KAPITEL 9

Leo streckte sich, um aus dem Ausguckfenster des Frachtschubschiffes einen Blick auf die Transferstation zu werfen, die schnell größer wurde. Verdammt. Das wöchentliche Passagierschiff von Orient IV war schon an der Nabe des Rades angedockt. Da es neu angekommen war, war es zweifellos noch in der Phase des Entladens, aber nichts erschien Leo für einen Piloten — oder Expiloten — wie Ti wahrscheinlicher, als sich früh zu einem Besuch an Bord einzuladen, um heimlich zu kiebitzen.

Das Sprungschiff entzog sich wieder ihrer Sicht, als sie zu der ihnen zugewiesenen Shuttleluke eine Spirale um die Station flogen. Die Quaddie, die das Schubschiff steuerte, ein dunkelhaariges, kupferhäutiges Mädchen namens Zara, deren T-Shirt und Shorts die purpurne Farbe der Schubschiffmannschaften trugen, dockte das Schiff geschickt an und ließ es sanft in die Klampen auf der Landespeiche einklicken. Leo war endlich bereit zu glauben, daß Zara zu den besten unter den Schubschiffpiloten gehörte, trotz seiner Bedenken wegen ihres Alters: sie war knapp fünfzehn.

Der sanfte Beschleunigungsvektor aus der Drehung der Station machte sich ruckartig bemerkbar, und Leos gepolsterter Sessel schwenkte in seiner kardanischen Aufhängung in die neu definierte ›aufrechte‹ Stellung. Zara grinste Leo über die Schulter zu; es war deutlich, daß sie die Empfindung genoß. Silver, die neben Zara auf einem den Formen der Quaddies angepaßten Beschleunigungssitz saß, sah etwas unsicherer drein.

Zara beendete die Litanei des formellen Prüfdialogs mit der Flugkontrolle der Transferstation und schaltete ihre Systeme ab. Leo seufzte — unlogischerweise — erleichtert, daß die Flugkontrolle nicht bei dem vage formulierten Zweck ihres angemeldeten Fluges nachgehakt hatte: ›Abholen von Material für das Cay-Habitat.‹ Es gab keinen Grund für eine eingehendere Nachfrage. Leo war noch weit davon entfernt, seine Befugnisse zu überschreiten. Noch.

»Paß mal auf, Silver«, sagte Zara und ließ einen Lichtgriffel fallen. Er fiel langsam auf den gepolsterten Streifen an der Wand, die jetzt den Boden darstellte, und prallte in einem eleganten Bogen zurück. Zaras untere Hand fing ihn in der Luft auf.

Leo wartete geduldig, während Silver es auch einmal versuchte, dann sagte er: »Los. Wir müssen Ti erwischen.«

»Stimmt.« Silver zog sich mit den oberen Händen an ihrer Kopfstütze hoch, schwang ihre unteren Hände aus dem Sitz und zögerte. Leo schüttelte seine grauen Trainingshosen aus, die er zu diesem Zweck mitgebracht hatte, und half ihr behutsam, sie über ihre unteren Arme bis zu ihrer Taille hochzuziehen. Sie winkte mit ihren unteren Händen, und die Enden der Hosenbeine flatterten hin und her. Sie machte eine Grimasse, denn die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit durch die Stoffröhren war ungewohnt.

»In Ordnung, Silver«, sagte Leo, »jetzt die Schuhe, die du dir von dem Mädchen ausgeborgt hast, das die Hydrokultur leitet.«

»Ich habe sie Zara gegeben, damit sie sie verstaut.«

»O je«, sagte Zara. Eine ihrer oberen Hände fuhr zu den Lippen.

»Was?«

»Ich habe sie in der Andockbucht gelassen.«

»Zara!«

»Es tut mir leid …«

Silver stieß den Atem aus. »Vielleicht Ihre Schuhe, Leo«, schlug sie vor.

»Ich weiß nicht …« Leo zog seine Schuhe aus, und mit Zaras Hilfe schlüpften Silvers untere Hände in die Schuhe.

»Wie sehen sie aus?«, fragte Silver ängstlich.

