18

Als wir das eisige Deck der Dorna erreichten, erhoben sich meine Männer von ihren Ruderbänken und brüllten begeistert herauf.

»Führe den Gefangenen unter Deck«, sagte ich zu einem Offizier. »Er muß angekettet werden. Der Rat wird entscheiden, was aus ihm wird.«

Wieder klang Jubelgeschrei auf.

Chenbar blieb einen Augenblick lang vor mir stehen, die Fäuste geballt, das Gesicht vor Wut verzerrt, dann wurde er herumgerissen und von zwei Seeleuten unter Deck geschleift.

»Wahrscheinlich endet er in den Lumpen eines Sklaven auf irgendeiner Galeere«, bemerkte der Rudermeister.

»Admiral!« rief eine Stimme aus dem Mastkorb. »Die Flotte aus Cos und Tyros dreht ab! Sie flieht!«

Ich begann zu zittern und brachte kein Wort heraus. Die Männer ringsum jubelten.

Dann sagte ich: »Ruft unsere Schiffe zurück!«

Männer rannten los, um unseren Reserveschiffen zu signalisieren, sie sollten sich der kämpfenden Flotte nähern und den Rückzug anordnen.

Die Dorna kämpfte nun mit den Wellen wie ein gefangener Sleen. Ich blickte zu den Rundschiffen hinüber, die ebenfalls wie wild auf den Wogen tanzten.

»Anker lichten!« befahl ich. »Und setzt das Sturmsegel.«

Männer hasteten los, während ich signalisieren ließ, jedes Schiff sollte sich nach bestem Vermögen sofort in Sicherheit bringen. Es war unmöglich, den Sieg über die Flotte aus Cos und Tyros auszukosten und den fliehenden Einheiten etwa nachzusetzen.

Ich stand auf dem schwankenden Deck der Dorna, mit dem Rücken zum Sturm. Der Admiralsumhang, den meine Männer vom Rundschiff mitgebracht hatten, wurde mir gebracht, und ich wickelte mir zitternd vor Kälte den dicken Stoff um die Schulter. Man reichte mir eine Schale mit heißem Paga.

»Der Siegestrank«, sagte der Rudermeister.

Ich grinste. Ich fühlte mich gar nicht wie ein Sieger. Mir war kalt, aber ich lebte. Ich schlürfte dankbar den heißen Paga.

Die Rah war herabgelassen worden, damit das kleine dreieckige Sturmsegel gesetzt werden konnte. Die Anker wurden gelichtet, und die Rah, von Flaschenzügen gehoben, begann am Mast emporzusteigen. Inzwischen zogen die Steuerbordruder auf Zuruf des Rudermeisters das Schiff herum, um das Heck in den Wind zu bringen. Der Sturm packte unsere Flanke, und die Dorna neigte sich nach Lee. Das Deck wurde von zwei Brechern überspült. Die beiden Steuerleute mühten sich mit ihren Seitenrudern, drehten das Schiff herum. Dann hatten wir den Wind von achtern und der Rudermeister begann seinen Schlagrhythmus, trieb das Schiff an, bis das Sturmsegel der vollen Wucht des Windes ausgesetzt war. Die Dorna wurde wie von einer Riesenfaust gepackt, der Mast knirschte, und eine schreckliche Sekunde lang neigte sich der Bug unter Wasser, ehe er wieder in die Höhe kam und den Himmel auszufüllen schien.

»Zieht durch!« rief der Rudermeister, dessen Stimme im Toben des Winds fast unterging. »Zieht – durch! Zieht – durch!«

Die Trommel legte die höchste Schlagzahl vor. Das winzige Sturmsegel, das sich im Wind blähte, zerrte an der Takelage. Die Dorna schnitt durch das Wasser, durchpflügte die Wellen, die sich zu beiden Seiten hoch auftürmten. Sie würde es überstehen.

Ich wußte nicht, ob der errungene Sieg entscheidend für die Stellung Port Kars war oder nicht, aber eins war mir klar – der fünfundzwanzigste Se’Kara, der heutige Tag, würde in Port Kar nicht so schnell vergessen werden, in der früher so verhaßten Stadt, die nun einen Heimstein gefunden hatte, in jener Stadt, die man die Geißel des schimmernden Thassa nannte, die sich jetzt jedoch einen besseren Ruf erwerben konnte, vielleicht sogar als Juwel des Meeres. Ich fragte mich, wieviele Männer überall auf Gor erzählen würden, sie hätten am fünfundzwanzigsten Se’Kara vor Port Kar mitgekämpft, im Schneesturm in tobender See und unter schwarzem Himmel. Ich lächelte. Dieser Tag würde zweifellos ein Feiertag in Port Kar werden.

Ich ging zu dem Tarn, der mich zur Dorna getragen hatte, zog meinen Admiralsmantel aus und legte ihn dem zitternden Vogel über den Rücken.

In der Nähe stand der Sklavenjunge Fisch.

Ich hob den Kopf und sah in seinen Augen Verständnis für mein Tun. »Ich komme mit«, sagte er.

Ich wußte, daß sich die Schiffe der Ubars Eteocles und Sullius Maximus unserer Flotte nicht angeschlossen hatten. Ich wußte auch, daß die Blockade der letzten Festung des Sevarius aufgehoben worden war, damit die Wachschiffe an der entscheidenden Schlacht teilnehmen konnten. Es hatte einen Informationsaustausch zwischen Claudius, dem Regenten Henrius Sevarius’, und Cos und Tyros gegeben, das wußte ich. Es wäre verblendet, anzunehmen, daß kein ähnlicher Kontakt zwischen Cos und Tyros und Eteocles Sullius Maximus bestanden hatte. So war nun mit einer gemeinsamen Aktion zu rechnen. Vielleicht stand die Ratshalle der Kapitäne bereits in Flammen. Die beiden Ubars und der Regent Claudius mochten bereits ihre Herrschaft ausgerufen haben, ein Triumvirat für Port Kar. Sie konnten sich natürlich nicht lange halten, denn Port Kar hatte die Seeschlacht nicht verloren. Wenn der Sturm nachließ – ob in Stunden oder erst in einem oder zwei Tagen –, würde die Flotte in Port Kar einlaufen. Aber inzwischen würden die beiden Ubars und Claudius in ihrer Ahnungslosigkeit über das Ergebnis der Schlacht die Stadt von denen zu befreien suchen, die gegen sie waren.

Ich fragte mich, ob mein Haus noch stand.

Ich ließ dem Tarn Fleisch bringen, große Brocken Tarskfleisch, die ich ihm vorwarf. Das Tier zerrte gierig an den Brocken.

»Ich komme mit«, sagte der Junge noch einmal.

Im Gürtel seiner Tunika steckte das Schwert, das ich ihm vor Beginn des Kampfs von einem Offizier hatte geben lassen.

Ich schüttelte den Kopf. »Du bist noch zu jung«, sagte ich.

»Nein, ich bin ein Mann.«

»Bedeutet dir Vina soviel?«

Er starrte mich an und wußte nicht, was er sagen sollte.

»Ich würde dich auch so begleiten – du bist mein Kapitän.«

»Du bleibst hier«, sagte ich entschieden.

Er zog das Schwert, das ich ihm gegeben hatte.

»Prüfe mich!« verlangte er.

»Steck das Schwert wieder zurück«, sagte ich. »Es ist eine Waffe für Männer.«

»Verteidige dich!« rief er.

Meine Klinge sprang aus der Scheide, und ich parierte seinen Schlag. Er war viel schneller zum Angriff übergegangen, als ich erwartet hatte.

Männer liefen zusammen. »Es ist nur Spaß«, sagte einer.

Ich ließ meine Klinge vorschnellen, doch der Junge parierte meinen Schlag. Ich war beeindruckt, denn ich hatte ihn nicht treffen wollen.

