In einer Mischung aus Heiterkeit und Furcht hielt Silver die Armlehnen des Copilotensessels des Shuttles fest umklammert. Auf der Suche nach Halt krümmten sich ihre unteren Hände um den vorderen Rand des Sitzes. Die Verzögerung und die Gravitation zogen an ihr. Mit einer Hand überprüfte sie den Schnappverschluß des Schultergurts, der sie an den Sitz schmiegte, während das Shuttle seine Fluglage änderte, Bug nach unten, und der Boden sichtbar wurde. Rote Wüstenberge, felsig und abschrekkend, erhoben sich unter ihnen und flogen immer schneller vorbei, während sie tiefer sanken.
Ti saß neben ihr auf dem Sessel des Shuttlekommandanten, seine Hände und Füße bewegten die Steuerinstrumente unmerklich in winzigen, ständigen Korrekturen, dabei sprang sein Blick völlig konzentriert von Anzeige zu Anzeige und dann zum realen Horizont. Die Atmosphäre dröhnte über die Außenhaut des Shuttles, und eine vorüberwehende Bö schüttelte das Raumfahrzeug heftig. Silver begann zu begreifen, warum Leo trotz seiner ausdrücklichen Besorgnis über das Risiko, das es für sie alle darstellte, Ti auf dem Planeten zu verlieren, nicht Zara oder einen der anderen Schubschiffpiloten an Tis Stelle eingesetzt hatte. Selbst wenn man die Fußpedale außer acht ließ, war die Landung auf einem Planeten ganz entschieden eine andere Disziplin als das Herumdüsen in der Schwerelosigkeit, besonders in einem Flugkörper, der fast die Größe eines Habitatmoduls hatte.
»Da ist der Grund des ausgetrockneten Sees«, Ti deutete mit einem Nicken nach vorn und sprach zu ihr, ohne den Blick von seiner Arbeit abzuwenden. »Direkt am Horizont.« »Ist es — sehr viel schwieriger, als auf der Rollbahn eines Shuttlehafens zu landen?«, fragte Silver besorgt.
»Kein Problem.« Ti lächelte. »Wenn überhaupt, dann ist es leichter. Der See war nur eine große Pfütze — und ist sowieso einer unserer alternativen Landeplätze für Notfälle. Man muß nur den Rinnen am Nordende ausweichen, und dann haben wir es schon geschafft.«
»Oh«, sagte Silver beruhigt. »Ich hatte nicht gewußt, daß du schon zuvor hier draußen gelandet bist.«
»Nun, das bin ich auch nicht«, murmelte Ti, »denn ich habe noch keinen Notfall gehabt …« Er setzte sich noch konzentrierter hin und faßte die Steuerknüppel noch fester, und Silver beschloß, daß es vielleicht besser wäre, ihn jetzt nicht mit einer Fortsetzung des Gesprächs abzulenken.
Sie guckte um den Rand ihres Sitzes herum auf Dr. Minchenko, der hinter ihnen auf dem Platz des Flugingenieurs saß, um zu sehen, wie er dies alles aufnahm. Er reagierte mit einem ironischen Lächeln, als wollte er sie wegen ihrer Besorgnis necken, aber sie bemerkte, daß auch seine Hand die Sitzgurte überprüfte.
Der Boden kam schnell näher. Silver bedauerte es fast, daß sie letztlich mit dieser Landung nicht auf den Schutz der Dunkelheit gewartet hatten. Dann wären sie wenigstens nicht in der Lage gewesen, ihren Tod auf sich zukommen zu sehen. Natürlich konnte sie die Augen schließen. Sie machte sie zu, aber öffnete sie fast sofort wieder. Warum sollte man die letzte Erfahrung seines Lebens versäumen? Es tat ihr leid, daß Leo ihr gegenüber nie einen Annäherungsversuch gemacht hatte. Er mußte sicher auch unter Stressanhäufung leiden. Schneller und schneller …
Das Shuttle rumpelte, hüpfte, polterte, schwankte und dröhnte über die flache, rissige Oberfläche. Silver tat es leid, daß sie nie einen Annäherungsversuch Leo gegenüber gemacht hatte. Offensichtlich konnte man sterben, während man darauf wartete, daß andere Leute einem das Leben in Gang brachten. Ihre Sitzgurte schnitten ihr in die Brüste, während die Verlangsamung sie nach vorne zog und die rumpelnden Erschütterungen ihre Zähne klappern ließen.