Zara zog die Nase kraus. »Sie sehen ein bißchen groß aus.«

Leo drehte sich um und sah ihre Spiegelung in dem verdunkelten Fenster. Silvers Hände sahen in den Schuhen absurd aus. Leo schaute auf seine Füße, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. Sahen sie an ihm auch so absurd aus? Seine Socken erschienen ihm plötzlich wie riesige weiße Würmer. Füße waren verrückte Anhängsel. »Vergiß die Schuhe. Gib sie mir wieder. Es genügt, wenn die Hosenbeine deine Hände verdecken.«

»Was ist, wenn jemand fragt, was mit meinen Füßen passiert ist?«, fragte Silver besorgt. »Sie sind amputiert worden«, schlug Leo vor, »nach schrecklichen Erfrierungen, die du dir bei deinem Urlaub in der Antarktis zugezogen hast.«

»Ist das nicht auf der Erde? Was ist, wenn man anfängt, mir über die Erde Fragen zu stellen?«

»Dann werde ich — werde ich den Betreffenden wegen seiner Unhöflichkeit zur Schnecke machen. Aber die meisten Leute sind ziemlich gehemmt, solche Fragen zu stellen. Wir können immer noch die ursprüngliche Geschichte erzählen, daß dein Rollstuhl auf der Reise verlorengegangen sei und daß wir unterwegs sind, um ihn wiederzuholen. Das wird man glauben. Los!« Leo wandte ihr den Rücken zu. »Alles aufsteigen!« Sie schlang ihre oberen Arme um seinen Hals, klammerte sich mit den unteren um seine Taille und vertraute ihm vorsichtig ihr neu gefundenes Gewicht an. Ihr Atem war warm und kitzelte sein Ohr.

Sie schlüpften durch das Verbindungsrohr und betraten die Transferstation. Leo ging auf das Aufzugsrohr zu, das entlang der Speiche bis zu dem Rand verlief, wo sich die Ruheräume für Durchreisende befanden.

Leo wartete auf einen leeren Aufzug. Aber er hielt wieder an, und andere Leute kamen herein. Leo wurde kurz von der Befürchtung gepackt, daß Silver vielleicht ein freundliches Gespräch mit jemandem anfing — er hätte ihr ausdrücklich sagen sollen, sie solle nicht mit Fremden sprechen —, aber sie blieb scheu und reserviert. Einige Leute von der Transferstation starrten sie unbehaglicherweise verstohlen an, aber Leo blickte kühl an die Wand, und niemand versuchte, das Schweigen zu brechen.

Leo schwankte, als er den Aufzug am Außenrand verließ, wo die Gravitation maximiert war. Obwohl er es kaum zugeben wollte, hatte die Dekonditionierung von drei Monaten in der Schwerelosigkeit doch ihre unvermeidlichen Effekte gehabt. Aber bei 0,5 Ge brachte nicht einmal Silvers Gewicht ihrer beider Gesamtgewicht auf seine Erdennorm, sagte sich Leo eisern. Er schlurfte so schnell wie möglich aus dem belebten Vorraum weg.

Leo klopfte an die numerierte Schlafraumtür. Sie öffnete sich. Eine männliche Stimme fragte: »Ja, was ist?« Sie hatten den Sprungpiloten gefunden. Leo setzte ein einladendes Lächeln auf und sie traten ein.

Ti lag aufgestützt auf dem Bett, in dunklen Hosen, T-Shirt und Socken, und hatte einen Handprojektor in der Hand. Er blickte leicht irritiert auf Leo, den er nicht kannte, dann machte er große Augen, als er Silver sah. Leo setzte Silver so unzeremoniös wie eine Katze am Fußende des Bettes ab, ließ sich auf den einzigen Stuhl fallen, den es in dem Raum gab, und hielt den Atem an. »Ti Gulik. Ich muß mit Ihnen reden.«

Ti war zum Kopfende des Bettes zurückgewichen und hatte die Knie hochgezogen. Der Handprojektor lag an der Seite und war vergessen. »Silver! Was, um alles in der Welt, tust du hier? Wer ist dieser Kerl?« Er wies mit dem Daumen auf Leo. »Das ist Leo Graf, Tonys Lehrer in der Schweißtechnik«, antwortete Silver. Versuchsweise rollte sie sich auf den Bauch und stützte sich mit ihren oberen Händen auf. »Ein seltsames Gefühl.« Sie hob die oberen Hände und balancierte. Leo kam sie vor wie ein Seehund auf einem Dreifuß, der von ihren unteren Armen gebildet wurde. »Huch.« Sie stützte sich wieder mit den oberen Händen auf dem Bett auf und nahm eine hundeähnliche Stellung ein. Ihr feines Haar lag ganz flach; die Schwerkraft hatte ihr all ihre Grazie genommen. Es gab keinen Zweifel: Quaddies gehörten in die Schwerelosigkeit.

»Wir brauchen Ihre Hilfe, Leutnant Gulik«, begann Leo, sobald er konnte. »Verzweifelt.«

»Wer ist wir?«, fragte Ti mißtrauisch.

