen», sagte Alfred. «Das ist alles, was ci h zum Thema Weihnachten zu sagen habe. Wir hätten nur achtundvierzig Stunden bleiben sollen.»

«Das liegt daran, dass du depressiv bist, Dad. Du bist klinisch depressiv — »

«Genau wie du.»

«Und das Vernünftigste wäre, du würdest dich behandeln lassen.»

«Hast du mich gehört? Ich habe gesagt, genau wie du.» «Wovon redest du überhaupt?»

«Denk mal darüber nach.»

«Dad, im Ernst, wovon redest du? Ich bin nicht derjenige, der den ganzen Tag im Sessel sitzt und schläft.»

«Unter der Oberfläche schon.»

«Das stimmt einfach nicht.»

«Eines Tages wirst du es sehen.»

«Werde ich nicht!», sagte Gary. «Mein Leben hat ein vollkommen anderes Fundament als deins.»

«Denk an meine Worte. Ich schaue mir deine Ehe an, ich sehe, was ich sehe. Eines Tages wirst du es auch sehen.»

«Das ist leeres Geschwätz, und das weißt du. Du hast bloß eine Scheißwut auf mich und kannst nicht damit umgehen.»

«Ich habe dir bereits gesagt, dass ich nicht darüber diskutieren will.»

«Und ich respektiere das nicht.»

«Nun, es gibt auch Dinge in deinem Leben, die ich nicht respektiere.»

Zu hören, dass Alfred, der in fast jeder Hinsicht Unrecht hatte, manches in Garys Leben nicht respektierte, hätte nicht wehtun dürfen; und dennoch tat es weh.

Im Eisenwarengeschäft überließ er es Alfred, den Dimmer zu bezahlen. Die Vorsicht, mit der der alte Mann die Scheine aus seiner schmalen Brieftasche zupfte, das leichte Zögern, bevor er sich von ihnen trennte, waren Zeichen seiner Achtung vor jedem Dollar — seiner blödsinnigen Überzeugung, dass jeder einzelne zählte.

Wieder zu Hause, holte Alfred, während Gary und Jonah draußen kickten, Werkzeug aus dem Keller, stellte den Strom in der Küche ab und machte sich daran, den Dimmer zu installieren. Nicht einmal jetzt kam Gary auf den Gedanken, dass es vielleicht keine gute Idee war, Alfred mit Kabeln hantieren zu lassen. Als er zum Mittagessen ins Haus ging, sah er, dass sein Vater bislang nur den Deckel vom alten Schalter abmontiert hatte. Den Dimmer hielt er in der Hand wie eine Sprengkapsel, die ihn vor Angst zittern ließ.

«Mein Gebrechen erschwert mir so etwas», erklärte Alfred.

«Du musst das Haus verkaufen», sagte Gary.

Nach dem Essen fuhr er mit seiner Mutter und seinem Sohn ins Verkehrsmuseum von St. Jude. Während Jonah in alte Lokomotiven kletterte und das trockengedockte U-Boot erkundete und Enid sich hinsetzte, um ihre schmerzende Hüfte auszuruhen, listete Gary im Geist alle Ausstellungsstücke auf, weil er das Gefühl brauchte, etwas geleistet zu haben. Mit den Exponaten selbst, ihrer erschöpfenden Mitteilsamkeit, ihrer fröhlichen Volksprosa, konnte er nichts anfangen. DAS GOLDENE ZEITALTER DER DAMPFKRAFT. MORGENDÄMMERUNG DES FLIEGENS. EIN JAHRHUNDERT DER AUTOMOBILEN SICHERHEIT. Absatz um Absatz tönernen Texts. Das Schlimmste am Mittelwesten war für Gary, dass er sich hier so ungehätschelt, so unprivilegiert vorkam. St. Jude mit seinem zuversichtlichen Egalitarismus brachte ihm einfach nicht den Respekt entgegen, zu dem seine Talente und Leistungen ihn berechtigten. Ach, die Tristesse dieses Ortes! Die ernsthaften Bauerntölpel um ihn herum wirkten neugierig und überhaupt nicht deprimiert. Wie munter sie ihre missgestalteten Köpfe mit Fakten füllten: als könnten Fakten sie retten! Nicht eine einzige Frau, die auch nur halb so hübsch oder gut angezogen war wie Caroline. Nicht ein einziger Mann mit einem so anständigen Haarschnitt oder einem so flachen Bauch wie Gary. Aber genau wie Alfred, genau wie Enid waren sie ausgesprochen rücksichtsvoll. Sie schubsten Gary nicht und drängelten sich auch nicht vor, sondern warteten, bis er zum nächsten Exponat geschlendert war. Dann rückten sie näher und lasen und lernten. Gott, wie er den Mittelwesten hasste! Er konnte kaum atmen oder sich aufrecht halten. Er hatte Angst, sich gleich übergeben zu müssen. Eilig flüchtete er in den Museumsladen und kaufte eine silberne Gürtelschnalle, zwei Stiche von Eisenbahnviadukten der Midland Pacific und eine Feldflasche aus Zinn (alles für sich selbst), ein hirschledernes Portemonnaie (für Aaron) und ein Bürgerkriegsspiel auf CD-ROM (für Caleb).

«Dad», sagte Jonah, «Grandma will mir zwei Bücher für jeweils höchstens zehn Dollar kaufen oder eins für höchstens zwanzig, ist das in Ordnung?»

Enid und Jonah waren ein Herz und eine Seele. Enid waren kleine Kinder stets lieber gewesen als große, und Jonah hatte sich im Ökosystem der Familie die Nische des perfekten Enkelkinds gesucht, das eifrig auf Schöße kletterte, unerschrocken bitteres Gemüse aß, sich wenig aus Fernsehen und Computerspielen machte und großes Geschick darin bewies, Fragen wie «Na, gehst du gern zur Schule?» frohgemut zu beantworten. In St. Jude badete er in der ungeteilten Aufmerksamkeit dreier Erwachsener. Er erklärte St. Jude zum schönsten Ort, an dem er je gewesen war. Auf dem Rücksitz des Oldsmobiles bestaunte er, die elfenhaften Augen weit aufgerissen, alles, was Enid ihm zeigte.

«Wie leicht man hier einen Parkplatz findet!»

«So wenig Autos!»

«Das Verkehrsmuseum ist besser als alle Museen, die es bei uns gibt, findest du nicht, Dad?»

«Ich finde die Beinfreiheit hier im Auto klasse. Das ist das tollste Auto, in dem ich je gefahren bin.»

«Die Läden sind alle so nah und gut zu erreichen!»

Am Abend, nachdem sie vom Museum zurück waren und Gary weitere Besorgungen erledigt hatte, gab es gefüllte Schweinekoteletts und einen Geburtstags-Schokoladenkuchen. Jonah aß verträumt Eiscreme, als Enid ihn fragte, ob er nicht Lust habe, Weihnachten in St. Jude zu feiern.

«Das fänd ich toll», sagte Jonah, dessen Lider vor satter Zufriedenheit auf halbmast hingen.

«Wir machen Zuckerplätzchen und Eierflip, und du hilfst uns beim Baumschmücken», sagte Enid. «Wahrscheinlich schneit es, dann kannst du Schlitten fahren. Und, Jonah, im Waindell Park gibt es jedes Jahr eine herrliche Lichtershow,

Weihnachtsland heißt sie, da wird der ganze Park hell erleuchtet — »

«Mutter, es ist März», sagte Gary.

«Können wir Weihnachten herkommen?», fragte Jonah ihn.

«Wir kommen bestimmt bald wieder», sagte Gary. «Ob an Weihnachten, weiß ich noch nicht.»

«Ich glaube, Jonah fände es schön», sagte Enid.

«Ich fände das total schön», sagte Jonah und belud einen weiteren Löffel mit Eiscreme. «Es könnte mein allerschönstes Weihnachten werden.»

«Das glaube ich auch», sagte Enid.

«Es ist März», sagte Gary. «Wir reden im März nicht über Weihnachten, das wisst ihr. Auch nicht im Juni oder August. Das wisst ihr genau.»

«Also», sagte Alfred und stand auf, «ich gehe jetzt schlafen.»

«Ich bin für Weihnachten in St. Jude», sagte Jonah.

Dass sie Jonah für ihre Interessen einspannte, dass sie einen kleinen Jungen als Druckmittel benutzte, schien Gary ein gemeiner Trick von Enid zu sein. Nachdem er Jonah ins Bett gebracht hatte, sagte er seiner Mutter, dass Weihnachten wahrhaftig ihre geringste Sorge sein sollte.

«Dad kann nicht mal mehr einen Lichtschalter installieren», sagte er. «Und jetzt habt ihr oben eine undichte Stelle, und irgendwo am Schornstein regnet es rein — »

«Ich liebe dieses Haus.» Enid stand an der Spüle und schrubbte die Kotelettpfanne. «Dad braucht nur ein bisschen an seiner inneren Einstellung zu arbeiten.»

«Er braucht eine Schocktherapie oder Medikamente», sagte Gary. «Wenn du dein Leben dafür hergeben willst, ihm zu dienen, ist das deine Sache. Wenn du in einem alten Haus mit tausend Macken wohnen und alles so erhalten willst, wie es dir gefällt, schön, auch das ist in Ordnung. Wenn du dich kaputtmachen willst, indem du versuchst, beides gleichzeitig hinzukriegen, bitte sehr, nichts dagegen. Aber verlang nicht von mir, dass ich im März Weihnachtspläne schmiede, nur damit du dich bei alledem besser fühlen kannst.»

Enid lehnte die Kotelettpfanne hochkant an den überladenen Abtropfständer auf der Arbeitsplatte. Gary wusste, dass er ein Geschirrtuch zur Hand nehmen sollte, aber das Chaos von nassen Pfannen und Tellern und Gerätschaften von seinem Geburtstagsessen lähmte ihn; sie abzutrocknen schien ihm genauso eine Sisyphusarbeit, wie all die Mängel im Haus seiner Eltern zu reparieren. Die einzige Möglichkeit, nicht zu verzweifeln, bestand darin, sich erst gar nicht damit abzugeben.

Er schenkte sich einen ziemlich kleinen Brandy als Schlummertrunk ein, während Enid mit unglücklichen Stoßbewegungen die voll gesogenen Essensreste vom Grund der Spüle kratzte.

«Was meinst du denn, was ich tun sollte?», fragte sie.

«Das Haus verkaufen», sagte Gary. «Ruf morgen einen Makler an.»

«Und in eine von diesen beengten modernen Eigentumswohnungen ziehen?» Enid schüttelte die widerwärtigen, nassen Reste von ihrer Hand in den Müll. «Wenn ich mal den ganzen Tag unterwegs bin, laden Dave und Mary Beth Dad zum Mittagessen ein. Das hat er gern, und ich bin dann so beruhigt, wenn ich weiß, dass er bei ihnen ist.

Letzten Herbst wollte er eine neue Eibe pflanzen, aber er kriegte den alten Stumpf nicht raus, und da ist Joe Person mit einer Axt rübergekommen, und die beiden haben den ganzen Nachmittag lang zusammen gearbeitet.»

«Er sollte überhaupt keine Eiben pflanzen», sagte Gary, der schon bereute, sich beim ersten Mal so wenig eingegossen zu haben. «Er sollte nicht mit Äxten hantieren. Der Mann kann ja kaum noch stehen.»

«Gary, ich weiß, dass wir hier nicht immer bleiben können. Aber ich möchte hier ein letztes richtig schönes Familienweihnachten feiern. Und ich möchte — »

«Könntest du dir denn einen Umzug vorstellen, wenn so ein Weihnachten stattfände?»

Neue Hoffnung ließ Enids Züge milder werden. «Würdet ihr dann vielleicht kommen, Caroline und du?»

«Ich kann nichts versprechen», sagte Gary. «Aber wenn es dir so leichter fiele, das Haus auf den Markt zu bringen, würden wir auf jeden Fall überlegen — »

«Ich fände es himmlisch, wenn ihr kämt. Himmlisch.»

«Aber, Mutter, du musst realistisch bleiben.»

«Lass uns erst mal dieses Jahr hinter uns bringen», sagte Enid. «Lass uns planen, Weihnachten hier zu feiern, so wie Jonah es sich wünscht, und dann sehen wir weiter!»

Garys ANHEDONIE hatte sich verschlimmert, als er nach Chestnut Hill zurückgekehrt war. Um eine Beschäftigung für den Winter zu haben, hatte er sich darangemacht, aus Hunderten von Heimvideostunden ein genießbares Zwei-Stunden-Band mit den Größten Lambert-Hits zusammenzuschneiden, von dem er hochwertige Kopien ziehen wollte, die sie vielleicht als «Video-Weihnachtskarten» verschicken konnten. Als die endgültige Fassung fertig war und er sich wieder und wieder seine Lieblingsfamilienszenen ansah und seine Lieblingssongs («Wild Horses», «Time After Time» usw.) anhörte, begann er diese Szenen und Songs zu hassen. Und als er, in der neuen Dunkelkammer, seine Aufmerksamkeit den zweihundert definitiven Lamberts zuwandte, stellte er fest, dass es ihm auch keinen Spaß mehr machte, Fotos anzuschauen. Jahrelang hatte er in Gedanken an den Zweihundert Lamberts herumgebastelt wie an einem optimal ausgewogenen Investmentfonds und mit großer Befriedigung all jene Fotos aufgelistet, die auf jeden Fall dazugehörten. Jetzt fragte er sich, wen, außer sich selbst, er mit diesen Aufnahmen eigentlich beeindrucken wollte. Wen versuchte er zu überzeugen, und wovon? Er verspürte den sonderbaren Impuls, seine alten Lieblingsbilder zu verbrennen. Doch da sein ganzes Leben als eine Korrektur des Lebens angelegt war, das sein Vater führte, und da zwischen ihm und Caroline seit langem Einigkeit darüber bestand, dass Alfred klinisch depressiv war, und man ja wusste, dass die klinische Depression genetische Ursachen hatte und im Prinzip erblich war, blieb Gary gar keine andere Wahl, als sich weiter standhaft gegen die ANHEDONIE zu wehren, weiter die Zähne zusammenzubeißen und weiter sein Bestes zu tun, um Spaß am Leben zu haben…

Er erwachte mit juckendem Ständer, neben sich, unter der Decke, Caroline.

Seine Nachttischlampe brannte noch, sonst war das Zimmer dunkel. Caroline lag da wie in einem Sarkophag, der Rücken flach auf der Matratze und ein Kissen unter den Knien. Durch die Fliegengitter vor den Schlafzimmerfenstern drang die kühle, feuchte Luft eines müde gewordenen Sommers. Kein Wind regte sich in den Blättern der Platane, deren unterste Zweige vor dem Fenster hingen.

Auf Carolines Nachttisch lag eine gebundene Ausgabe von Neutrale Haltung: Wie Sie Ihrem Kind IHRE Jugend ersparen (Dr. Garen Tamkin, 1998).

Sie schien zu schlafen. Ihr langer Arm, dank dreimal wöchentlichen Schwimmens im Cricket Club stramm wie eh und je, ruhte an ihrer Seite. Gary betrachtete ihre kleine Nase, ihren vollen roten Mund, den blonden Flaum und den matten Schweißfilm über ihrer Oberlippe, den spitz zulaufenden Streifen entblößter heller Haut zwischen dem Saum ihres T-Shirts und dem Gummizug ihrer alten kurzen Swarthmore-College-Turnhose. Die ihm zugewandte Brust drückte von innen gegen das T-Shirt, die Kontur der karmesinroten Brustwarze zeichnete sich schwach unter dem gedehnten Stoff ab…

Als er die Hand ausstreckte und ihr übers Haar strich, zuckte ihr ganzer Körper zusammen, als wäre seine Hand eine Defibrillator-Elektrode.

«Was ist denn los?», sagte er.

«Mein Rücken bringt mich um.»

«Vor einer Stunde hast du noch gelacht und dich pudelwohl gefühlt. Und jetzt tut er wieder weh?»

«Die Wirkung des Motrins lässt nach.»

«Die wundersame Wiederkehr der Schmerzen.»

«Du hast noch kein einziges nettes Wort zu mir gesagt, seit mir der Rücken wehtut.»

«Weil du mich anlügst, anstatt zuzugeben, wieso er dir wehtut», sagte Gary.

«Mein Gott. Schon wieder?»

«Zwei Stunden Fußball und Rumgehampel im Regen sind nicht das Problem. Schuld ist das Telefon.»

«Ja», sagte Caroline. «Weil es deiner Mutter um die zehn Cent Leid tut, die es kostet, eine Nachricht auf Band zu sprechen. Sie muss es dreimal klingeln lassen und wieder aufhängen, dreimal klingeln lassen und wieder aufhängen — »

«Dein eigenes Verhalten spielt also gar keine Rolle», sagte Gary. «Nein, meine Mutter ist schuld! Sie ist auf ihrem Besen herbeigeflogen und hat dir in den Rücken getreten, weil sie dir wehtun will!»

«Jedenfalls bin ich fix und fertig mit den Nerven, nachdem das den ganzen Nachmittag so ging mit diesem ewigen Geklingel.»

«Caroline, ich hab dich humpeln sehen, bevor du reingelaufen bist! Ich hab dein Gesicht gesehen. Erzähl mir nicht, du hättest da noch keine Schmerzen gehabt.»

Sie schüttelte den Kopf. «Weißt du, was du bist?»

«Und dann hast du auch noch gelauscht!»

«Weißt du, was du bist?»

«Du lauschst am einzigen freien Telefon im Haus und hast die Frechheit, mir zu erzählen — »

«Gary, du bist depressiv. Ist dir das klar?»

Er lachte. «Ich glaube kaum.»

«Du bist schwermütig und misstrauisch und zwanghaft. Du läufst mit düsterer Miene herum. Du schläfst schlecht. Du scheinst an nichts mehr Freude zu haben.»

«Du lenkst ab», sagte er. «Meine Mutter hat angerufen, weil sie eine völlig vernünftige Frage bezüglich Weihnachten hatte.»

«Vernünftig?» Jetzt lachte Caroline. «Gary, sie ist übergeschnappt, was Weihnachten angeht. Sie ist komplett wahnsinnig.»

«Ach komm, Caroline. Wirklich.»

«Ich meine das ernst!»

«Wirklich. Caroline. Sie werden bald ihr Haus verkaufen, und sie möchten, dass wir alle noch einmal kommen, bevor sie sterben, Caroline, bevor meine Eltern sterben — »

«In dem Punkt waren wir uns doch immer einig. Wir waren uns einig, dass fünf Menschen, die sehr viel zu tun haben, sich nicht zur Hauptreisezeit ins Flugzeug setzen müssen, nur damit zwei Menschen, die nichts mehr zu tun haben, nicht hierher zu kommen brauchen. Und ich habe mich immer gefreut, sie hier — »

«Von wegen.»

«Aber dann ändern sich auf einmal die Regeln!»

«Du hast dich nie gefreut, wenn sie zu Besuch waren. Caroline. Sie sind schon so weit, dass sie nicht mal mehr länger als achtundvierzig Stunden bei uns bleiben wollen.»

«Und das ist meine Schuld?» Sie gestikulierte und grimassierte, ein wenig unheimlich, Richtung Zimmerdecke. «Du begreifst offenbar nicht, Gary, dass wir eine emotional gesunde Familie sind. Ich bin eine liebevolle, leidenschaftliche Mutter. Ich habe drei intelligente, kreative und emotional gesunde Kinder. Wenn du meinst, dass es in diesem Haus ein Problem gibt, solltest du dir lieber mal an die eigene Nase fassen.»

«Ich mache einen vernünftigen Vorschlag», sagte Gary, «und du nennst mich ‹depressiv›.»

«Dir ist dieser Gedanke also noch nie gekommen?»

«Sobald ich von Weihnachten spreche, bin ich ‹depressiv›.»

«Nein, im Ernst, willst du mir weismachen, dir ist in den letzten sechs Monaten noch nie in den Sinn gekommen, dass du krank sein könntest?»

«Es ist extrem feindselig, Caroline, einen anderen als verrückt zu bezeichnen.»

«Nicht, wenn dieser andere möglicherweise ernsthaft krank ist.»

«Ich schlage vor, wir fliegen nach St. Jude», sagte er. «Wenn du nicht wie ein erwachsener Mensch mit mir darüber reden willst, entscheide ich eben selbst.»

«Ach ja?» Caroline machte ein verächtliches Geräusch. «Kann sein, dass Jonah mit dir kommt. Aber versuch mal, Aaron und Caleb ins Flugzeug zu kriegen. Frag sie einfach mal, wo sie Weihnachten lieber sind.»

Frag sie einfach mal, auf wessen Seite sie sind.

«Ich dachte eigentlich, wir wären eine Familie», sagte Gary, «und würden Dinge gemeinsam unternehmen.»

«Du bist doch derjenige, der hier im Alleingang entscheidet.»

«Sag mir, dass das kein Problem ist, an dem unsere Ehe kaputtgeht.»

«Du bist derjenige, der sich verändert hat.»

«Nein, Caroline, also nein, das ist ja lächerlich. Es gibt gute Gründe, dieses Jahr eine einmalige Ausnahme zu machen.»

«Du bist depressiv», sagte sie, «und ich will dich zurückhaben. Ich habe es satt, mit einem deprimierten alten Mann zusammenzuleben.»

Gary seinerseits wollte die Caroline zurückhaben, die sich noch vor wenigen Nächten, als es draußen gewaltig donnerte, im Bett an ihn geklammert hatte. Die Caroline, die auf ihn zugehüpft kam, wenn er den Raum betrat. Die Halbwaise, deren sehnlichster Wunsch es war, auf seiner Seite zu sein.

Aber ihm hatte auch immer gefallen, wie stark sie war, wie anders als alle Lamberts, wie bar jeden Mitgefühls für seine Familie. Über die Jahre hatte er verschiedene ihrer Bemerkungen zu einer Art persönlichem Dekalog zusammengestellt, den Carolinischen Zehn Geboten, aus denen er insgeheim Kraft und Hoffnung schöpfte:

Du bist kein bisschen wie dein Vater.

Du brauchst dich nicht dafür zu entschuldigen, dass du dir einen BMW kaufst.

Dein Dad missbraucht die Gefühle deiner Mom.