Auf dem schwankenden Deck begannen wir uns zu umkreisen, und unsere Schwerter klirrten gegeneinander. Nach etwa einer Ehn steckte ich meine Waffe in die Scheide zurück. »Ich hätte dich jetzt viermal töten können«, sagte ich.

Fisch senkte sein Schwert und starrte mich gequält an.

»Aber«, sagte ich, »du hast schon viel gelernt. Ich habe gegen Krieger gekämpft, die weitaus weniger schnell waren als du.«

Da lächelte er, und einige Männer schlugen sich beifällig mit der rechten Hand gegen die linke Schulter.

Fisch war überall beliebt. Wie hätte er auch sonst das erste Ruder in dem Boot übernehmen können, das mich in den Ratssaal brachte? Wie wäre er in das Boot gelangt, das mich zum Rundschiff trug? Auch ich mochte den Jungen. Im Gegensatz zu den anderen sah ich in ihm einen Ubar.

»Du darfst nicht mitkommen«, sagte ich. »Du bist zum Sterben noch zu jung.«

»In welchem Alter ist ein Mann für den Tod alt genug?« fragte er.

»Wenn du jetzt mitgehst«, sagte ich, »bist du ein Narr.«

»Jeder Mann hat das Recht, sich auch einmal wie ein Narr zu benehmen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte ich zögernd.

»Dann sollten wir jetzt losfliegen. Der Vogel ist ausgeruht.«

»Bringt einen Umhang für den jungen Narren«, wandte ich mich an einen Seemann. »Und auch einen Waffengurt.«

»Ja, Kapitän!« rief der Mann.

»Glaubst du, daß du dich stundenlang an einem Seil festhalten kannst?«

»Natürlich, Kapitän«, erwiderte er.

Sekunden später breitete der Tarn seine Flügel in den Sturm und wurde vom Deck der Dorna gerissen. In schwindelerregenden Kreisen gewann er an Höhe. Der Junge hatte seine Füße gegen einen Knoten des schwankenden Seils gestemmt, und seine Hände krampften sich um das Hanf. Tief unten schaukelte Dorna in den mächtigen Wellen, weiter hinten lagen die Schiffe unserer Flotte, die mit blitzenden Rudern vor dem Sturm dahinjagten.

Die Schiffe aus Cos und Tyros waren nicht mehr zu sehen.

Terence aus Treve, der Söldnerführer, hatte sich geweigert, mit seinen Tarns vor der Flotte nach Port Kar zu fliegen. Vielleicht hatten die aufständischen Ubars andere Tarntruppen zu Hilfe geholt, mit denen sich Terence nicht auf einen Kampf einlassen wollte.

Der Vogel wurde vom Sturm herumgeworfen, aber er war stark. Wir konnten nicht direkten Kurs nach Port Kar einschlagen, sondern mußten uns seitlich vor der Sturmfront bewegen, in der Hoffnung, bald in ein ruhigeres Gebiet zu kommen. Fisch pendelte durchnäßt am Ende des Seils.

Schließlich wurden Regen und Wind schwächer, und plötzlich schimmerte das Thassa unter uns in kühlem Sonnenlicht. Wir hatten das Unwetter hinter uns gelassen. In der Ferne sahen wir eine Felsküste und dahinter Grasland und Savanne, die in große Wälder überging.

Ich ließ den erschöpften Tarn zwischen den Bäumen landen. Fisch sprang rechtzeitig ab. Der Vogel schüttelte seine Flügel aus, ehe ich ihm den Admiralsmantel überstreifte. Der Junge und ich zündeten ein Feuer an, an dem wir unsere Kleidung trocknen und uns wärmen konnten.

»Wir fliegen nach Anbruch der Dunkelheit in die Stadt«, sagte ich.

»Natürlich«, erwiderte er.

Fisch und ich standen nun im düsteren Saal meines Hauses, wo noch am Abend zuvor meine Siegesfeier stattgefunden hatte. Unsere Schritte hallten laut auf den Fliesen.

Wir hatten den Tarn draußen auf dem Hof gelassen, der an mein Hafenbecken grenzte. Keine Tarnkämpfer hatten uns aufgehalten, und die Stadt selbst lag im Dunkeln.

Wir hatten blank gezogen und sahen uns um. Niemand war uns in den Korridoren begegnet, auch in den vielen Räumen war keine Menschenseele.

Jetzt hörten wir einen gedämpften Laut aus der Ecke des dunklen Saals. Zwei Mädchen knieten dort am Boden. Sie waren geknebelt, und jemand hatte ihnen die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Es waren Vina und Telima.

Fisch wäre am liebsten sofort losgestürzt, doch ich hielt ihn zurück. Wortlos bedeutete ich ihm, sich seitlich vom Saaleingang zu postieren, wo er nicht gesehen werden konnte.

Ärgerlich ging ich dann auf die beiden Mädchen zu. Ich ließ sie nicht frei. Sie hatten sich gefangennehmen und als Köder verwenden lassen. Vina war noch jung, aber Telima war erfahren genug und hätte es besser wissen müssen.

Ich fuhr ihr mit den Fingern durch das Haar. »Dummes Mädchen!« sagte ich leise.

Sie versuchte mir zu sagen, daß Männer in der Nähe waren, um mich anzugreifen. Verzweifelt wand sie sich in den Fesseln und sah mich angstvoll an.

Laut sagte ich: »Na, dann wollen wir euch mal befreien.«

Im nächsten Augenblick schrillte in einem Korridor ein Pfiff, gefolgt vom Trappeln zahlreicher Füße. Fackeln tauchten auf.

»Auf ihn!« rief Lysius, der seinen Helm mit dem Sleenhaar trug. Doch Lysius selbst ging nicht mit zum Angriff über. Mehrere Männer stürzten auf mich zu. Insgesamt waren etwa vierzig Gestalten aufgetaucht.

Mit schneller Bewegung trat ich ihnen entgegen, wobei ich ständig meine Position veränderte und die Männer hinter mir herlockte, dann wieder zurücktrieb. Nach Möglichkeit blieb ich dabei in der Nähe der Mädchen, so daß die Männer mit dem Rücken zum Saaleingang kämpfen mußten.

So sah nur ich den Schatten hinter ihnen, der im Halbdämmer und im flackernden Licht der Fackeln blitzschnell herumhuschte, eine Klinge in der Hand. Im nächsten Augenblick hatte die Gestalt einen Helm aufgesetzt und war nun von den anderen nicht mehr zu unterscheiden. Schon sanken einige Männer mit durchschnittener Kehle zu Boden.

Ich selbst besiegte neun Krieger, bis wir neues Geschrei hörten und weitere Fackeln auftauchen sahen.

Im nächsten Augenblick war der Saal von Licht erfüllt. Fisch schlug sich auf meine Seite, um Rücken an Rücken mit mir weiterzukämpfen.

»Du hättest doch bei der Flotte bleiben sollen, Sklave«, sagte ich.

Ich sah, wie der Junge mit blitzschnellem Stoß seine Klinge führte und schon wieder kampfbereit war, ehe sein Opfer zu Boden gesunken war.

»Du hast vorzüglich zu kämpfen gelernt, Sklave«, sagte ich.

Männer kamen durch den Korridor, doch nun auch von der Seite, selbst durch die Küchentüren drängte eine Gruppe Krieger herein.

Jetzt sind wir verloren, dachte ich. Verloren.

Wütend registrierte ich, daß die Gruppe, die aus der Küche kam, von Samos aus Port Kar angeführt wurde.

»Du steckst also doch mit den Feinden Port Kars unter einer Decke!« rief ich. Doch zu meiner Verblüffung wandte er sich gegen unsere Angreifer, begann auf unserer Seite zu kämpfen. Nun bemerkte ich auch, daß einige Männer seiner Gefolgschaft in meinen Diensten standen, während ich andere nicht kannte.

