Lois McMaster Bujold Die Quaddies von Cay Habitat

KAPITEL 1

Der leuchtende Rand des Planeten Rodeo drehte sich schwindelerregend am Ausguckfenster der orbitalen Transferstation vorbei. Eine Frau, in der Leo Graf eine seiner Mitreisenden vom Sprungschiff erkannte, spähte ein paar Minuten lang erwartungsvoll hinaus, dann wandte sie sich ab, blinzelte, schluckte und setzte sich ziemlich abrupt auf einen der hellen, gepolsterten Sessel in der Wartehalle. Sie schloß die Augen, öffnete sie wieder und fing Leos Blick auf, verlegen zuckte sie die Achseln. Leo lächelte voller Mitgefühl. Da er selbst gegen die verschiedenen Raumfahrtkrankheiten immun war, übernahm er ihren Platz an dem kristallklaren Aussichtsfenster.

Eine spärliche Wolkendecke wirbelte tief unten durch die dünne Atmosphäre und verhüllte kaum die ausgedehnten Flächen roten Wüstensandes. Rodeo war eine marginale Welt; auf ihr gab es nur die Bergwerks- und Bohranlagen von Galac-Tech und deren Unterstützungseinrichtungen. Aber was tat er hier? fragte sich Leo aufs neue. Unterirdische Operationen gehörten kaum zu seinem Fachgebiet. Als Folge der Rotation der Station glitt der Planet aus dem Gesichtskreis. Leo ging zu einem anderen Fenster, um einen Blick nach innen, auf die Nabe der radförmigen Station, zu bekommen. Dabei bemerkte er die Belastungspunkte und überlegte, wann sie wohl zuletzt auf sich unsichtbar ausdehnende Risse geröntgt worden waren. Die zentrifugalen Gravitationskräfte hier am Rand, wo sich der Wartesaal für Passagiere befand, schienen etwa nur die Hälfte des Erdstandards zu betragen; das war vielleicht ein bißchen leicht. War die Beanspruchung absichtlich reduziert worden, da man Probleme in der Konstruktion voraussah? Aber er war hier als Ausbilder, hatte man ihm in der Galac-Tech-Zentrale auf der Erde gesagt, um Unterricht in Qualitätskontrollverfahren für Schweißen und Konstruktion in der Schwerelosigkeit zu geben. Wen sollte er unterrichten? Warum hier, am Ende der Welt? ›Das Cay-Projekt‹ war eine seltsam nichtssagende Bezeichnung für seinen Auftrag.

»Leo Graf?«

Leo wandte sich um. »Ja?«

Der Sprecher war groß und dunkelhaarig, vielleicht dreißig, vielleicht vierzig Jahre alt. Er trug konservativ modische Zivilkleidung, aber eine unauffällige Anstecknadel wies ihn als einen Mitarbeiter der Gesellschaft aus. Hervorragender Typ eines firmentreuen Angestellten, urteilte Leo. Die Hand, die der Mann Leo zur Begrüßung entgegenstreckte, war gleichmäßig gebräunt, aber weich. »Ich bin Bruce Van Atta.«

Leos kräftige Hand war bleich, aber mit braunen Flecken übersät. An die Vierzig, schneidig und stämmig, trug Leo einen bequemen roten Firmenoverall, teils, um sich unauffällig unter die Arbeiter zu mischen, die er beaufsichtigte, vor allem aber, damit er nie Zeit und Gedanken auf die Entscheidung zu verschwenden brauchte, was er am Morgen anziehen sollte. ›Graf‹ stand auf dem Namensschild auf seiner linken Brusttasche, so daß seine Identität kein Geheimnis darstellte. »Willkommen auf Rodeo, dem dreckigsten Loch des Universums«, sagte Van Atta grinsend.

»Danke.« Automatisch erwiderte Leo das Lächeln.

»Ich bin jetzt der Leiter des Cay-Projekts; ich werde Ihr Boss sein«, erläuterte Van Atta. »Ich habe Sie persönlich angefordert, wissen Sie. Sie werden mir helfen, diesen Bereich endlich auf Trab und auf Touren zu bringen, den Leuten hier Feuer unterm Arsch zu machen. Sie sind wie ich, das weiß ich, Sie haben keine Geduld mit Mehlsäcken. Ein Mordsjob, was man mir hier aufgehalst hat, diesen Bereich profitabel zu machen — aber wenn ich es schaffe, dann bin ich ein gemachter Mann.« »Mich angefordert?« Der Gedanke, daß sein Ruf ihm vorausgeeilt sei, war ja ein Ansporn, aber warum konnte man nicht mal von jemandem angefordert werden, der in einer Gartenlandschaft residierte? Ach, na ja… »In der Zentrale hat man mir gesagt, daß ich hierher geschickt werde, um eine erweiterte Version meines Kurzkurses über nichtdestruktives Testen abzuhalten.« »Ist das alles, was man Ihnen gesagt hat?«, fragte Van Atta erstaunt. Als Leo bejahend die Achseln zuckte, warf er den Kopf zurück und lachte. »Sicherheitsgründe, nehme ich an«, fuhr Van Atta fort, nachdem er aufgehört hatte zu glucksen. »Da steht Ihnen ja noch eine Überraschung bevor. Nun gut, ich werde sie nicht verderben.« Van Attas verschmitztes Grinsen war so irritierend wie ein freundschaftlicher Rippenstoß.