Ich liebe den Geschmack deines Samens.

Arbeit war die Droge, die das Leben deines Vaters zerstört hat.

Komm, wir kaufen beides!

Deine Familie hat ein krankhaftes Verhältnis zum Essen.

Du bist ein unglaublich gut aussehender Mann.

Denise ist neidisch auf das, was du hast.

Zu leiden bringt überhaupt nichts.

Viele Jahre lang war das sein Credo gewesen — hatte er sich für jeden Ausspruch tief in Carolines Schuld gefühlt — , und jetzt fragte er sich, wie viel davon er für bare Münze nehmen konnte. Vielleicht gar nichts.

«Ich rufe morgen im Reisebüro an», sagte er.

«Und ich rate dir», erwiderte Caroline prompt, «ruf stattdessen lieber Dr. Pierce an. Du brauchst jemanden, mit dem du reden kannst.»

«Ich brauche jemanden, der die Wahrheit sagt.»

«Du willst die Wahrheit hören? Du willst, dass ich dir sage, warum ich nicht mitkomme?» Caroline setzte sich auf und beugte sich in einem merkwürdigen, vom Rückenschmerz diktierten Winkel vor. «Willst du das wirklich wissen?»

Gary fielen die Augen zu. Die Grillen draußen machten ein Geräusch wie endlos durch Rohre rieselndes Wasser. Von weit her drang Hundegebell an sein Ohr, rhythmisch wie das Rucken einer Handsäge.

«Die Wahrheit ist», sagte Caroline, «dass ich achtundvierzig Stunden völlig ausreichend finde. Ich will nicht, dass meine Kinder Weihnachten als eine Zeit in Erinnerung behalten, in der sich alle anbrüllen. Was ja jetzt ziemlich unausweichlich scheint. Deine Mutter kommt mit dreihundertsechzig Tagen schwerer Weihnachtsmanie im Gepäck zur Tür herein, sie hat seit Januar an nichts anderes gedacht, und dann geht's natürlich los: Wo ist denn die kleine österreichische Rentierstatuette — gefällt sie euch nicht? Stellt ihr sie nicht auf? Wo ist sie? Ja, wo ist sie denn? Wo ist die kleine österreichische Rentier Statuette? Sie hat ihren Essenswahn, ihren Geldwahn, ihren Kleiderwahn, sie hat ihr ganzes zehnteiliges Kofferset dabei, was mein Mann ursprünglich einmal ähnlich problematisch fand wie ich, aber jetzt ergreift er, aus heiterem Himmel, ihre Partei. Wir werden das Haus auf den Kopf stellen, um ein dreizehn Dollar teures Stück Souvenirladenkitsch zu suchen, weil es eine sentimentale Bedeutung für deine Mutter hat — »

«Caroline.»

«Und wenn sich herausstellt, dass Caleb — »

«Das ist nur die halbe Wahrheit.»

«Bitte, Gary, lass mich ausreden. Wenn sich herausstellt, dass Caleb etwas gemacht hat, was jeder normale Junge mit einem Stück Souvenirladen-Schrott machen würde, das er im Keller findet — »

«Ich höre mir das nicht länger an.»

«Aber nein, das Problem ist nicht, dass deine adleräugige Mutter von irgend so einem schrottigen österreichischen Kitschding besessen ist, nein, das ist es nicht — »

«Es war hundert Dollar wert, eine handgeschnitzte — »

«Und wenn es tausend Dollar wert wäre! Seit wann bestrafst du ihn, deinen eigenen Sohn, dafür, dass deine Mutter einen Spleen hat? Plötzlich benimmst du dich, als wäre es 1964 und wir würden in Peoria leben. ‹Iss deinen Teller leer!› ‹Binde dir eine Krawatte um!› ‹Kein Fernsehen heute Abend!› Und dann wunderst du dich, dass wir uns streiten! Wunderst dich, dass Aaron die Augen verdreht, wenn deine Mutter ins Zimmer kommt! Es ist fast so, als wäre es dir peinlich, dass sie uns sieht. Als wolltest du ihr, solange sie bei uns ist, vorgaukeln, wir lebten so, wie es ihr gefällt. Aber ich sage dir, Gary, es gibt nichts, wofür wir uns schämen müssten. Deine Mutter ist die, die sich schämen sollte. In der Küche folgt sie mir auf Schritt und Tritt, beobachtet meine Handgriffe, als würde ich jede Woche einen Truthahn braten, und wenn ich ihr für eine Sekunde den Rücken zukehre, gießt sie einen Viertelliter Öl in alles, was ich gerade koche, und sobald ich den Raum verlasse, wühlt sie im Abfall, als wäre sie die Scheiß-Essenspolizei, sie nimmt Essen aus dem Abfalleimer und gibt es meinen Kindern — »

«Die Kartoffel war in der Spüle, Caroline, nicht im Abfalleimer.»

«Und du verteidigst sie auch noch! Sie geht raus zu den Mülltonnen, um zu gucken, ob da nicht auch irgendwas drin ist, was sie ausgraben und missbilligen könnte, und dann fragt sie mich, buchstäblich alle zehn Minuten: Was macht dein Rücken? Was macht dein Rücken? Was macht dein Rücken? Geht's deinem Rücken besser? Wie kommt's, dass er wehtut? Geht's deinem Rücken jetzt besser? Was macht dein Rücken? Sie ist regelrecht darauf aus, ein Haar in der Suppe zu finden, und dann will sie meinen Kindern erzählen, was sie zum Abendessen in meinem Haus anziehen sollen, und du unterstützt mich nicht! Du unterstützt mich einfach nicht, Gary. Stattdessen fängst du an, dich zu entschuldigen, keine Ahnung, warum, aber ich mache das nicht noch einmal mit. Mittlerweile glaube ich, dein Bruder hat den richtigen Instinkt. Er ist ein netter, kluger, lustiger Mann, der ehrlich genug ist, zu sagen, was er bei diesen Familientreffen ertragen kann und was nicht. Und deine Mutter benimmt sich, als wäre er eine einzige Peinlichkeit, ein vollkommener Versager! Tja, du wolltest die Wahrheit hören. Die Wahrheit ist, ich kann so ein Weihnachtsfest nicht noch einmal aushalten. Wenn wir aber unbedingt mit deinen Eltern feiern müssen, dann wenigstens in unseren eigenen vier Wänden. So, wie du es mir versprochen hast.»

Ein Kissen aus tiefblauer Nacht drückte auf Garys Gehirn. Bei seiner abendlichen Post-Martini-Talfahrt hatte er jenen Punkt erreicht, wo ihm alles kompliziert vorkam, ein Gefühl, das ihm schwer auf Wangen und Stirn, auf Lidern und Mund lastete. Er verstand, wie wütend seine Mutter Caroline machte, doch zugleich sah er fast alles, was sie vorgebracht hatte, anders. Das eigentlich recht hübsche hölzerne Rentier zum Beispiel hatte in einer deutlich gekennzeichneten Kiste gelegen; Caleb hatte zwei seiner Beinchen zerbrochen und ihm einen Dachnagel durch den Schädel getrieben; Enid hatte eine unangetastete Folienkartoffel aus der Spüle genommen, sie in Scheiben geschnitten und für Jonah gebraten; und Caroline hatte nicht einmal warten können, bis ihre Schwiegereltern abgereist waren, ehe sie den pinkfarbenen Polyesterbademantel, das Weihnachtsgeschenk von Enid, in die Mülltonne geworfen hatte.

«Als ich sagte, ich möchte die Wahrheit hören», antwortete er, ohne die Augen zu öffnen, «meinte ich, dass ich dich humpeln gesehen habe, bevor du ins Haus gerannt bist.»

«Mein Gott», sagte Caroline.

«An deinen Rückenschmerzen ist nicht meine Mutter schuld. Du bist selbst schuld daran.»

«Bitte, Gary. Tu mir einen Gefallen und ruf Dr. Pierce an.»

«Gib zu, dass du lügst, und ich rede über alles, was du willst. Aber solange du das nicht zugibst, wird sich nichts ändern.»

«Ich erkenne nicht mal deine Stimme wieder.»

«Fünf Tage in St. Jude. Du kannst keine fünf Tage für eine Frau erübrigen, die, wie du selbst sagst, nichts mehr zu tun hat?»

«Bitte, komm zu mir zurück.»

Ein Stromschlag der Wut zwang Gary, die Augen zu öffnen. Er trat die Decke weg und sprang aus dem Bett. «Unsere Ehe geht daran kaputt! Ich glaube es nicht!»

«Gary, bitte — »

«Wir sind auf dem besten Weg, uns wegen einer Reise nach St. Jude zu trennen!»

Und dann hielt ein Visionär in Trainingsjacke einen Vortrag vor adretten College-Studenten. Hinter dem Visionär, im leicht verwackelten Mittelgrund, sah man Sterilisatoren und Chromatographiepatronen und Gewebefärbemittel in schwachen Lösungen, langhalsige medizinwissenschaftliche Pipetten, Bilder von spreizbeinigen Chromosomen und Diagramme von thunfischroten, wie Sashimi aufgeschnittenen Gehirnen. Der Visionär war Earl «Krauskopf» Eberle, ein fünfzigjähriger Mann mit kleinem Mund und Supermarktbrille, dem ein bisschen Glamour zu verleihen die Schöpfer des Werbevideos der Axon Corporation sich redlich bemüht hatten. Die Kameraführung war fahrig, der Boden des Labors schwankte und schlingerte. Wacklige Zooms holten die vor Begeisterung strahlenden Gesichter der Studentinnen heran. Seltsam obsessive Aufmerksamkeit widmete der Film dem Hinterkopf des Visionärs (er war tatsächlich kraus).

«Natürlich ist auch Chemie, selbst Hirnchemie», sagte Eberle gerade, «im Wesentlichen die Manipulation von Elektronen in ihren Hüllen. Doch vergleichen Sie dies, wenn Sie wollen, mit einer Elektronik, die aus kleinen zwei- bis dreipoligen Schaltungen besteht. Der Diode, dem Transistor. Das Gehirn hat mehrere Dutzend Arten verschiedener Schaltungen. Entweder feuert das Neuron, oder es feuert nicht; diese Entscheidung wird jedoch durch die Rezeptorenstellungen reguliert, die zwischen dem einfachen An und Aus häufig abgestuft sein können. Selbst wenn man aus molekularen Transistoren ein künstliches Neuron konstruieren könnte, geht die allgemeine Ansicht dahin, dass der Platz niemals ausreichen würde, um diese ganze Chemie in die Ja/Nein-Sprache zu übersetzen. Angenommen, es gäbe, vorsichtig geschätzt, zwanzig neuroaktive Liganden, von denen acht gleichzeitig operieren könnten, und weiter angenommen, jede dieser acht Schaltungen könnte auf fünf verschiedene Arten aufgebaut sein — ich will Sie nicht mit Kombinatorik langweilen, aber wenn Sie nicht in einer Welt von Kartoffelköpfen leben, werden Sie ein ziemlich sonderbar aussehender Android sein.»

Nahaufnahme eines lachenden rübenköpfigen Studenten.

«Nun sind dies so grundlegende Fakten», sagte Eberle, «dass wir uns normalerweise nicht einmal die Mühe machen würden, davon zu reden. So sind die Dinge eben. Die einzige Verbindung zur Elektrophysiologie der Wahrnehmung und des Willens, die wir formen können, ist die chemische. Das ist die überlieferte Weisheit, Teil des Evangeliums unserer Wissenschaft. Niemand, der bei klarem Verstand ist, würde ernsthaft versuchen, die Welt der Neuronen mit der Welt der Schaltkreise zu verbinden.»

Eberle machte eine Kunstpause.

«Niemand außer der Axon Corporation.»

Wellen leisen Gemurmels kräuselten das Meer der institutionellen Anleger, die in den Ballsaal B des Four-Seasons-Hotels im Zentrum Philadelphias gekommen waren, um der Promotion-Show für Axons Börsengang beizuwohnen. Eine gigantische Videoleinwand war auf dem Podium installiert. Auf jedem der zwanzig runden Tische im halbdunklen Ballsaal standen Satay- und Sushi-Platten mit dazu passenden Saucen.

Gary saß mit seiner Schwester an einem Tisch neben der Tür. Er hoffte, bei dieser Veranstaltung Geschäfte machen zu können, und wäre lieber allein gekommen, doch da heute Montag und der Montag Denise' einziger freier Tag war, hatte sie darauf bestanden, mit ihm zu Mittag zu essen, und sich ihm angeschlossen. Gary hatte damit gerechnet, dass sie politische oder moralische oder ästhetische Gründe finden würde, sich über das, was hier vor sich ging, zu empören, und in der Tat verfolgte sie das Video mit argwöhnisch zusammengezogenen Brauen und fest vor der Brust verschränkten Armen. Sie trug ein leichtes gelbes Kleid mit rotem Blumendruck, schwarze Sandalen und eine trotzkistische runde Plastikbrille; doch was sie wirklich von den anderen Frauen im Ballsaal B unterschied, waren ihre bloßen Beine. Niemand, der mit Geld zu tun hatte, ging ohne Strümpfe.

WORIN BESTEHT DAS KORREKTAL–VERFAHREN?

«Korrektal», sagte der Bildausschnitt von Krauskopf Eberle, dessen junges Publikum digital zu einem uniformen Hintergrund thunfischroter Gehirnmasse püriert worden war, «ist eine revolutionäre neurobiologische Therapie!» Eberle saß auf einem ergonomischen Schreibtischstuhl, mit dem er, wie sich jetzt zeigte, in Schwindel erregendem Tempo durch einen graphischen Raum schweben und wirbeln konnte, der das Binnenmeer des Intrakraniums darstellte. Seetangartige Ganglien, tintenfischähnliche Neuronen und aalgleiche Kapillargefäße sausten vorbei.

«Ursprünglich als Therapie für Patienten mit Parkinson, Alzheimer und anderen degenerativen neurologischen Erkrankungen gedacht», sagte Eberle, «hat sich Korrektal als derart wirksam und vielseitig erwiesen, dass es sich nicht nur zur Behandlung eignet, sondern völlige Heilung verheißt, und zwar Heilung nicht nur besagter schrecklicher degenerativer Leiden, sondern auch einer Menge anderer Beschwerden, deren man sich herkömmlich mit psychiatrischen oder gar psychologischen Methoden annimmt. Einfach gesagt, bietet Korrektal erstmals die Möglichkeit, die Schaltungen eines erwachsenen menschlichen Gehirns zu erneuern und zu verbessern.»

«Bäh», sagte Denise und rümpfte die Nase.

Gary kannte das Korrektal-Verfahren inzwischen ziemlich gut. Er hatte Axons vorbörsliche Verkaufsprospekte studiert und jeden Bericht über die Firma gelesen, den er im Internet und mithilfe der privaten Informationsdienste, zu denen die CenTrust Zugang hatte, finden konnte. Pessimistische Analysten, denen die jüngsten verheerenden Korrekturen auf dem Biotechnologie-Sektor noch lebhaft in Erinnerung waren, warnten davor, in eine nicht getestete medizinische Technologie zu investieren, die in frühestens sechs Jahren auf den Markt kommen sollte. Auf keinen Fall würde eine Bank wie die CenTrust, mit ihrer treuhänderischen Verpflichtung zum konservativen Handeln, diese Emission anrühren. Doch Axons Grundlagen waren wesentlich solider als die der meisten anderen Biotech-Startups, und für Gary war die Tatsache, dass sich die Firma in einem so frühen Stadium der Entwicklung von Korrektal bereits darum gekümmert hatte, das Patent seines Vaters zu erwerben, ein Zeichen großer unternehmerischer Zuversicht. Er witterte eine Gelegenheit, ein bisschen Geld zu verdienen und sich dafür zu rächen, dass Axon seinen Vater übers Ohr gehauen hatte und, allgemeiner gesagt, dort mutig zu sein, wo Alfred ängstlich gewesen war.

Es traf sich, dass Gary im Juni, als im Zusammenhang mit den überseeischen Währungskrisen die ersten Dominosteine umzukippen begannen, den Großteil seines Spielgelds aus europäischen und fernöstlichen Wachstumsfonds herausgezogen hatte. Dieses Geld war jetzt frei zur Investition in Axon; und da es bis zum Börsengang noch drei Monate hin war und der große Käufer-Run noch nicht eingesetzt hatte und da überdies der Verkaufsprospekt manches Zweifelhafte enthielt, das Nichtinsider zögern lassen würde, hätte Gary theoretisch keine Schwierigkeiten haben dürfen, sich fünftausend Aktien zu sichern. Aber praktisch hatte er nichts als Schwierigkeiten.

Sein eigener (Discount-)Broker, der gerade mal den Namen der Axon Corporation kannte, machte mit Verspätung seine Hausaufgaben und rief Gary zurück, um ihm mitzuteilen, das Kontingent seiner Firma betrage nominell 2500 Aktien. Normalerweise hätte keine Brokerfirma einem einzelnen Kunden zu einem so frühen Zeitpunkt mehr als fünf Prozent ihres Kontingents zugebilligt, doch da Gary der Erste war, der angerufen hatte, war sein Mann bereit, 500 Stück für ihn vorzumerken. Gary drängte auf mehr, aber die traurige Tatsache war, dass er nicht als Großkunde galt. Typischerweise investierte er in einer Größenordnung von einigen Hundert und führte, um Gebühren zu sparen, kleinere Transaktionen online selbst durch.

Caroline wiederum war eine Großinvestorin. Unter Garys Anleitung kaufte sie oftmals Aktien in Tausender-Paketen. Ihr Broker arbeitete für das größte Haus in Philadelphia, und es bestand kein Zweifel, dass er für einen geschätzten Kunden 4500 Aktien von Axons Neuemission würde auftreiben können; so lief eben das Spiel. Dummerweise hatten Gary und Caroline seit jenem Sonntagnachmittag, als sie sich am Rücken wehgetan hatte, so wenig miteinander gesprochen, wie es für zwei Leute, die als Elternpaar weiter funktionieren wollten, gerade noch vertretbar schien. Gary war zwar wild darauf, seine fünftausend Axon-Aktien zu bekommen, weigerte sich aber, dafür seine Prinzipien zu opfern, indem er zu Kreuze kroch und seine Frau bat, für ihn zu investieren.

Also hatte er stattdessen Pudge Portleigh, seinen Large-Cap-Kontaktmann bei Hevy & Hodapp, angerufen und ihn gebeten, auf private Rechnung fünftausend Aktien der Neuemission für ihn zu zeichnen. Über die Jahre hatte Gary in seiner Funktion als Treuhänder der CenTrust eine Menge Aktien über Portleigh gekauft, einschließlich einiger nachweislicher Nieten. Jetzt deutete Gary Portleigh gegenüber an, dass die CenTrust ihm in Zukunft vielleicht einen noch größeren Teil ihrer Geschäfte anvertrauen würde. Doch Portleigh hatte Gary, seltsam ausweichend, nur versprochen, seine Bitte an Daffy Anderson weiterzuleiten, der bei Hevy & Hodapp für Neuemissionen verantwortlich war.

Dann waren zwei zermürbende Wochen gefolgt, in denen Gary vergebens auf einen Rückruf von Pudge Portleigh und eine Bestätigung seines Auftrags gewartet hatte. Die im Internet über Axon kursierenden Gerüchte, erst noch geflüstert, erreichten allmählich donnernde Lautstärke. Im Abstand von wenigen Tagen waren in Nature und im New England Journal of Mediane zwei wichtige, thematisch verwandte Aufsätze von Earl Eberles Team erschienen — «Reverse-Tomographie Stimulation of Synaptogenesis in Selected Neural Pathways» und «Transitory Positive Reinforcement in Dopamine-Deprived Limbic Circuits: Recent Clinical Progress». Beide fanden in der Finanzpresse starke Beachtung, unter anderem auf der ersten Seite des Wall Street Journal. Mehr und mehr Analysten begannen, den Kauf von Axon-Aktien zu befürworten, und noch immer meldete sich Portleigh auf Garys Nachrichten hin nicht zurück, sodass Gary die Vorteile seines Insiderwissens im Stundentakt schwinden sah…

1. NEHMEN SIE EINEN COCKTAIL!

«… nach einer speziellen Formel aus Eisencitraten und Eisenacetaten gemischt, der die Blut-Gehirn-Grenze passiert und sich in den Gewebezwischenräumen ansammelt!»

Sagte der unsichtbare Sprecher, dessen Stimme sich auf der Video-Tonspur zu der von Earl Eberle gesellt hatte.

«Außerdem rühren wir noch ein mildes, nicht suchterzeugendes Sedativum und einen ordentlichen Schuss Haselnuss-Moccacino-Sirup hinein, kleine Aufmerksamkeit der beliebtesten Kaffeehauskette im Land!»

Eine Komparsin, die schon in der Vortragsszene zu sehen gewesen war, ein Mädchen, dessen neurologische Funktionen offenkundig nicht den geringsten Defekt aufwiesen, trank mit höchstem Genuss und aufreizend pulsierenden Halsmuskeln ein großes, eisiges Glas Korrektal-Elektrolyte.

«Was war noch mal Dads Patent?», flüsterte Denise Gary zu. «Eisenacetat-Gel-Dingsbums?»

Gary nickte grimmig. «Elektropolymerisation.»

Aus seinem Korrespondenzordner, der, unter anderem, alle Briefe enthielt, die seine Eltern ihm je geschrieben hatten, hatte Gary eine alte Kopie von Alfreds Patent ausgegraben. Er bezweifelte, dass er es sich je richtig angeschaut hatte, so beeindruckt war er jetzt von den klaren Ausführungen des alten Mannes über die «elektrische Anisotropie» in «bestimmten ferro-organischen Gels» und dessen Vorschlag, diese Gels einzusetzen, um lebendes menschliches Gewebe «minutiös abzubilden» und «unmittelbare elektrische Kontakte» mit «feinen morphologischen Strukturen» herzustellen. Als Gary die Formulierung des Patents mit der Beschreibung von Korrektal auf Axons neu gestalteter Homepage verglich, hatte ihm die verblüffende Ähnlichkeit einen Schlag versetzt. Offenbar stand Alfreds Fünftausend-Dollar-Patent im Zentrum eines Verfahrens, für das Axon jetzt über 200 Millionen Dollar zu beschaffen hoffte: als gäbe es im Leben eines Mannes nicht schon genug, was ihn nachts wach hielt und zur Weißglut brachte!