»Rückzug!« brüllte Lysius im Kampfgetümmel.

Seine Männer wichen kämpfend zurück. Wir trieben sie zum Saalausgang, wo wir die Doppeltüren zuwarfen und sie mit schweren Eisenstäben sicherten.

Samos schwitzte. Der Ärmel seiner Tunika war zerrissen. Blut lief ihm über das Gesicht, befleckte sein weißes Haar und den Goldring in seinem Ohr.

»Was ist mit der Flotte?« fragte er.

»Wir haben gesiegt.«

»Gut«, erwiderte er und steckte das Schwert fort. »Wir verteidigen deinen Wehrturm in der Nähe der Deltamauer«, sagte er. »Komm mit.«

Bei den gefesselten Mädchen blieb er stehen und wandte sich um. »Sie haben sich fortgeschlichen, um dich zu suchen.«

»Das ist ihnen ja auch gelungen«, sagte ich und trennte Vinas Fesseln durch. Langsam richtete sie sich auf und eilte weinend zu Fisch und schmiegte sich an ihn. Er umarmte sie.

Dann befreite ich auch Telima von ihren Fesseln.

Am Nachmittag des folgenden Tages standen Samos und ich an der Brustwehr des Turms. Über unseren Köpfen waren Tarnnetze angebracht. Schwere Holzdeckungen, auf Pfosten stehend, ragten in der Nähe auf, die uns vor dem Armbrustfeuer von Tarnreitern schützen sollten.

Mein großer Langbogen stand griffbereit neben mir. Er hatte geholfen, die Belagerer auf Distanz zu halten. Aber ich hatte nur noch wenige Pfeile.

Unsere Männer waren weiter unten im Turm. Wir waren müde. Zu lange schon hatten wir den Schlaf bekämpft, so daß nur noch Samos und ich Wache hielten.

Vor meiner Rückkehr nach Port Kar hatte Samos mit seinen und meinen Männern elf Angriffen auf den Turm standgehalten – dabei war man mit Infanterie und Tarnkämpfern vorgegangen. Seit meiner Rückkehr am Vorabend hatte es vier weitere Attacken gegeben. Wir hatten nun nur noch fünfunddreißig Mann, achtzehn von Samos’ Leuten und siebzehn, die in meinen Diensten standen.

»Warum bist du gekommen, um ausgerechnet meinen Turm zu verteidigen?« fragte ich Samos.

»Weißt du das nicht?« erwiderte er.

»Nein.«

»Ist ja auch egal«, sagte er.

»Ohne dich und deine Männer wäre meine Festung längst gefallen.«

Samos zuckte die Achseln.

Wir schauten über die Bastion. Der Turm steht nahe der Deltamauer meines Anwesens. Von hier oben aus konnten wir die Sümpfe überblicken, die sich bis zum Horizont erstreckten, und das weite, schöne Voskdelta, durch das ich vor so langer Zeit gekommen war.

Unsere erschöpften Kämpfer lagen unter uns im Turm. Jede Ehn Schlaf war kostbar. Sie und wir waren am Ende unserer Kräfte. Das Warten und Kämpfen, gefolgt von neuen Warteperioden, hatte uns zermürbt.

Im Turm hielten sich außerdem vier Mädchen auf – Vina, Telima, Luma und die Tanzsklavin Sandra. Die meisten anderen, ob Männer, ob Frauen, ob Sklaven oder Freie, waren geflohen. Sogar Thurnock und Thura und Clitus und Ula, von denen ich es nicht erwartet hätte, waren nicht mehr in der Festung. Allerdings nahm ich es ihnen nicht übel. Sie waren klug, und es wäre Wahnsinn gewesen, hierzubleiben. Letztlich war ich es, der hier als Narr dastand, nicht sie. Und doch wäre ich in diesem Augenblick an keinem anderen Ort lieber gewesen als hier oben, über dem Besitz, den ich mir in Port Kar zu eigen gemacht hatte.

Und so hielten Samos und ich Wache.

Ich sah ihn an. Ich verstand diesen Sklavenhändler nicht. Warum hatte er meine Festung verteidigt? War er so verrückt oder schätzte er sein Leben so gering ein?

Er gehörte nicht hierher.

Dieser Besitz gehörte mir, mir allein!

»Du bist müde«, sagte Samos. »Geh nach unten. Ich passe schon auf.«

Ich nickte. Es war sinnlos, Samos noch zu mißtrauen. Sein Schwert hatte manchen Kämpfer für mich getötet. Sein Leben war auf der Brustwehr meines Wehrturms mehr als einmal in Gefahr gewesen. Mir war egal, wem er diente – ob den Ubars, oder dem Regenten Claudius, oder den Ubaraten in Cos und Tyros, oder etwa den Anderen oder vielleicht doch den Priesterkönigen – oder ob er allein seine eigenen Ziele verfolgte. Mir war alles gleichgültig geworden. Ich war zu Hause, und ich war müde.

Ich stieg durch die Falltür; über eine Leiter erreichte ich die Etage unter dem Turmdach. Hier gab es Nahrung und Wasser, ausreichend Vorräte für eine weitere Woche. Aber ich glaubte nicht, daß wir noch soviel brauchen würden. Vor Einbruch der Dunkelheit gab es bestimmt weitere Angriffe – denen wir kaum noch etwas entgegenzusetzen hatten. Die erste oder höchstens zweite Angriffswelle würde uns überrollen.

Ich sah mich um. Die Männer schliefen. Sie waren unrasiert, verdreckt und zum Teil verwundet. Mehrere Kämpfer aus Samos’ Mannschaft waren mir unbekannt, während mir andere viel bedeuteten. Einige waren sogar Sklaven von mir, die mit Pfählen und Hämmern gekämpft hatten, andere waren früher Sklaven gewesen, hatten jedoch die Freiheit errungen und eine Waffenausbildung erhalten. Einige waren Seeleute, und zwei waren Söldner, die meinen Dienst nicht hatten verlassen wollen. In einer Ecke schlief Fisch; Vina lag in seinen Armen. Er hatte sich wacker gehalten.

»Herr«, sagte jemand neben mir.

An der Wand saß die Tanzsklavin Sandra. Zu meiner Überraschung hatte sie Vergnügungsseide angelegt.

Ich ging zu ihr hinüber. Sie kniete vor einem Bronzespiegel und bearbeitete eine Augenbraue mit einer kleinen Bürste.

Sie sah furchtsam zu mir auf. »Wenn sie kommen«, sagte sie, »werden sie doch Sandra nicht umbringen, oder?«

»Ich glaube nicht«, sagte ich. »Ich nehme an, die Männer werden dich hübsch finden und am Leben lassen.«

Sie sah mich erleichtert an, wandte sich wieder dem Spiegel zu und starrte prüfend hinein.

Ich hob sie hoch und blickte ihr in die Augen.

»Bitte bring meine Schminke nicht durcheinander«, sagte sie.

Ich lächelte. »Sie werden dich bezaubernd finden.«

Dann küßte ich ihren Hals und stieg in das nächste Stockwerk hinab.

Hier lehnte mit angezogenen Beinen Luma an einer Wand.

Ich blieb vor ihr stehen.

Sie blickte auf und fuhr mit der Hand über meine Wange.

»Ich würde dich befreien«, sagte ich, »aber ich fürchte, daß freie Frauen umgebracht werden.«

Ich berührte ihren Sklavenkragen.

»Hiermit darfst du vielleicht weiterleben.«

Sie begann zu weinen und lehnte den Kopf an meine Schulter. Ich umarmte sie.

»Meine mutige Luma«, sagte ich. »Meine brave, mutige Luma.«

Ich küßte sie, schob sie sanft von mir und begab mich wieder zur Leiter.