»Die Quaddies.« »Ha«, sagte Ti düster. »Also, erstens möchte ich darauf hinweisen, daß ich nicht mehr Leutnant Gulik bin. Ich bin bloß Ti Gulik, arbeitslos und wahrscheinlich ohne Aussicht auf Arbeit. Dank der Quaddies. Oder zumindest dank einer Quaddie.« Er blickte finster auf Silver.

»Ich habe ihnen gesagt, daß es nicht deine Schuld war«, sagte Silver. »Sie wollten nicht auf mich hören.«

»Du hättest wenigstens für mich einspringen können«, sagte Ti verdrießlich. »Du schuldest mir soviel.«

Nach ihrem Gesichtsausdruck zu schließen, war es genauso, als hätte er sie geschlagen. »Halten Sie sich mal zurück, Gulik«, knurrte Leo. »Silver wurde unter Drogen gesetzt und gefoltert, damit man ihr das Geständnis entlocken konnte. Mir scheint, wenn hier jemand einem etwas schuldet, dann ist es andersherum.«

Ti wurde rot im Gesicht. Leo verkniff sich weitere ungehaltene Bemerkungen. Sie konnten es sich nicht leisten, den Sprungpiloten zu vergraulen; sie brauchten ihn viel zu sehr. Außerdem war dies nicht das Gespräch, auf das Leo sich vorbereitet hatte. Ti sollte Silvers Blumenaugen zuliebe durch den Reifen springen — sicherlich mußte er auf einen Appell zu ihren Gunsten reagieren. Wenn der junge Flegel sie nicht zu schätzen wußte, dann verdiente er es nicht, sie zu haben — Leo zwang seine Gedanken wieder zu der Sache zurück, um die es ging.

»Haben Sie schon von dieser neuen Schwerkraftfeldtechnologie gehört?«, begann Leo erneut.

»Ein bißchen«, gab Ti vorsichtig zu.

»Nun, sie hat das Cay-Projekt gekillt. Galac-Tech steigt aus der Quaddie-Sache aus.«

»Was? Na ja, das macht Sinn.«

Leo wartete einen Herzschlag lang auf die logisch nächste Frage, aber sie kam nicht. Ti war kein Idiot, folglich hielt er sich absichtlich zurück. Leo machte unnachgiebig weiter: »Man plant, die Quaddies auf Rodeo hinunter zu verfrachten, in eine verlassene Arbeiterkaserne …« Er wiederholte das Szenario, das er vor einer Woche Pramod beschrieben hatte, und versuchte, von Tis Miene seine Wirkung abzulesen.

Das Gesicht des Piloten blieb verschlossen und unbeteiligt. »Nun, das tut mir sehr leid für sie«, er schaute Silver nicht an, »aber ich kann überhaupt nicht sehen, was ich dabei tun soll. In sechs Stunden verlasse ich Rodeo auf Nimmerwiedersehen — was mir übrigens nichts ausmacht. Für mich ist es eine Abfallgrube.«

»Silver und die Quaddies werden in diese Grube geworfen und dann wird der Deckel über ihnen festgeklemmt. Und das einzige Verbrechen, das sie begangen haben, ist technologisch obsolet zu sein. Bedeutet das Ihnen gar nichts?«, schrie Leo hitzig.

Ti richtete sich empört kerzengerade auf. »Sie wollen mit mir über etwas reden, das technologisch obsolet ist? Ich werde Ihnen etwas technologisch Obsoletes zeigen. Das hier!« Seine Hand berührte die Anschlüsse seines Implantats in der Mitte der Stirn und an den Schläfen und die Kanüle in seinem Nacken. »Das! Ich habe zwei Jahre lang ein Training mitgemacht und ein Jahr auf die Operation zur Einpflanzung meines Sprungpilotensets gewartet. Es ist eine Tensor-Bitcode-Version, weil Galac-Tech dieses Sprungsystem verwendet und auch einen Teil der Kosten übernommen hat. Trans-Stellar Transport und ein paar unabhängige Firmen benutzen es ebenfalls. Alle anderen im Universum stellen sich auf Necklin-Colordrive ein. Wissen Sie, wie hoch meine Chancen sind, von TST angestellt zu werden, nachdem ich von Galac-Tech gefeuert wurde? Null. Nix. Nada. Wenn ich die Stelle eines Sprungpiloten haben möchte, dann muß das hier chirurgisch entfernt werden und ich brauche ein neues Implantat. Ohne Job kann ich mir kein Implantat leisten. Ohne ein Implantat kann ich keinen Job bekommen. Scher dich zum Teufel, Ti Gulik!« Er saß da und keuchte.