«Jo, Kelsey, jaha, Kelsey, besorg mir Zwölftausend Exxon, eins null vier Maximum», sagte der junge Mann zu Garys Linken unvermittelt und zu laut. Das Bürschchen hatte ein Palmtop, das ihm die Kurse anzeigte, einen Knopf im Ohr und den schizophrenen Blick der Handyhörigen. «Zwölftausend Exxon, Obergrenze eins null vier», sagte er.

Exxon, Axon, sei bloß vorsichtig, dachte Gary.

2. SETZEN SIE SICH EINEN KOPFHÖRER AUF & SCHALTEN SIE DAS RADIO EIN!

«Sie werden nicht das Mindeste hören — es sei denn, Ihre Zahnfüllungen empfangen Ballspiele auf Mittelwelle», witzelte der Sprecher, während das lächelnde Mädchen sich einen metallenen Helm in Trockenhaubengestalt auf den kamerafreundlichen Kopf stülpte, «aber die Radiowellen dringen bis in die geheimsten Winkel Ihres Schädels vor. Stellen Sie sich eine Art globales Navigationssystem für das Gehirn vor: Hochfrequenzstrahlen, die präzise auf die mit bestimmten Fähigkeiten in Verbindung gebrachten Nervenbahnen zielen und sie selektiv stimulieren. Fähigkeiten wie den eigenen Namen schreiben. Treppen steigen. Sich seinen Hochzeitstag merken. Positiv denken! Nach klinischen Tests in Dutzenden von Krankenhäusern überall in Amerika sind Dr. Eberles reversiv-tomographische Methoden jetzt weiter optimiert worden, um dieses Stadium des Korrektal-Verfahrens so einfach und schmerzlos zu machen wie einen Besuch beim Frisör.»

«Bis vor kurzem», schaltete sich Eberle ein (er und sein Stuhl segelten noch immer durch ein Meer aus Blut und grauer Gehirnmasse), «war es für mein Verfahren notwendig, den Patienten über Nacht im Krankenhaus zu behalten und ihm einen geeichten Stahlring in die Schädeldecke zu schrauben. Viele Patienten empfanden dies als unangenehm; manchen verursachte es Beschwerden. Inzwischen hat jedoch die enorm gesteigerte Leistungskraft der Computer ein Verfahren ermöglicht, das sich bei der Lokalisierung der individuell zu stimulierenden Nervenbahnen unverzüglich selbst korrigiert…»

«Kelsey, du bist 'n Genie!», sagte der junge Mr. Zwölftausend-Exxon-Aktien laut.

In den ersten Stunden und Tagen nach Garys großem Sonntagszerwürfnis mit Caroline, das inzwischen drei Wochen zurücklag, hatten beide zaghafte Versuche unternommen, Frieden zu schließen. Sehr spät in jener Sonntagnacht hatte Caroline ihren Arm über die entmilitarisierte Zone der Matratze hinweggestreckt und seine Hüfte berührt. Am nächsten Abend hatte er eine nahezu allumfassende Entschuldigung vorgebracht, in der er, obgleich in der Hauptstreitfrage standhaft, seinen Kummer und sein Bedauern über gewisse Kollateralschäden äußerte, die er verursacht hatte, über verletzte Gefühle, mutwillige Falschaussagen und kränkende Unterstellungen, und Caroline so einen Vorgeschmack darauf gab, welche Woge der Zärtlichkeit sie erwartete, sofern sie nur einräumte, dass er, in der Hauptstreitfrage, im Recht war. Am Dienstagmorgen hatte sie ihm ein richtiges Frühstück vorgesetzt — Zimttoast, Würstchen und eine Schüssel Haferflocken mit Rosinen, so gestreut, dass sie einen komisch nach unten verzogenen Mund nachzeichneten. Am Mittwochmorgen hatte er ihr ein Kompliment gemacht, eine bloße Tatsachenbehauptung («du bist wunderschön»), die, auch wenn sie kein unumwundenes Liebesgeständnis war, doch immerhin als Hinweis auf eine objektiv vorhandene Basis taugte (körperliche Anziehung), auf der Liebe wiederhergestellt werden konnte, sofern Caroline nur einräumte, dass er in der Hauptstreitfrage im Recht war.

Doch jeder hoffnungsvolle Vorstoß, jeder sondierende Ausfallversuch verlief im Sande. Als er die Hand, die sie ihm reichte, nahm und ihr zuflüsterte, es tue ihm Leid, dass sie solche Rückenschmerzen habe, war sie unfähig, einen Schritt weiterzugehen und zuzugeben, dass die zwei Stunden Fußball im Regen ihre Beschwerden vielleicht (ein einfaches «vielleicht» hätte ja genügt!) mit hervorgerufen hätten. Und als sie ihm für sein Kompliment dankte und ihn fragte, wie er geschlafen habe, war er außerstande, in ihrer Stimme einen tendenziösen kritischen Unterton zu überhören; für ihn klang es wie Anhaltende Schlafstörungen sind ein typisches Symptom der klinischen Depression, ach ja, apropos, wie hast du geschlafen, mein Schatz? und so wagte er nicht zu gestehen, dass er in der Tat furchtbar schlecht geschlafen hatte; vielmehr behauptete er, er habe ganz hervorragend geschlafen, danke, Caroline, ganz hervorragend, hervorragend, ja.

Jeder fehlgeschlagene Vorstoß, Frieden zu schließen, machte ein Gelingen des folgenden weniger wahrscheinlich. Es dauerte nicht lange, und der Gedanke, der Gary zunächst ganz und gar abwegig vorgekommen war — dass ihre Ehekasse nicht mehr genügend Barschaft an Liebe und gutem Willen enthielt, um die emotionalen Kosten zu decken, die eine Reise nach St. Jude für Caroline und der Verzicht auf eine Reise nach St. Jude für ihn bedeutete — , nahm die Konturen einer erschreckend realen Möglichkeit an. Er begann, Caroline einfach und allein dafür zu hassen, dass sie weiter mit ihm stritt. Er hasste die neu entdeckten Quellen der Unabhängigkeit, aus denen sie schöpfte, um ihm Paroli zu bieten. Besonders, ja geradezu überwältigend hassenswert aber war ihr Hass auf ihn. Er hätte die Krise binnen einer Minute beenden können, wenn dafür nichts anderes nötig gewesen wäre, als ihr zu verzeihen; doch in ihren Augen gespiegelt zu sehen, wie abstoßend sie ihn fand — das machte ihn rasend, das vergiftete all sein Hoffen.

Glücklicherweise warf ihr Vorwurf, er sei depressiv, seine Schatten, so lang und dunkel sie auch sein mochten, noch nicht auf sein Eckbüro bei der CenTrust und das Vergnügen, das er darin fand, Manager seiner Manager, Analysten und Händler zu sein. Garys vierzig Stunden bei der Bank waren inzwischen die einzigen in der Woche, auf die er sich verlässlich freuen konnte. Er hatte sogar schon mit der Idee einer Fünfzigstundenwoche gespielt, doch sie umzusetzen war leichter gesagt als getan, denn am Ende der Achtstundentage lag oft buchstäblich keine Arbeit mehr auf seinem Schreibtisch, und im Übrigen wusste er nur allzu gut, dass lange Stunden im Büro zu verbringen, um einem unglücklichen Zuhause zu entfliehen, genau die Falle war, in die sein Vater getappt war, ja dass das zweifellos Alfreds erster Versuch einer Selbstmedikation gewesen war.

An dem Tag, als er Caroline heiratete, hatte Gary sich insgeheim geschworen, nie länger als bis siebzehn Uhr zu arbeiten und nie seine Aktentasche mit nach Hause zu nehmen. Indem er bei einer mittelgroßen Regionalbank anheuerte, hatte er sich für eine der am wenigsten ambitionierten Laufbahnen entschieden, die man nach einem erfolgreich abgeschlossenen Studium der Betriebswirtschaft an der Wharton School überhaupt einschlagen konnte. Zuerst hatte er nur die Absicht gehabt, die Fehler seines Vaters zu vermeiden — hatte sich Zeit lassen, das Leben genießen, ein liebender Ehemann sein, mit seinen Kindern spielen wollen — , doch schon bald, selbst als sich zeigte, dass er ein hervorragender Portfoliomanager war, entwickelte er eine spezifischere Allergie gegen beruflichen Ehrgeiz. Kollegen, die weit weniger kompetent waren als er, kündigten, um für Investmentfonds zu arbeiten, sich als Daytrader selbständig zu machen oder eigene Fonds zu gründen;

aber das bescherte ihnen Zwölf- bis Vierzehnstundentage, und jeder Einzelne von ihnen hatte das schwitzige, besessene Gebaren eines Strebers. Gary, auf Carolines Erbschaft weich gebettet, stand es dagegen frei, das Fehlen jeden Ehrgeizes zu kultivieren und als Boss den perfekten, zugleich strengen und zärtlichen Vater zu geben, der er daheim nur halbwegs sein konnte. Von seinen Mitarbeitern verlangte er Ehrlichkeit und außergewöhnliche Leistungen. Im Gegenzug bot er ihnen geduldige Anleitung, absolute Loyalität und die Gewissheit, dass er sie nie für seine eigenen Fehler zur Verantwortung ziehen würde. Wenn seine Large-Cap-Managerin Virginia Ein die Empfehlung aussprach, den Anteil der Energieaktien im Boilerplate-Treuhandportfolio der Bank von sechs auf neun Prozent zu erhöhen und Gary (wie es seinem Temperament entsprach) trotzdem beschloss, den Mischfonds in Ruhe zu lassen, in der Folge jedoch sah, dass der Energiesektor ein paar erstklassige Quartale erlebte, dann setzte er seine breite, ironische Ich-Blödmann-Grimasse auf und entschuldigte sich, vor allen Leuten, bei Ein. Immerhin traf er für jede schlechte Entscheidung zwei oder drei gute, und niemals in der Geschichte des Universums hatte es für den Aktienmarkt bessere sechs Jahre gegeben als die, in denen Gary die Investmentabteilung der CenTrust leitete; nur ein Trottel oder Betrüger hätte versagt. Da also der Erfolg garantiert war, konnte Gary es sich erlauben, seinem Boss Marvin Koster und Kosters Boss Marty Breitenfeld, dem Vorstandsvorsitzenden der CenTrust, ohne jede heilige Scheu gegenüberzutreten. Nie, aber auch niemals katzbuckelte er oder ging ihnen um den Bart. Im Gegenteil, was Stil- und Protokollfragen betraf, waren Koster wie Breitenfeld dazu übergegangen, sich seinem Urteil anzuschließen — Koster, indem er Gary so gut wie um Erlaubnis bat, seine älteste Tochter in der Abington-Friends- statt in der Friends-Select-Schule anzumelden, und Breitenfeld, indem er Gary vor dem Pissoir der Geschäftsleitung abfing, um ihn zu fragen, ob er und Caroline vorhätten, zum Wohltätigkeitsball der Öffentlichen Bibliothek zu gehen, oder ob Gary seine Eintrittskarten an eine Sekretärin weitergegeben habe…

3. ENTSPANNEN SIE SICH-ALLES IST IN IHREM KOPF!

Krauskopf Eberle war wieder in seinem innerschädeligen Schreibtischstuhl aufgetaucht, in jeder Hand ein Plastikmodell eines Elektrolytmoleküls. «Eine bemerkenswerte Eigenschaft von Eisencitrat-/Eisenacetat-Gels», sagte er, «besteht darin, dass die Moleküle unter niedriger Strahlenstimulation bei bestimmten Resonanzfrequenzen spontan polymerisieren können. Noch bemerkenswerter aber ist, dass diese Polymere sich als exzellente Leiter elektrischer Impulse entpuppen.»

Der virtuelle Eberle schaute mit wohlwollendem Lächeln zu, wie sich durch den blutigen, wogenden Schlamassel um ihn herum eifrig Wellenformen schlängelten. Und als wären diese Wellen die ersten Takte eines Menuetts oder Reigens, fanden sich alle Eisenmoleküle zu Paaren zusammen und bildeten lange Zweierreihen.

«Diese flüchtigen, leitenden Mikrokanäle», sagte Eberle, «machen das bislang Undenkbare denkbar: die direkte, quasi in Echtzeit herstellbare digital-chemische Abbildung.»

«Aber das ist ja toll», flüsterte Denise Gary zu. «Das ist es, was Dad immer wollte.»

«Was, sich ein Vermögen durch die Lappen gehen lassen?»

«Anderen Menschen helfen», sagte Denise. «Etwas bewirken.»

Gary hätte gern angemerkt, dass der alte Mann ja bei seiner Frau hätte anfangen können, wenn ihm wirklich so danach gewesen wäre, anderen zu helfen. Aber Denise hatte eine seltsame und unerschütterliche Meinung von Alfred. Sich auf Diskussionen mit ihr einzulassen hatte keinen Zweck.

4. DIE REICHEN WERDEN NOCH REICHER!

«Ja, ein müßiger Winkel des Gehirns könnte aller Laster Anfang sein», sagte der Sprecher, «doch das Korrektal-Verfahren ignoriert jede müßige Nervenbahn. Überall dort hingegen, wo Aktivität herrscht, ist Korrektal zur Stelle, um diese zu verstärken! Um den Reichen zu helfen, noch reicher zu werden!»

Im Ballsaal B erhoben sich Gelächter und Applaus und beifälliges Rufen. Gary spürte, dass sein grinsender, klatschender Nachbar zur Linken, Mr. Zwölftausend-Exxon- Aktien, in seine Richtung blickte. Vielleicht wunderte er sich, warum Gary nicht klatschte. Vielleicht war er auch eingeschüchtert von Garys lässiger Eleganz.

Wenn man kein Streber, kein schwitziger Aufsteiger sein wollte, fand Gary, dann musste man sich unbedingt so kleiden, als hätte man es in Wahrheit gar nicht nötig zu arbeiten: als wäre man ein feiner Herr, dem es nur zufällig Freude bereitete, ins Büro zu gehen und anderen zu helfen. Nach dem Motto: Adel verpflichtet.

Heute trug er eine kaperngrüne, halbseidene Sportjacke, ein naturfarbenes Button-down-Leinenhemd und schwarze Anzughosen ohne Bügelfalte; sein Handy war ausgeschaltet, taub für alle Anrufe. Er lehnte sich, mit dem Stuhl kippelnd, nach hinten und suchte mit den Augen den Ballsaal ab, um sicher zu sein, dass er auch wirklich der einzige Mann ohne Krawatte war, doch der Kontrast zwischen Selbst und Masse ließ heute einiges zu wünschen übrig. Noch vor wenigen Jahren wäre der Raum ein Dschungel aus blauen Nadelstreifen, schlitzlosen Mafiosi-Sakkos, zweifarbigen City-Hemden und quastengeschmückten Slippern gewesen. Jetzt, in den späten Reifejahren des langen, langen Aufschwungs, kauften sogar junge Bauerntölpel aus New Jersey maßgeschneiderte italienische Anzüge und teure Brillengestelle. So viel Geld hatte das System überschwemmt, dass Sechsundzwanzigjährige, die

Andrew Wyeth für eine Möbelfabrik und Winslow Homer für eine Comicfigur hielten, in der Lage waren, sich zu kleiden wie die Hollywood-Aristokratie…

Ach, Misanthropie und Bitterkeit. Gary hätte es so gern genossen, ein wohlhabender, vornehmer Privatier zu sein, doch das Land machte es einem nicht leicht. Millionen frisch gekürter amerikanischer Millionäre überall um ihn herum waren von dem identischen Wunsch getrieben, sich für außergewöhnlich zu halten — die perfekte viktorianische Villa zu kaufen, auf Skiern die unberührte Piste hinabzusausen, den Küchenchef persönlich zu kennen, den Strand zu finden, auf dem es keine Fußspuren gab. Hinzu kamen weitere zig Millionen junger Amerikaner, die zwar kein Geld hatten, aber nach vollendeter Coolness strebten. Dabei war die traurige Wahrheit nun einmal die, dass nicht jeder außergewöhnlich und nicht jeder vollendet cool sein konnte; denn wer wäre dann noch gewöhnlich? Wer übernähme die undankbare Aufgabe, vergleichsweise uncool durchs Leben zu gehen?

Nun, immerhin gab es ja noch die Einwohnerschaft des amerikanischen Herzlands: all die Familienkutschenfahrer aus St. Jude mit ihren dreißig, vierzig Pfund Übergewicht und ihren famosen pastellfarbenen Jogginganzügen, ihren Anti-Abtreibungs-Aufklebern und preußischen Haarschnitten. Doch Gary hatte in den letzten Jahren, mit geotektonisch wachsender Sorge, beobachtet, dass der Strom derer, die es aus dem Mittelwesten an die cooleren Küsten zog, nicht verebbte. (Sicher, er war selbst Teil dieses Exodus, aber er hatte die Flucht schon früh angetreten, und wer zuerst kam, der mahlte auch, mit Verlaub, zuerst.) Gleichzeitig versuchten alle Restaurants in St. Jude plötzlich, europäische Fahrt aufzunehmen (plötzlich kannte jede Putzfrau sonnengetrocknete Tomaten, plötzlich wussten Schweinezüchter von Créme brûlée), die Kunden im Einkaufszentrum unweit seines Elternhauses liefen mit einer Anspruchshaltung durch die Gegend, die der seinen entmutigend ähnlich war, und die elektronischen Konsumgüter, die es in St. Jude zu kaufen gab, waren keinen Deut weniger leistungsstark und cool als die in Chestnut Hill. Gary wünschte, jede weitere Abwanderung an die Küsten könnte unterbunden werden und man fände für alle Mittelwestler Anreize, wieder pappiges Essen zu sich zu nehmen, Kleidung ohne jeden Schick zu tragen und Brettspiele zu spielen, nur damit eine nationale strategische Reserve der Ahnungslosigkeit bestehen blieb, eine Wildnis des Geschmacks, die es privilegierten Menschen wie ihm erlaubten, sich für alle Ewigkeit vollendet kultiviert zu fühlen. Aber genug, ermahnte er sich. Ein allzu unerbittlicher Drang nach Besonderheit, der Wunsch, kraft eigener Überlegenheit unumschränkt zu herrschen, war ein weiteres Warnsignal der klinischen D.

Und Mr. Zwölftausend-Exxon-Aktien schaute sowieso nicht zu ihm hin. Er schaute auf Denise' nackte Beine.

«Die polymeren Fasern», erklärte Eberle, «verbinden sich chemotaktisch mit aktiven Nervenbahnen und erleichtern so die Entladung elektrischen Potenzials. Wir verstehen diesen Mechanismus noch nicht voll und ganz, aber das Resultat ist, dass dem Patienten jede Handlung, die er ausführt, leichter fällt und es ihm mehr Freude macht, sie zu wiederholen und durchzuhalten. Diesen Effekt auch nur vorübergehend zu erzielen wäre schon eine Aufsehen erregende klinische Leistung. Hier bei Axon jedoch haben wir einen Weg gefunden, ihn dauerhaft zu gewährleisten.»

«Sehen Sie nur», säuselte der Sprecher.

5. JETZT IST ES AN IHNEN EIN WENIG ZU ARBEITEN!

Eine Zeichentrickfigur führte mit zittriger Hand eine Teetasse zum Mund, und bestimmte zittrige Nervenbahnen leuchteten in ihrem Zeichentrickkopf auf. Dann trank die Figur Korrektal- Elektrolyte, setzte sich einen Eberle-Helm auf und hob die Tasse erneut. Die aktiven Nervenbahnen wurden als kleine glühende Mikrokanäle sichtbar, die vor Licht und Kraft erstrahlten. Vollkommen ruhig stellte die Zeichentrickhand die Teetasse wieder auf der Untertasse ab.

«Wir müssen Dad dazu bringen, dass er sich als Testperson meldet», flüsterte Denise.

«Wie meinst du das?», fragte Gary.

«Na ja, das Verfahren ist gegen Parkinson. Es könnte ihm helfen.»

Gary seufzte wie ein Reifen, der Luft verlor. Wie war es möglich, dass er nicht längst selbst auf einen dermaßen nahe liegenden Gedanken gekommen war? Er schämte sich und war zugleich merkwürdig wütend auf Denise. Als hätte er sie nicht gehört, schickte er ein höfliches Lächeln in Richtung Videoleinwand.

«Wenn die Bahnen erst einmal lokalisiert und stimuliert worden sind», sagte Eberle, «sind wir nur noch einen kleinen Schritt von der eigentlichen morphologischen Korrektur entfernt. Und hier, wie überall in der heutigen Medizin, liegt das Geheimnis in den Genen.»

6. ERINNERN SIE SICH NOCH AN DIESE PILLEN, DIE SIE LETZTEN MONAT GENOMMEN HABEN?

Drei Tage zuvor, am Freitagnachmittag, war Gary endlich zu Pudge Portleigh bei Hevy & Hodapp vorgedrungen. Portleigh hatte geklungen, als wäre er über die Maßen in Eile.

«Gare, tut mir Leid, hier tobt der Bär», sagte Portleigh, «aber hören Sie zu, alter Freund, ich habe wegen Ihrer Anfrage mit Daffy Anderson gesprochen. Daffy sagt, klare Sache, kein Problem, selbstverständlich werden wir für einen guten Kunden und CenTrust-Mitarbeiter fünfhundert Stück platzieren. Also, alles okay, alter Freund? Alles paletti?»

«Nein», sagte Gary. «Wir hatten fünftausend gesagt, nicht fünfhundert.»

Portleigh war einen Moment lang still. «Mist, Gare. Großes Missverständnis. Ich dachte, Sie hätten fünfhundert gesagt.»

«Sie haben es sogar noch wiederholt. Fünftausend. Sie haben gesagt, Sie schreiben es auf.»

«Helfen Sie mir — ging das auf Ihre eigene Rechnung oder auf die der CenTrust?»

«Meine eigene.»