Im nächsten Stockwerk kümmerte sich Telima um zwei Verwundete. Müde setzte ich mich auf eine Decke, die auf dem Boden lag, und stützte den Kopf in die Hände.

Das Mädchen kniete neben mir nieder und sah mich an.

»Ich rechne damit«, sagte sie nach längerem Schweigen, »daß in ein paar Stunden die Flotte zurückkehrt und wir alle gerettet sind.«

Dabei wußte sie ebensogut wie ich, daß die Flotte im Sturm viele Pasang nach Süden abgetrieben worden war und erst in zwei oder drei Tagen hier sein konnte.

»Ja«, sagte ich, »in wenigen Stunden ist die Flotte da, und wir alle sind gerettet.«

Sie legte mir die Hand auf die Stirn und barg das Gesicht an meiner Schulter.

»Du darfst nicht weinen«, sagte ich und drückte sie an mich.

»Ich habe dir so weh getan«, sagte sie.

»Nein.«

»Es ist alles so seltsam.«

»Was ist seltsam?«

»Daß Samos hier ist.«

»Wieso?«

»Weil er vor Jahren mein Herr war.«

Ich sah sie verblüfft an.

»Ich wurde im Alter von sieben Jahren bei einem Überfall zur Sklavin gemacht«, sagte sie, »und Samos kaufte mich auf dem Markt. Jahrelang behandelte er mich mit großer Fürsorge. Ich wurde gut behandelt und lernte Dinge, die Sklaven sonst nicht beigebracht werden. Du weißt ja, daß ich lesen kann.«

Ich wußte noch, wie ich mich gewundert hatte, daß sie als einfaches Rencemädchen so gebildet war.

»Und ich erfuhr auch viele andere Dinge«, sagte sie. »Als ich lesen konnte, wurde mir sogar das Zweite Wissen eröffnet.«

Das sogenannte ›Zweite Wissen‹ war auf Gor im allgemeinen nur den höchsten Kasten vorbehalten.

»Obwohl ich nur eine Sklavin war«, fuhr sie fort, »wurde ich mit Liebe großgezogen, und Samos war fast wie ein Vater zu mir. Ich durfte mit Schriftgelehrten und Sängern und Kaufleuten und Reisenden sprechen. Ich schloß Freundschaften mit anderen Mädchen im Haus, die auch viel Bewegungsfreiheit hatten, wenn auch nicht soviel wie ich. Wir konnten uns in der Stadt frei bewegen, obwohl wir immer von Wächtern begleitet waren, die uns beschützen sollten.«

»Und was geschah dann?«

Gepreßt sagte sie: »Man hatte mir gesagt, an meinem siebzehnten Geburtstag würde eine große Veränderung in meinem Leben eintreten.« Sie lächelte. »Ich rechnete damit, daß ich freigelassen und als Samos’ Tochter adoptiert werden würde.«

»Und was geschah?«

»Bei Tagesanbruch kam der Sklavenmeister zu mir. Ich wurde in den Keller geführt, erhielt einen Sklavenkragen und wurde ausgepeitscht und zu anderen Mädchen in einen Saal gesperrt. Diese Mädchen mißhandelten mich weiter, denn sie wußten, welch bevorzugte Stellung ich im Hause gehabt hatte. Tagelang dachte ich, da wäre ein schrecklicher Irrtum passiert. Aber dann wurde ich Samos vorgeführt.«

»Und was sagte er?«

»Er sagte: ›Aus den Augen mit dieser Sklavin!‹«

Sie erbebte in meinen Armen.

»Dann mußte ich im Haus dienen und erhielt meistens die unwürdigsten Arbeiten zugeteilt. Ich wurde oft geschlagen und mußte nachts in einem winzigen Käfig schlafen, in dem ich mich kaum bewegen konnte.« Wütend hob sie den Kopf. »In mir wuchs ein großer Haß auf Port Kar, auf Samos und die Männer und auf die Sklaven, zu denen ich gehörte. Schließlich lebte ich nur noch für meinen Haß und den Traum, daß ich eines Tages fliehen und meine Rache genießen würde.«

»Und du bist geflohen!«

»Ja, als ich das Quartier des Sklavenmeisters saubermachte, fand ich den Schlüssel zu meinem Kragen.«

»Er muß ein sehr unvorsichtiger Mann gewesen sein«, sagte ich.

Sie zuckte die Achseln. »Und dicht neben dem Schlüssel lag ein goldener Armreif. Ich nahm ihn an mich. Vielleicht brauchte ich das Gold, um einen Wächter zu bestechen.« Sie senkte den Kopf. »Aber es war kein Problem, das Haus zu verlassen. Ich sagte, ich hätte einen Auftrag, und die Wächter ließen mich durch. Natürlich war ich schon öfter in der Stadt unterwegs gewesen. In einem dunklen Winkel entfernte ich den Kragen, damit ich mich freier bewegen konnte und in der Stadt nicht angehalten wurde. Ich fand einige Stämme, Schnur und eine Stange, baute mir ein einfaches Floß und entkam durch einen der Deltakanäle, die damals noch nicht versperrt waren. So gelang mir die Flucht. Ich war als Kind in den Sümpfen groß geworden und hatte keine Angst vor einer Rückkehr dorthin. Die Männer Ho-Haks fanden mich und nahmen mich in ihre Gemeinschaft auf. Dabei durfte ich sogar den goldenen Armreif behalten.«

Ich betrachtete nachdenklich die gegenüberliegende Wand. »Haßt du Samos noch immer?«

»Ich hatte damit gerechnet«, sagte sie. »Aber nachdem er nun hier ist und uns hilft, hasse ich ihn plötzlich nicht mehr. Es ist alles sehr seltsam.«

Ich war müde. Ich wollte schlafen. Es freute mich, daß mir Telima einen Abschnitt ihres Lebens geschildert hatte, den ich bisher noch nicht kannte. Ich spürte, daß mehr hinter ihrem Bericht steckte, als mir im Augenblick klar wurde, mehr, als sie selbst begriff. Aber ich war zu müde zum Nachdenken.

»Du weißt natürlich, daß der Turm bald gestürmt und wir alle niedergemacht werden? Zumindest die Männer.«

»Die Flotte wird kommen«, sagte sie zuversichtlich.

»Ja – aber wenn sie nun nicht käme?«

»Sie kommt.«

Ich streichelte zärtlich ihre Wange, lehnte den Kopf an die Wand und schlief auf der Stelle ein.

»Sie kommen!« brüllte jemand.

Ich fuhr auf und sprang an die Leiter.

»Mein Ubar!« rief Telima hinter mir. »Ich habe dir dies mitgebracht.«

Zu meiner Verblüffung reichte sie mir mein altes Schwert, meinen langjährigen Kampfgefährten, den ich in den letzten Monaten nicht bei mir gehabt hatte.

Ich betrachtete die Klinge. Dann legte ich das Admiralsschwert ab.

»Danke«, sagte ich.

Unsere Lippen berührten sich, dann stieg ich die Sprossen hinauf. Geschrei und hastiges Fußgetrappel waren von oben zu hören. An meiner Hüfte hing nun das Schwert, das mich nach Port Kar begleitet hatte, das ich schon bei der Belagerung Ars geführt hatte, in Tharna und im Nest der Priesterkönige, auf den Ebenen der Wagenvölker und in den Straßen Ars, als ich dort Cernus, dem Besitzer des Hauses Cernus, diente. Es besaß keinen juwelengeschmückten Griff und auch keine ziselierte Klinge, doch als Waffe genügte es mir. Telima hatte sie bei meinen Besitztümern gefunden und mit in den Turm genommen. Es erschien mir seltsam, daß sie so fest mit meiner Rückkehr nach Port Kar gerechnet hatte. Ich freute mich, daß ich die vertraute Klinge, die mich an frühere, schönere Zeiten erinnerte, an mein Leben als Tarl Cabot, in diesem Augenblick bei mir hatte.