Zu freundschaftlich — verdammt, dachte Leo, dieser Bursche kennt mich von irgendwo her. Und er denkt, ich kenne ihn auch… Leos höfliches Lächeln erstarrte in sanfter Panik. In seinem achtzehnjährigen Berufsleben war er Tausenden von Galac-Tech-Mitarbeitern begegnet. Vielleicht würde Van Atta bald etwas sagen, um die Möglichkeiten einzuengen.

»Meine Instruktionen führten einen Dr. Cay als den nominellen Leiter des Cay-Projektes auf«, sondierte Leo. »Werde ich ihn treffen?«

»Veraltete Informationen«, sagte Van Atta. »Dr. Cay ist letztes Jahr gestorben — einige Jahre nach dem Zeitpunkt, wo er meiner Meinung nach hätte zwangsweise pensioniert werden sollen, aber er war ein Vizepräsident und Hauptaktionär und fest in der Firma verwurzelt — doch das ist der Schnee von gestern. Ich bin sein Nachfolger.« Van Atta schüttelte den Kopf. »Aber ich kann es kaum erwarten zu sehen, was für ein Gesicht Sie machen, wenn Sie sehen — kommen Sie mit. Ich habe ein privates Shuttle für uns.«


Abgesehen vom Piloten hatten sie das für sechs Mann bestimmte Personalshuttle für sich allein. Der Passagiersitz verformte sich während der kurzen Perioden der Beschleunigung und paßte sich Leos Körper an. Diese Perioden waren sehr kurz; offensichtlich wurde nicht zum Wiedereintritt in die Planetenatmosphäre gebremst. Rodeo drehte sich unter ihnen und blieb weiter zurück.

»Wohin fliegen wir?«, fragte Leo Van Atta, der neben ihm saß.

»Ah«, sagte Van Atta. »Sehen Sie das Pünktchen etwa dreißig Grad über dem Horizont? Beobachten Sie es. Das ist die Heimatbasis für das Cay-Projekt.« Das Pünktchen wuchs schnell zu einer ausgedehnten chaotischen Struktur heran, voller Winkel und vorspringender Teile; seine scharf abgegrenzten Schatten waren mit konfettibunten Lichtern übersät. Leos erfahrene Augen machten Anhaltspunkte für die Funktion der Konstruktion aus, die Tanks, die Luken, die Treibhausfilter, die in der Sonne blinkten, die Größe der Sonnenkollektoren im Vergleich zum geschätzten Volumen der Struktur.

»Ein Habitat in der Umlaufbahn?«

»Sie haben’s kapiert«, sagte Van Atta.

»Es ist riesig.«

»Das kann man wohl sagen. Wie viele Leute passen da Ihrer Meinung nach rein?«

»Oh — fünfzehnhundert.«

Van Atta hob die Augenbrauen, vielleicht etwas enttäuscht darüber, daß er keine Korrektur anbringen konnte. »Fast exakt. Vierhundertundvierundneunzig turnusmäßig wechselnde Galac-Tech-Mitarbeiter und tausend ständige Bewohner.«

Leos Lippen wiederholten das Wort ›ständig‹…

»Apropos Wechsel — wie erzielen Sie bei Ihren Leuten die Null-Ge-Dekonditionierung? Ich…« — seine Augen wanderten über die enorm große Struktur — »ich sehe gar kein Trainingsrad. Gibt es keinen rotierenden Turnraum?«

»Es gibt einen Null-Ge-Sportraum. Das wechselnde Personal bekommt nach jeder Dreimonatsschicht einen Monat Aufenthalt auf dem Planeten.«

»Das ist teuer.«

»Aber wir haben das Habitat dort droben für weniger als ein Viertel der Kosten von Unterkünften gleichen Volumens in Ein-Ge-Kreiseln errichtet.«

»Aber Sie werden sicher das, was Sie an den Baukosten gespart haben, im Laufe der Zeit an den Ausgaben für Personaltransport und medizinische Betreuung verlieren«, argumentierte Leo. »Die zusätzlichen Shuttleflüge, die langen Urlaube — jeder Pensionist, der sich bis zum Tage seines Todes einen Arm oder ein Bein bricht, wird Galac-Tech auf Erstattung der Kosten plus Schmerzensgeld verklagen, ganz egal, ob bei ihm eine signifikante Demineralisation der Knochen stattgefunden hat oder nicht.«

»Dieses Problem haben wir auch gelöst«, sagte Van Atta. »Ob die Lösung kosteneffektiv ist — nun, das sollen Sie und ich hier zu beweisen versuchen.«

Das Shuttle näherte sich behutsam einer Luke an der Seite des Habitats und legte mit einem beruhigend deutlichen Klicken an. Der Pilot schaltete seine Systeme ab und löste seinen Gurt, dann schwebte er an Leo und Van Atta vorbei und überprüfte die Lukenverschlüsse. »Bereit zum Aussteigen, Mr. Van Atta.«

»Danke, Grant.«

Leo löste seine Sitzgurte und dehnte und entspannte sich in der Gewichtslosigkeit, die ihm angenehm vertraut war. Ihm bereitete 0 Ge nicht die bedauerliche Übelkeit, die die Effizienz so vieler Angestellter untergrub. Unten auf einem Planeten war Leos Körper ganz normal; aber hier, wo Selbstbeherrschung und Übung und Intelligenz mehr zählten als Kraft, da war er endlich ein Athlet. Er lächelte in sich hinein und folgte Van Atta von Handgriff zu Handgriff und durch die Luke des Shuttles.