«Also, Gare, Sie machen jetzt Folgendes. Sie selbst rufen Daffy an, erklären ihm die Situation, erklären ihm das Missverständnis, und dann schauen wir mal, ob er nicht weitere fünfhundert auftreiben kann. So weit kann ich Ihnen Rückendeckung geben. Ich meine, war schließlich mein Fehler, ich hatte ja keine Ahnung, wie heiß das Ding werden würde. Aber Sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass Daffy den Bissen, den er Ihnen gibt, jemand anderem aus dem Maul fischt. Das ist hier wie im Tierfilm, Gare — lauter kleine Vögelchen mit weit aufgesperrten Schnäbeln. Ich! Ich! Ich! Also, ich kann mich für weitere fünfhundert für Sie verbürgen, aber schreien müssen Sie selber. Okay, alter Freund? Alles paletti?»

«Nein, Pudge, nichts ist paletti», sagte Gary. «Wissen Sie noch, wie ich Ihnen zwanzigtausend refinanzierte Adelson Lee abgenommen habe? Und wie wir — »

«Gare, Gare, bitte tun Sie mir das nicht an», sagte Pudge. «Ich weiß doch. Wie könnte ich Adelson Lee vergessen? Mann, die Sache verfolgt mich Tag und Nacht. Ich will Ihnen ja bloß Folgendes verklickern: Fünfhundert Axon-Aktien hört sich vielleicht nach 'ner Abspeisung an, aber es ist keine. Das ist das höchste der Gefühle; mehr wird Daffy nicht für Sie tun.»

«Eine erfrischende Brise Ehrlichkeit», sagte Gary. «Jetzt wiederholen Sie doch noch mal, Sie hätten vergessen, dass ich fünftausend gesagt habe.»

«Okay, ich bin ein Arschloch. Danke, dass Sie mir die Augen öffnen. Aber ohne Befehl von ganz oben kann ich Ihnen nicht mehr als insgesamt tausend verschaffen. Wenn Sie fünftausend wollen, dann braucht Daffy eine direkte Anweisung von Dick Hevy. Und da Sie Adelson Lee erwähnt haben — Dick wird mich daran erinnern, dass CoreStates uns vierzigtausend abgenommen hat, First Delaware dreißig-, TIAA-CREF fünfzig- und immer so weiter. So brutal wird nun mal gerechnet, Gare. Sie haben uns in der Größenordnung von zwanzigtausend geholfen, wir helfen Ihnen in der Größenordnung von fünfhundert. Ich meine, ich versuch's bei Dick, wenn Sie wollen. Wahrscheinlich könnte ich auch Daffy weitere fünfhundert aus den Rippen leiern — ich brauch ihm bloß zu sagen, Sie kämen, so, wie er jetzt aussieht, garantiert nie darauf, dass er mal 'ne spiegelblanke Glatze hatte. Das Wundermittel Rogaine — und schwupp. Aber unterm Strich ist es Daffy, der bei diesem Deal den Nikolaus spielen darf. Er weiß, ob Sie artig oder unartig waren. Und vor allem weiß er, für wen Sie arbeiten. Ehrlich gesagt, um die Art von Aufmerksamkeit zu kriegen, die Sie offenbar haben wollen, müssen Sie was ganz anderes machen: nämlich zusehen, dass Sie die Größe Ihres Unternehmens verdreifachen.»

Größe, ja ja, immer ging es um Größe. Wenn Gary ihm jetzt nicht versprach, zu einem späteren Zeitpunkt mit CenTrust- Geldern ein paar Blindgänger zu kaufen (wofür er seinen Job verlieren konnte), hatte er bei Pudge Portleigh keinen Spielraum mehr. Aber immerhin blieb ihm noch moralischer Spielraum. Als er letzte Nacht wach lag, hatte er an der Formulierung des unmissverständlichen, wohl überlegten Vortrags gefeilt, den er Axons Führungsriege an diesem Nachmittag zu halten gedachte: Ich möchte, dass Sie mir in die Augen sehen und sagen, dass Ihr Angebot an meinen Vater angemessen und fair war. Mein Vater hatte persönliche Gründe, das Angebot anzunehmen; ich hingegen weiß, was Sie ihm angetan haben. Verstehen Sie mich? Ich bin kein alter Mann aus dem Mittelwesten. Ich weiß, was Sie getan haben. Und bestimmt ist Ihnen klar, dass ich diesen Raum unmöglich verlassen kann, bevor Sie mir nicht fünftausend Aktien verbindlich zugesichert haben. Ich könnte auch auf einer Entschuldigung bestehen. Aber ich schlage Ihnen lediglich eine einfache Transaktion zwischen Erwachsenen vor. Die Sie, nebenbei bemerkt, nichts kostet. Zero. Nada. Niente. «Synaptogenese!», frohlockte Axons Videosprecher.

7. NEIN. EIN BUCH DER BIBEL IST DAS NICHT!

Die professionellen Anleger in Ballsaal B lachten und lachten.

«Ist das vielleicht alles nur ein Schwindel?», fragte Denise.

«Wieso sollten sie Dads Patent für einen Schwindel kaufen wollen», sagte Gary.

Sie schüttelte den Kopf. «Wenn ich das hier sehe, möchte ich am liebsten wieder ins Bett.»

Gary kannte das Gefühl. Seit drei Wochen hatte er keine Nacht mehr vernünftig geschlafen. Sein 24-Stunden-Rhythmus hatte sich um 180 Grad verschoben — die ganze Nacht war er aufgedreht, den ganzen Tag rieb er sich die Augen, und zu glauben, dass sein Problem nicht neurochemischer, sondern persönlicher Natur war, fiel ihm zunehmend schwer.

Wie richtig es all die Monate gewesen war, die vielen Warnsignale vor Caroline zu verbergen! Wie zutreffend sein Instinkt, dass ein mutmaßlich defizitärer Neurofaktor 3 die Rechtmäßigkeit seiner moralischen Argumente untergraben würde! Jetzt konnte Caroline ihre feindseligen Gefühle als «Sorge» um seine «Gesundheit» tarnen. Seine schwerfälligen Mittel der konventionellen Ehekriegführung hatten gegen diese biologischen Waffen keine Chance. Er attackierte grausam ihre Person; sie attackierte heroisch seine Krankheit.

Auf der Grundlage dieses strategischen Vorteils waren Caroline eine Reihe brillanter taktischer Züge geglückt. Als Gary seinen Schlachtplan für das erste Wochenende entwickelte, das ganz im Zeichen der kriegerischen Auseinandersetzung stand, nahm er an, dass Caroline, wie am vorausgegangenen Wochenende, ihre Wagenburg formieren würde, indem sie teenagerhaft mit Aaron und Caleb herumalberte und die beiden anstachelte, sich über den «doofen alten Dad» lustig zu machen. Daraufhin lockte er sie am Donnerstagabend in einen Hinterhalt. Er schlug aus heiterem Himmel vor, am Sonntag mit Aaron und Caleb eine Mountainbiketour in den Poconos zu unternehmen; sie würden schon in der Morgendämmerung aufbrechen, damit sie einen langen Tag unter Männern hätten, an dem Caroline ohnehin nicht teilnehmen könne, weil ihr ja der Rücken wehtue.

Caroline konterte, indem sie seinen Vorschlag begeistert unterstützte. Sie drängte Caleb und Aaron, mitzufahren und die Zeit mit ihrem Vater zu genießen. Diese Formulierung betonte sie so eigenartig, dass Aaron und Caleb, wie auf Kommando, losplatzten: «Eine Mountainbiketour, ja, Dad, toll!» Und mit einem Schlag begriff Gary, was hier vor sich ging. Er begriff, warum Aaron am Montagabend zu ihm gekommen war und sich dafür entschuldigt hatte, ihn als «furchtbar» bezeichnet zu haben, und warum Caleb ihn am Dienstag zum ersten Mal seit Monaten gefragt hatte, ob er mit ihm Fußball spiele, und warum Jonah ihm am Mittwoch, unaufgefordert, auf einem Tablett mit Korkrand einen zweiten Martini gebracht hatte, von Caroline eingeschenkt. Er durchschaute, warum seine Kinder auf einmal so nett und fürsorglich waren: weil Caroline ihnen erzählt hatte, ihr Vater ringe mit einer klinischen Depression. Was für ein brillanter Schachzug! Und dass es einer war, daran zweifelte er keine Sekunde — Carolines «Sorge» war reiner Schwindel, eine Kriegslist, ein Manöver, um Weihnachten nicht in St. Jude verbringen zu müssen — , denn noch immer war in ihren Augen keine Wärme oder Zärtlichkeit, nicht der kleinste Funke.

«Hast du den Jungen gesagt, ich hätte eine Depression?», fragte Gary sie in der Dunkelheit, vom äußersten Rand ihres Tausend-Quadratmeter-Bettes aus. «Caroline? Hast du ihnen irgendeinen Mist über meinen Geisteszustand erzählt? Ist deshalb alle Welt auf einmal so nett zu mir?»

«Gary», sagte sie. «Sie sind nett, weil sie möchten, dass du mit ihnen in den Poconos Mountainbike fährst.»

«Irgendwas ist mir daran nicht geheuer.»

«Weißt du, du wirst allmählich richtig paranoid.»

«Scheiße, Scheiße, Scheiße!»

«Das ist beängstigend, Gary.»

«Du treibst irgendwelche Spielchen mit meinem Kopf! Das ist der gemeinste Trick, den es gibt. Der allerfieseste überhaupt.»

«Bitte, hör dir doch mal selber zu.»

«Beantworte meine Frage», sagte er. «Hast du ihnen erzählt, ich sei ‹depressiv›? Ich hätte ‹Probleme›?»

«Na ja — stimmt das denn nicht?»

«Antworte auf meine Frage!»

Sie antwortete nicht auf seine Frage. Sie sagte gar nichts mehr, obwohl er die Frage eine halbe Stunde lang ständig wiederholte, jeweils nach einer Pause von ein, zwei Minuten, damit sie antworten konnte. Aber sie antwortete nicht.

Am Morgen der Fahrradtour fühlte er sich vor lauter Schlafmangel derart zerschlagen, dass er nur noch den Ehrgeiz hatte, körperlich zu funktionieren. Er lud drei Fahrräder auf Carolines riesigen, sicheren Ford Stomper und fuhr zwei Stunden, lud die Fahrräder wieder ab und trat auf holperigen Wegen Kilometer für Kilometer in die Pedale. Die Jungen rasten mit großem Abstand vor ihm her. Immer wenn er sie eingeholt hatte, waren sie schon wieder ausgeruht genug, um weiterzufahren. Sie sagten von sich aus nichts, hatten aber freundlich-erwartungsvolle Mienen aufgesetzt, so als hielten sie es für möglich, dass Gary ein Geständnis abzulegen hätte. Sein Zustand war, gewissermaßen, neurochemisch prekär; er hatte nichts zu sagen außer: «Kommt, essen wir unsere Sandwiches», und: «Noch eine Steigung, dann kehren wir um.» Bei Einbruch der Abenddämmerung wuchtete er die Fahrräder auf den Stomper, fuhr zwei Stunden und lud sie zu Hause, fast überwältigt vor ANHEDONIE, wieder ab.

Caroline kam aus dem Haus und erzählte den älteren Jungen, was für einen Heidenspaß sie und Jonah gehabt hätten. Sie habe sich jetzt auch zu den Narnia-Büchern bekehren lassen. Also plapperten sie und Jonah den ganzen Abend über «Aslan», «Feen-Eden» und «Riepischiep» und den Narnia-Chatroom für Kinder, den sie im Internet aufgetan hätten, und die C.-S.- Lewis-Website, auf der man tolle Spiele spielen und haufenweise tolle narnische Produkte bestellen könne.

«Es gibt eine Prinz Kaspian-CD-ROM», erzählte Jonah Gary, «mit einem Spiel, auf das ich mich schon unheimlich freue.»

«Scheint ein wirklich sehr interessantes und gut durchdachtes Computerspiel zu sein», sagte Caroline. «Ich habe Jonah gezeigt, wie man es bestellt.»

«Da ist so ein Wandschrank», sagte Jonah. «Und wenn man den anklickt, öffnet er sich, und man kommt nach Narnia. Und da sind dann lauter tolle Sachen.»

Grenzenlos war Garys Erleichterung am nächsten Morgen, als er, torkelnd und schlingernd wie eine sturmversehrte Yacht, in den sicheren Hafen seiner Arbeitswoche einlief. Er hatte keine andere Wahl, als sich, so gut es ging, zusammenzureißen, den Kurs zu halten, nicht depressiv zu sein. Trotz schwerer Verluste blieb er siegesgewiss. Seit seinem allerersten Streit mit Caroline vor zwanzig Jahren, als er allein in seiner Wohnung gesessen, ein Elf-Innings-Baseballspiel der Phillies gesehen und das Telefon erst alle zehn, dann alle fünf, dann alle zwei Minuten hatte läuten hören, wusste er, dass Caroline auf dem Grunde ihres Hasenherzens verzweifelt unsicher war. Wenn er ihr seine Liebe vorenthielt, kam sie, früher oder später, zu ihm zurück, klopfte mit ihrer kleinen Faust gegen seine Brust und ließ ihm seinen Willen.

Jetzt allerdings machte Caroline nicht den Eindruck, als würde sie klein beigeben. Spät in der Nacht, wenn Gary zu aufgewühlt und wütend war, um die Augen zu schließen, geschweige denn zu schlafen, lehnte sie es höflich, aber bestimmt ab, mit ihm zu streiten. Besonders hartnäckig weigerte sie sich, wenn es um Weihnachten ging; Gary über dieses Thema reden zu hören sei, sagte sie, als sähe man einem Alkoholiker beim Trinken zu.

«Was willst du von mir?», fragte Gary. «Was soll ich denn tun?»

«Ich möchte, dass du die Verantwortung für deine seelische Gesundheit übernimmst.»

«Herrgott, Caroline. Falsche Antwort, falsch, falsch, falsch.»

Unterdessen hatte Discordia, die Göttin des ehelichen Zwistes, gemeinsame Sache mit den Fluggesellschaften gemacht. Im Inquirer erschien eine ganzseitige Werbung für Sonderangebote der Midland Airline, darunter der Kampfpreis eines Fluges von Philadelphia nach St. Jude und zurück für $ 198. Nur fünf Termine Ende Dezember waren geschwärzt; wenn sie Weihnachten bloß einen Tag länger in St. Jude blieben als geplant, würde Gary für Hin- und Rückflug der gesamten Familie (ohne Umsteigen!) weniger als eintausend Dollar hinblättern müssen. Er bat sein Reisebüro, ihm fünf Tickets zu reservieren, und erneuerte die Option täglich. Am Freitagmorgen schließlich, kurz vor Ablauf der Frist, verkündete er Caroline, dass er jetzt Tickets kaufen werde. Getreu ihrer strikten Weihnachten-ist-tabu-Politik wandte sie sich Aaron zu und fragte ihn, ob er schon für die Spanisch-Arbeit gelernt habe. In Stellungskriegslaune rief Gary aus seinem Büro bei der CenTrust im Reisebüro an und gab grünes Licht für den Kauf der Flugscheine. Dann rief er seinen Arzt an und bat ihn um ein Schlafmittel, ein Rezept auf die Schnelle, irgendetwas geringfügig Stärkeres als das ganze nicht verschreibungspflichtige Zeug. Dr. Pierce erwiderte, ein Schlafmittel scheine ihm keine besonders gute Idee zu sein. Caroline habe erwähnt, dass Gary möglicherweise depressiv sei, und dagegen helfe ein Schlafmittel nun ganz gewiss nicht. Vielleicht wolle Gary stattdessen einmal in seine Sprechstunde kommen und darüber reden, wie es ihm gehe?

Nachdem er aufgelegt hatte, stellte Gary sich einen Augenblick lang vor, wie es wäre, geschieden zu sein. Doch drei leuchtende und idealisierende Charakterbilder seiner Kinder, überschattet von einem fledermausartigen Schwarm finanzieller Sorgen, verscheuchten diesen Gedanken aus seinem Kopf.

Am Samstag, während eines Abendessens, hatte er auf der Suche nach irgendetwas Valiumähnlichem den Medizinschrank seiner Freunde Drew und Jamie durchwühlt, doch vergebens.

Gestern hatte ihn Denise angerufen und mit unheilvoller Beharrlichkeit darauf bestanden, ihn zum Lunch zu treffen. Sie sagte, sie habe am Samstag Enid und Alfred in New York gesehen. Und Chip und seine Freundin hätten sie versetzt und sich aus dem Staub gemacht.

Als er letzte Nacht wach gelegen hatte, war Gary die Frage gekommen, ob Caroline solche Glanzleistungen meinte, wenn sie Chip als einen Mann beschrieb, der «ehrlich genug» sei zu sagen, was er «ertragen» könne und was nicht.

«Die Zellen werden genetisch so reprogrammiert, dass sie den Nervenwachstumsfaktor nur dann freisetzen, wenn sie lokal aktiviert werden!», verkündete Earl Eberles Videofaksimile gut gelaunt.

Ein bezauberndes weibliches Versuchskaninchen, den Schädel unter einem Eberle-Helm, war in einem Gerät festgeschnallt, das seinem Gehirn wieder beibrachte, den Beinen das Laufen zu befehlen.

Ein anderes Versuchskaninchen, im grauen Winterfell der Misanthropie und Bitterkeit, schob mit den Fingern die Mundwinkel hoch, während der vergrößerte Ausschnitt einer Computeranimation zeigte, wie in seinem Gehirn baumähnliche Verästelungen wuchsen und neue synaptische Verbindungen entstanden. Im nächsten Moment konnte das Mädchen ganz vorsichtig und ohne seine Finger zu benutzen lächeln. Noch einen Augenblick später strahlte es.

KORREKTAL: DAS IST DIE ZUKUNFT!

«Die Axon Corporation ist in der glücklichen Lage, fünf US- amerikanische Patente zu haben, die die beschriebene mächtige Grundlagentechnologie schützen», sagte Earl Eberle in die Kamera. «Diese Patente sowie acht weitere Verfahren, die gerade zum Patent angemeldet werden, bilden eine undurchdringliche Firewall, hinter der die einhundertfünfzig Millionen Dollar, die wir bisher in die Forschung und Entwicklung gesteckt haben, sicher sind. Axon ist anerkanntermaßen auf diesem Gebiet weltweit führend. Wir blicken auf sechs Jahre ununterbrochenen Überschuss zurück und haben kontinuierliche Einnahmen, die im kommenden Jahr aller Wahrscheinlichkeit nach achtzig Millionen Dollar übersteigen werden. Potenzielle Investoren dürfen darauf vertrauen, dass jeder Penny eines jeden Dollars, den wir am 15. Dezember bekommen, für die Weiterentwicklung dieses phantastischen und womöglich historischen Produkts verwendet werden wird. Korrektal: Das ist die Zukunft!», sagte Eberle.

«Das ist die Zukunft!», intonierte der Sprecher.

«Das ist die Zukunft!», stimmte die Menge der gut aussehenden Studenten mit ihren Streberbrillen ein.

«Ich mochte die Vergangenheit», sagte Denise und setzte ihre Halbliterflasche importierten Gratiswassers an die Lippen.

Garys Meinung nach atmeten zu viele Menschen die Luft von Ballsaal B. Ein Lüftungsproblem. Als die Lichter voll aufgedreht wurden, schwärmte schweigendes Bedienungspersonal aus, lief zwischen den Tischen hin und her und trug Essen unter wärmenden Deckeln auf.

«Ich tippe auf Lachs», sagte Denise. «Nein, mit Sicherheit Lachs.»

Die drei Gestalten, die sich jetzt aus ihren Talkshow-Sesseln erhoben und an den vorderen Rand des Podiums traten, erinnerten Gary auf sonderbare Weise an seine Flitterwochen in Italien. Er und Caroline hatten irgendwo in der Toskana, vielleicht in Siena, eine Kathedrale besichtigt, in deren Museum große mittelalterliche Heiligenstatuen ausgestellt waren, die einst auf dem Dach der Kathedrale gestanden hatten, jede mit einem erhobenen Arm, als wären es winkende Präsidentschaftskandidaten, auf den Gesichtern ein heiliges Grinsen der Gewissheit.

Der älteste der drei glückseligen Redner, ein rosawangiger Mann mit randloser Brille, streckte eine Hand aus, wie um die Menge zu segnen.

«Also dann!», sagte er. «Also dann, meine Herrschaften! Mein Name ist Joe Prager, ich bin der Bevollmächtigte von Bragg Knuter für diese Transaktion. Die Dame zu meiner Linken ist Merilee Finch, Vorstandsvorsitzende bei Axon, der Herr zu meiner Rechten Daffy Anderson, der alles entscheidende Dealmanager bei Hevy & Hodapp. Wir hatten gehofft, dass uns Krauskopf höchstpersönlich heute noch die Ehre geben würde, aber er ist der Mann der Stunde und wird just in diesem Moment von CNN interviewt. Also lassen Sie mich hier ein paar Warnungen aussprechen, zwinker, zwinker, und dann das Wort an Daffy und Merilee weitergeben.»

«Jo, Kelsey, schieß los, Baby, schieß los», rief Garys junger Nebenmann.

«Warnung A», sagte Prager. «Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich betone, wie extrem vorläufig Krauskopfs Ergebnisse sind. Das Ganze hier ist Phase eins der Forschung, Leute. Gibt's hier jemanden, der mich akustisch nicht versteht? Da ganz hinten?» Prager reckte den Hals und winkte mit beiden Armen den am weitesten entfernten Tischen zu, wo auch Gary saß. «Alle Karten auf den Tisch gelegt: Dies ist Phase eins der Forschung. Axon hat von der Arznei- und Lebensmittelbehörde noch keine Genehmigung, mit den Tests für Phase zwei zu beginnen, und will da auch niemandem etwas vormachen. Und was kommt nach Phase zwei? Phase drei! Und nach Phase drei? Ein mehrstufiges Kontrollverfahren, das die Einführung des Produkts auf dem Markt noch einmal um bis zu drei Jahre verzögern kann. Hallo, Leute, wir haben es hier mit klinischen Ergebnissen zu tun, die außerordentlich interessant, aber auch außerordentlich vorläufig sind. Also Vorsicht, liebe Käufer. Alles klaro? Zwinker, zwinker. Alles klaro?»

Prager bemühte sich, ein ernstes Gesicht zu machen. Auch Merilee Finch und Daffy Anderson verbissen sich das Lächeln, als hätten sie schmutzige Geheimnisse oder heikle religiöse Überzeugungen.