»Nicht so glatt wie ein Rollfeld«, rief Ti, grinste und warf ihr endlich einen strahlenden Bick zu. »Aber gut genug für Firmenarbeit …« Also gut, niemand anderer schnatterte vor Schrecken, und vielleicht sollte eine Landung so sein. Sie rollten zu einem ganz ordentlichen Halt auf freier Strecke. Gezackte karminrote Berge säumten einen leeren Horizont. Schweigen herrschte.
»Nun«, sagte Ti, »da sind wir …« Er löste mit einem Klicken seine Gurte und wandte sich Dr. Minchenko zu, der sich aus dem Technikersessel hochrappelte. »Was jetzt? Wo ist sie?«
»Wenn Sie so nett wären«, sagte Dr. Minchenko, »und für uns mal die Umgebung abscannen …« Ein Panorama des Horizonts rollte ein paarmal über einen Monitor, während für Silvers Gehirn die Minuten verrannen. Die Schwerkraft, entdeckte Silver, war nicht halb so schlimm, wie Ciaire sie beschrieben hatte. Ihre Empfindung erinnerte sie sehr an die Zeit, die sie auf dem Weg zum Wurmloch unter Beschleunigung verbracht hatte, nur war es jetzt ganz still und es gab keine Vibrationen, oder es war wie auf der Transferstation, nur stärker. Es hätte ihr geholfen, wenn das Design des Sitzes ihrem Körperbau entsprochen hätte.
»Was ist, wenn die Flugkontrolle von Rodeo uns hat landen sehen?«, fragte sie. »Was ist, wenn Galac-Tech zuerst hierherkommt?«
»Es macht mir mehr Angst zu denken, daß die Flugkontrolle uns übersehen haben könnte«, sagte Ti. »Wenn es darum geht, wer zuerst hierherkommt — nun, Dr. Minchenko?«
»Mm«, sagte der Arzt niedergeschlagen. Dann hellte sich sein Gesicht auf, er beugte sich vor, hielt das Scannerbild an und deutet mit dem Finger auf einen kleinen Fleck auf dem Schirm, vielleicht 15 Kilometer entfernt.
»Ein Sandsturm?«, sagte Ti, der offensichtlich versuchte, seine Hoffnungen zu zügeln. Der Fleck wurde schärfer. »Ein Landrover«, sagte Dr. Minchenko und lächelte befriedigt. »O mein braves Mädchen.« Der Fleck wuchs sich zu einem brodelnden Wirbel orangefarbenen Staubs aus, der von einem dahinrasenden Landrover hochgeschleudert wurde. Fünf Minuten später hielt das Fahrzeug neben der vorderen Einstiegsluke des Shuttles an. Die Gestalt unter dem verstaubten, blasenförmigen Verdeck hielt inne, und legte eine Atemmaske an, dann ging das Verdeck hoch, und die Trittstufen wurden herabgeschwenkt.
Dr. Minchenko setzte seine Atemmaske auf und eilte, gefolgt von Ti, über die Stufen des Shuttles, um der zerbrechlichen, silberhaarigen Frau zu helfen, die sich mit einer Ansammlung seltsam geformter Pakete abmühte. Sie war offensichtlich froh, als sie alle den Männern überreichte, ausgenommen einen massiven schwarzen Kasten, der eher wie ein Löffel geformt war und den sie auf ziemlich ähnliche Weise an ihre Brust hielt, dachte Silver, wie Ciaire das Baby Andy. Dr. Minchenko führte seine Dame besorgt zur Luftschleuse hinauf — auf den Stufen bewegten sich ihre Knie steif — und hinein, wo sie endlich ihre Atemmasken abnehmen und klar mit einander sprechen konnten. »Alles mit dir in Ordnung, Warren?«, fragte Madame Minchenko.
»Vollkommen«, versicherte er ihr.