Ein Techniker mit rötlichem Gesicht bediente eine Steuertafel direkt am Beginn des Lukenkorridors. Er trug ein rotes T-Shirt mit dem Logo von Galac-Tech über der linken Brust. Die kurzgeschnittenen dichten blonden Locken erinnerten Leo an einen Schafspelz; vielleicht war das eine Wirkung des offensichtlich jugendlichen Alters des Mannes.

»Hallo, Tony«, grüßte ihn Van Atta mit munterer Vertrautheit. »Guten Tag, Mr. Van Atta«, erwiderte der junge Mann respektvoll. Er lächelte Leo an und signalisierte mit einer Kopfhebung pantomimisch den Wunsch, Van Atta möge sie miteinander bekanntmachen. »Ist das der neue Lehrer, von dem Sie uns erzählt haben?«

»Ja, das ist er. Leo Graf, das ist Tony — er wird zu Ihren ersten Kursteilnehmern gehören. Er ist einer der ständigen Bewohner des Habitats«, fügte Van Atta mit besonderem Nachdruck hinzu. »Tony ist Schweißer und Löter, im zweiten Grad — und arbeitet, um den ersten Grad zu erreichen, nicht wahr, Tony? Gib Mr. Graf die Hand!«

Van Atta grinste. Leo hatte den Eindruck, Van Atta wäre auf den Absätzen gehüpft, wenn er sich nicht in der Schwerelosigkeit befunden hätte.

Tony gehorchte und zog sich über die Steuertafel hoch. Er trug rote Shorts…

Leo blinzelte und hielt geschockt den Atem an. Der Junge hatte keine Beine. Aus seinen Shorts ragte ein weiteres Paar Arme hervor.

Funktionsfähige Arme; er benutzte eben jetzt seine… — seine untere linke Hand, vermutete Leo, müßte er sie wohl nennen —, um sich festzuhalten, während er sich Leo entgegenstreckte. Sein Lächeln war völlig unbefangen. Leo hatte seinen eigenen Griff losgelassen und mußte ihn herumtastend wiedersuchen und reckte sich linkisch, um die dargebotene Hand zu ergreifen. »Guten Tag«, brachte er heiser hervor. Es war fast unmöglich, nicht auf die unteren Gliedmaßen des Jungen zu starren. Leo zwang sich, seinen Blick auf die lebhaften blauen Augen des jungen Mannes zu richten. »Hallo, Sir. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Tonys Händedruck war schüchtern, aber ehrlich, seine Hand trocken und stark.

»Hm…«, stotterte Leo, »hm, wie ist Ihr Familienname… äh… Tony?« »Oh, Tony ist nur mein Spitzname, Sir. Meine volle Bezeichnung ist TY-776-424-XG.«

»Dann… hm… werde ich Sie wohl Tony nennen«, murmelte Leo, zunehmend verblüfft. Van Atta kam ihm nicht zu Hilfe, sondern schien Leos Unbehagen ganz und gar zu genießen.

»So nennt mich jeder«, sagte Tony liebenswürdig.

»Hol Mr. Grafs Reisetasche, ja, Tony?«, sagte Van Atta. »Kommen Sie, Leo, ich werde Ihnen Ihr Quartier zeigen, und dann können wir den großen Rundgang machen.«

Leo folgte seinem schwebenden Führer in den Querkorridor, auf den er wies, und blickte mit erneutem Erstaunen über die Schulter zurück auf Tony, der sich genau auf der anderen Seite des Raumes abstieß und durch die Shuttleluke schwang. »Das«, Leo schluckte, »das ist der ungewöhnlichste Geburtsfehler, den ich je gesehen habe. Da hatte jemand eine geniale Idee, ihm einen Job in der Schwerelosigkeit zu besorgen. Auf dem Planeten wäre er ein Krüppel.« »Geburtsfehler.« Van Atta Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Ja, so kann man es beschreiben. Ich wünschte, Sie hätten den Ausdruck auf Ihrem Gesicht sehen können, als er plötzlich auftauchte. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Selbstbeherrschung. Ich mußte fast kotzen, als ich zum erstenmal einen sah, und ich war darauf vorbereitet. Man gewöhnt sich allerdings ziemlich schnell an die kleinen Schimpansen.«

»Gibt es mehr als einen?«

Van Atta öffnete und schloß seine Hände in einer Geste des Zählens. »Ein rundes Tausend. Die erste Generation von Galac-Techs neuen Superarbeitern. Das Spiel heißt Biotechnik, Leo. Und ich habe vor, dabei zu gewinnen.«

Tony, der mit seiner unteren rechten Hand Leos Reisetasche hielt, sauste in dem zylindrischen Korridor zwischen Leo und Van Atta hindurch und bremste vor ihnen mit drei flinken Berührungen der Handgriffe, an denen er vorüberschwebte.

»Mr. Van Atta, kann ich auf dem Weg zum Besucherflügel Mr. Graf jemandem vorstellen? Es ist kein großer Umweg — nur zur Hydrokultur.«

Van Atta schürzte die Lippen, dann verzog er sie zu einem freundlichen Lächeln. »Warum nicht? Die Hydrokultur steht sowieso auf dem Programm für unseren Rundgang heute nachmittag.«

»Danke, Sir«, rief Tony und sauste mit Begeisterung los, um am Ende des Korridors die Luftsicherheitsschleuse vor ihnen zu öffnen. Er wartete, bis sie hindurch waren, und schloß sie dann hinter ihnen auf der anderen Seite.