Leo lehnte sich vor. »Ich gebe Ihnen eine Pilotenkabine, Gulik«, sagte er deutlich. »Auf dem größten Sprungschiff, das je fliegen wird.« Bevor der Pilot ihn unterbrechen konnte, schilderte er schnell und detailliert seine Vision von der Umwandlung des Habitats in ein Kolonieschiff. »Da ist alles vorhanden. Alles, was wir noch brauchen, ist ein Pilot. Ein Pilot, der sich an das Galac-Tech-Flugsystem anhängen kann. Alles, was wir brauchen, sind — Sie!«

Ti blickte ganz entsetzt drein. »Das ist nicht nur heller Wahnsinn, wovon Sie reden, das ist — schwerer Diebstahl! Haben Sie eine Vorstellung, wieviel die ganze Konfiguration wert wäre? Man würde Sie bis zum nächsten Jahrtausend nicht mehr aus dem Gefängnis rauslassen!« »Ich werde nicht ins Gefängnis gehen. Ich reise mit den Quaddies zu den Sternen.«

»Sie werden in einer Gummizelle landen.«

»Was wir vorhaben, ist kein Verbrechen. Das ist Krieg, oder so etwas ähnliches. Ein Verbrechen ist es, wenn Sie den Quaddies den Rücken zukehren und weggehen.«

»Nicht nach den Gesetzen, die ich kenne.«

»Also gut, dann ist es eine Sünde.«

»O Mann!« Ti rollte mit den Augen. »Jetzt kommt es heraus. Sie sind von Gott beauftragt worden, nicht wahr? Lassen Sie mich bitte an der nächsten Station aussteigen.«

Gott ist nicht hier. Jemand muß seine Arbeit übernehmen. Leo ließ schnell von diesem Gedankengang ab. Gummizellen, ja wirklich. »Ich hatte gedacht, Sie wären in Silver verliebt. Wie können Sie sie einem langsamen Tod überlassen?«

»Ti ist nicht in mich verliebt«, unterbrach Silver überrascht. »Wie sind Sie denn auf diese Idee gekommen, Leo?«

Ti schaute sie unsicher an. »Nein, natürlich nicht«, stimmte er matt zu. »Du … äh … du hast es immer gewußt, nicht wahr? Wir hatten nur eine kleine Abmachung, die für beide Seiten nützlich war, das ist alles.«

»Das stimmt«, bestätigte Silver. »Ich habe Bücher und Vids bekommen, Ti bekam Erleichterung von physiologischem Stress. Männliche Planetarier brauchen Sex, um gesund zu bleiben, wissen Sie, sie werden mit Stress nicht fertig. Stress zerrüttet sie. Das liegt vermutlich an den wilden Genen.«

»Wer hat denn diesen Quatsch aufgebracht …?«, begann Leo und brach dann ab. »Ach, lassen wir’s.« Er konnte es sich schon vorstellen. Er schloß die Augen, massierte sie mit den Fingerspitzen und suchte den verlorenen Faden wiederzufinden. »Ja, richtig. Für Sie ist Silver also … ein Wegwerfprodukt. Wie ein Papiertaschentuch. Einmal reinschneuzen und dann wegwerfen.«

Ti blickte pikiert drein. »Geben Sie es auf, Graf. Ich bin nicht schlechter als alle anderen.«

»Aber ich gebe Ihnen eine Chance, besser zu sein, verstehen Sie das nicht …«

»Leo«, unterbrach Silver ihn erneut. Sie lag jetzt auf dem Bauch ausgestreckt auf dem Bett und hatte ihr Kinn linkisch in eine obere Hand gestützt. »Sobald wir zu unserem Asteroidengürtel gekommen sind — wo auch immer der sein mag —, was tun wir dann mit dem Supersprungschiff?«

»Dem Supersprungschiff?«

»Wir werden dann doch das Habitat davon abmontieren und es sicherlich wieder auseinanderfalten und weiter daran bauen — die Sprungeinheit würde einfach im Orbit parken. Können wir sie nicht Ti geben?«

»Was?«, sagten Leo und Ti wie aus einem Munde.

»Als Bezahlung. Er dirigiert für uns die Sprünge zu unserem Ziel und bekommt dafür das Sprungschiff. Dann kann er seiner Wege gehen und Pilot-Eigner werden, seine eigene Transportfirma aufmachen, wie es ihm gefällt.«

»In einem gestohlenen Schiff?«, schrie Ti auf.