«Warnung B», sagte Prager. «Eine inspirierende Videopräsentation ist keine Subkriptionsanzeige. Daffys Darlegungen heute sind, ebenso wie Menlees, improvisiert und, ich sage es noch einmal, keine Subskriptionsanzeige…»

Das Bedienungspersonal fiel jetzt über Garys Tisch her und servierte ihm Lachs auf einem Linsenbett. Denise winkte ab.

«Isst du nichts?», flüsterte Gary.

Sie schüttelte den Kopf.

«Denise. Ehrlich.» Unerklärlicherweise fühlte er sich gekränkt. «Du könntest schon ein paar Happen mit mir essen.»

Denise sah ihn mit unergründlicher Miene an. «Mir ist ein bisschen schlecht.»

«Möchtest du gehen?»

«Nein. Ich möchte nur nichts essen.»

Mit ihren zweiunddreißig Jahren war Denise immer noch hübsch, obwohl lange Stunden am Herd ihre jugendliche Haut mehr und mehr zu einer Art Terrakottamaske brannten, die Gary jedes Mal wenn sie sich trafen, ein wenig banger zumute werden ließ. Schließlich war sie seine kleine Schwester. Die Jahre ihrer

Fruchtbarkeit und Heiratsfähigkeit vergingen in einem Tempo, auf das er eingestimmt war, sie hingegen, wie er vermutete, nicht. Ihre Karriere war in seinen Augen ein böser Zauber, in dessen Bann sie sechzehn Stunden am Tag arbeitete und keinerlei Privatleben hatte. Gary machte sich Sorgen — und als ihr ältester Bruder nahm er das Recht dazu für sich in Anspruch — , dass Denise, wenn sie eines Tages aus diesem Zauber erwachte, zu alt wäre, um eine Familie zu gründen.

Schnell aß er seinen Lachs, während sie ihr importiertes Wasser trank.

Auf dem Podium sprach die Vorstandsvorsitzende von Axon, eine blonde Frau um die vierzig mit der scharfzüngigen Kampfeslust einer College-Rektorin, über Nebenwirkungen. «Abgesehen von Kopfschmerzen und Übelkeit, mit denen man rechnen muss», sagte Merilee Finch, «haben wir noch nichts im Visier. Bedenken Sie, dass unsere Grundlagentechnologie immerhin schon seit einigen Jahren breite Anwendung findet, ohne dass von irgendwelchen signifikanten schädlichen Nebenwirkungen berichtet worden wäre.» Finch zeigte in den Ballsaal. «Ja, grauer Armani?»

«Ist Korrektal nicht der Name eines Abführmittels?»

«Ah, ja», sagte Finch und nickte heftig. «Andere Schreibweise, aber Sie haben ganz Recht. Krauskopf und ich haben ungefähr zehntausend Namen in Erwägung gezogen, bevor uns klar wurde, dass die Markenbezeichnung für Menschen, die unter Alzheimer, Parkinson oder schwersten Depressionen leiden, nicht wirklich wichtig ist. Wir könnten das Medikament Karzino-Asbest nennen, und sie würden uns immer noch die Türen einrennen. Krauskopfs große Vision aber und der Grund, weswegen er bereit ist, all die blöden Witze und so weiter in Kauf zu nehmen, ist, dass es dank dieses Verfahrens in zwanzig Jahren kein einziges Gefängnis in den Vereinigten Staaten mehr geben wird. Wir leben, realistisch betrachtet, in einem Zeitalter der medizinischen Durchbrüche. Kein Zweifel, es werden auch konkurrierende Therapien für Alzheimer und Parkinson auf den Markt kommen. Manche vermutlich schon vor Korrektal. Für die meisten Erkrankungen des Gehirns wird unser Produkt daher nur eine Waffe in einem ganzen Arsenal sein. Eindeutig die beste Waffe, aber eben nur eine von vielen. Was hingegen soziale Defekte, was das Gehirn des Verbrechers betrifft, zeigt sich keine andere Möglichkeit am Horizont. Die Alternative lautet: Korrektal oder Gefängnis. Es ist also ein zukunftsorientierter Markenname. Wir erheben Anspruch auf eine völlig neue Hemisphäre. Wir hissen die spanische Flagge gleich hier am Strand.»

An einem der hinteren Tische, wo eine schlichte Tweedfraktion saß, Gewerkschaftsfonds-Verwalter vielleicht, vielleicht auch Stiftungsleute von Penn oder Temple, wurde Gemurmel laut. Eine storchengestaltige Frau stand auf und rief: «Also, was bedeutet das — Sie reprogrammieren den Wiederholungstäter, damit er wieder Spaß daran hat, den Besen zu schwingen?»

«Das liegt im Bereich des Machbaren, ja», sagte Finch. «Das ist eine Anwendungsmöglichkeit, wenn auch vermutlich nicht die beste.»

Die Zwischenruferin traute ihren Ohren nicht. «Nicht die beste? Ein ethischer Albtraum ist das!»

«Tja, freies Land — investieren Sie halt in alternative Energien», sagte Finch, um eines Lachers willen, denn die meisten Anwesenden waren auf ihrer Seite. «Kaufen Sie ein paar geothermische Billigaktien. Solarstromzukunft, sehr günstig, sehr korrekt. Ja, der Nächste, bitte? Rosa Hemd?»

«Ihr träumt doch», fuhr die Zwischenruferin mit noch lauterer Stimme fort, «wenn ihr glaubt, dass das amerikanische Volk-»

«Herzchen», unterbrach sie Finch, den Vorteil ihres am Revers befestigten Mikros nutzend, «das amerikanische Volk befürwortet die Todesstrafe. Meinen Sie, es wird mit einer gesellschaftlich so konstruktiven Alternative wie dieser ein Problem haben? In zehn Jahren werden wir sehen, wer von uns träumt. Ja, rosa Hemd am Tisch drei, ja?»

Die Zwischenruferin ließ nicht locker.

«Entschuldigen Sie», sagte sie, «aber ich möchte Ihre potenziellen Investoren an den Zusatzartikel acht zur Verfassung erinnern, wo es heißt, dass keine grausamen und unüblichen Strafen — »

«Danke. Danke vielmals», sagte Finch, deren Conférencierlächeln allmählich gefror. «Da Sie schon von grausamen und unüblichen Strafen sprechen, schlage ich vor, Sie gehen zur Fairmount Avenue, ein paar Blocks nördlich von hier, und sehen sich das Eastern-State-Gefängnis an. Die erste moderne Strafanstalt der Welt, seit 1829 in Betrieb, Einzelhaft von bis zu zwanzig Jahren, erstaunlich hohe Selbstmordrate, Besserungseffekt gleich null und, nur um Ihnen das ins Gedächtnis zu rufen, noch heute das allen Besserungsanstalten in den Vereinigten Staaten zugrunde liegende Modell. Nicht darüber redet Krauskopf auf CNN, meine Herrschaften. Er redet über die eine Million Amerikaner, die Parkinson haben, und die vier Millionen, die an Alzheimer erkrankt sind. Was ich Ihnen jetzt sage, ist nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt. Aber Tatsache ist, dass eine einhundertprozentig freiwillige Alternative zur Haftstrafe das Gegenteil von grausam und unüblich ist. Unter allen möglichen Anwendungsformen von Korrektal ist sie die humanste. Dies ist die liberale Vision: wahre, dauerhafte, freiwillige Selbstkorrektur.»

Die Zwischenruferin, mit dem Nachdruck der Unverbesserlichen den Kopf schüttelnd, war bereits auf dem Weg zur Tür, um den Saal zu verlassen. Mr. Zwölftausend- Exxon-Aktien wölbte, auf Höhe von Garys linker Schulter, die Hände um den Mund und buhte sie aus.

Junge Männer an anderen Tischen taten es ihm gleich, sie buhten und grienten, sie hatten ihren Sportfan-Spaß und gaben damit, befürchtete Gary, Denise' Verachtung für die Welt, in der er sich bewegte, neue Nahrung. Denise hatte sich vorgebeugt und starrte Mr. Zwölftausend-Exxon-Aktien mit unverhohlenem Befremden an.

Daffy Anderson, Typ Deckungsspieler mit vollen, glänzenden Koteletten und einem deutlich anders strukturierten Stoppelfeld von Haaren weiter oben, war vorgetreten, um monetäre Fragen zu beantworten. Er sprach von einer erfreulichen Überzeichnung. Er sagte, diese Emission sei so heiß wie Starbuck-Coffee und Dallas im Juli. Er weigerte sich, den Preis zu nennen, den Hevy & Hodapp für eine Axon-Aktie fordern wollten. Er sagte, sie würden sie fair bewerten und — zwinker, zwinker — den Rest dem Markt überlassen.

Denise berührte Garys Schulter und deutete auf einen Tisch hinter dem Podium, an dem Merilee Finch stand, allein, und sich Lachs in den Mund schob. «Unsere Beute weidet. Ich würde sagen, wir schlagen zu.»

«Wieso?», fragte Gary.

«Um Dad als Testperson anzumelden.»

Der Gedanke, dass Alfred an einem Versuch der Phase zwei teilnehmen könnte, behagte Gary nicht im Mindesten, aber dann kam ihm eine Idee: Wenn er zuließ, dass Denise von Alfreds Gebrechen sprach und Mitleid für die Lamberts weckte und den moralischen Anspruch der Familie auf Axons Gunst geltend machte, erhöhte das vielleicht seine Chancen, an die fünftausend Aktien heranzukommen.

«Du redest», sagte er und stand auf. «Aber dann werde ich sie noch was fragen.»

Als er und Denise zum Podium gingen, wandten sich überall bewundernd die Köpfe nach Denise' Beinen um.

«Welchen Teil von ‹kein Kommentar› haben Sie nicht verstanden?», fragte Daffy Anderson einen Zuhörer zurück und

erntete Gelächter.

Die Backen von Axons Vorstandsvorsitzender waren gebläht wie die eines Eichhörnchens. Finch führte eine Serviette zum Mund und betrachtete argwöhnisch die herannahenden Lamberts. «Ich habe so einen Hunger», sagte sie. Es war die Entschuldigung einer dünnen Frau, einen Körper zu haben. «In ein paar Minuten stellen wir noch einige Tische auf, wenn Sie so lange warten möchten?»

«Wir haben eine halbprivate Frage», sagte Denise.

Finch schluckte mit Mühe — vielleicht vor Verlegenheit, vielleicht, weil sie nicht genügend gekaut hatte. «Ja?»

Denise und Gary stellten sich vor, und Denise erwähnte den Brief, den Alfred bekommen hatte.

«Ich musste unbedingt etwas essen», erklärte Finch, während sie sich Linsen auf die Gabel häufte. «Ich glaube, es war Joe, der Ihrem Vater geschrieben hat. Wir sind jetzt quitt, denke ich. Wenn Sie noch Fragen haben, wird er sicher gern mit Ihnen sprechen.»

«Unsere Frage richtet sich mehr an Sie», sagte Denise.

«Entschuldigung. Noch einen Happen.» Finch kaute ihren Lachs mit angestrengt mahlendem Kiefer, schluckte erneut und warf ihre Serviette auf den Teller. «Was das Patent betrifft, hatten wir ehrlich gesagt erwogen, es einfach zu missachten. So machen es alle. Aber Krauskopf ist selbst Erfinder. Er wollte das Richtige tun.»

«Mal ehrlich», erwiderte Gary, «das Richtige wäre wohl gewesen, ihm mehr dafür zu bieten.» Finchs Zunge schlüpfte unter ihre Oberlippe wie eine Katze unter Decken. «Sie mögen etwas überzogene Vorstellungen von der Leistung Ihres Vaters haben», sagte sie. «In den sechziger Jahren gab es viele Forscher, die besagte Gels untersucht haben. Die Entdeckung der elektrischen Anisotropie wird meines Wissens gewöhnlich einem Team von der Cornell-Universität zugeschrieben. Und wenn ich Joe richtig verstanden habe, ist die Formulierung des Patents sehr vage. Es ist dort nicht einmal vom Gehirn die Rede, bloß von ‹menschlichem Gewebe›. Im Patentrecht ist Gerechtigkeit das Recht des Stärkeren. Ich denke, unser Angebot war ziemlich großzügig.»

Gary zog seine Ich-Blödmann-Grimasse und schaute zum Podium, wo Bewunderer und Bittsteller Daffy Anderson umringten.

«Unser Vater war ja auch mit dem Angebot zufrieden», versicherte Denise. «Und er interessiert sich sehr dafür, was Sie herausfinden.»

Wenn Frauen sich verbündeten, wenn sie nett taten, wurde Gary immer leicht übel.

«In welcher Klinik arbeitete er noch gleich?», sagte Finch.

«In keiner», sagte Denise. «Er war Eisenbahningenieur. Er hatte ein Labor in unserem Keller.»

Finch war überrascht. «Er hat diese Arbeit als Amateur geleistet?»

Gary wusste nicht, welche Version von Alfred ihn mehr erboste: die des trotzigen alten Tyrannen, der in seinem Keller eine brillante Entdeckung gemacht und sich selbst um ein Vermögen betrogen hatte, oder die des ahnungslosen Kelleramateurs, der unwissentlich Resultate professioneller Chemiker erzielt und mit dem knappen Familiengeld ein vage formuliertes Patent angemeldet, ja über Jahre aufrechterhalten hatte und jetzt zum Lohn einen Brocken von Earl Eberles Tisch hingeworfen bekam. Beide Versionen ärgerten ihn maßlos.

Vielleicht war es doch das Beste, dass der alte Mann Garys Rat ignoriert und das Angebot angenommen hatte.

«Mein Dad hat Parkinson», sagte Denise.

«Oh, das tut mir Leid.»

«Tja, und wir dachten, Sie könnten ihn vielleicht an den Tests für Ihr… Produkt teilnehmen lassen.»

«Gut möglich», sagte Finch. «Wir müssten Krauskopf fragen. Der menschliche Aspekt daran gefällt mir. Lebt Ihr Dad hier in der Gegend?»

«Nein, in St. Jude.»

Finch runzelte die Stirn. «Es wird nicht funktionieren, wenn er nicht mindestens sechs Monate lang zweimal die Woche nach Schwenksville kommen kann.»

«Kein Problem», sagte Denise und wandte sich Gary zu. «Oder?»

Alles an dieser Unterhaltung widerstrebte Gary. Gesundheit, Gesundheit, Frauen, Frauen, nett nett, artig artig. Er antwortete nicht.

«Wie ist seine geistige Verfassung?», fragte Finch.

Denise öffnete den Mund, aber es kamen keine Wörter.

Dann fing sie sich. «Gut», sagte sie. «Sehr — gut.»

«Keine Demenz?»

Denise schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. «Nein. Manchmal ist er zwar ein bisschen verwirrt, aber — nein.»

«Die Verwirrung könnte von seinen Medikamenten herrühren», sagte Finch. «In diesem Fall kriegt man sie in den Griff. Aber eine Lewy-Körperchen-Demenz sprengt den Rahmen von Testphase zwei. Genauso wie Alzheimer.»

«Er ist ziemlich klar im Kopf», sagte Denise.

«Schön — wenn er in der Lage ist, einfache Anweisungen zu befolgen, und wenn er bereit ist, im Januar an die Ostküste zu reisen, könnte Krauskopf vielleicht versuchen, ihn noch einzubeziehen. Wär eine gute Geschichte.» Finch zückte eine Visitenkarte, schüttelte Denise freundlich und Gary weniger freundlich die Hand und wollte sich unter die Menschenmenge mischen, die Daffy Anderson belagerte.

Gary folgte ihr und hielt sie am Ellbogen fest. Erstaunt drehte sie sich um.

«Hören Sie, Merilee», raunte er ihr zu, als wollte er sagen: Jetzt seien wir mal realistisch, wir Erwachsene können doch auf diesen ganzen Nettigkeitsquatsch verzichten. «Dass Sie denken, mein Dad sei eine ‹gute Geschichte›, freut mich sehr. Und es ist ausgesprochen großzügig von Ihnen, ihm fünftausend Dollar zu geben. Aber ich glaube, Sie brauchen uns mehr als wir Sie.»

Finch winkte jemandem zu und hielt einen Finger hoch: eine Sekunde, und sie würde bei ihm sein. «Eigentlich», sagte sie zu Gary, «brauchen wir Sie überhaupt nicht. Also weiß ich nicht genau, worauf Sie hinauswollen.»

«Meine Familie möchte gern fünftausend Ihrer Aktien kaufen.»

Finch lachte wie eine Funktionärin mit einer Achtzigstundenwoche. «Das will jeder in diesem Raum», sagte sie. «Dafür haben wir Investmentbänker. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden — »

Sie machte sich los und entfernte sich. Gary bekam in dem Gedränge von Leibern kaum Luft. Er war wütend, weil er gebettelt hatte, wütend, weil er Denise an dieser Werbeveranstaltung hatte teilnehmen lassen, wütend, weil er ein Lambert war. Mit großen Schritten ging er zur nächsten Tür, ohne auf Denise, die hinter ihm hereilte, zu warten.

Zwischen dem Four Seasons und dem angrenzenden Büro-Hochhaus lag ein Innenhof, der so üppig bepflanzt und tadellos gepflegt war, dass er genauso gut aus den Pixeln eines Cybershopping-Paradieses hätte bestehen können. Hier fand Gary ein Ventil, um seinem Ärger Luft zu machen. Er sagte: «Ich habe keine Ahnung, wo zum Teufel Dad deiner Meinung nach wohnen soll, wenn er herkommt.»

«Teils bei dir, teils bei mir», sagte Denise.

«Du bist nie zu Hause», sagte er. «Und dass Dad sich in meinem Haus nicht länger als achtundvierzig Stunden aufhalten möchte, ist aktenkundig.»

«Es wäre ja nicht so wie letztes Weihnachten», sagte Denise.

«Glaub mir. Der Eindruck, den ich am Samstag gewonnen habe — »

«Außerdem, wie soll er zweimal in der Woche nach Schwenksville rauskommen?»

«Gary, was willst du damit sagen? Willst du nicht, dass es klappt?»

Zwei Büroangestellte standen auf und machten eine Marmorbank frei, als sie die streitenden Parteien auf sich zusteuern sahen. Denise setzte sich auf die Bank und verschränkte unversöhnlich die Arme. Gary, die Hände in die Hüften gestemmt, lief im Kreis vor ihr herum.

«In den letzten zehn Jahren», sagte er, «hat Dad nicht die geringste Verantwortung für sich übernommen. Er hat immer nur in diesem beschissenen blauen Sessel gesessen und sich bemitleidet. Ich weiß nicht, warum du glaubst, dass er nun auf einmal anfangen wird — »

«Na ja, wenn er auf Heilung hoffen könnte — »

«Was — damit er weitere fünf Jahre lang depressiv sein und anstatt mit achtzig mit fünfundachtzig unglücklich sterben kann? Das soll einen großen Unterschied machen?»

«Vielleicht ist er ja depressiv, weil er krank ist.»

«Tut mir Leid, aber das ist Schwachsinn, Denise. Der Mann ist ein Wrack. Er war schon depressiv, bevor er in den Ruhestand ging. Er war schon depressiv, als er körperlich noch vollkommen gesund war.»

Ein niedriger Brunnen plätscherte in ihrer Nähe und schuf ein Mittelmaß an Intimität. Eine einzelne kleine Wolke war in den privaten Raum des Himmelsrechtecks gewandert, das die Dachlinien ringsum bildeten. Das Licht war diffus wie an der Küste.

«Was würdest du denn machen», sagte Denise, «wenn Mom sieben Tage die Woche an dir herumnörgeln und dir andauernd in den Ohren liegen würde, dass du aus dem Haus gehen sollst? Wenn sie dich auf Schritt und Tritt beobachten würde und so täte, als wäre die Frage, in welchem Sessel du sitzt, ein moralisches Problem? Je häufiger sie ihm sagt, er soll aufstehen, umso länger bleibt er sitzen. Und je länger er sitzen bleibt, umso häufiger sagt — »

«Denise, du lebst in einer Phantasiewelt.»

Sie blickte Gary hasserfüllt an. «Behandel mich nicht wie ein Kind. So zu tun, als wäre Dad eine klapprige alte Maschine, ist genauso ein Hirngespinst. Er ist ein Mensch, Gary. Er hat ein Innenleben. Und wenigstens ist er nett zu mir — »

«Tja, zu mir ist er weniger nett», sagte Gary. «Und Mom gegenüber benimmt er sich wie ein ungehobelter, selbstsüchtiger Despot. Ich sag dir eins: Wenn er in diesem Sessel sitzen und sein Leben verschlafen will, bitte. Die Idee gefällt mir. Ich bin tausendprozentig dafür. Aber vorher sollten wir diesen Sessel schleunigst aus einem zweistöckigen Haus schaffen, das dabei ist, auseinander zu fallen und an Wert zu verlieren. Wir sollten Mom zu ein bisschen Lebensqualität verhelfen. Danach kann er meinetwegen in seinem Sessel sitzen und sich selbst bemitleiden, bis er schwarz wird.»

«Sie hängt an dem Haus. Das Haus ist für sie Lebensqualität.»

«Ja, weil auch sie in einer Phantasiewelt lebt! Was nützt es ihr denn, an dem Haus zu hängen, wenn sie vierundzwanzig Stunden am Tag ein Auge auf den alten Mann haben muss?»

Denise schielte und blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn. «Der Phantast bist du», sagte sie. «Du scheinst zu glauben, dass sich die beiden in einer Zweizimmerwohnung wohlfühlen werden, noch dazu in einer Stadt, in der sie außer dir und mir niemanden kennen. Und weißt du, für wen das bequem ist? Für dich.»

Er warf die Hände in die Luft. «Und wennschon! Ich habe die Nase voll davon, mir Gedanken über das Haus in St. Jude zu machen! Ich habe die Nase voll von den Reisen dahin. Ich habe die Nase voll, davon zu hören, wie unglücklich Mom ist. Eine Situation, die für dich und mich bequem ist, ist allemal besser als eine, die für niemanden bequem ist. Mom lebt mit einem körperlichen Wrack zusammen. Er will nicht mehr, er hat mit allem abgeschlossen, finito, Feierabend, da können wir uns auf den Kopf stellen. Aber sie glaubt immer noch, dass er sich nur mehr Mühe geben müsste, und schon wäre alles wieder gut und das Leben wieder wie früher. Also, ich verrate euch jetzt mal was: Es wird nie mehr sein wie früher.»