Leo richtete seine Aufmerksamkeit auf die Umgebung; er hielt dies für weniger taktlos, als den Jungen verstohlen zu mustern. Das Habitat war in der Tat billig gebaut, es bestand zum größten Teil aus vorgefertigten Modulen, die auf verschiedene Weise miteinander kombiniert waren. Kein sonderlich ästhetisch eleganter Bauplan — eine gewisse kunterbunte Zufälligkeit ließ erkennen, daß das Habitat seit seiner Gründung anscheinend organisch gewachsen war: hier und da waren Einheiten angefügt worden, um neue Bedürfnisse zu befriedigen. Aber gerade seine primitive Anordnung enthielt Sicherheitsvorteile, die Leo gut fand, zum Beispiel die Auswechselbarkeit der luftdicht abschließenden Module.

Sie kamen an Flügeln mit Schlafräumen vorbei, an Küchen- und Speisebereichen, an einer Werkstatt für kleine Reparaturen — Leo hielt kurz inne, um in sie hineinzuschauen, und mußte sich dann beeilen, um seinen Führer wieder einzuholen. Anders als in den meisten schwerelosen Lebensräumen, in denen Leo gearbeitet hatte, bemühte man sich hier nicht, ein willkürliches Oben und Unten beizubehalten, um der optischen Psychologie der Bewohner entgegenzukommen. Die meisten Räume waren zylindrisch konstruiert, wobei die Arbeits- und Lagerbereiche effizient die Wände besetzt hielten und die Mitte frei von Hindernissen gehalten wurde, als Passage für die — na ja, man konnte sie wohl kaum Fußgänger nennen. Unterwegs kamen sie an ein paar Dutzend der — der Vierhändigen vorbei, der neuen Modellarbeiter, Tonys Leute, oder wie immer sie genannt wurden — hatten sie, überlegte Leo, eine offizielle Bezeichnung? Er starrte sie verstohlen an und brach immer den Blickkontakt ab, wenn einer von ihnen den Blick erwiderte, was oft vorkam; sie starrten ihn offen an und flüsterten miteinander.

Er verstand, warum Van Atta sie Schimpansen nannte. Sie hatten schmale Hüften, da ihnen die kräftigen lokomotorischen Gesäßmuskeln fehlten, die Menschen mit Beinen hatten. Das untere Paar Arme tendierte sowohl bei den männlichen wie bei den weiblichen Individuen dazu, muskulöser zu sein als das obere. Sie waren kraftvolle Greiforgane und erschienen deshalb auf den ersten Blick kurz im Vergleich zu den oberen Armen; wenn Leo die Augen zusammenkniff, verschwammen sie zu O-Beinen. Die Vierhändigen trugen meist die bequeme, praktische Kleidung wie Tony, T-Shirt und Shorts, deren Farben offensichtlich einen Code darstellten, denn Leo kam an einer Gruppe vorbei, die alle gelb gekleidet waren und sich aufmerksam um einen normalen Menschen in einem Galac-Tech-Overall scharten, der eine Pumpe zerlegt hatte und über ihre Funktion und Reparatur dozierte. Leo fühlte sich an eine Schar Kanarienvögel erinnert, an fliegende Eichhörnchen, an Affen, Spinnen, flinke lebhafte Eidechsen, die geradewegs eine Wand hochlaufen können.

Er fühlte den Impuls zu schreien, fast zu weinen, und doch lag es nicht an ihren Armen oder den flinken, zu vielen Händen. Er hatte fast die Abteilung Hydrokultur erreicht, bevor er sein intensives Unbehagen analysieren konnte. Es waren ihre Gesichter, die ihn so beunruhigten, erkannte Leo. Es waren die Gesichter von Kindern…

Eine Tür mit der Aufschrift ›Hydrokultur D‹ glitt zur Seite und gewährte den Blick auf einen Vorraum und einen großen, luftigen Hauptraum, der etwa fünfzehn Meter lang war. Filterfenster auf der Sonnenseite und eine Reihe von Spiegeln auf der dunklen Seite füllten den Raum mit funkelndem Licht, das von grünen Pflanzen gedämpft wurde, die in einem sorgsam arrangierten Ensemble von Pflanzrohren wuchsen. Die Luft roch stark nach Chemikalien und Vegetation.

Ein Paar der vierarmigen jungen Frauen, beide in Blau gekleidet, war im Vorraum an der Arbeit. Ein plexiplastisches Pflanzrohr von drei Metern Länge war da fest verankert, und sie schwebten an ihm entlang und pflanzten winzige Sprößlinge aus einer Keimbox in eine spiralförmige Folge von Löchern in dem Rohr um, eine Pflanze pro Loch, und befestigten sie mit einem elastischen Dichtungsmittel um jeden zarten Stengel. Die Wurzeln würden nach innen, in das Rohr hinein, wachsen und zu einem verknäuelten Geflecht werden, das den hydroponischen Sprühregen aus Nährmitteln aufsog, der durch das Rohr gepumpt wurde, und die Stämme und Blätter würden sich im Sonnenlicht zu Büschen entwickeln und schließlich die Früchte tragen, die ihrer genetischen Bestimmung entsprachen. Hier wahrscheinlich Äpfel mit Geweih, dachte Leo in einer sanften Hysterie, oder Kartoffeln mit Augen, die einem freundlich zublinzelten.

Das dunkelhaarige Mädchen hielt inne, um ein Bündel unter seinem Arm zurechtzurücken… Leo blieb der Verstand stehen: Das Bündel war ein Baby.