»Wenn wir weit genug weg sind, so daß Galac-Tech uns nicht einholen kann, dann sind wir auch weit genug weg, daß Galac-Tech dich nicht einholen kann«, sagte Silver logisch. »Dann hast du ein Schiff, das zu deinem neuralen Implantat paßt, und niemand wird dich je wieder entlassen können, weil du dann selbständig arbeitest.«

Leo biß sich auf die Zunge. Er hatte Silver ausdrücklich dazu mitgebracht, daß sie helfen sollte, Ti zu überreden — was machte es also aus, wenn sie nicht die Schmeicheleien sagte, die er sich vorgestellt hatte? Nach dem überraschten Ausdruck auf dem Gesicht des Piloten zu schließen, hatten sie endlich seinen roten Knopf entdeckt. Leo kniff die Augen zusammen und lächelte Silver ermutigend zu.

»Außerdem«, fuhr sie fort und zwinkerte Leo zu, »wenn wir mit dem Habitat und allem Drum und Dran den Sprung von hier weg schaffen, dann wird Mr. Van Atta ganz schön blamiert zurückbleiben.« Sie ließ ihren Kopf wieder auf das Bett gleiten und lächelte Ti von der Seite her zu.

»Oh«, sagte Ti in einem Ton, der nach Erleuchtung klang, »ah …« »Haben Sie Ihr Gepäck schon beisammen?«, fragte Leo hilfreich.

»Da drüben«, Ti deutete mit einem Nicken auf einen Stapel Gepäck in der Ecke. »Aber … aber … verdammt, wenn das schief geht, dann schlagen die mich ans Kreuz!« »Ach«, sagte Leo. »Hier, schauen Sie …« Er öffnete seinen roten Overall am Hals und holte die Laserlötpistole heraus, die er in einer Innentasche versteckt hatte. »Ich habe an dem Ding die Sicherung entfernt; es schießt jetzt einen extrem starken Strahl über eine beträchtliche Entfernung, bis die Atmosphäre ihn auflöst — sicher weiter als dieser Raum hier lang ist.« Er wedelte nachlässig damit herum; Ti duckte sich und riß die Augen auf. »Wenn wir verhaftet werden sollten, dann können Sie wahrheitsgemäß bezeugen, daß Sie von einem verrückten Ingenieur und seiner verrückten Mutantenassistentin mit vorgehaltener Waffe entführt und zur Mitarbeit gezwungen wurden. Sie können zu einem Helden werden — so oder so.«

Die verrückte Mutantenassistentin lächelte Ti strahlend zu, ihre Augen funkelten wie Sterne. »Sie … äh … würden dieses Ding da doch nicht wirklich abfeuern, oder?«, würgte Ti vorsichtig hervor.

»Natürlich nicht«, sagte Leo vergnügt und fletschte die Zähne. Dann steckte er die Lötpistole weg.

»Ah.« Ti reagierte mit einem kurzen Zucken seines Mundes. Aber seine Augen wanderten danach noch öfter zu der Ausbuchtung in Leos Overall.


Als sie wieder zu der Shuttleluke kamen, wo das Schubschiff angedockt lag, war Zara verschwunden. »O Gott«, stöhnte Leo. War sie davongewandert? Verloren gegangen? Gewaltsam weggebracht worden? Eine verzweifelte Durchsuchung ergab, daß sie keine Nachricht auf dem Kommunikator zugerückgelassen hatte; nirgendwo war ein Zettel angepinnt.

»Pilotin, sie ist eine Pilotin«, überlegte Leo laut. »Gibt es etwas, das sie vielleicht erledigen mußte? Wir haben eine Menge Treibstoff — die Kommunikation mit der Flugkontrolle erfolgt direkt von hier aus …« Es lief ihm eiskalt über den Rücken, als er erkannte, daß er ihr eigentlich nicht verboten hatte, das Schubschiff zu verlassen. Es war so selbstverständlich gewesen, daß sie außer Sicht und auf der Hut bleiben mußte. Selbstverständlich für ihn selbst, erkannte Leo. Wer konnte sagen, was für eine Quaddie selbstverständlich war?

»Ich könnte dieses Ding fliegen, wenn nötig«, sagte Ti in einem äußerst unaufdringlichen Ton und schaute sich das Steuerpult an. »Das ist alles manuell.«

»Darum geht es nicht«, sagte Leo. »Wir können nicht ohne sie abfliegen. Die Quaddies sollen überhaupt nicht hierherkommen. Wenn sie von den Behörden der Station aufgegriffen wird und wenn man anfängt, Fragen zu stellen — immer unter der Annahme, daß sie nicht von etwas Schlimmerem aufgegriffen wurde …«

»Was Schlimmeres?«

»Ich weiß nicht, was Schlimmeres; das ist ja das Problem.«

Silver hatte sich inzwischen von dem Beschleunigungssitz auf den Boden gerollt. Nach einem Moment nachdenklichen Probierens fand sie heraus, wie sie vierhändig vorwärts schlurfen konnte, und bewegte sich mit nachschleifenden Hosenbeinen an Leos Knien vorbei davon.