»Ich konnte fast nichts mitbringen — ich wußte kaum, was ich auswählen sollte.« »Denk bloß an die Menge Geld, die wir dann bei den Transportgebühren sparen werden.«
Silver war fasziniert von der Art und Weise, wie die Schwerkraft der Kleidung von Madame Minchenko Form verlieh. Sie war aus einem warmen, dunklen Stoff, hatte einen silbernen Gürtel um die Taille und hing in weichen Falten um ihre Knöchel, die in Stiefeln steckten. Der Rock schwang zu Madame Minchenkos Schritten hin und her, wie ein Echo ihrer Erregung.
»Es ist schierer Wahnsinn. Wir sind zu alt, um noch Flüchtlinge zu werden. Ich mußte mein Cembalo zurücklassen!«
Dr. Minchenko tätschelte ihr mitfühlend die Schulter. »In der Schwerelosigkeit würde es sowieso nicht funktionieren. Die kleinen Docken fallen nur unter Schwerkraft wieder an ihren Platz zurück.« Seine Stimme schnappte fast über vor Eindringlichkeit. »Aber man versucht meine Quaddies umzubringen, Ivy!«
»Ja, ja, ich verstehe …« Madame Minchenko blickte mit einem etwas gespannten und zerstreuten Lächeln auf Silver, die mit einer Hand an einem Gurt hing und zuhörte. »Du mußt wohl Silver sein.« »Ja, Madame Minchenko«, sagte Silver atemlos mit ihrer höflichsten Stimme. Diese Frau war die bei weitem älteste Planetarierin, die Silver je gesehen hatte, abgesehen von Dr. Minchenko und Dr. Cay selbst.
»Wir müssen jetzt los, um Tony zu holen«, sagte Dr. Minchenko. »Wir werden so schnell zurück sein, wie wir fahren können. Silver wird dir helfen, sie ist sehr gut. Haltet das Schiff!«
Die beiden Männer eilten wieder nach draußen, und binnen weniger Augenblicke raste der Landrover durch die öde Landschaft davon.
Silver und Madame Minchenko blieben zurück und blickten einander an.
»Tja«, sagte Madame Minchenko.
»Es tut mir leid, daß Sie all Ihre Sache zurücklassen müssen«, sagte Silver schüchtern.
»Hm. Nun ja, ich kann nicht sagen, daß es mir leidtut, von hier wegzugehen.« Madame Minchenkos Blick, der im Laderaum des Shuttles umherwanderte, schloß implizit Rodeo mit ein.
Sie gingen in den Pilotenraum und setzten sich hin; der Monitor scannte den monotonen Horizont. Madame Minchenko hielt immer noch den großen Kasten in Form eines Löffels in ihrem Schoß. Silver rutschte in ihrem falsch geformten Sitz herum und versuchte sich vorzustellen, wie es sein mochte, mit jemandem länger als das Doppelte ihres eigenen Lebensalters verheiratet zu sein. War Madame Minchenko einmal jung gewesen? Dr. Minchenko war sicher schon seit jeher alt.
»Wie sind Sie denn eigentlich dazu gekommen, Dr. Minchenko zu heiraten?«, fragte Silver.
»Das frage ich mich manchmal selbst«, murmelte Madame Minchenko trocken, halb für sich selbst.