Ein lebendiges Baby — natürlich war es lebendig, was erwartete er denn? fragte sich Leo insgeheim. Das Kleine spähte um den Rumpf — seiner Mutter? — herum, beäugte mißtrauisch den Fremden und packte mit allen vier Händen seine Heimatbasis fester, wobei es mit einem abwehrenden Griff auch eine der Brüste des Mädchens faßte, als befürchtete es Konkurrenz. »Ack, ack«, stieß es aggressiv hervor.

»Au!« Das dunkelhaarige Mädchen lachte und löste mit einer unteren Hand die kleinen, dicken Finger, ohne daß die oberen Hände auch nur einen Moment ihre Tätigkeit unterbrachen, nämlich das Dichtungsmittel rings um einen Stengel festzuklopfen. Sie beendete den Arbeitsgang mit einem schnellen Spritzer eines Fixativs aus einer Tube, die praktischerweise neben ihr schwebte, außerhalb der Reichweite des Kindes.

Das Mädchen war schlank, elfenhaft und für Leos Augen, die einen solchen Anblick nicht gewohnt waren, seltsam unirdisch. Ihr kurzes feines Haar schmiegte sich eng an ihren Kopf, umrahmte ihr Gesicht und lief in ihrem Nacken in eine Spitze aus. Es war so dicht, daß es Leo an ein Katzenfell erinnerte: man konnte es streicheln und dadurch besänftigt werden.

Das andere Mädchen war blond und hatte kein Baby. Sie blickte als erste auf und lächelte. »Besuch kommt, Ciaire.«

Das Gesicht des dunkelhaarigen Mädchens strahlte freudig und warm. Leo errötete. »Tony!«, rief sie glücklich, und Leo erkannte, daß er nur eine zufällige Dosis dieses Freudenstrahls abbekommen hatte, als der über ihn hinwegstrich auf sein eigentliches Ziel zu.

Das Baby löste drei Hände und winkte mit ihnen eifrig. »Ah, ah!« Die junge Mutter wandte sich in der Luft um, den Besuchern zu. »Ah, ah, ah!«, wiederholte das Baby.

»Oh, schon gut«, lachte die als Ciaire Angesprochene. »Du möchtest zu Pappi fliegen, nicht wahr?« Sie hakte eine kurze Leine los, die von einer Art weichem Gurtwerk am Rumpf des Babys zu einem Gürtel um ihre eigene Taille lief, und hielt das Baby ausgestreckt. »Zu Pappi fliegen, Andy? Zu Pappi fliegen?«

Das Baby zeigte seine Begeisterung für den Vorschlag, indem es lebhaft mit allen vier Händen herumwedelte und eifrig quiekste. Ciaire schubste das Baby in Richtung auf Tony los, und das mit beträchtlich höherer Geschwindigkeit, als Leo es gewagt hätte. Tony, der fröhlich grinste, fing das Kleine geschickt auf.

»Zu Mammi fliegen?«, fragte Tony seinerseits. »Ah, ah«, stimmte das Baby zu, und Tony setzte es in der Luft ab, zog zart seine Arme in die Länge — wie wenn man einen Seestern geradezieht, dachte Leo — und versetzte sie in eine Drehung, die das Baby wie ein Rad durch die Luft rollen ließ. Es ballte die Fäuste, zog in einer synchronen Anstrengung den Kopf ein und drehte sich schneller, und lachte dann gurgelnd über den Erfolg seiner Bemühungen. Bewahrung des Winkelmoments, dachte Leo. Natürlich…

Ciaire warf das Kind ein weiteresmal seinem Vater zu — es war verblüffend, in diesem blonden Jungen einen Vater zu sehen — und folgte selbst hinterher. Sie bremste und hielt in Tuchfühlung mit Tony an, der automatisch ihr hilfreich eine Hand entgegenstreckte. Daß die beiden sich dann weiter an den Händen hielten, war deutlich mehr als nur ein höfliches Haltgeben.

»Ciaire, das ist Mr. Graf«, stellte Tony ihn vor, doch es klang eher, als präsentierte er stolz einen Preis. »Er wird mich in fortgeschrittenen Schweißtechniken unterrichten. Mr. Graf, das ist Ciaire, und hier ist unser Sohn Andy.« Andy war auf den Kopf seines Vaters geklettert, steckte eine Hand in Tonys blondes Haar, faßte mit einer anderen eines seiner Ohren und blinzelte Leo zu wie eine kleine Eule. Tony befreite sanft sein Ohr und lenkte den Griff des Kleinen auf den Stoff seines roten T-Shirts. »Ciaire war ausgewählt worden, um unter uns die allererste natürliche Mutter zu werden«, fuhr Tony stolz fort.

»Ich und vier andere Mädchen«, verbesserte Ciaire bescheiden.

»Ciaire war auch in der Schweißerabteilung, aber jetzt kann sie nicht mehr draußen arbeiten«, erklärte Tony. »Seit Andy geboren ist, arbeitet sie in der Hauswirtschaft, in der Ökotrophologie und der Hydrokultur.«

»Dr. Yei sagte, ich sei ein sehr wichtiges Experiment, um zu sehen, welche Arten von Produktivität am wenigsten beeinträchtigt werden, wenn ich mich gleichzeitig um Andy kümmere«, erklärte Ciaire. »Mir fehlt schon irgendwie die Außenarbeit — sie war aufregend —, aber mir gefällt es auch so. Mehr Abwechslung.«

Erfindet Galac-Tech die Frauenarbeit neu? dachte Leo verwirrt. Werden wir auch eine Forschungs- und Entwicklungsgruppe auf die Anwendungsmöglichkeiten des Feuers ansetzen? Aber ja, sie ist gewiß ein Experiment… Sein höfliches, zurückhaltendes Gesicht spiegelte seine Gedanken nicht wider. »Freut mich, dich kennenzulernen, Ciaire«, sagte er ernst.