»Wohin gehst du?«

»Hinter Zara her.«

»Silver, bleib in dem Schiff. Es muß nicht sein, daß zwei von euch verschwinden, um Himmels willen«, befahl Leo streng. »Ti und ich können uns viel schneller bewegen; wir werden sie finden.«

»Das glaube ich nicht«, murmelte Silver abweisend.

Sie erreichte das Verbindungsrohr, blickte den Korridor auf und ab, der nach rechts und links abbog und die Speiche umkreiste. »Sehen Sie, ich glaube, daß sie nicht weit ist.« »Wenn sie in den Aufzug gestiegen ist, dann könnte sie inzwischen überall auf der Station sein«, sagte Ti. Silver erhob sich auf ihren unteren Armen wie auf einem Dreifuß, hob die oberen Arme über den Kopf und blickte sich mit zusammengekniffenen Augen im Vorraum vor dem Aufzug zu ihrer Linken um. »Es wäre für eine Quaddie schwer, die Steuerknöpfe zu erreichen. Außerdem würde sie wissen, daß hier die Wahrscheinlichkeit höher ist, auf einen Planetarier zu treffen. Ich glaube, sie ist in diese Richtung gegangen.« Sie hob das Kinn und schlurfte entschlossen auf allen vieren nach rechts. Einen Moment später wurde sie schneller, indem sie angesichts der niedrigen Schwerkraft in der Speiche ihre Gangart in eine Folge von gazellenartigen Sprüngen verwandelte. Leo und Ti sprangen notwendigerweise hinter ihr her. Leo kam sich absurderweise vor wie ein Mensch, der hinter einem flüchtigen Haustier herrennt. Es war eine optische Illusion der vierhändigen Fortbewegung — Quaddies sahen sogar in der Schwerelosigkeit menschlicher aus. Ein seltsames rollendes Geräusch näherte sich hinter der Biegung des Korridors. Silver schrie auf und schlitterte auf die Seite, gegen die Außenwand.

»Oh, tut mir leid!«, rief Zara, die bäuchlings mit erhobenem Kinn auf einer Rollpalette vorbeisauste, wobei sie alle vier Hände wie Schaufelräder einsetzte, um sich über das Deck zu bewegen. Das Bremsen erwies sich als schwieriger als die Beschleunigung, und Zara kam mit einem Krach neben Silver zum Stehen.

Leo eilte erschrocken zu ihnen hinüber, aber Zara hatte sich schon aufgerappelt und saß fröhlich neben ihrem fahrbaren Untersatz. Die Rollpalette war nicht einmal beschädigt.

»Schau mal, Silver«, sagte Zara und drehte die Palette um, »Räder! Ich frage mich, wie man mit der Reibung fertigwird, innen in diesen Gehäusen? Fühl mal, sie sind überhaupt nicht heiß.«

»Zara«, rief Leo, »warum hast du das Schiff verlassen?«

»Ich wollte sehen, wie eine Toilette für Planetarier aussieht«, sagte Zara, »aber es gab auf dieser Ebene keine. Alles, was ich fand, war eine Kammer mit Putzzeug und das hier«, sie klopfte auf die Palette. »Kann ich die Räder auseinandernehmen und schauen, was darinnen ist?«

»Nein!«, brüllte Leo. Sie blickte ziemlich verstimmt drein. »Aber ich möchte es wissen!«

»Nimm das Ding mit«, schlug Silver vor, »und nimm es dann später auseinander.« Ihre Augen wanderten den Korridor hinauf und hinab; es war ein gewisser Trost für Leo, daß wenigstens eine Quaddie den Druck spürte, der auf ihm lastete.

»Ja, später«, stimmte er zu, weil es ihm ratsam erschien. »Gehen wir jetzt.« Er klemmte die Rollpalette unter den Arm, um weitere Experimente zu verhindern. Die Quaddies schienen keine sehr klare Vorstellung von Privateigentum zu haben, überlegte er. Wahrscheinlich kam das davon, daß sie ihr ganzes Leben in einem gemeinschaftlichen Raumhabitat mit einer komprimierten Ökologie verbracht hatten. Planeten gehörten in Wirklichkeit auf gleiche Weise einer Gemeinschaft, nur waren durch ihre enorme Größe ihre Systeme so locker, daß diese Tatsache verschleiert wurde.