Wenn man schon sterben muß, dann am liebsten mit einer vertrauten Klinge in der Hand, einem alten Kampfgefährten.

Wir verteidigten die Turmspitze.

Die letzten vier Pfeile meines Langbogens waren verschossen, und vier Männer, die eine Gefahr für uns werden konnten, waren von der Deltamauer unterhalb des Turms gestürzt. Von dort versuchten die Schützen den Angriff der Belagerer zu decken.

Wir standen sogar auf den Holzunterständen, dicht unter den Tarnnetzen, und kämpften mit Speeren und Schwertern gegen die Tarnkämpfer, die von ihren Vögeln sprangen und uns von oben angriffen, um uns niederzumachen.

Wir hörten Seile mit Haken heransurren, hörten, wie sich die Metallspitzen im Mauerwerk und in den Maschen des Tarnnetzes verhakten. Wir hörten, wie Rammböcke gegen die Mauern donnerten, große Masten, an die kleine Sprossen gebunden waren, an die Außenwände gelehnt wurden. Wir hörten das Trompetenzeichen, das zum Angriff blies, die hastigen Schritte, das Klettern, das Geklirr der Waffen, das Schlachtgebrüll der Männer.

Kurz darauf erschienen behelmte Köpfe über den Bastionen. Augen blitzten in den Y-förmigen Schlitzen der Helme, behandschuhte Hände und gestiefelte Füße kamen in Sicht – zahlreiche Kämpfer stürmten auf unsere letzte Bastion.

Ich sprang von dem Unterstand, auf dem ich gestanden hatte, und stürmte zur Mauer. Ich hörte Samos’ Schwert klirren und die Schreie von Männern hinter mir.

Aus dem Augenwinkel sah ich Fisch, der an mir vorbeirannte, einen Speer mit beiden Händen über den Kopf erhoben, und hörte einen langgezogenen Entsetzensschrei, der mit dem häßlichen Aufklatschen eines Körpers unten auf dem Pflaster des Hofs abriß.

»Hindert sie am Übersteigen der Bastion!« rief ich meinen Leuten zu.

Sie eilten zu den Mauern.

Wir kämpften verzweifelt mit Gegnern, die die Außenmauer bereits überstiegen hatten. Einer der Eindringlinge kletterte sogar schon die Leiter in die unteren Geschosse des Turms hinab. Doch dann schrie er plötzlich auf und verschwand aus meinem Blickfeld.

Im nächsten Augenblick erschien Telimas Kopf in der Öffnung. Zwischen den Zähnen hielt sie einen Dolch und schwenkte mit der Rechten mein Admiralsschwert; die Klinge war blutig.

»Zurück!« rief ich ihr zu.

Da sah ich Luma und Vina hinter ihr auftauchen. Sie hoben Steine auf, liefen zur Außenwand und schleuderten sie aus allernächster Nähe auf die Köpfe der Angreifer.

Mit heftiger Bewegung, das Schwert mit beiden Händen führend, schlug Telima einem Mann den Kopf ab. Doch im nächsten Augenblick schlug ihr ein anderer Gegner die Klinge aus der Hand. Er hob seine Waffe, um sie zu erschlagen, doch ich war rechtzeitig zur Stelle und streckte ihn nieder, ehe er sein Vorhaben verwirklichen konnte.

Ich sah einen Mann kreischend rückwärts stürzen, von einem kopfgroßen Stein getroffen, den Luma geschleudert hatte. Vina hatte sich eines Schildes bemächtigt, das sie kaum heben konnte, und versuchte damit Fisch zu decken, der in einen heftigen Zweikampf verwickelt war. Er entschied das Duell zu seinen Gunsten und sah sich hastig nach einem neuen Gegner um.

Ich warf den Mann, den ich getötet hatte, über die Brüstung, der dabei gegen einen anderen Kämpfer prallte. Dieser, an den Belagerungspfahl geklammert, segelte in hohem Bogen mit dem vom Turm abrutschenden Mast in die Tiefe. Neben mir erwehrte sich einer meiner früheren Sklaven mit einem abgebrochenen Speerschaft seines Gegners.

Samos stieß seine Klinge in die Y-förmige Öffnung eines Helms, parierte einen Speerhieb und erwiderte den Schwertschlag eines dritten Gegners.

In diesem Augenblick wurde zum Rückzug geblasen. Schweratmend, blutüberströmt – sahen wir uns um.

»Der nächste Angriff«, sagte Samos keuchend, »ist der letzte.«

Samos war noch am Leben, Fisch und ich und die vier Mädchen und noch insgesamt fünf Männer.

Ich blickte über das Delta.

Von unten schallte Lärm herauf. Offenbar wurden die Krieger neu formiert. Waffen klirrten. Diesmal brauchten wir nicht lange auf den neuen Angriff zu warten.

»Ich wünsche dir alles Gute«, sagte ich zu Samos.

»Auch ich wünsche dir alles Gute, Krieger«, sagte er und wandte den Kopf. Er schien seltsam verlegen zu sein. Ich fragte mich, was er hatte und weshalb er mich Krieger genannt hatte.

Ich nahm Telima in die Arme. »Beim nächsten Angriff bleibst du unten.«

»Und du ebenfalls«, wandte sich Fisch an Vina.

»Aber ich finde es unten zu stickig«, bemerkte Telima.

»Und ich auch«, sagte Luma unter Tränen.

»Also gut, dann werdet ihr eben unten an die Leitern gebunden!«

»Dazu hast du wohl nun keine Zeit mehr«, sagte Samos mit einem Blick über die Brüstung.

Die Trompeten bliesen wieder zum Angriff. Lärm schallte herauf.

Mit lautem Geschrei stürmten Hunderte von Männern an den Fuß des Turms. Wieder hörten wir, wie Belagerungspfähle angelegt wurden, wieder knirschten Haken in die Mauern. Und auf der Mauer zum Delta hin standen nun ganz offen Armbrustschützen, die wußten, daß wir unsere Pfeile verschossen hatten. Sie wollten den Kletternden Deckung geben.

Wir hörten, wie die Männer an der Turmwand höherkamen, wie ihre Schwerter und Speerspitzen gegen die Mauer schlugen.

Drüben brüllte der Anführer der Armbrustschützen seine Befehle. Die Belagerer kamen unaufhaltsam näher.

Plötzlich traute ich meinen Augen nicht. Ich sah eine Erscheinung hinter der Mauer, auf der die Armbrustschützen standen – ein seltsames Aufblitzen. Der Anführer der Schützentruppe zuckte zusammen, griff sich an die Brust und stürzte.

»Du tust mir weh!« schrie Telima. Ich hatte eine Hand um ihren Arm gekrampft.

»Bleib unten!« rief Samos.

Plötzlich waren auf der Krone der Mauer zum Delta über hundert Enterhaken zu sehen, deren Seile sich strafften, als seien sie belastet worden. Einer der Armbrustschützen blickte in Richtung Sumpf und zuckte zurück. Ein Pfeil ragte ihm aus der Stirn, ein Geschoß, das nur von einem Langbogen stammen konnte.

Dann sahen wir die Armbrustschützen von der Mauer fliehen.

Doch unsere Belagerer waren schon gefährlich nahe.

Im nächsten Augenblick schwärmten Hunderte von Männern über die Deltamauer.

»Rencebauern!« rief ich verblüfft.