«Du willst ja gar nicht, dass es ihm besser geht.»

«Denise.» Gary kniff die Augen zusammen. «Sie hatten fünf Jahre, bevor er krank wurde. Und was hat er in dieser Zeit gemacht? Er hat die Lokalnachrichten geguckt und gewartet, dass Mom das Essen serviert. Das ist die Wirklichkeit, in der wir leben. Und ich möchte, dass die beiden aus diesem Haus — »

«Gary.»

«Ich möchte, dass sie hier in eine Seniorenresidenz ziehen, und ich scheue mich nicht, das auch zu sagen.»

«Gary, hör mir mal zu.» Denise beugte sich mit einem aufgesetzten Wohlwollen vor, das ihn nur noch mehr reizte. «Dad kann sechs Monate bei mir wohnen. Sie können von mir aus beide herkommen und bei mir wohnen, ich kann fertige Mahlzeiten mit nach Hause bringen, das ist kein großes Problem. Wenn es ihm danach besser geht, fahren sie wieder nach Hause. Wenn nicht, dann haben sie sechs Monate gehabt, um zu überlegen, ob sie in Philly leben möchten. Ich meine, was ist dagegen einzuwenden?»

Gary wusste nicht, was dagegen einzuwenden war. Aber er hörte schon Enids unerquickliche Ergüsse über Denise'

Großherzigkeit. Und da es unmöglich war, sich vorzustellen, dass Caroline und Enid sich sechs Tage lang (geschweige denn sechs Wochen oder gar sechs Monate) friedlich ein und dasselbe Haus teilten, konnte Gary nicht einmal anstandshalber anbieten, seine Eltern bei sich aufzunehmen.

Er hob die Augen zum intensiven Weiß einer Ecke des Bürohochhauses, das die Nähe der Sonne erahnen ließ. Die Chrysanthemen-, Begonien- und Liriopenbeete um ihn herum waren wie Bikinis tragende Statistinnen in einem Videoclip; in voller, vollendeter Blüte gepflanzt, war es ihnen bestimmt, herausgerissen zu werden, bevor sie welken, braune Flecken bekommen, Blätter verlieren konnten. Gary hatten firmeneigene Gärten schon immer gefallen, als Kulissen für das Gepränge des Privilegs, als Metonymien der Verzärtelung, aber es war entscheidend, nicht zu viel von ihnen zu verlangen. Entscheidend, nicht zu ihnen zu kommen, wenn man in Not war.

«Ach, im Grunde ist es mir egal», sagte er. «Der Plan ist hervorragend. Und wenn du die Rennerei übernehmen willst, umso besser.»

«Gut, die ‹Rennerei› übernehme ich», sagte Denise schnell. «Und was ist mit Weihnachten? Dad möchte unbedingt, dass ihr alle kommt.»

Gary lachte. «Er also auch.»

«Er möchte es Mom zuliebe. Und sie will es ganz unbedingt.»

«Natürlich will sie das. Schließlich ist sie Enid Lambert. Was könnte sich Enid Lambert anderes wünschen als Weihnachten in St. Jude?»

«Also, ich fahre jedenfalls hin», sagte Denise. «Chip werde ich noch bearbeiten, und ihr fünf solltet auch fahren. Wir sollten uns einfach alle aufraffen und ihnen diesen einen Gefallen tun.»

Als er das leise Beben der Tugendhaftigkeit in ihrer Stimme hörte, sträubten sich Gary die Nackenhaare. Ein Vortrag über Weihnachten war das Letzte, was er an diesem Oktobernachmittag, an dem die Nadel seiner Faktor-3-Anzeige ohnehin schon an das grellrote L stieß, brauchen konnte.

«Dad hat am Samstag etwas Merkwürdiges gesagt», fuhr Denise fort. «Er sagte: ‹Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt.› Beide haben so geredet, als wäre dies vielleicht ihr letztes Weihnachten. Das ging mir irgendwie unter die Haut.»

«Na, darin ist Mom doch Meisterin», sagte Gary ein bisschen aufbrausend. «Etwas so zu formulieren, dass sie ein Maximum an emotionalem Druck damit ausübt!»

«Stimmt schon. Aber ich glaube, sie meint es wirklich so.»

«Klar meint sie es so!», sagte Gary. «Und ich werde darüber nachdenken! Aber, Denise, es ist nicht so einfach, uns alle fünf dahin zu verfrachten. Es ist alles andere als einfach! Zumal es so viel näher liegt, dass wir alle hier bleiben! Stimmt's? Stimmt's?»

«Du hast ja Recht, ich weiß», antwortete Denise ruhig. «Aber vergiss nicht, es wäre nur dieses eine, einzige Mal.»

«Ich habe doch gesagt, dass ich darüber nachdenke. Das ist alles, was ich tun kann, stimmt's? Ich denke darüber nach! Ich denke darüber nach! Zufrieden?»

Denise schien über seinen Ausbruch erstaunt. «Ist ja gut, Gary, danke. Aber die Sache ist doch — »

«Ja, was ist denn die Sache?», sagte Gary, machte drei Schritte von ihr weg und drehte sich ruckartig wieder um. «Sag mir, was die Sache ist.»

«Na ja, ich dachte nur — »

«Weißt du, ich bin schon eine halbe Stunde zu spät. Ich muss jetzt wirklich wieder ins Büro.»

Denise schaute zu ihm hoch, rollte mit den Augen und ließ ihren Mund mitten im Satz offen stehen.

«Jetzt lass uns mal zum Ende kommen», sagte Gary.

«Also, ich will ja nicht wie Mom klingen, aber — » «Das hättest du dir ein bisschen früher überlegen müssen, hä? Hä?», rief er, die Hände in der Luft, mit einer aberwitzigen Heiterkeit, die ihn selbst überraschte.

«Ich will ja nicht wie Mom klingen, aber — du solltest mit der Entscheidung, Flugtickets zu kaufen, nicht mehr zu lange warten. So, jetzt hab ich's gesagt.»

Gary fing an zu lachen, bezwang das Lachen aber, bevor es mit ihm durchging. «Guter Plan!», sagte er. «Du hast Recht! Ich muss mich bald entscheiden! Muss endlich diese Tickets kaufen! Guter Plan!» Er klatschte in die Hände wie ein Trainer.

«Stimmt irgendwas nicht?»

«Nein, du hast ja Recht. Wir sollten alle nach St. Jude fahren und dort ein letztes Mal Weihnachten feiern, bevor sie das Haus verkaufen oder Dad zusammenklappt oder irgendeiner stirbt. Das sieht doch ein Blinder mit dem Krückstock. Wir sollten alle hinfahren. Völlig klar. Du hast absolut Recht.»

«Dann verstehe ich nicht, worüber du dich so aufregst.»

«Über gar nichts. Ich rege mich gar nicht auf!»

«Na gut.» Denise blickte ihm fest in die Augen. «Dann hätte ich nur noch eine Frage. Ich möchte wissen, warum Mom glaubt, ich hätte eine Affäre mit einem verheirateten Mann.»

Ein Stromstoß des schlechten Gewissens, eine Druckwelle, durchlief Gary. «Keine Ahnung», sagte er.

«Hast du ihr erzählt, ich hätte etwas mit einem verheirateten Mann?»

«Wie könnte ich? Ich weiß doch überhaupt nichts über dein Privatleben.»

«Komm, hast du ihr etwas eingeflüstert? Irgendeine Andeutung gemacht?»

«Denise. Im Ernst.» Gary gewann allmählich seine väterliche Fassung wieder, seine Aura der großbrüderlichen Milde. «Du bist der diskreteste Mensch, den ich kenne. Auf welcher

Grundlage hätte ich ihr irgendwas erzählen sollen?»

«Hast du eine Andeutung gemacht?», fragte sie. «Irgendjemand hat das jedenfalls getan. Irgendjemand hat ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt. Und ich erinnere mich, dass ich dir gegenüber mal eine klitzekleine Bemerkung habe fallen lassen, die du vielleicht falsch aufgefasst und ihr weitererzählt hast. Mann, Gary, sie und ich haben schon genug Probleme.»

«Weißt du, wenn du nicht immer so geheimnisvoll tätest — »

«Tue ich doch gar nicht.»

«Wenn du nicht so verschwiegen wärest», sagte Gary, «gäbe es dieses Problem vielleicht gar nicht. Man könnte fast meinen, du legst es darauf an, dass die Leute hinter vorgehaltener Hand über dich reden.»

«Interessant, dass du meine Frage nicht beantwortest.»

Er atmete langsam durch die Zähne aus. «Ich habe keine Ahnung, wie Mom darauf kommt. Ich habe ihr nichts erzählt.»

«Na schön», sagte Denise und stand auf. «Ich übernehme die ‹Rennerei›. Du denkst über Weihnachten nach. Und wir sehen uns, wenn Mom und Dad in der Stadt sind. Bis dann.»

Mit atemberaubender Entschlossenheit strebte sie dem nächsten Ausgang zu, nicht so schnell, dass es Wut erkennen ließ, aber schnell genug, dass Gary hätte in Laufschritt fallen müssen, um sie einzuholen. Er wartete eine Minute, ob sie zurückkommen würde. Da das nicht geschah, verließ er den Innenhof und lenkte seine Schritte Richtung Büro.

Gary hatte sich geschmeichelt gefühlt, als seine kleine Schwester sich für ein College in derselben Stadt entschied, in der er und Caroline kurz zuvor stolze Besitzer ihres Traumhauses geworden waren. Er hatte sich darauf gefreut, Denise all seinen Freunden und Kollegen vorzustellen (mit ihr anzugeben, wenn er ehrlich war), hatte sich ausgemalt, dass sie einmal im Monat zum Abendessen in die Seminole Street kommen und dass sie und Caroline wie Schwestern sein würden. Er hatte sich auch ausgemalt, dass seine ganze Familie, selbst Chip, eines Tages in Philadelphia leben würde, hatte sich Nichten und Neffen, Familienfeste und Gesellschaftsspiele und lange, verschneite Weihnachtstage in der Seminole Street ausgemalt. Doch inzwischen lebten er und Denise seit fünfzehn Jahren in derselben Stadt, und er hatte das Gefühl, sie kaum zu kennen. Nie bat sie ihn um etwas. Nie, wie müde sie auch sein mochte, erschien sie in der Seminole Street ohne Blumen oder einen Nachtisch für Caroline, ohne Haifischzähne oder Comic-Bücher für die Jungen, ohne einen Juristen- oder Glühbirnenwitz für ihn. Kein Weg führte an ihrer Anständigkeit vorbei, kein Weg, ihr das Ausmaß seiner Enttäuschung darüber begreiflich zu machen, dass von der großartigen, familienerfüllten Zukunft, die er sich ausgemalt hatte, so gut wie nichts wahr geworden war.

Vor einem Jahr hatte Gary ihr beim Mittagessen von einem verheirateten «Freund» (eigentlich einem Kollegen, Jay Pascoe) erzählt, der eine Affäre mit der Klavierlehrerin seiner Tochter hatte. Gary sagte, er könne zwar verstehen, dass diese Affäre einen gewissen Freizeitwert für seinen Freund habe (Pascoe hatte nicht die geringste Absicht, seine Frau zu verlassen), aber ihm sei schleierhaft, warum die Klavierlehrerin das mitmache.

«Du kannst dir also nicht vorstellen», sagte Denise, «warum eine Frau vielleicht eine Affäre mit dir haben will?»

«Ich rede nicht von mir», sagte Gary.

«Aber du bist verheiratet und hast Kinder.»

«Ich meine, ich begreife nur nicht, was die Frau an einem Kerl findet, von dem sie weiß, dass er lügt und betrügt.»

«Im Allgemeinen verachtet sie solche Männer wahrscheinlich», sagte Denise. «Aber für den Mann, den sie liebt, macht sie eine Ausnahme.»

«Eine Art Selbstbetrug also.» «Nein, Gary, so funktioniert die Liebe nun mal.»

«Na, und außerdem besteht ja immer noch die Chance, dass sie Glück hat und reich heiratet.»

Dass er ihre liberale Unschuld mit einer so spitzen ökonomischen Wahrheit durchbohrte, schien Denise traurig zu stimmen.

«Du siehst jemanden, der Kinder hat», sagte sie, «du siehst, wie glücklich er ist, Vater zu sein, und fühlst dich davon angezogen. Das Unmögliche ist anziehend. Du weißt schon: der Reiz von Dingen, aus denen nichts werden kann.»

«Das klingt, als wenn du dich da auskennst», sagte Gary.

«Emile ist der einzige Mann ohne Kinder, den ich bisher anziehend fand.»

Das interessierte Gary. Unter dem Deckmantel brüderlicher Begriffsstutzigkeit riskierte er die Frage: «Na, und mit wem bist du im Augenblick zusammen?»

«Mit niemandem.»

«Du hast nichts mit einem verheirateten Typen?», scherzte er.

Denise' Gesicht wurde eine Schattierung blasser und zwei Schattierungen röter, während sie nach ihrem Wasserglas griff. «Ich bin mit niemandem zusammen», sagte sie. «Ich arbeite viel.»

«Dann vergiss bitte nicht», sagte Gary, «dass es im Leben noch etwas anderes gibt als Kochen. Du musst dir allmählich Gedanken darüber machen, was du wirklich willst und wie du es bekommst.»

Denise rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und gab dem Kellner ein Zeichen, dass sie zahlen wollte. «Vielleicht heirate ich ja reich», sagte sie.

Je mehr Gary darüber nachdachte, dass seine Schwester sich mit verheirateten Männern einließ, desto wütender wurde er. Dennoch hätte er Enid nie etwas davon sagen dürfen. Zu dieser

Indiskretion war es gekommen, weil er auf leeren Magen Gin getrunken hatte, während er an Weihnachten dem Loblied lauschte, das seine Mutter auf Denise sang, wenige Stunden nachdem das verstümmelte österreichische Rentier aufgetaucht und Enids Geschenk für Caroline wie ein ermordetes Baby im Mülleimer entdeckt worden war. Enid pries den großzügigen Multimillionär, der Denise' neues Restaurant finanzierte und sie auf eine zweimonatige kulinarische Reise durch Frankreich und Mitteleuropa geschickt hatte, sie pries Denise' lange Arbeitstage, ihre Hingabe und ihre Sparsamkeit, und in ihrer hinterhältig vergleichenden Art bemängelte sie gleich darauf Garys «Materialismus» und «Protzerei» und «Geldbesessenheit» — als hätte sie nicht selbst Dollarzeichen auf der Stirn! Als hätte sie nicht selbst, wenn es ihr nur möglich gewesen wäre, gern ein Haus wie Garys gekauft und es weitgehend genauso eingerichtet! Am liebsten hätte er zu ihr gesagt: Von deinen drei Kindern führe ich das Leben, das deinem eigenen bei weitem am ähnlichsten ist! Ich habe genau das, was haben zu wollen du mir beigebracht hast! Und jetzt, da ich es habe, mäkelst du daran herum!

Aber was er tatsächlich sagte, als der Wacholdergeist irgendwann überkochte, war: «Warum fragst du Denise nicht, mit wem sie schläft? Frag sie doch mal, ob er verheiratet ist und Kinder hat.»

«Ich glaube nicht, dass sie zurzeit mit irgendjemandem ausgeht», sagte Enid.

«Ich meine ja nur», sagte der Wacholdergeist, «frag sie, ob sie schon mal was mit jemandem hatte, der verheiratet war. Ich finde, die Ehrlichkeit gebietet es dir, diese Frage zu stellen, bevor du sie uns hier als ein Muster an mittelwestlicher Tugend hinstellst.»

Enid hielt sich die Ohren zu. «Ich will nichts davon wissen!»

«Schön, mach nur weiter so, steck den Kopf in den Sand!», lallte der liederliche Geist. «Ich möchte bloß keinen weiteren Mist mehr darüber hören, was für ein Engel sie ist.»

Gary wusste, dass er den geschwisterlichen Ehrenkodex verletzt hatte. Aber er war froh, ihn verletzt zu haben. Er war froh, dass sich Enids Empörung jetzt wieder auf Denise richtete. Er fühlte sich umzingelt, eingesperrt von Frauen, die an ihm herummäkelten.

Es gab natürlich eine nahe liegende Möglichkeit, sich zu befreien: Er brauchte nur ja statt nein zu sagen zu einer der Dutzenden von Sekretärinnen, Passantinnen und Verkäuferinnen, die Woche für Woche seine stattliche Größe und sein schiefergraues Haar, seine Kalbslederjacke und seine französischen Bergsteigerhosen bemerkten und ihm mit diesem Der-Schlüssel-liegt-unter-der-Fußmatte-Blick in die Augen sahen. Aber es gab noch immer keine Möse auf der Welt, die er lieber leckte, kein Haar, um das er, wie um einen Klingelzug aus goldener Seide, seine Faust lieber schloss, keinen Blick, in den er den seinen beim Höhepunkt lieber versenkte als Carolines. Das Einzige, was unter Garantie bei einer Affäre herauskäme, wäre eine weitere Frau in seinem Leben, die an ihm herummäkelte.

In der Lobby des CenTrust-Hochhauses an der Market Street gesellte er sich zu der Ansammlung menschlicher Wesen vor den Fahrstühlen: Schreibkräften und Softwarespezialisten, Buchprüfern und Computertechnikern, die von einem späten Mittagessen zurückkehrten.

«Löwe sein jetzt im Aszendent», sagte die Frau neben Gary. «Sehr gute Zeit jetzt zum Kaufen. Löwe oft wachen über Schnäppchen in Geschäft.»

«Wo bleibt dabei unser Erlöser?», fragte die Frau, zu der die andere gesprochen hatte.

«Dies auch sein gute Zeit, an Erlöser zu denken», antwortete die erste Frau ruhig. «Zeit des Löwen sehr gute Zeit dafür.»

«Lutetium-Zusätze, kombiniert mit einer großen Dosis teilweise hydriertem Vitamin E!», sagte eine dritte Person.

«Er hat seinen Radiowecker programmiert», sagte eine vierte Person, «also, den kann man offenbar so einstellen, also, ich wusste gar nicht, dass so was geht, aber er hat ihn so programmiert, dass er jede Stunde Punkt elf Minuten nach mit WMIA geweckt wird. Die ganze Nacht durch.»

Endlich kam ein Fahrstuhl. Während die Masse Mensch hineinströmte, erwog Gary, auf eine weniger bevölkerte Kabine zu warten, auf eine Fahrt, die ihn mit weniger Mittelmaß und körperlicher Ausdünstung behelligen würde. Doch just in diesem Moment stolzierte eine junge Vermögensberaterin von der Market Street herein, die ihm in den letzten Monaten freundliche Sprich-mit-mir- und Berühr-mich-Blicke zugeworfen hatte. Um den Kontakt mit ihr zu vermeiden, schoss er durch die sich bereits schließenden Fahrstuhltüren. Aber die Türen stießen gegen seine Ferse und öffneten sich wieder. Die junge Vermögensberaterin drängte sich hinter ihm herein.

«Der Prophet Jeremias, Mädchen, er sprechen von Löwen. Das stehen hier, in der Flugschrift.»

«Also, ich sag mal, es ist drei Uhr elf, und die Clippers führen 146 zu 145 gegen die Grizzlies, dritte Verlängerung, noch zwölf Sekunden zu spielen.»

Absolut kein Widerhall in einem vollen Fahrstuhl. Jedes Geräusch von Kleidern und Fleisch und Frisuren erstickt. Die Luft vorgeatmet. Die Gruft allzu warm.

«Diese Flugschrift ist Teufelswerk.»

«Du sie lesen in der Kaffeepause, Mädchen. Wo soll sein Schaden?»

«Beide Teams stehen am Tabellenende und versuchen, ihre Chancen in der College-Lotterie zu erhöhen, indem sie dieses Spiel verlieren, das ansonsten keine Bedeutung mehr hat, weil die Saison ja fast vorbei ist.»

«Lutetium ist ein Element der Seltenen Erden, sehr selten, stammt aus der Erde und ist rein, weil es elementar ist!»

«Aber wenn er den Wecker, ich sag mal, auf vier Uhr elf stellen würde, könnte er alle Ergebnisse hören und brauchte dafür bloß einmal wach zu werden. Bloß, in Sydney ist Davis Cup, da wird man jede Stunde auf den neuesten Stand gebracht. Das darf er auch nicht verpassen.»

Die junge Vermögensberaterin war klein und hatte ein hübsches Gesicht und mit Henna gefärbtes Haar. Sie lächelte zu Gary empor, als wolle sie ihn zum Sprechen auffordern. Sie sah mittelwestlich aus und schien zufrieden, neben ihm zu stehen.

Gary blickte ins Leere und versuchte, nicht zu atmen. Er ärgerte sich chronisch über das T, das in der Mitte des Wortes CenTrust emporragte. Er hätte das T gern platt gedrückt, wie eine Brustwarze, aber das zu tun brachte ihm keine Befriedigung. Alles, was dabei herauskam, war cent-rust: ein verrosteter Cent.

«Mädchen, das sein kein Ersatzglaube. Sein zusätzlich. Jesaja erwähnen Löwen auch. Nennen ihn Löwen von Judäa.»

«Ein Profi-Golfturnier in Malaysia mit einem Führenden, der ganz schnell wieder im Klubhaus ist, aber daran könnte sich zwischen zwei Uhr elf und drei Uhr elf ja was ändern. Darf er auch nicht versäumen.»

«Mein Glaube braucht keinen Ersatz.»

«Sheri, Mädchen, du haben Schmalzpfropfen im Ohr? Du zuhören, ja? Das. Sein. Kein. Ersatz. Glaube. Sein zusätzlich.»

«Garantiert seidige, elastische Haut, und dazu ein Rückgang von Panikattacken um achtzehn Prozent!»

«Ich frag mich bloß, wie Samantha es findet, dass jede Nacht achtmal der Wecker neben ihrem Kissen losgeht.»

«Ich sagen ja nur, jetzt sein gute Zeit zum Einkaufen, das alles, was ich sagen.»