»Waren Sie Krankenschwester oder Labortechnikerin?«
Sie blickte mit einem leichten Lächeln auf. »Nein, meine Liebe, ich war nie eine Biowissenschaftlerin. Gottseidank!« Ihre Hand liebkoste den schwarzen Kasten. »Ich bin so etwas wie eine Musikerin.« Silver reckte interessiert den Kopf. »Synthavids? Programmieren Sie? Wir hatten einige Synthavids in unserer Bibliothek, das heißt in der Bibliothek der Firma.«
Madame Minchenko verzog die Mundwinkel zu einem halben Lächeln. »In dem, was ich tue, gibt es nichts Synthetisches. Ich bin eine registrierte Künstlerin für die Aufführung alter Musik. Ich halte alte Fertigkeiten am Leben — stell mich dir als ein lebendiges Museumsstück vor, das etwas abgestaubt werden muß — nur ein paar Spinnweben hängen an meinem Ellbogen …« Sie öffnete ihren Kasten und ließ Silver hineinschauen. Lackiertes rötliches Holz, glatt wie Seide, fing die bunten Lichter der Pilotenkanzel auf und spiegelte sie wider. Madame Minchenko hob das Instrument und klemmte es unter ihr Kinn. »Das ist eine Violine.«
»Ich habe Bilder davon gesehen«, erinnerte sich Silver. »Ist sie echt?«
Madame Minchenko lächelte und zog ihren Bogen mit einer schnellen Folge von Tönen über die Saiten. Die Musik lief hinauf und hinab wie … wie Quaddiekinder im Turnsaal, das war der einzige Vergleich, der Silver einfiel. Die Lautstärke war erstaunlich. »Wo sind diese Drähte da oben an die Lautsprecher angeschlossen?«, wollte Silver wissen, stützte sich mit ihren oberen Händen hoch und reckte den Hals.
»Es gibt keine Lautsprecher. Der Klang kommt ganz allein aus dem Holz.«
»Aber er hat den ganzen Raum ausgefüllt!«
Madame Minchenko lächelte. »Dieses Instrument könnte einen ganzen Konzertsaal ausfüllen.«
»Spielen Sie … in Konzerten?«
»Einst, als ich jung war — in deinem Alter, vielleicht … Ich bin auf eine Schule gegangen, wo man solche Fertigkeiten gelehrt hat. Die einzige Musikschule auf meinem Planeten. Eine Kolonialwelt, weißt du, wo man wenig Zeit für Künste hatte. Es gab einen Wettbewerb — der Gewinner sollte zur Erde reisen dürfen und Schallaufzeichnungen machen. Was er im Folgenden auch tat. Aber die Tonträgergesellschaft, die diese Sache durchführte, war nur an dem allerbesten interessiert. Ich war die zweite. Es gibt nur für so wenige Platz …« Sie seufzte. »Ich blieb zurück mit einer erfreulichen persönlichen Leistung, die keiner hören wollte. Nicht, wenn sie nur eine Diskette auflegen mußten, um nicht nur den Besten meiner Welt, sondern den Besten der ganzen Galaxis zu hören. Glücklicherweise begegnete ich etwa um diese Zeit Warren. Mein dauernder Mäzen, mein ständiges Publikum. Wahrscheinlich war es gut, daß ich damals keine Karriere daraus machen wollte, wir zogen damals so oft um, als er sein Studium beendete und bei Galac-Tech zu arbeiten begann. Ich habe hier und da Unterricht gegeben, für Liebhaber alter Künste …« Sie neigte den Kopf Silver zu. »Und hat man euch Musik gelehrt, bei all den Dingen, die man euch auf diesem Satelliten beigebracht hat?«
»Wir haben einige Lieder gelernt, als wir klein waren«, sagte Silver scheu. »Und dann waren da noch die Blasflöten. Aber die gab es nicht lange.«
»Die Blasflöten?«
»Kleine Plastikdinger, in die man hineinblies. Die waren echt. Eine der Krippenmütter brachte sie mit herauf, als ich etwa … oh … acht war. Aber dann gelangten sie über das ganze Habitat, und die Leute beschwerten sich über das … hm … Geflöte. So mußte sie alle wieder mitnehmen.«
»Ich verstehe. Warren hat die Blasflöten nie erwähnt.« Madame Minchenkos Augenbrauen zuckten. »Ach … was für Lieder waren das?«
»Oh …« Silver holte Luft und sang: »Rog G. Biv, Rog G. Biv, er ist der Farbenquaddie, der das Spektrum ergibt: Rotorangegelb, grün und blau, indigo und violett, das ist nett …« Sie brach ab und errötete. Ihre Stimme klang so zittrig und schwach, im Vergleich zu dieser erstaunlichen Violine.