Denkgewohnheiten, in der Tat. Hier zerbrach er sich den Kopf über den Diebstahl einer Rollpalette, und gleichzeitig plante er den größten Weltraumraub in der menschlichen Geschichte. Ti wollte fast abhauen, als er herausfand, worin der Rest des Auftrags bestand, den sie für ihn vorgesehen hatten. Klugerweise klärte ihn Leo über diese Einzelheiten erst auf, als das Schubschiff die Transfer-Station verlassen hatte und auf halbem Wege zurück zum Habitat war.

»Ihr wollt, daß ich den Superjumper entführe!«, schrie Ti.

»Nein, nein«, besänftigte ihn Leo. »Sie sind nur als Berater dabei. Die Quaddies werden das Schiff in Besitz nehmen.«

»Aber ob ich mit heiler Haut davonkomme, hängt davon ab, ob sie können oder nicht …«

»Dann schlage ich Ihnen vor, daß Sie sie gut beraten.«

»Großer Gott!«

»Das Problem mit Ihnen, Ti, ist, daß Ihnen Unterrichtserfahrung fehlt«, dozierte Leo freundlich. »Wenn Sie die nämlich hätten, dann würden Sie darauf vertrauen, daß die unwahrscheinlichsten Leute die erstaunlichsten Dinge lernen können. Schließlich wurden Sie ja auch nicht als Sprungpilot geboren — und doch hingen Menschenleben davon ab, daß Sie es beim erstenmal richtig machten, und seitdem immer wieder. Jetzt werden Sie wissen, wie sich Ihre Ausbilder gefühlt haben, das ist alles.«

»Wie fühlen sich Ausbilder?«

Leo dämpfte seine Stimme und grinste. »Sie haben Angst. Schreckliche Angst.«


Ein zweites Schubschiff, vollgepackt mit Treibstoff und Vorräten für seinen Langstreckenausflug, wartete auf dem Nachbarplatz, als sie am Habitat andockten. Leo widerstand dem starken Impuls, Ti beiseite zu nehmen und ihn mit Ratschlägen und Anregungen für seine Mission zu überschütten. Leider waren ihre Erfahrungen im Diebstahl nur allzu vergleichbar — Null zu Null, egal, wie unterschiedlich die Anzahl der Dienstjahre war.

Sie schwebten durch die Luke in das Andockmodul und stießen dort auf einige besorgte Quaddies, die auf sie warteten.

»Ich habe noch mehr Lötpistolen modifiziert, Leo«, begann Pramod unnötigerweise zu erklären — drei seiner vier Hände drückten die improvisierten Waffen an seinen Leib. »Eine pro fünf Leute.«

Ciaire neben ihm beäugte die Waffen mit einer Mischung aus Furcht und Faszination.

»Gut. Gib sie Silver, sie wird sie verwahren, bis das Schubschiff das Wurmloch erreicht«, sagte Leo.

Sie hangelten sich an den Handgriffen zur nächsten Luke hinab. Zara schwang sich in das Schubschiff und begann mit den Startkontrollen.

Ti reckte nervös den Hals nach ihr. »Starten wir jetzt sofort?«

»Der Zeitfaktor ist kritisch«, sagte Leo. »Wir haben nicht mehr als vier Stunden, bis man auf der Transferstation Ihr Fehlen bemerkt.«

»Sollten wir nicht zuerst eine … eine Einsatzbesprechung oder sowas abhalten?«

Nach Leos Einschätzung hatte auch Ti Schwierigkeiten, sich dem freien Fall anzuvertrauen. Nun ja, ob man sprang oder gestoßen wurde, das würde nach dem Anfangsimpuls keinen Unterschied mehr machen.

»Sie werden fast vierundzwanzig Stunden haben und mit 1 Ge bis zur Hälfte der Strecke beschleunigen und dann wenden und den Rest des Weges bremsen, um Ihren Angriffsplan auszuarbeiten. Silver wird von Ihrer Kenntnis der Superjumper abhängen. Wir haben schon verschiedene Methoden diskutiert, mit denen wir den Überraschungseffekt erzielen können. Silver wird Sie informieren.«

»Oh, kommt Silver mit?«

»Silver hat das Kommando«, klärte Leo ihn sanft auf. Die verschiedensten Empfindungen zeichneten sich in Tis Gesicht ab, als letztes Entsetzen. »Zum Teufel!