Während die junge Vermögensberaterin sich an ihn lehnte, um einen Schwall schweißgebadeter Menschheit aus dem Fahrstuhl zu lassen, während sie inniger, als es unbedingt nötig schien, ihr hennagefärbtes Haar an seine Rippen schmiegte, wurde Gary klar, dass es noch einen Grund gab, warum er Caroline in den zwanzig Jahren ihrer Ehe treu geblieben war: seine stetig wachsende Aversion gegen den Körperkontakt mit Fremden. Gewiss, er war in die eheliche Treue verliebt, und ja, es gab ihm einen erotischen Kick, um des Prinzips willen daran festzuhalten; aber womöglich lockerte sich irgendwo zwischen seinem Gehirn und seinen Eiern auch gerade ein Draht, denn als er im Geist diese kleine Rothaarige auszog und kräftig rannahm, dachte er hauptsächlich daran, wie muffig und unhygienisch er den Ort seines Ehebruchs finden würde — eine kolibakteriell verseuchte Abstellkammer, ein Zimmer im Marriott mit getrocknetem Sperma an Wänden und Laken, die katzenkrallenfiebrige Rückbank des entzückenden VW oder Plymouth, den sie zweifellos fuhr, den sporenschweren Teppichboden ihrer pferdeboxartigen ersten eigenen Wohnung in Montgomeryville oder Conshohocken, jeder dieser Orte auf seine ureigene grässliche Weise überwarm und unterbelüftet und genitalwarzen- und chlamydienfreundlich — und daran, wie anstrengend das Atmen wäre, wie erdrückend ihr Fleisch, wie erbärmlich und zum Scheitern verurteilt sein Bemühen, nicht herablassend zu wirken…

Im sechzehnten Stock sprang er aus dem Fahrstuhl und füllte seine Lungen in tiefen Zügen mit kühler, zentral gereinigter Luft.

«Ihre Frau hat ein paar Mal angerufen», sagte seine Sekretärin Maggie. «Sie möchte, dass Sie sie sofort zurückrufen.»

Gary nahm einen Stapel Nachrichten aus seinem Posteingangskasten auf Maggies Schreibtisch. «Hat sie gesagt, worum es geht?»

«Nein, aber sie klang besorgt. Obwohl ich ihr gesagt habe, dass Sie nicht da sind, hat sie immer wieder angerufen.»

Gary schloss seine Bürotür und blätterte die Nachrichten durch. Caroline hatte um 13 Uhr 35, 13 Uhr 40, 13 Uhr 50, 13 Uhr 55 und 14 Uhr 10 angerufen; jetzt war es 14 Uhr 25. Er ballte triumphierend die Faust. Endlich, endlich ein Zeichen der Verzweiflung.

Er rief zu Hause an und sagte: «Was gibt's?»

Carolines Stimme zitterte. «Gary, irgendwas stimmt mit deinem Handy nicht. Wenn ich deine Nummer wähle, geht nicht mal die Mailbox an. Was ist los damit?»

«Ich hab's ausgeschaltet.»

«Seit wann denn das? Ich versuche seit einer Stunde, dich zu erreichen, und jetzt muss ich die Jungs abholen, aber ich möchte nicht aus dem Haus! Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll!»

«Caro. Sag mir, was los ist.»

«Da ist jemand vor unserem Haus, auf der anderen Straßenseite.»

«Wer?»

«Ich weiß nicht. Jemand in einem Auto, ich weiß nicht. Seit einer Stunde sitzt er da.»

Die Spitze von Garys Schwanz tropfte wie eine brennende Kerze. «Hm», sagte er. «Bist du nachsehen gegangen, wer es ist?»

«Nein, ich hab viel zu große Angst», sagte Caroline. «Und die Polizei sagt, es ist eine öffentliche Straße.»

«Das stimmt ja auch. Sie ist öffentlich, klar.»

«Gary, das Neverest-Schild ist wieder geklaut worden!» Jetzt schluchzte sie beinahe. «Ich bin gegen zwölf nach Hause gekommen, und da war es weg. Dann habe ich rausgeguckt und diesen Wagen gesehen, und da sitzt jemand hinterm Steuer.»

«Was für ein Wagen ist es?»

«Ein großer Kombi. Alt. Ich habe ihn hier noch nie gesehen.»

«War er schon da, als du nach Hause gekommen bist?»

«Ich weiß es nicht! Aber jetzt muss ich Jonah abholen, und ich mag nicht aus dem Haus gehen, wo doch das Schild weg ist und der Wagen da draußen steht — »

«Die Alarmanlage funktioniert, oder?»

«Aber wenn ich wiederkomme und sie noch im Haus sind und ich sie überrasche — »

«Caroline, mein Schatz, beruhige dich. Du würdest die Sirene hören — »

«Eine zerbrochene Scheibe, eine Sirene, ein in die Enge getriebener Einbrecher, diese Leute haben Waffen — »

«He, he, he. Caroline? Du machst jetzt Folgendes. Caroline?» Die Angst in ihrer Stimme und die dringende Bedürftigkeit, von der die Angst zeugte, machten ihn dermaßen scharf, dass er sich durch den Stoff seiner Hose kneifen musste, weil er zu träumen meinte. «Ruf mich von deinem Handy aus noch mal an», sagte er. «Lass mich in der Leitung, und dann geh raus, setz dich in den Stomper und fahr aus der Einfahrt. Du kannst durchs geschlossene Fenster reden, wenn jemand was von dir will. Ich bin die ganze Zeit bei dir. Okay?»

«Ist gut, ja. Ich ruf dich gleich zurück.»

Während Gary wartete, dachte er daran, wie heiß und salzig und pfirsichweich Carolines Gesicht war, wenn sie geweint hatte, wie es klang, wenn sie ihren Tränenrotz hochzog, und wie weit geöffnet ihr Mund dann war, bereit für den seinen. Seit drei Wochen nichts, auch nicht den allergeringsten Puls in der toten Maus zu spüren, aus der sein Urin kam, zu glauben, dass Caroline ihn nie wieder brauchen und er sie nie wieder begehren würde, und dann, von einem Augenblick auf den anderen, vor Lust völlig benommen zu sein: Das war das Eheleben, wie er es kannte. Sein Telefon klingelte.

«Ich bin jetzt im Auto», sagte Caroline aus dem cockpitähnlichen akustischen Raum, den ihr Mobiltelefon schuf. «Ich setze gerade zurück.»

«Du kannst dir auch seine Nummer aufschreiben. Schreib sie auf, kurz bevor du auf einer Höhe mit ihm bist. Damit er sieht, dass du sie dir notierst.»

«Ja, mach ich.»

In blechernem Piano hörte er das Raubtierschnauben ihres Geländewagens, dann das lauter werdende Om seiner Automatik.

«Oh, Mist, Gary», jammerte sie, «er ist weg! Ich sehe ihn nicht mehr! Er muss mich beobachtet haben und weggefahren sein!»

«Aber das ist doch gut, das wolltest du doch.»

«Nein, wahrscheinlich fährt er jetzt um den Block und kommt wieder, sobald ich weg bin!»

Gary beruhigte sie und erklärte ihr, wie sie sicher ins Haus gelangen könne, wenn sie mit den Jungen zurück sei. Er versprach, sein Handy eingeschaltet zu lassen und früh heimzukommen. Er verkniff es sich, ihren geistigen Zustand mit seinem zu vergleichen.

Depressiv? Er war nicht depressiv. Vitale Zeichen der kraftstrotzenden amerikanischen Wirtschaft liefen, in Gestalt von Zahlen, über seinen vielfenstrigen Fernsehmonitor. Orfic Midland hatte im Tagesverlauf eins Komma drei acht Punkte zugelegt. Der US-Dollar lachte über den Euro, verhöhnte den Yen. Virginia Ein schaute herein und schlug vor, bei 104 ein Paket Exxon zu verkaufen. Gary konnte über den Fluss hinweg bis zur Schwemmebene von Camden, New Jersey sehen, einer Landschaft, die derart verwüstet war, dass sie ihn von dieser Höhe und Entfernung aus an einen vollkommen abgeschabten Küchenfußboden aus Linoleum erinnerte. Die Sonne stand stolz im Süden — eine Quelle der Erleichterung; Gary konnte es nicht ertragen, wenn seine Eltern in den Osten kamen und an der Küste das Wetter mies war. Dieselbe Sonne schien jetzt, irgendwo nördlich von Maine, auf ihr Kreuzfahrtschiff. In einer Ecke seines Monitors war der sprechende Kopf Earl Eberles zu sehen. Gary vergrößerte das Bild und stellte den Ton lauter, als Eberle gerade zusammenfasste: «Ein Fitnessgerät für das Gehirn, das ist kein schlechter Vergleich, Cindy.» Die Allzeit-ganz-Business-Moderatoren, in deren Augen finanzielles Risiko nur der lustige Kumpan positiven Potenzials war, nickten weise. «Fitnessgerät für das Gehirn, oh-kay», wiederholte eine von ihnen, «und gleich nach der Werbung: ein Spielzeug, das in Belgien (!) der letzte Schrei ist. Der Hersteller behauptet, dieses Produkt könnte erfolgreicher werden als die Beanie Babys. Jay Pascoe schaute herein, um über den Rentenmarkt zu jammern. Jays kleine Mädchen hatten inzwischen eine neue Klavierlehrerin und dieselbe alte Mutter. Gary verstand ungefähr eines von drei Wörtern, die Jay von sich gab. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, ähnlich wie an jenem lange vergangenen Nachmittag vor seiner fünften Verabredung mit Caroline, als sie derart reif für die Unzucht waren, dass ihnen jede Stunde, die sie davon trennte, wie ein Granitblock vorkam, der erst von einem Kettensträfling zertrümmert werden musste…

Er verließ das Büro um halb fünf. In seiner schwedischen Limousine kurvte er den Kelly Drive und den Lincoln Drive hinauf, heraus aus dem Schuylkill-Tal mit seinem Dunst und seiner Schnellstraße und seinen hellen flachen Welten, weiter durch Schattentunnel und gotische Bögen aus frühem Herbstlaub am Wissahickon Creek entlang und zurück in die verwunschene Baumwelt von Chestnut Hill.

Carolines Fieberfantasien zum Trotz schien das Haus unversehrt. Gary lenkte den Wagen langsam die Einfahrt hinauf, vorbei am Funkien- und Pfaffenhütchen, aus dem, wie sie gesagt hatte, ein weiteres BEWACHT-DURCH-NEVEREST-Schild gestohlen worden war. Seit Jahresbeginn hatte Gary fünf BEWACHT-DURCH-NEVEREST-Schilder aufgestellt, und jedes Mal waren sie nach kurzer Zeit verschwunden. Es ärgerte ihn schwarz, dass er den Markt mit nutzloser Beschilderung überschwemmte und so deren Abschreckungswert minderte. Unnötig zu sagen, dass hier, im Herzen von Chestnut Hill, die Blechwährung der Neverest- und Western-Civil-Defense- und ProPhilaTex-Schilder in jedem Vorgarten durch die Glaubwürdigkeit und potenzielle Beweiskraft von Flutlichtern und Netzhautscannern, Notbatterien, verborgenen Stromleitungen und Automatiktüren gestärkt wurde; doch anderswo im Nordwesten Philadelphias, von Mount Airy bis hinunter nach Germantown und Nicetown, wo die Soziopathen schalteten und walteten, existierte eine Klasse verbitterter Hauseigentümer, denen das, was es über ihre «Werte» ausgesagt hätte, wenn sie sich selbst häusliche Überwachungsanlagen gekauft hätten, gewaltig gegen den Strich ging, während ihre liberalen «Werte» sie nicht daran hinderten, nahezu wöchentlich Garys BEWACHT-DURCH-NEVEREST-Schilder zu entwenden und in ihren eigenen Vorgärten aufzupflanzen…

In der Garage überkam ihn ein alfredhafter Drang, sich im Wagensitz zurückzulehnen und die Augen zu schließen. Indem er den Motor abstellte, schien er auch etwas in seinem Gehirn auszuschalten. Wohin waren seine Lust und Energie verschwunden? Auch das war das Eheleben, wie er es kannte.

Er zwang sich zum Aussteigen. Ein Strang von Müdigkeit zog sich von seinen Augen über die Nasenhöhlen bis zum Hirnstamm und schnürte ihm die Kraft ab. Selbst wenn Caroline bereit wäre, ihm zu verzeihen, selbst wenn sie eine Möglichkeit fänden, sich von den Kindern fortzustehlen und übereinander herzufallen (und realistisch betrachtet, gab es da nicht die geringste Chance), wäre er vermutlich zu erschöpft, um etwas zustande zu bringen. Vor ihm erstreckten sich fünf lange kinderreiche Stunden, erst dann würde er allein mit ihr sein können, im Bett. Und bloß um die Energie wieder aufzutanken, die er bis vor fünf Minuten gehabt hatte, würde er Schlaf brauchen — acht, vielleicht zehn Stunden Schlaf.

Die hintere Tür war verschlossen, die Sicherheitskette vorgelegt. Er klopfte so fest und fröhlich, wie er konnte. Durchs Fenster sah er Jonah in Badelatschen und Badehose zur Tür getrottet kommen, sah, wie er den Sicherheitscode eingab, das Schloss entriegelte und die Kette abnahm.

«Hallo, Dad, ich mach gerade Sauna im Badezimmer», sagte Jonah und trottete wieder davon.

Garys Objekt der Begierde, jene tränenweiche blonde Frau, die er am Telefon beruhigt hatte, saß neben Caleb und schaute im Küchenfernseher die Wiederholung von irgendetwas Galaktischem. Ernste menschenähnliche Geschöpfe in Unisex-Pyjamas.

«Hallo!», sagte Gary. «Sieht doch aus, als wäre hier alles in Ordnung.»

Caroline und Caleb nickten, die Augen auf einem anderen Stern.

«Ich stelle wohl besser gleich ein neues Schild auf», sagte Gary.

«Du solltest es an einen Baum nageln», sagte Caroline. «Mach's von der Stange ab und nagel es an einen Baum.»

Vor enttäuschter Erwartung nahezu entmannt, füllte Gary seinen Brustkorb mit Luft und hustete. «Es geht doch darum, Caroline, dass die Botschaft, die wir vermitteln wollen, mit einem gewissem Niveau, einer gewissen Raffinesse daherkommen muss. Quasi als Appell an die Vernunft. Wenn wir das Schild an einen Baum ketten müssen, damit es nicht gestohlen wird — »

«Ich hab nageln gesagt.»

«Dann ist das wie eine öffentliche Bekanntmachung an alle Soziopathen: Wir werden bestohlen! Kommt her und bedient euch! Kommt her und bedient euch!»

«Ich habe nichts von Anketten gesagt. Ich habe nageln gesagt.»

Caleb nahm die Fernbedienung und stellte den Ton lauter.

Gary ging in den Keller und holte aus einem flachen Pappkarton das letzte von sechs Schildern, die ein Neverest- Vertreter ihm verkauft hatte. Dafür, dass das Neverest- Bewachungssystem so viel gekostet hatte, waren die Schilder sagenhaft schäbig: ungleichmäßig gestrichen und mit brüchigen Aluminiumnieten an Stangen aus gerolltem Blech befestigt, die zu dünn waren, um sich in den Boden hämmern zu lassen (man musste ein Loch bohren).

Caroline blickte nicht hoch, als er in die Küche zurückkam. Womöglich hätte er geglaubt, sich ihre Panikanrufe bloß eingebildet zu haben, wäre da nicht jene anhaltende Feuchtigkeit in seinen Boxershorts gewesen und hätte Caroline nicht, in den dreißig Sekunden seiner Abwesenheit, den Riegel vor die hintere Tür geschoben, die Kette vorgelegt und die Alarmanlage wieder eingeschaltet.

Er war natürlich psychisch krank, wohingegen sie! Sie!

«Gütiger Gott», sagte er, als er das Datum ihres Hochzeitstages auf der Nummerntastatur eingab.

Er ließ die Tür sperrangelweit offen, ging in den Vorgarten und pflanzte das neue Neverest-Schild in das alte, unfruchtbare Loch. Als er eine Minute später zurückkam, war die Tür erneut versperrt. Er holte seinen Schlüssel heraus, entriegelte die Tür und schob sie so weit auf, wie die Kette es zuließ, was im Haus den Dürfte-ich-bitte-mal-rein-Alarm auslöste. Er drückte gegen die Tür, strapazierte die Scharniere. Er erwog, sich mit der Schulter dagegen zu stemmen und die Kette aus der Wand zu reißen. Mit einer Grimasse und einem Schrei sprang Caroline auf, griff sich an den Rücken und stolperte zur Tür, um innerhalb der Dreißig-Sekunden-Frist den Code einzugeben. «Gary», sagte sie, «klopf doch einfach an.»

«Ich war im Vorgarten», sagte er. «Nur zwanzig Meter entfernt. Warum hast du die Alarmanlage eingeschaltet?»

«Du hast keine Ahnung, wie es hier heute war», brummte sie, während sie humpelnd in den interstellaren Raum zurückkehrte. «Ich fühle mich hier ziemlich allein, Gary. Ziemlich allein.»

«Aber ich bin doch jetzt da. Oder? Ich bin da.»

«Ja. Jetzt bist du da.»

«Hey, Dad, was gibt's zum Abendessen?», fragte Caleb. «Können wir gemischte Grillteller machen?»

«Ja», sagte Gary. «Von mir aus mache ich das Abendessen, und nachher wasche ich ab, und vielleicht schneide ich auch noch die Hecke, denn mir geht es bestens! Zufrieden, Caroline? Klingt das nicht einigermaßen akzeptabel?»

«Ja, klar, mach das Abendessen», murmelte sie, weiter in den Fernseher starrend.

«Gut. Ich mache das Abendessen.» Gary klatschte in die Hände und hustete. Er fühlte sich, als sprängen in seiner Brust und in seinem Kopf abgenutzte Zahnräder von ihren Achsen und grüben sich in andere Teile seiner inneren Maschinerie, weil er seinem Körper einen Schneid, eine ungebremste Energie abverlangte, für die dieser einfach nicht ausgestattet war.

Diese Nacht musste er mindestens sechs Stunden lang gut schlafen. Damit ihm das gelang, hatte er vor, zwei Wodka Martini zu trinken und sich vor zehn in die Falle zu hauen. Er hielt die Wodkaflasche lotrecht über einen eisgefüllten Shaker und ließ sie schamlos glucksen und glucksen, schließlich brauchte er, als Führungskraft der CenTrust, sich nicht zu genieren, wenn er nach einem harten Arbeitstag Entspannung suchte. Er zündete ein Mesquiteholzfeuer an und trank den Martini in einem Zug aus. In einem weiten, zittrigen Bogen, gleich dem einer geworfenen Münze, taumelte er zurück in die Küche; er schaffte es noch, das Fleisch zu präparieren, um es aber zu braten, reichte seine Kraft nicht mehr aus. Da Caroline und Caleb ihn beim Mixen seines ersten Martinis nicht beobachtet hatten, mixte er sich jetzt, zur Reanimation und allgemeinen Stärkung, einen zweiten, den er offiziell zu seinem ersten erklärte. Der linsentrübenden Wirkung eines Wodkaschwipses trotzend, ging er hinaus und warf Fleisch auf den Grill. Wieder übermannten ihn die Müdigkeit, das Defizit an jeglichen freundlichen Neurofaktoren. Vor den Augen seiner gesamten Familie mixte er sich einen dritten (offiziell: einen zweiten) Martini und trank ihn in einem Zug aus. Durch das Fenster sah er, dass der Grill in Flammen stand.

Er füllte eine Teflonpfanne mit Wasser und verschüttete nur einen Teil davon, als er hinauseilte, um es auf das Feuer zu gießen. Eine Wolke aus Dampf und Qualm und Aerosolfett schoss empor. Er drehte alle Fleischstücke um, sodass ihre verkohlten, glänzenden Unterseiten zum Vorschein kamen. Ein Geruch nach feuchtem Verbranntem, wie nach einem von der Feuerwehr gelöschten Brand, hing in der Luft. Es war nicht mehr genügend Leben in den Kohlen, um den rohen Seiten der Fleischstücke mehr als eine schwache Färbung zu verpassen, obwohl er sie noch zehn Minuten auf dem Grill ließ.

Sein wunderbar umsichtiger Sohn Jonah hatte inzwischen den Tisch gedeckt und Brot und Butter hingestellt. Gary gab seiner Frau und den Kindern die weniger verbrannten, weniger rohen Stücke. Linkisch Messer und Gabel schwingend, füllte er seinen Mund mit Asche und blutigem Hühnchen, zu müde zum Kauen und Hinunterschlucken, aber auch zu müde, um aufzustehen und alles auszuspucken. So saß er mit dem unzerkauten Vogelfleisch im Mund da, bis er merkte, dass ihm Speichel übers Kinn lief — eine dürftige Art, geistige Gesundheit zu demonstrieren. Er schluckte das Zeug im Ganzen. Es fühlte sich an wie ein Tennisball. Seine Familie schaute ihn an.

«Dad, geht's dir nicht gut?», fragte Aaron.

Gary wischte sich das Kinn ab. «Doch, Aaron, danke. Dasch Huhn isch n bischen schäh. Bisschen zäh.» Er hustete; seine Speiseröhre war eine Flammensäule.

«Vielleicht solltest du dich hinlegen», sagte Caroline wie zu einem Kind.

«Ich glaube, ich schneide jetzt die Hecke», sagte Gary.

«Du siehst ziemlich müde aus», sagte Caroline. «Du solltest dich besser hinlegen.»

«Nicht müde, Caroline. Ich hab bloß Rauch in die Augen gekriegt.»

«Gary — »

«Ich weiß, dass du überall herumerzählst, ich wär depressiv, aber zufälligerweise bin ich's nicht.»

«Gary.»

«Stimmt's, Aaron? Hab ich Recht? Sie hat euch doch erzählt, ich wär klinisch depressiv, oder?»

Derart überrumpelt, schaute Aaron zu Caroline, die langsam und bedeutungsvoll den Kopf schüttelte.

«Na? Hat sie das?», fragte Gary.