Doch jeder der Männer trug einen Langbogen über der Schulter. Sie nahmen auf der Deltamauer Aufstellung, hoben wie ein Mann ihre Bogen, legten Pfeile auf, und im nächsten Augenblick erblickte ich Ho-Hak, der mit lautem Aufschrei den Arm senkte, und wie ein Hagelschauer zuckten die federbesetzten Pfeile in Richtung Turm. Und ich sah neben Ho-Hak den Bauern Thurnock mit seinem Bogen und neben ihm, mit Netz und Dreizack, meinen Freund Clitus. Die Männer auf den Belagerungsleitern schrien auf, Holz scharrte an der Turmwand entlang. Körper regneten auf die unten wartenden Soldaten. Wieder und wieder bohrten sich Pfeilsalven in die dichtgedrängt stehenden Belagerer, die schließlich in wilder Panik die Flucht ergriffen. Doch jeder Bogenschütze verfolgte sein Ziel, und es gab nur wenige, die sich auf der anderen Seite meines Anwesens in Sicherheit bringen konnten. Schon schwärmten die Rencebauern von der Mauer und sprangen auf andere Dächer, um wirklich jeden Punkt des umschlossenen Gebiets bestreuen zu können. Meine Männer und die Mädchen warfen Steine auf die Belagerer, die die Deckung des Turms suchten, bis auch diese Gruppe auseinanderlief. Einen Augenblick sah ich tief unten Lysius’ angstverzerrtes Gesicht und neben ihm, ein Stirnband aus Perlen, um den Kopf, den Rencebauern Henrak, der vor langer Zeit seine Gefährten an Port Kar verraten hatte. Hinter ihnen, in eine kostbare Robe aus weißem Fell gekleidet, erblickte ich einen anderen Mann, der sich verzweifelt umsah. Ich kannte ihn nicht.

»Das ist Claudius!« rief Fisch neben mir. »Claudius!«

Das also war Claudius, der Regent des Henrius Sevarius, der den Jungen hatte töten wollen.

Fisch ballte die Fäuste auf der Brustwehr.

In Begleitung einiger anderer Männer flohen die drei Gestalten in mein Haus.

Auf der gegenüberliegenden Mauer schwenkte Thurnock seinen Langbogen über dem Kopf, und Clitus tat es ihm nach. Ich hob die Hand und erwiderte ihren Gruß.

Auch grüßte ich Ho-Hak, den Rencebauern. Mir entging nicht, wie geschickt seine Männer ihre Bogen einsetzten. Zweifellos kannten sie die Vorteile einer solchen Waffe von mir und hatten sie nun zu ihrer eigenen gemacht. Ich glaubte nicht, daß die Rencebauern weiterhin dem Willen der Sklavenhändler aus Port Kar unterworfen waren.

»Sieh doch!« rief Samos.

Männer flohen von meinem Grundstück – ein Stück weiter unten kamen mit blitzenden Rudern und gesenktem Mast zwei Tarnschiffe durch einen Kanal.

»Die Venna!« rief ich. »Und die Tela!«

Den Schild erhoben, einen Speer in der Hand, so stand Tab am Bug der Venna.

Er mußte seine beiden Schiffe quer zum Sturm gerudert haben, ohne ein Sturmsegel zu setzen. Er hatte sein Leben riskiert, nur um nicht abgetrieben zu werden. Die übrige Flotte lag bestimmt noch hundert Pasang weiter südlich.

»Ein Seemann, der seiner Stadt wirklich würdig ist!« sagte Samos.

»Liebst du Port Kar so sehr?« fragte ich.

»Es beherbergt meinen Heimstein«, sagte er schlicht.

Die beiden Schiffe bogen in das Innenbecken ein, und meine Armbrustschützen feuerten auf die Fliehenden im Hof. Kämpfer warfen ihre Waffen fort und knieten nieder. Der Widerstand war gebrochen.

Ich drückte Telima an mich, die zugleich lachte und weinte.

Am Fuß des Turms traten uns kurz darauf Thurnock, Clitus und Ho-Hak entgegen. Wir umarmten uns stumm.

»Ihr habt euch den Langbogen zu eigen gemacht«, sagte ich zu Ho-Hak.

»Du hast uns gelehrt, was man damit machen kann, Krieger«, erwiderte Ho-Hak.

Thurnock und Clitus hatten sich mit ihren Mädchen Thura und Ula an die Rencebauern gewandt und um Hilfe gebeten, und die Rencebauern hatten tatsächlich ihr Leben für mich riskiert.

»Vielen Dank, Ho-Hak«, sagte ich.

»Du brauchst mir nicht zu danken«, sagte er, »Krieger.«

»Wir haben drei Männer im Haus umzingelt«, meldete ein Seemann. Wir hasteten in den großen Festsaal, in dem drei Männer von Armbrustschützen in Schach gehalten wurden. Es waren Lysius, Claudius und Henrak.

»Sei gegrüßt, Tab«, sagte ich und schlug meinem Kapitän auf die Schulter.

»Sei gegrüßt, Admiral.«

Als Lysius mich erblickte, stürzte er vor. Ich erwiderte seinen Angriff sofort, und nach kurzem Schlagwechsel sank er blutüberströmt zu Boden.

»Ich bin reich«, sagte Claudius. »Ich kann für meine Freiheit bezahlen.«

»Der Rat der Kapitäne von Port Kar«, sagte Samos, »hat mit dir zu sprechen.«

»Aber ich habe auch etwas mit ihm zu klären«, sagte Fischs Stimme. Der Junge hatte sein Schwert gezogen.

»Du!« rief Claudius. »Du!«

Samos starrte den Jungen verwundert an und wandte sich an Claudius. »Der Anblick eines einfachen Sklaven scheint dich seltsam zu berühren!«

In seiner armseligen Sklaventunika stand der Junge vor uns, ein junger Ubar. Er lebte, und er hatte für sein Recht und seine Stadt gekämpft. Er war kein Junge mehr.

Mit einem Wutschrei, das Schwert erhoben, stürzte sich Claudius auf den Sklaven, der den Angriff jedoch geschickt parierte.

»Ja«, sagte er. »Ich bin kein schlechter Fechter! Und jetzt wollen wir kämpfen.«

Claudius warf seinen weißen Umhang fort und näherte sich vorsichtig.

Er war ein ausgezeichneter Schwertkämpfer, doch Sekunden später war Fisch blitzschnell vorgesprungen, zurückgewichen – und wischte seine Klinge an der weißen Tunika ab, die am Boden lag. Claudius stand schwankend in der Mitte des großen Saals. Er wollte schreien, doch nur ein Schwall Blut drang aus seinem Mund, und dann stürzte er um und regte sich nicht mehr.

»Bemerkenswert«, sagte Samos. »Claudius ist tot. Von einem einfachen Sklaven erschlagen.«

Fisch lächelte.

»Und der da«, sagte Ho-Hak und deutete auf Henrak, »ist ein Rencebauer, und mit dem habe ich eine Rechnung zu begleichen!«

Henrak starrte ihn an, aschgrau im Gesicht.

»Eechius ist bei dem Überfall auf die Renceinsel getötet worden«, sagte Ho-Hak. »Er war mein Sohn.«

»Tu mir nichts!« flehte Henrak. Er wollte sich zur Flucht wenden, doch er kam nicht weit.

Ho-Hak packte sein Handgelenk, ergriff den Mann und stemmte ihn über seinen Kopf. Henrak zappelte und schrie, doch er wurde aus dem Saal getragen.

Wir folgten dem riesigen Mann aus den Sümpfen, sahen, wie er die schmale Treppe der Mauer zum Delta hinaufstieg und sich auf ihre Brustwehr stellte. Als Silhouette vor dem Himmel stehend, verharrte einen Augenblick, dann schleuderte er die schreiende Gestalt in den Sumpf hinaus.

Am Fuße der Mauer warteten die Tharlarion.

Der Abend war weit fortgeschritten.

Wir hatten aus den Vorräten der Venna und Tela ein reichhaltiges Abendessen serviert bekommen. Dabei bedienten Telima und Vina in der Tunika von Küchensklavinnen. Fisch saß bei uns am Tisch und wurde ebenfalls bedient.