Ciaire gab Tony einen Stups und nickte in Richtung auf ihre blonde Kollegin, die herübergeschwebt war, um sich der Gruppe anzuschließen.

»Oh — und das ist Silver«, fuhr Tony gehorsam fort. »Sie arbeitet die meiste Zeit in der Hydrokultur.« Silver nickte. Ihr mittelkurzes Haar legte sich in sanfte platinfarbene Wellen, und Leo überlegte, ob ihr Spitzname von ihrer Haarfarbe kam. Ihre Gesichtsknochen waren von jener kräftigen Art, die mit dreizehn hart und herb wirkt, mit dreiunddreißig jedoch fesselnd elegant, und dieser Übergang war noch nicht zur Hälfte vollzogen. Ihr blauer Blick war kühler und weniger schüchtern als der der vielbeschäftigten Ciaire, die schon ein neuer Wunsch ihres Sohnes ablenkte. Ciaire nahm das Baby wieder an sich und befestigte wieder seine Sicherheitsleine.

»Guten Tag, Mr. Van Atta«, fügte Silver ausdrücklich hinzu. Sie vollführte in der Luft eine Pirouette, mit Augen, die stumm riefen: Nehmen Sie mich wahr! Leo bemerkte, daß alle ihre zwanzig gepflegten Fingernägel rosa lackiert waren. Van Atta antwortete mit einem heimlichtuerischen und selbstgefälligen Lächeln: »Tag, Silver. Wie geht’s?«

»Nach dem Rohr hier müssen wir noch eins bepflanzen. Wir werden noch vor dem Schichtwechsel damit fertig sein«, erklärte Silver.

»Hübsch, hübsch«, sagte Van Atta freundlich. »Ach — denk dran, dich mit der richtigen Seite nach oben zu halten, wenn du mit einem Planetarier redest, Süße.«

Silver drehte sich schnell um, damit sie Van Attas Orientierung entsprach. Da der Raum radial eingerichtet war, bedeutete ›die richtige Seite nach oben‹ lediglich, sich parallel zu Van Atta ausrichten, stellte Leo nüchtern fest. Wo war er nur diesem Mann schon zuvor begegnet?

»Schön, macht weiter, Mädels.« Van Atta schwebte hinaus, Leo folgte ihm, und Tony bildete bedauernd die Nachhut, wobei er noch über die Schulter zurückblickte. Andy hatte seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Mutter gerichtet. Seine entschlossenen kleinen Hände suchten unter ihrem Hemd, auf dem in einer automatischen Reaktion dunkle Flecke erschienen. Anscheinend gab es da ein Stückchen uralter Biologie, das die Firma nicht verändert hatte. Die Milchspender waren sicherlich von vornherein dem Leben in der Schwerelosigkeit ideal angepaßt. Und selbst Windeln hatten in der Anfangszeit der Raumfahrt eine heroische Rolle gespielt, wie Leo gehört hatte.

Sein kurzes Amüsement verebbte, und er stieß sich ab, um Van Atta zu folgen, schweigend und nachdenklich. Er schob sein Urteil noch auf, beruhigte er sich selbst, er war nicht gelähmt. In der Zwischenzeit würde Schweigen den Zufluß von Informationen nicht behindern.


An Van Attas Habitat-Büro hielten sie an. Als sie eintraten, schaltete Van Atta die Lichter und die Belüftung ein. Aus dem schalen Geruch schloß Leo, daß das Büro nicht oft benutzt wurde. Der Projektleiter verbrachte wahrscheinlich den größten Teil seiner Zeit bequemer unten auf dem Planeten. Ein großes Aussichtsfenster umrahmte eine spektakuläre Sicht auf Rodeo.

»Ich bin in der Welt ein bißchen nach oben gekommen, seit wir uns das letztemal begegnet sind«, sagte Van Atta und blickte in die gleiche Richtung. Aus diesem Blickwinkel erzeugte die obere Atmosphäre an Rodeos Rand einige großartige prismatische Lichteffekte. »In mehrfachem Sinn. Mir macht es nichts aus, den Gefallen zu erwidern. Ein Mann an der Spitze muß sich daran erinnern, wie er dahin gekommen ist, meine ich. Noblesse oblige und dergleichen.« Van Attas hochgezogene Augenbrauen luden Leo ein, die Zufriedenheit zu teilen, mit der Van Atta sein Glück genoß.

Erinnern. Ganz recht. In Leo wuchs ein quälendes Unbehagen, da er sich an nichts erinnern konnte. Er lächelte stumm, und während Van Atta seine Kommunikationskonsole auf dem Schreibtisch aktivierte, benutzte er die Pause, um sich abzuwenden und eine langsame Runde höflichen Wartens durch den Raum zu absolvieren, als musterte er müßig dessen Einrichtung.

Eine kleine Plakette an der Wand fiel ihm ins Auge. Sie trug ein humorvolles Motto. Am sechsten Tag sah Gott, daß er nicht alles machen konnte, stand da, deshalb schuf er INGENIEURE. Leo prustete leicht amüsiert.