Aaron errötete und schlug die Augen nieder. Die Liebe zu seinem ältesten Sohn, seinem rührenden, ehrlichen, eitlen, errötenden Sohn, die Gary da wie ein Krampf überkam, verband sich aufs Engste mit der Wut, die ihn nun, ehe er sich's versah, vom Tisch fortkatapultierte. Er fluchte, vor seinen Kindern. «Was ist das bloß für eine Scheiße, Caroline!», sagte er. «Dein Scheißgeflüster! Ich geh jetzt diese beschissene Hecke schneiden!»

Jonah und Caleb zogen die Köpfe ein, sie duckten sich, als stünden sie unter Beschuss. Aaron schien von seinem fettverschmierten Teller die Geschichte seines Lebens, vor allem die seiner Zukunft, abzulesen.

Caroline sprach mit der ruhigen, leisen, zitternden Stimme der offen Misshandelten. «Ist ja gut, Gary, ist gut», sagte sie, «dann lass uns bitte einfach in Ruhe zu Ende essen. Bitte geh einfach.»

Gary ging. Er stürmte hinaus und lief durch den Garten. Im Licht, das nach draußen fiel, war das ganze Laub in der Nähe des Hauses kalkig, doch das Zwielicht in den westlichen Bäumen reichte noch aus, sie in Silhouetten zu verwandeln. In der Garage nahm er die zweieinhalb Meter lange Leiter von ihrer Halterung und tänzelte und drehte sich mit ihr im Kreis, wobei er beinahe die Windschutzscheibe des Stompers zertrümmerte, bevor er wieder alles unter Kontrolle hatte. Dann schleppte er die Leiter ums Haus herum nach vorn, machte Licht und ging zurück, um die elektrische Heckenschere und das Dreißig-Meter-Verlängerungskabel zu holen. Damit das schmutzige Kabel nicht mit seinem teuren Leinenhemd in Berührung kam, das er, wie er erst jetzt bemerkte, noch anhatte, ließ er das Kabel hinter sich herschleifen, wo es sich zerstörerisch in den Blumen verhedderte. Er zog sich bis aufs T- Shirt aus, nahm sich aber nicht die Zeit, die Hose zu wechseln, weil er fürchtete, er könnte den Schwung verlieren, sich auf den noch tagheißen Rasen legen und den Grillen und ratschenden Zikaden lauschen und einnicken. Die anhaltende körperliche Betätigung machte seinen Kopf wieder einigermaßen klar. Er stieg auf die Leiter, beugte sich, so weit er wagte, vor und schnitt die limonengrünen abstehenden Spitzen von den Eibenzweigen. Als er merkte, dass er etwa dreißig Zentimeter Hecke direkt am Haus so nicht erreichte, hätte er wahrscheinlich die Heckenschere ausstellen und hinuntersteigen und die Leiter dichter heranrücken sollen, aber da es nur dreißig Zentimeter waren und er nicht über endlose Reserven an Kraft und Geduld verfügte, versuchte er, auf der Leiter zum Haus zu laufen, quasi ihre Holme zu schwingen und mit ihr zu hüpfen, während er mit der linken Hand die surrende Heckenschere fest umklammert hielt.

Der leichte Schlag, ein nahezu schmerzloser Stoß oder Stups, den er dabei dem fleischigen rechten Daumenballen verpasste, hatte ihm, wie sich bei näherer Betrachtung erwies, ein tiefes, stark blutendes Loch eingetragen, das sich in der besten aller möglichen Welten ein Notarzt angesehen hätte. Doch wenn man von Gary eines sagen konnte, dann das: Er war pflichtbewusst. Er hatte eindeutig zu viel getrunken, um selbst zur Chestnut- Hill-Klinik zu fahren, da machte er sich nichts vor, und Caroline konnte er nicht bitten, ihn dorthin zu bringen, ohne dass er eine peinliche Befragung riskierte, warum er beschlossen habe, in betrunkenem Zustand auf eine Leiter zu steigen und mit einem elektrischen Gerät zu hantieren, zumal er dann auch noch zugeben müsste, wie viel Wodka er vor dem Essen getrunken hatte, und, ganz allgemein, das Gegenteil von jenem Eindruck «guter seelischer Verfassung» hinterlassen würde, den er eigentlich hatte vermitteln wollen, als er sich anschickte, die Hecke zu schneiden. Während also ein Schwarm stechlustiger und Stoffe fressender Insekten, von den Lampen auf der Veranda angezogen, zur Haustür hereinflog, die Gary hinter sich zuzutreten versäumt hatte, als er, mit beiden Händen sein seltsam kühles Blut auffangend, hineingerannt war, verschwand er im unteren Badezimmer und ließ das Blut, in dessen eisenhaltigen Strudeln er Granatapfelsaft oder Schokoladensirup oder dreckiges Motoröl sah, ins Waschbecken laufen. Er hielt den Schnitt unter kaltes Wasser. Jenseits der nicht versperrten Tür hörte er Jonah fragen, ob er sich verletzt habe. Gary knüllte mit der linken Hand einen Bausch Klopapier zusammen, drückte ihn auf die Wunde und klebte einhändig ein Plastikpflaster darauf, das sich durch das Blut und Wasser sofort wieder löste. Überall, auf der Klobrille, auf dem Fußboden, an der Tür, war Blut.

«Dad, da kommen Insekten rein», sagte Jonah.

«Ja, Jonah, warum machst du nicht die Tür zu, gehst rauf und nimmst ein Bad. Ich komm gleich hoch und spiel mit dir Dame.»

«Können wir nicht Schach spielen?»

«Ja.»

«Aber du musst mir vorher die Dame, einen Läufer, ein Pferd und einen Turm geben.»

«Ja, ab in die Badewanne!»

«Kommst du gleich?»

«Ja!»

Gary riss frisches Pflaster von der sägezahnigen Rolle und lachte, nur um sich zu vergewissern, dass er das noch konnte, sich selbst im Spiegel an. Blut sickerte durch das Klopapier, rann um sein Handgelenk und löste das Pflaster erneut. Er wickelte seine Hand in ein Gästehandtuch, und mit einem zweiten, gut befeuchteten Gästehandtuch wischte er alles Blut auf. Dann öffnete er die Tür einen Spaltbreit und horchte auf Carolines Stimme im ersten Stock, auf die Spülmaschine in der Küche, auf Jonahs einlaufendes Badewasser. Eine Blutspur führte quer durch den Flur bis zur Haustür. Gary hockte sich hin und wischte, indem er sich im Krebsgang seitwärts fortbewegte, mit dem Gästehandtuch das Blut auf, die verletzte Hand fest an den Bauch gepresst. Auch der graue Holzboden der Veranda war mit Blut bespritzt. Um möglichst wenig Geräusche zu machen, lief Gary auf den Außenkanten seiner Füße. Er ging in die Küche, um Eimer und Wischlappen zu holen, und dort, in der Küche, war die Hausbar.

Nun ja, er öffnete sie. Indem er die Wodkaflasche unter die rechte Achsel klemmte, konnte er mit der linken Hand den Verschluss abschrauben. Und als er die Flasche hob, als er den Kopf in den Nacken legte, um von dem ziemlich geringen Rest eine letzte kleine Menge abzuzweigen, wanderte sein Blick über die Schranktür hinweg, und er sah die Kamera.

Die Kamera hatte die Größe eines Kartenspiels. Sie war auf einer Altazimuthalterung über der hinteren Tür angebracht. Ihr Gehäuse war aus poliertem Aluminium. Sie hatte einen rötlichen Schimmer im Auge.

Gary stellte die Flasche in den Schrank zurück, trat ans Spülbecken und ließ Wasser in einen Eimer laufen. Die Kamera schwenkte dreißig Grad herum und folgte ihm.

Am liebsten hätte er die Kamera von der Decke gerissen oder wäre, da er das nicht tun konnte, nach oben gerannt, um Caleb über die zweifelhafte Moral des Spionierens aufzuklären, oder hätte, da er das auch nicht tun konnte, zumindest gern erfahren, wie lange die Kamera schon dort hing; doch er hatte jetzt etwas zu verbergen, und so musste Caleb zwangsläufig alles, was Gary gegen die Kamera unternahm, jeden Einwand, den er gegen ihre Anwesenheit in der Küche erhob, als eigennützig durchschauen.

Er warf das blutige, staubige Gästehandtuch in den Eimer und näherte sich der hinteren Tür. Die Kamera bäumte sich in ihrer Halterung auf, um ihn im Zentrum ihres Sichtfelds zu behalten. Er stand jetzt unmittelbar unter ihr und blickte in das Auge. Er schüttelte den Kopf und formte mit den Lippen die Wörter Nein, Caleb. Natürlich antwortete die Kamera nicht. Jetzt erst fiel Gary ein, dass der Raum vermutlich auch abgehört wurde. Er konnte Caleb direkt ansprechen, fürchtete aber, dass die Wirkung dessen, was hier geschah, noch um ein Unerträgliches realer würde, wenn er in Calebs Stellvertreterauge sähe, seine eigene Stimme hörte und wüsste, dass sie auch in Calebs Zimmer zu hören wäre. Deshalb schüttelte er erneut den Kopf und machte eine ausholende Bewegung mit der linken Hand, das Schnitt! — Zeichen eines Regisseurs. Dann nahm er den Eimer aus dem Spülbecken und wischte die Veranda vor dem Haus.

Weil er betrunken war, blieb das Problem, dass es eine Kamera gab und Caleb seine Verletzung sowie seinen flüchtigen Kontakt mit der Hausbar bezeugen konnte, nicht als Ensemble bewusster Gedanken und Sorgen in Garys Kopf, sondern zog sich in sich selbst zurück, wurde zu einer Art körperlicher Präsenz in seinem Inneren, einer harten, tumorähnlichen Substanz, die durch seinen Magen hinabwanderte und sich in seinem Unterbauch einnistete. Das Problem bewegte sich natürlich nirgendwohin. Aber einstweilen war es gegen alles Nachdenken gefeit.

«Dad?», drang Jonahs Stimme durch ein Fenster im ersten Stock. «Wir können jetzt Schach spielen.»

Als Gary schließlich ins Haus ging — die Hecke nur zur Hälfte gestutzt, die Leiter noch in einem Efeubeet — , war das Blut durch drei Handtuchschichten gesickert und blühte auf der Oberfläche als hellroter, von seinen Blutkörperchen getrennter Plasmafleck. Er hatte Angst, jemandem im Flur zu begegnen, Caleb oder Caroline sowieso, vor allem aber Aaron, weil Aaron ihn gefragt hatte, ob es ihm gut gehe, und weil Aaron es nicht über sich gebracht hatte, ihn zu belügen, und weil diese kleinen Liebesbeweise von Aaron für Gary in gewisser Weise das Erschreckendste an diesem ganzen Abend waren.

«Warum hast du ein Handtuch um deine Hand gewickelt?», fragte Jonah, während er die Hälfte von Garys Streitkräften vom Schachbrett räumte.

«Ich habe mich geschnitten, Jonah. Ich habe ein bisschen Eis auf die Wunde gelegt.»

«Du riechst nach Al-ko-hol.» Jonahs Stimme federte.

«Alkohol ist gut zum Desinfizieren», sagte Gary.

Jonah zog seinen Bauern auf E4. «Ich meine aber den Al-ko- hol, den du getrunken hast.»

Gegen zehn Uhr lag Gary im Bett und befand sich damit durchaus in Übereinstimmung mit seinem ursprünglichen Plan, durchaus im Rahmen — ja, wovon eigentlich? Nun, er wusste es nicht genau. Aber wenn er jetzt ein wenig schlafen könnte, wäre er vielleicht in der Lage, den Weg, der vor ihm lag, zu überblicken. Damit die Laken nicht blutig wurden, hatte er seine verletzte Hand, samt Handtuch und allem, in eine Bran'nola-Brottüte gesteckt. Er löschte die Nachttischlampe und drehte sich zur Wand, die eingetütete Hand vor die Brust gebettet, Laken und Sommerdecke bis über die Schultern hochgezogen. Eine Zeit lang schlief er fest, bis er im dunklen Zimmer vom Pulsieren seiner Hand aufwachte. Das Fleisch zu beiden Seiten des Schnitts zuckte, als wären Würmer darin, der Schmerz breitete sich fächerförmig entlang den fünf Handwurzelknochen aus. Caroline atmete regelmäßig; sie schlief. Gary stand auf, um seine Blase zu leeren und vier Advil zu nehmen. Als er wieder im Bett lag, scheiterte auch sein letzter, kümmerlicher Plan, denn nun konnte er nicht mehr einschlafen. Er hatte das Gefühl, dass Blut aus der Bran'nola-Tüte lief. Er überlegte, ob er aufstehen, sich in die Garage schleichen und zur Notaufnahme fahren sollte. Er addierte die Stunden, die ihn das kosten würde, zur Menge der Schlaflosigkeit, die nach seiner Rückkehr abzubauen wäre, damit er wieder müde würde, zog die Summe von den Stunden ab, die ihm dann noch blieben, bis er aufstehen und zur Arbeit musste, und kam zu dem Ergebnis, dass es besser war, bis sechs zu schlafen und, falls nötig, auf dem Weg ins Büro bei der Notaufnahme vorbeizufahren; das alles hing jedoch davon ab, ob es ihm gelingen würde, wieder einzuschlafen, und da das nicht der Fall war, überlegte und rechnete er erneut, nur dass inzwischen noch mehr kostbare Minuten der Nacht verstrichen waren, seit er zum ersten Mal überlegt hatte, aufzustehen und sich aus dem Haus zu schleichen. Die Rechnung war grausam in ihrer Regression. Er ging ins Badezimmer, um zu pinkeln. Das Problem von Calebs Überwachungssystem lag, unverdaulich, in seinem Bauch. Er war wild darauf, Caroline zu wecken und sie zu vögeln. Seine verletzte Hand pulsierte. Sie fühlte sich elefantös an: eine Hand von der Größe und dem Gewicht eines Lehnstuhls, jeder Finger ein elastisches Stück Holz von äußerster Empfindlichkeit. Und Denise blickte ihn immer noch hasserfüllt an. Und seine Mutter sehnte sich immer noch nach ihrem Weihnachtsfest. Und er schlüpfte kurz in einen Raum, in dem sein Vater auf einem elektrischen Stuhl festgeschnallt war und einen Metallhelm auf dem Kopf hatte, und Garys Hand lag auf dem altmodischen, steigbügelähnlichen Stromschalter, den er offenbar bereits betätigt hatte, denn Alfred kam, phantastisch galvanisiert, vom Stuhl gesprungen, mit einem grässlichen Lächeln, einem Zerrbild der Begeisterung, tanzte mit steifen, zuckenden Gliedern umher, bewegte sich im Schweinsgalopp im Kreis und fiel dann hin, schlug, mit dem Gesicht zuerst, hart auf, rums, wie eine Trittleiter mit zusammengeschobenen Holmen, und lag hilflos auf dem Boden des Hinrichtungsraums, während jeder Muskel in seinem Körper galvanisch zuckte und kochte. Graues Licht war in den Fenstern, als Gary aufstand, um zum vierten oder fünften Mal zu pinkeln. Die schwülwarme Morgenluft erinnerte eher an Juli als an Oktober. Dunst oder Nebel auf der Seminole Street verwischte — oder entkörperlichte — oder brach — das Gekrächz der Krähen, die sich über der Navajo Road und der Shawnee Street den Hügel hinaufmühten, wie die Teenager aus der Gegend, wenn sie auf den Parkplatz des Wawa-Supermarkts («Club Wa» nannten sie ihn, hatte Aaron gesagt) zusteuerten, um Zigaretten zu rauchen.

Er legte sich wieder hin und wartete auf den Schlaf.

«— tag, fünfter Oktober, eines der wichtigsten Themen, über die wir heute Morgen berichten, ist, da bis zu seiner Hinrichtung nunmehr weniger als vierundzwanzig Stunden verbleiben, der Versuch von Khellyes Anwälten — », sagte Carolines Radiowecker, bevor sie ihn mit einem Schlag zum Schweigen brachte.

In der darauf folgenden Stunde, während er dem Aufstehen seiner Söhne und ihren Frühstücksgeräuschen und einem kleinen

Trompetenständchen von Aaron lauschte, einer John-Philip-Sousa-Melodie, nahm ein radikaler neuer Plan in Garys Gehirn Gestalt an. Er lag ganz still, mit dem Gesicht zur Wand, in embryonaler Haltung auf der Seite, die eingetütete Hand an die Brust gedrückt. Sein radikaler neuer Plan war, absolut gar nichts zu tun.

«Gary, bist du wach?», fragte Caroline aus mittlerer Distanz, von der Tür aus vermutlich. «Gary?»

Er tat gar nichts, antwortete auch nicht.

«Gary?»

Er fragte sich, ob es sie wohl interessieren würde, warum er nichts tat, doch da entfernten sich ihre Schritte schon wieder über den Flur, und sie rief: «Jonah, beeil dich, du kommst zu spät!»

«Wo ist Dad?», fragte Jonah.

«Er liegt noch im Bett, komm schon.»

Gary vernahm ein Getrappel kleiner Füße, und nun wurde sein radikaler neuer Plan auf eine erste harte Probe gestellt. Von irgendwo ganz in der Nähe sprach Jonah ihn an. «Dad? Wir gehen jetzt. Dad?» Und Gary war gezwungen, nichts zu tun. Er musste vorgeben, nichts hören zu können oder nichts hören zu wollen, musste seinen Generalstreik, seine klinische Depression, dem einzigen Geschöpf zumuten, das er gern damit verschont hätte. Ob er still und regungslos bleiben könnte, wenn Jonah auch nur ein bisschen näher käme — wenn er zum Beispiel zu ihm käme und ihn umarmte — , das wusste Gary nicht. Doch da rief Caroline von unten, und Jonah eilte davon.

Von ferne hörte Gary ein Piepsen, als sein Hochzeitsdatum eingegeben wurde, um die militärische Sperrzone zu sichern Dann war es still in dem nach Toast duftenden Haus, und er verzog sein Gesicht zu jener Grimasse bodenlosen Schmerzes und Selbstmitleids, die er von Caroline kannte, wenn ihr der Rücken wehtat. Und er verstand wie nie zuvor, wie viel Trost darin lag.

Er überlegte aufzustehen, aber er brauchte nichts. Er hatte keine Ahnung, wie lange Caroline fort sein würde; falls sie heute beim CDF arbeitete, wäre sie bestimmt nicht vor drei wieder da. Es war egal. Er würde hier sein.

Doch es traf sich, dass Caroline schon nach einer halben Stunde zurückkam. Die Reihenfolge der Geräusche ihres Aufbruchs kehrte sich um. Er hörte den nahenden Stomper, den Entsicherungscode, die Schritte auf der Treppe. Er spürte, wie seine Frau schweigend in der Tür stand und ihn betrachtete.

«Gary?», sagte sie mit einer leiseren, zärtlicheren Stimme.

Er tat nichts. Er lag da. Sie kam zu ihm und kniete sich neben das Bett. «Was ist los? Bist du krank?»

Er antwortete nicht.

«Was soll diese Tüte? Mein Gott. Was ist passiert?»

Er sagte nichts.

«Gary, sag doch was. Bist du deprimiert?»

«Ja.»

Da seufzte sie. Wochen angestauter Spannung wichen aus dem Zimmer.

«Ich kapituliere», sagte Gary.

«Wie meinst du das?»

«Du musst nicht nach St. Jude fahren», sagte er. «Niemand, der nicht möchte, muss da hinfahren.»

Es kostete ihn viel, das zu sagen, aber es lohnte sich. Er spürte Carolines Körperwärme, ihre Ausstrahlung, noch bevor sie ihn berührte. Das Aufgehen der Sonne, das Kitzeln ihres Haars an seinem Hals, als sie sich über ihn beugte, das Näherkommen ihres Atems, die sanfte Landung ihrer Lippen auf seiner Wange. «Danke», sagte sie.

«Kann sein, dass ich Heiligabend hinfahren muss, aber am ersten Weihnachtstag bin ich wieder da.»

«Danke.»

«Ich bin furchtbar deprimiert.»

«Danke.»

«Ich kapituliere», sagte Gary.

Die Ironie dabei war natürlich, dass er kurz nach seiner Kapitulation — vielleicht schon kurz nach seinem Eingeständnis, deprimiert zu sein, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aber, als er ihr seine Hand zeigte und sie sie ordentlich verband, unter Garantie jedoch keinen Sekundenbruchteil später als in dem Moment, da er mit einer Lok, so lang und hart und schwer wie eine Modelleisenbahn der Größe O, in feuchte, gefurchte Winkel eines Tunnels einfuhr, die ihm, selbst nachdem er zwanzig Jahre lang darin herumgereist war, noch unerforscht vorkamen (er wählte die Löffelstellung, sodass Caroline ihre untere Rückenpartie entlasten und er seine bandagierte Hand gefahrlos auf ihre Seite legen konnte; vögelnde Versehrte waren sie) — nicht nur nicht mehr depressiv, sondern regelrecht euphorisch war.

Plötzlich fiel ihm ein — in Anbetracht des zärtlichen ehelichen Akts, den er gerade vollzog, vielleicht ein unpassender Einfall, doch so war er eben, er war Gary Lambert, er hatte nun einmal unpassende Einfälle, und er war es satt, sich dafür zu entschuldigen! — , dass er Caroline jetzt ohne weiteres bitten könnte, ihm 4500 Axon-Aktien zu kaufen, und dass sie es mit Freuden täte.

Wie ein Kreisel auf einem winzigen Berührungspunkt, so hob und senkte sich ihr Körper, und ihr ganzes sexuelles Wesen, auf der feuchten Kuppe seines Mittelfingers, war nahezu ohne Gewicht.

Er ergoss sich herrlich. Ergoss und ergoss und ergoss sich.

Und so lagen sie, zur Schulschwänzerzeit um neun Uhr dreißig an einem Dienstagmorgen, immer noch nackt da, als das Telefon auf Carolines Nachttisch klingelte. Gary, der abnahm, war entsetzt, die Stimme seiner Mutter zu hören. Er war entsetzt über die Tatsache ihrer Existenz.

«Ich rufe vom Schiff aus an», sagte Enid.

Einen schuldhaften Augenblick lang, bevor ihm aufging, dass das Telefonieren von einem Schiff aus teuer war und seine Mutter daher keine guten Nachrichten haben konnte, glaubte Gary, sie rufe an, weil sie wusste, dass er sie verraten hatte.

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