Midice kniete neben Tab, ohne mich anzusehen. Der Kapitän hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt.

»Wie ich sehe«, sagte Ho-Hak zu Telima, »trägst du immer noch den goldenen Armreif.«

»Ja.«

»Daran sollte ich dich erkennen«, sagte Ho-Hak, »als du vor vielen Jahren in die Sümpfe kamst.«

Telima starrte ihn verwirrt an.

Samos setzte seine Pagaschale ab. »Wie werden sich die Dinge wohl in der Stadt entwickeln?« fragte er Tab.

Tab senkte nachdenklich den Kopf. »Die Ubars Eteocles und Sullius Maximus sind mit ihren Schiffen und Männern geflohen. Die letzte Festung des Henrius Sevarius ist verlassen. Der Ratsbau, obwohl teilweise durch Feuer zerstört, steht noch. Die Stadt, so will mir scheinen, ist in Sicherheit. Ich glaube, daß die Flotte in vier oder fünf Tagen eintrifft.«

»Dann scheint ja der Heimstein Port Kars nicht mehr gefährdet zu sein.« Samos hob seine Pagaschale.

Wir tranken mit.

»Wenn es mein Kapitän gestattet«, sagte Tab. »Es ist spät, und ich möchte mich zurückziehen.«

»Es sei dir gestattet«, sagte ich.

Er neigte den Kopf und ging. Midice richtete sich auf und begleitete ihn.

»Es wäre sicher nicht klug«, sagte Ho-Hak, »wenn die Rencebauern zu lange in Port Kar blieben. Wir werden im Schutze der Nacht abziehen.«

»Dank sei dir und deinem Volk«, sagte ich.

»Die Renceinseln, die nun vereint sind, stehen dir zur Verfügung.«

»Dafür sei dir gedankt, Ho-Hak«, erwiderte ich.

»Wir können nie gutmachen, was du für uns getan hast. Du hast viele von uns vor Port Kar gerettet und uns den Gebrauch des Langbogens gelehrt.«

»Dafür habt ihr mich mehr als entschädigt«, erwiderte ich.

»Dann stehen wir also nicht mehr in des anderen Schuld?«

»Nein.«

»So schließen wir Freundschaft.«

Wir reichten uns die Hände.

»Du hast viele Freunde in den Sümpfen!«

»Das ehrt mich«, sagte ich.

Ho-Hak wandte sich zum Gehen, und ich blickte dem breitschultrigen ehemaligen Galeerensklaven nach. Ich hörte, wie er draußen seine Männer zusammenrief. Sie würden zu ihren Rencebooten zurückkehren, die unten an der Deltamauer festgemacht waren.

»Wenn du gestattest, Kapitän«, sagte Thurnock mit einem Blick auf Thura. »Es ist spät.«

Ich nickte und Thurnock und Clitus verließen mit ihren Sklavinnen den großen Saal.

Samos, Telima und ich blieben allein zurück.

»Bald muß der Morgen grauen«, bemerkte der Sklavenhändler.

»Vielleicht noch eine Ahn bis Sonnenaufgang.«

»Nehmen wir unsere Umhänge«, sagte Samos. »Wir wollen auf den Wehrturm steigen.«

Wir zogen uns warm an und folgten Samos über den gepflasterten Hof, um das Hauptgebäude herum und in den nun geöffneten Turm.

Von seiner Spitze aus waren Tabs Männer von der Venna und der Tela zu erkennen, die hier und dort Wache standen. Das große Tor, das zur Stadt führte, war geschlossen. Nacheinander kletterten die Rencebauern über die Mauer und stiegen in ihre kleinen Boote, die wir nicht sehen konnten. Ho-Hak folgte als letzter, und wir winkten ihm zum Abschied zu.

Der endlose Sumpf glitzerte im Licht der drei Monde.

Telima wandte sich an Samos. »Dann war es also vorgesehen, daß ich aus deinem Haus floh?«

»Ja«, erwiderte Samos, »und du solltest auch den goldenen Armreif nehmen, so daß Ho-Hak und seine Männer dich im Sumpf erkennen würden.«

»Sie fanden mich nach wenigen Stunden.«

»Sie warteten auf dich«, sagte Samos.

»Ich verstehe das nicht.«

»Ich kaufte dich, als du noch ein Mädchen warst«, sagte Samos. »Und ich hatte von Anfang an diesen Plan.«

»Du hast mich wie deine Tochter großgezogen«, sagte sie. »Aber als ich siebzehn wurde …«

»Ja – da wurdest du grausam behandelt und dann durftest du fliehen.«

»Aber warum?«

»Samos«, schaltete ich mich ein, »hast du die Nachricht geschickt, die ich vor einigen Monaten im Rat der Kapitäne erhielt?«

»Ja.«

»Aber damals hast du das abgestritten«, sagte ich.

»Die Folterkammer schien mir nicht der rechte Ort zu sein, über die Belange der Priesterkönige zu sprechen.«

»Priesterkönige?« fragte Telima atemlos.

Ich lächelte. »Nein, da hast du wohl recht. Aber als die Nachricht übergeben wurde, warst du doch gar nicht in der Stadt.«

»Das stimmt«, sagte Samos. »Ich hoffte dadurch eine Verbindung zwischen mir und dem Zettel abstreiten zu können, falls es erforderlich werden sollte.«

»Du hast nie den Versuch gemacht, dich mit mir in Verbindung zu setzen«, sagte ich.

»Du warst nicht bereit dazu«, sagte Samos. »Außerdem brauchte dich Port Kar.«

»Du dienst also den Priesterkönigen.«

»Ja.«

»Und deswegen bist du in meine Festung gekommen – um einen Mann zu schützen, der ihnen früher auch gedient hat, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Samos, »aber auch, weil du viel für meine Stadt, für Port Kar, getan hast. Nur deiner Initiative ist es zu verdanken, daß sie jetzt einen Heimstein besitzt.«

»Bedeutet dir das soviel?« fragte ich. Samos war ein Larl von einem Mann, das rief ich mir ins Gedächtnis. Er war grausam, ein Raubtier mit tödlichen Jagdinstinkten.

»Natürlich«, sagte er.

Wir starrten in die Ferne. Zahlreiche kleine Boote verschwanden im Rence der Sümpfe.

Samos wandte sich wieder an mich. »Du mußt in den Dienst der Priesterkönige zurückkehren.«

»Das kann ich nicht«, sagte ich und senkte den Kopf. »Ich wäre ihnen ein unwürdiger Diener.«

»Alle Männer und Frauen, jeder von uns, hat irgendwo in seinem Innern verabscheuungswürdige Elemente, grausame und feige Züge, keiner ist gefeit gegen bösartige, gierige und egoistische Anwandlungen, Dinge, die wir vor anderen und in erster Linie vor uns selbst verbergen.«

Telima und ich sahen ihn an.

Nicht ohne Zärtlichkeit legte der Sklavenhändler eine Hand auf Telimas Schulter, die andere auf meine.

»Der Mensch ist ein Chaos aus Grausamkeit und Edelmut, aus Haß und Liebe, aus Ablehnung und Zuneigung, aus Neid und Bewunderung. Das ist eine alte Wahrheit, die nur von wenigen wirklich begriffen wird.«

Ich starrte auf den glitzernden Sumpf hinüber. »Es war also kein Zufall, daß ich in der Marsch abgefangen wurde«, sagte ich.

»Nein«, lächelte Samos.