»Mir gefällt das auch«, bemerkte Van Atta, der aufgeschaut hatte, um nachzusehen, was der Grund für Leos Heiterkeit war. »Meine Exfrau hat es mir geschenkt. Das war praktisch das einzige Stück, das diese habgierige Schlampe nicht mitgenommen hat, als wir uns trennten.«

»Waren Sie ein…?« begann Leo und verschluckte das Wort ›Ingenieur‹, als er sich endlich erinnerte, und sich dann wunderte, wie er es je hatte vergessen können. Damals hatte er Van Atta jedoch als untergebenen Ingenieur gekannt, nicht als leitenden Vorgesetzten. War dieser aalglatte Draufgänger derselbe Idiot, den er ungeduldig die Treppe hinauf in die Verwaltung geschubst hatte, einfach, um ihn im Projekt auf der Morita-Station aus dem Weg zu bekommen — vor jetzt zehn, zwölf Jahren? Brucie-Baby. O ja. Oh, zum Teufel…

Van Attas Komkonsole gab ein paar Datendisketten frei, die er herausnahm. »Sie haben mich auf Trab gebracht. Ich habe immer gedacht, da Sie soviel Zeit mit Unterricht verbringen, müßte es Ihnen ein Gefühl der Befriedigung vermitteln zu sehen, wie einer Ihrer alten Schüler Erfolg hat.«

Van Atta war kaum fünf Jahre jünger als er. Leo unterdrückte eine tiefe Irritation — er war nicht der neunzigjährige pensionierte Sonntagsschullehrer dieses Bürohengstes, verdammt noch mal. Er war Ingenieur, der praktisch arbeitete und sich auch nicht scheute, sich die Hände schmutzig zu machen. Seine technische Arbeit kam der Perfektion so nahe, wie seine unnachgiebige Gewissenhaftigkeit es schaffte, seine Leistungen auf dem Gebiet der Sicherheit sprachen für sich selbst… Mit einem Seufzer ließ er seinen Ärger verrauchen. War es nicht immer so? Dutzende von Untergebenen hatte er erlebt, die sich vorankämpften, oft Männer, die er selbst ausgebildet hatte. Tja, und im Falle von Van Atta erschien es ihm als Schwäche und nicht als Grund zum Stolz.

Van Atta wirbelte ihm die Datendisketten durch den Raum zu. »Hier sind Ihr Dienstplan und Ihr Lehrplan. Kommen Sie, ich zeige Ihnen einen Teil der Geräte, mit denen Sie arbeiten werden. Galac-Tech hat zwei Projekte in Aussicht, auf die man endlich diese Quaddies[1] vom Cay-Projekt losschicken möchte.«

»Quaddies?«

»Der offizielle Spitzname.«

»Ist das nicht etwas… hm… abwertend?«

Van Atta starrte ihn an, dann prustete er. »Nein. Allerdings sollte man sie nicht laut ›Mutanten‹ nennen, denn nach dem Fiasko mit den militärischen Klonen von Nuovo Brasil herrscht eine genetische Paranoia. Dieses ganze Projekt hätte man viel bequemer auf der Erde durchführen können, wenn es dort nicht allerlei juristische Hysterie wegen der Manipulation menschlicher Gene gäbe. Wie dem auch sei, die Projekte also. Eines besteht darin, im Orbit um Orient IV Sprungschiffe zusammenzubauen, ein anderes, eine Transferanlage im tiefen Raum zu errichten, in einem Nexus irgendwo weit draußen jenseits von Tau Ceti namens Station Kline — eine unangenehme Arbeit, denn in diesem System gibt es keine bewohnbaren Planeten und seine Sonne ist ausgeglüht, aber der Lokalraum verfügt über nicht weniger als sechs Wurmlochausgänge. Möglicherweise sehr profitabel. Eine Menge zu schweißen unter den schwierigsten Bedingungen der Schwerelosigkeit…«

Leos kurzzeitige Besorgnis wich dem Interesse. Immer war es die Arbeit selbst, die ihn in Bann schlug, nicht die Bezahlung und die Vergünstigungen. Zum Teufel mit den Privilegien eines leitenden Angestellten — bedeuteten die nicht meistens, daß man auf dem Planeten festhing? Er folgte Van Atta aus dem Büro hinaus in den Korridor, wo Tony noch geduldig mit Leos Gepäck wartete.


»Ich nehme an, es war die Entwicklung der Uterusreplikatoren, die all das ermöglicht hat«, meinte Van Atta, während Leo seine Sachen in seiner neuen Unterkunft verstaute. Die Kammer war mehr als nur eine bloße Schlafkabine; sie verfügte über private sanitäre Installationen, eine Komkonsole sowie eine bequem wirkende Schlafhalterung — bei diesem Job wird es keine morgendlichen Rückenschmerzen geben, dachte Leo mit einer gewissen Befriedigung. Kopfschmerzen waren ein anderes Problem.