Ich habe noch Zeit, zurückzufliegen und noch mein Schiff zu erreichen …«

»Und das«, fiel ihm Leo ins Wort, »ist genau der Grund, warum Silver die Leitung hat. Die Kaperung eines Frachtsprungschiffs ist das Signal für einen Quaddieaufstand hier auf dem Habitat. Und dieser Aufstand ist ihr Todesurteil. Wenn Galac-Tech herausfindet, daß es die Quaddies nicht unter Kontrolle bringen kann, dann wird die Firma so gut wie sicher versuchen, sie gewaltsam auszulöschen. Die Flucht muß gesichert sein, bevor wir die Hand heben. Das Schiff, das Sie schnappen müssen, ist dort draußen.« Leo zeigte es. »Ich kann mich auf Silver verlassen, daß sie sich daran erinnert. Sie, Ti«, Leo lächelte matt, »sind nicht schlimmer als alle anderen.«

Daraufhin gab Ti nach, wenn auch nicht sonderlich glücklich.

Silver, Zara, Siggy, ein besonders stämmiger Quaddie von den Schubschiffmannschaften namens Jon und Ti. Fünf, in ein Schiff gezwängt, das für eine Mannschaften von zweien gedacht und auf jeden Fall nicht für Übernachtungen eingerichtet war. Leo seufzte. An Bord der Supersprungschiffe waren ein Pilot und ein Ingenieur. Fünf zu zwei, damit standen die Chancen keineswegs schlecht, aber Leo wünschte sich, er hätte sie noch überwältigender zugunsten der Quaddies verschieben können.

Sie schlängelten sich durch das Anschlußrohr in das Schubschiff. Silver, die den Schluß machte, hielt an, um Pramod und Ciaire zu umarmen, die noch zum Abschied dageblieben waren.

»Wir werden Andy zurückbekommen«, murmelte Silver Ciaire zu. »Du wirst sehen.«

Ciaire nickte und umarmte Silver fest. Silver wandte sich zuletzt Leo zu, der unsicher auf das Anschlußrohr blickte, durch das die von ihm ausgewählte Mannschaft verschwand.

»Ich hatte gedacht, die Quaddies würden das schwache Glied bei dieser Entführung darstellen«, sagte Leo nervös, »aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Laß dich nicht von Ti unter Druck setzen, ja, Silver? Laß dich nicht von ihm entmutigen. Ihr müßt Erfolg haben.«

»Ich weiß. Ich werde mir Mühe geben. Leo … warum haben Sie gedacht, daß Ti in mich verliebt ist?«

»Ich weiß nicht … Ihr wart so vertraut miteinander — die Macht der Suggestion vielleicht. All diese romantischen Geschichten.«

»Ti liest keine romantischen Geschichten, er liest Ninja von den Zwillingssternen.«

»Warst du nicht in ihn verliebt? Zumindest am Anfang?«

Sie runzelte die Stirn. »Es war aufregend, mit ihm gegen die Regeln zu verstoßen. Aber Ti ist … na ja, ist eben Ti. Liebe wie in den Büchern — ich wußte immer, daß das nicht wirklich echt ist. Wenn ich mich bei unseren eigenen Planetariern umschaute, dann war niemand so wie in den Geschichten. Wahrscheinlich war es dumm von mir, daß ich diese Geschichten so gern hatte.«

»Ich nehme an, sie sind nicht realistisch — ich habe sie auch nicht gelesen, um die Wahrheit zu sagen. Aber es ist nicht dumm, sich mehr zu wünschen, Silver.«

»Mehr als was?«

Mehr als nur von einer Menge egozentrischer zweibeiniger Flegel übel behandelt zu werden. Wir sind nicht alle so … oder? Warum, um alles in der Welt, fühlte er sich jetzt gedrängt, eine seiner eigenen Lasten ihr aufzubürden, wo sie doch jetzt alle Konzentration für die Arbeit brauchte, die vor ihr lag? Leo schüttelte den Kopf. »Laß auf jeden Fall nicht zu, daß Ti sein Ninjazeugs nicht mit dem durcheinanderbringt, was ihr vollbringen wollt.« »Ich glaube, daß nicht einmal Ti die Mannschaft eines Sprungschiffs von Galac-Tech mit der Schwarzen Liga von Eridani verwechseln könnte«, sagte Silver.

Leo hätte sich mehr Sicherheit in ihrer Stimme gewünscht. »Also …«, er räusperte sich, seine Kehle war unerklärlicherweise wie zugeschnürt, »paß gut auf. Komm gesund zurück.«

»Geben Sie auch acht.« Sie umarmte ihn nicht wie Pramod und Ciaire.

»Wird gemacht.«

Und glaube nie, rief er in Gedanken hinter ihr her, als sie im Anschlußrohr verschwand, daß dich niemand lieben könnte, Silver … Aber es war zu spät, die Worte laut zu rufen. Das Geräusch, mit dem sich die luftdichten Türen schlossen, klang wie ein Seufzer des Bedauerns.

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