»Dient auch Ho-Hak den Priesterkönigen?«

»Wissentlich nicht«, sagte Samos. »Aber vor vielen Jahren versteckte ich ihn auf seiner Flucht in meinem Hause und verhalf ihm später zur Freiheit. Er hat mir seither öfter geholfen.«

»Was hast du ihm gesagt?«

»Daß ich wüßte, ein Mann aus Port Kar würde in Kürze die Sümpfe durchqueren.«

»Sonst nichts?«

»Nur, daß Telima als Köder benutzt werden sollte, um dich zu fangen.« Er warf dem Mädchen einen Blick zu.

»Die Rencebauern hassen die Bürger dieser Stadt. Sie hätten mich töten können.«

»Das war ein Risiko, das ich eingehen mußte.«

»Du bist sehr freigiebig mit dem Leben anderer.«

»Hier geht es um ganze Welten, Kapitän.«

Ich nickte.

»Hat Priesterkönig Misk von dem Plan gewußt?«

»Nein«, erwiderte Samos, »er hätte ihn bestimmt nicht gutgeheißen. Denn trotz ihres großen Wissens verstehen die Priesterkönige den Menschen kaum. Ihnen geht es um den Kampf gegen die Anderen.«

»Wer sind die Anderen?« fragte Telima.

»Frage jetzt nicht«, sagte Samos abweisend, und das Mädchen erstarrte.

»Ich werde dir eines Tages davon erzählen«, sagte ich.

»Wir sahen voraus«, fuhr Samos fort, »daß sich deine menschliche Natur durchsetzen würde, daß du im Angesicht eines sinnlosen, absurden Todes in den Sümpfen lieber um dein Leben flehen würdest.«

Mir blutete das Herz. »Das habe ich getan.«

»Du hast der Freiheit des ehrenhaften Todes, wie sich die Krieger ausdrücken, die unwürdige Knechtschaft vorgezogen.«

Tränen standen mir in den Augen. Es war nicht nur der scharfe Wind. »Ich habe mein Schwert und meine Stadt entehrt. Ich verriet die Maximen, nach denen ich zuvor gelebt hatte.«

»Aber du fandest deine Menschlichkeit wieder«, sagte Samos. »Nur in solchen Augenblicken stellt man fest, daß in den eigenen Lebensmaximen nicht die ganze Wahrheit und die ganze Wirklichkeit enthalten ist. Das bricht den Hochmut und die Selbsttäuschung. Es ist ein heilsames Erlebnis.«

Ich starrte ihn an.

»Wenn du nicht umkamst, würdest du als Sklave weiterleben, das wußten wir. So hatten wir seit Jahren in diesem Mädchen Haßgefühle geweckt, daß sie sich deiner annehmen und dich das Joch der Sklaverei spüren lassen konnte.«

Telima neigte den Kopf. »Du hast mich gut vorbereitet, Samos«, sagte sie.

Ich schüttelte den Kopf. »Trotzdem kann ich den Priesterkönigen nicht mehr dienen. Du hast zu gute Arbeit geleistet. Als Mensch bin ich vernichtet. Ich achte mich selbst nicht mehr.«

Telima legte ihren Arm um meine Schultern.

»Glaubst du«, wandte sich Samos an Telima, »daß Bosk vernichtet wurde? Daß er sich selbst nicht mehr achten kann?«

»Nein«, sagte sie. »Mein Ubar weiß, wer er ist.«

»Ich habe grausame und abscheuliche Dinge getan«, wandte ich ein.

»Ich ebenso – dazu sind wir alle fähig«, erwiderte Samos lächelnd.

»Nein, eher habe ich den Boden unter den Füßen verloren«, flüsterte Telima. »Ich wurde vernichtet!«

Samos blickte sie freundlich an. »Du bist ihm sogar nach Port Kar gefolgt.«

»Ich liebe ihn.«

»Keiner von euch beiden ist vernichtet. Ihr seid beide ein gesundes Ganzes, und ihr seid – menschlich.«

»Sehr menschlich«, sagte ich sarkastisch. »Allzu menschlich.«

»Bei dem Kampf gegen die Anderen kann man nicht menschlich genug sein«, sagte Samos.

Verwirrt starrte ich ihn an.

»Ihr beide habt nun neue Seiten eures Selbst kennengelernt, und aus dieser Kenntnis heraus werdet ihr die Stärken und Schwächen anderer besser verstehen können. Dabei gab es nur ein Problem«, fuhr Samos fort, »und ihr habt das nicht recht begriffen, auch jetzt noch nicht.«

»Und das wäre?«

»Euer Stolz«, sagte er und lächelte. »Als ihr die Achtung vor euch selbst verlort und eure Menschlichkeit begreifen lerntet, gabt ihr eure Mythen und Lieder auf, als müßte ein hochstehendes Wesen wie ihr entweder ein Priesterkönig oder ein Untier sein. Euer Hochmut verlangte nach der Vollkommenheit des Mythos oder nach der Vollkommenheit des denkbar tiefsten Abstiegs. Konntet ihr nicht die Höchsten sein, wolltet ihr prompt am allertiefsten sinken; konntet ihr nicht als die besten gelten, kam nichts anderes als die Position des Schlechtesten in Frage; gab es keinen Mythos, durfte es gar nichts mehr geben.« Samos fuhr leise fort: »Zwischen den Ideenwelten der Dichter und dem Zuschnappen und Schnüffeln von Tieren existiert sehr viel.«

»Was?« fragte ich.

»Der Mensch.«

Ich blickte über die Stadt und sah die Venna und die Tela im Hafenbecken liegen und dahinter das Meerestor und die Kanäle und die zahlreichen Dächer. Es wurde hell. Ein neuer Tag begann.

»Warum wurde ich nach Port Kar geholt?« fragte ich.

»Zur Vorbereitung auf deine Aufgabe«, sagte Samos.

»Welche Aufgabe?«

»Da du nicht mehr in den Diensten der Priesterkönige stehen willst«, sagte Samos, »ist es sinnlos, davon zu sprechen.«

»Welche Aufgabe?« verlangte ich zu wissen.

»Ein Schiff muß gebaut werden, das sich von allen anderen unterscheidet.«

Ich starrte ihn an.

»Ein Schiff, das über das Ende der Welt hinaus segeln kann.«

Dies war ein Ausdruck aus dem Ersten Wissen von Gor, eine Bezeichnung für das Meer, einige hundert Pasang westlich von Cos und Tyros, wo es keinen Schiffsverkehr mehr gibt.

Samos wußte natürlich ebensogut wie ich, wie beschränkt das Erste Wissen war. Ihm war die Kugelgestalt Gors bekannt. Ich wußte nicht, warum die Menschen nicht in das Meer westlich von Cos und Tyros vorstießen. Auch Telima, die im Hause Samos’ vom Zweiten Wissen erfahren hatte, kannte den Ausdruck ›Ende der Welt‹ als eine metaphorische Bezeichnung für unerforschte Gegenden. In gewisser Weise endete die goreanische Welt im Westen aber wirklich dort, so wie sie im Osten mit den Voltai-Bergen abschloß. Dies waren die Grenzen des bekannten Gor im Osten und im Westen. Im tiefen Süden und Norden gab es nach goreanischer Auffassung nur den kalten Wind und Schnee, der über das endlose Eis getrieben wurde.

»Wer sollte so ein Schiff bauen?« fragte ich.

»Tersites.«

»Aber der ist verrückt.«

»Er ist ein Genie!«

»Ich diene den Priesterkönigen nicht mehr«, sagte ich.

»Gut«, sagte Samos und wandte sich zum Gehen. »Dann war eben alles umsonst. Ich wünsche euch alles Gute«, verabschiedete er sich über die Schulter.

»Ich wünsche dir alles Gute«, erwiderte ich.

Obwohl Telima einen eigenen Umhang trug, öffnete ich meinen Admiralsmantel und umschloß sie damit. So standen wir auf der Spitze des Wehrturms und schauten über die Stadt und sahen zu, wie die Dämmerung über die endlose schimmernde Weite des Thassa heraufkroch.

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