»Ich hatte etwas über diese Dinger gehört«, sagte Leo. »Wieder eine Erfindung von Kolonie Beta, nicht wahr?« Van Atta nickte. »Die äußeren Welten werden neuerdings verdammt clever. Die Erde wird ihre Spitzenstellung verlieren, wenn man sich dort nicht zusammenreißt.« Nur allzu wahr, dachte Leo. Aber die Geschichte der Innovationen legte den Gedanken nahe, daß dies ein unvermeidliches Muster war. Ein Management, das in ein System riesige Kapitalmengen investiert hatte, rangierte es nur sehr ungern aus, und so setzten sich die Zuspätgekommenen an die Spitze — zur Frustration der loyalen Ingenieure… »Ich hatte gedacht, die Verwendung von Uterusreplikatoren sei auf geburtshilfliche Notfälle beschränkt.« »Tatsächlich besteht die einzige Einschränkung für ihren Gebrauch darin, daß sie schrecklich teuer sind«, sagte Van Atta. »Es ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis reiche Frauen überall anfangen, sich ihren biologischen Pflichten zu entziehen und ihre Kinder in solchen Replikatoren zusammenzubrauen. Aber für Galac-Tech bedeutete es, daß endlich Experimente in der Humanbiotechnik durchgeführt werden konnten, ohne daß man eine Menge verrückter Leihmütter engagieren mußte, um die eingepflanzten Embryos auszutragen. Eine hübsche, saubere, beherrschbare ingenieurmäßige Methode. Noch besser: diese Quaddies sind totale Konstrukte — das heißt, ihre Gene wurden aus so vielen Quellen genommen, daß es auch unmöglich ist, ihre genetischen Eltern zu identifizieren. Das erspart eine Menge juristischen Kummer.«

»Ganz gewiß«, sagte Leo matt.

»Wie ich gehört habe, war diese ganze Geschichte die Obsession von Dr. Cay. Ich bin ihm nie begegnet, aber er muß einer von diesen charismatischen Typen gewesen sein, wissen Sie, daß er ein Projekt durchboxen konnte, das eine solche enorme Vorlaufzeit hat, bevor es einen Gewinn abwirft. Der erste Schub wird gerade zwanzig. Die Extraarme sind der wildeste Teil…«

»Ich habe mir oft gewünscht, ich hätte vier Hände, in der Schwerelosigkeit«, murmelte Leo und versuchte dabei, nicht zu unsicher zu klingen. »… aber die meisten Änderungen betrafen dieses ganze Stoffwechselzeugs. Sie bekommen nie Kinetose — da wurde irgendwie das vestibuläre System umgestaltet — und ihre Muskeln bewahren ihren Tonus bei einem Bewegungspensum von lediglich fünfzehn Minuten maximal am Tag — kein Vergleich mit den Stunden, die Sie und ich während eines langen Aufenthalts bei 0 Ge einzulegen hätten. Ihre Knochen werden überhaupt nicht in Mitleidenschaft gezogen. Sie sind sogar noch resistenter gegen Strahlung als wir. Knochenmark und Gonaden vertragen vier- oder fünfmal soviel Rem, wie wir absorbieren können, bis Galac-Tech uns runter auf den Planeten holt — obwohl die Mediziner darauf drängen, daß die Quaddies ihre Fortpflanzung früh in ihrem Leben erledigen, solange alle diese teuren Gene noch ursprünglich sind. Danach ist das ein richtig warmer Regen für uns: Arbeiter, die nie einen Urlaub auf dem Planeten brauchen, so gesund, daß sie immer weiter und weiter machen, keine hohen Kosten mehr wegen Fluktuation von Arbeitskräften; sie reproduzieren sich sogar selbst.« Van Atta kicherte. Leo brachte die letzten seiner wenigen persönlichen Habseligkeiten unter. »Wohin… kommen sie, wenn sie… hm… in Ruhestand gehen?«, fragte er vorsichtig.

Van Atta hob die Schultern. »Vermutlich wird die Firma da etwas ausarbeiten müssen, wenn die Zeit kommt. Glücklicherweise ist das nicht mein Problem; ich werde vor ihnen in Ruhestand gehen.«

»Was geschieht, wenn sie — kündigen, woandershin gehen? Angenommen, jemand bietet ihnen eine bessere Bezahlung? Galac-Tech hat ja in die ganze Forschung und Entwicklung sehr viel investiert.«

»Ach so. Ich glaube, Sie haben noch nicht ganz kapiert, wie schön der ganze Plan ist. Die kündigen nicht. Sie sind keine Angestellten, sondern lebendes Inventar. Sie werden nicht mit Geld bezahlt — obwohl ich mir wünsche, mein Gehalt würde dem entsprechen, was Galac-Tech pro Jahr für den Unterhalt der Quaddies ausgibt. Aber das wird besser werden, wenn der letzte Schub aus den Replikatoren älter wird und sich selber unterhält. Man hat die Produktion neuer Quaddies vor etwa fünf Jahren eingestellt, sehen Sie, in Erwartung, daß diese Aufgabe ihnen selber übertragen wird.« Van Atta leckte die Lippen und hob die Augenbrauen, als freue er sich über einen deftigen Witz. Leo konnte nicht bedauern, daß ihm die Pointe entging. Er wandte sich um, rollte sich in der Luft zusammen und überkreuzte die Arme. »Die Raumfahrergewerkschaft wird es Sklavenarbeit nennen, wissen Sie«, sagte er schließlich.

»Die Gewerkschaft wird noch schlimmere Bezeichnungen dafür haben. Ihre Produktivität wird schlecht aussehen«, knurrte Van Atta. »Scheißgerede mit lauter Reizwörtern. Diese kleinen Schimpansen haben Sicherheit von der Wiege bis zum Grab. Galac-Tech könnte sie nicht besser behandeln, wenn sie aus massivem Platin hergestellt würden. Sie und ich, wir sollten so gut behandelt werden, Leo.«

»Ach ja«, sagte Leo nur.

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