»Ich verstehe«, sagte Madame Minchenko mit einer seltsam verkrampften Stimme. Ihre Augen tanzten jedoch, so daß Silver nicht dachte, sie wäre beleidigt. »O Warren«, seufzte Madame Minchenko, »die Dinge, für die du verantwortlich bist …«
»Darf ich …?«, sagte Silver und brach ab. Sicher würde sie diese wertvolle Antiquität nicht berühren dürfen. Was, wenn sie für einen Moment vergaß, sie zu halten, und die Schwerkraft ihr die Violine aus der Hand zog?
»Einmal versuchen?«, beendete Madame Minchenko ihren Gedanken. »Warum nicht? Wir scheinen uns hier ein bißchen Zeit vertreiben zu müssen.«
»Ich habe Angst …«
»Ach was! Oh, auf die hier habe ich immer gut achtgegeben. Sie wurde jahrelang nicht gespielt, lag eingesperrt in einem Gewölbe mit Klimaanlage … tot. Dann habe ich in letzter Zeit mich zu fragen begonnen, wofür ich sie denn aufhebe. Hier, jetzt. Heb dein Kinn, so, klemm sie darunter, so«, Madame Minchenko legte Silvers Finger um den Hals der Violine. »Was für hübsche lange Finger du hast, meine Liebe. Und … hm … so viele. Ich überlege …«
»Was?«, fragte Silver, als Madame Minchenko verstummte.
»Hm? Oh. Ich sah gerade vor meinem geistigen Auge ein Bild von einem Quaddie in der Schwerelosigkeit mit einer zwölfsaitigen Gitarre. Wenn du nicht so in einen Sessel gequetscht wärst wie jetzt, dann könntest du mit dieser unteren Hand nach oben greifen …«
Es war vielleicht ein Trick des Lichts von Rodeos im Westen stehender Sonne, die auf den gezackten Horizont herabsank und ihre roten Strahlen durch das Kabinenfenster schickte, aber Madame Minchenkos Augen schienen zu leuchten. »Jetzt biege deine Finger, so …«
Feuer. Das erste Problem war gewesen, im Habitat genügend reinen Titan-Schrott zu finden, der der Masse des ruinierten Vortex-Spiegels hinzugefügt werden sollte, um die unvermeidlichen Verluste während der Wiederherstellung zu berücksichtigen. Ein Zusatz von vierzig Prozent Masse wäre ausreichend gewesen, damit Leo sich keine Sorgen zu machen brauchte. Es hätte eigentlich Vorratstanks aus Titan für gefährliche ätzende Flüssigkeiten geben müssen — ein einziger Tank von etwa hundert Litern hätte schon den Zweck erfüllt — Rohrleitungen, Ventile, irgendwas. Während der ersten verzweifelten Stunde der Suche war Leo überzeugt, daß sein Plan schon hier bei Stufe Eins scheitern würde. Dann fand er das Material ausgerechnet in der Abteilung Ernährung: einen Kühler voll von Vorratskanistern aus Titan, von denen jeder ein gutes halbes Kilo Masse hatte. Ihre verschiedenen Inhalte wurden hastig in alle Ersatzbehälter umgefüllt, die Leo und sein Quaddie-Stoßtrupp auftreiben konnten. »Das Saubermachen«, hatte Leo schuldbewußt über die Schulter dem erschrockenen Quaddiemädchen zugerufen, das jetzt die Abteilung Ernährung leitete, »überlassen wir als Übung den Schülern.«
Das zweite Problem war gewesen, einen Platz für die Arbeit zu finden. Pramod hatte auf eines der verlassenen Habitatmodule hingewiesen, einen Zylinder mit einem Durchmesser von etwa vier Metern. Es war die Arbeit von weiteren zwei Stunden gewesen, Löcher als Eingang in die Seite zu schneiden und das Modul am einen Ende mit all dem leitfähigen Schrottmetall vollzupacken, das sie finden konnten. Die Masse wurde dann mit einem Oberflächenbelag aus noch mehr Außenhülle eines aufgegebenen Habitatmoduls versehen, der so glatt wie Glas gehämmert worden war, wie sie es bei einer flachen konkaven Schale mit einer sorgfältig berechneten Biegung nur machen konnten, die sich jetzt über den Durchmesser des Moduls erstreckte.
Jetzt hing ihre Masse aus Titanschrott gewichtslos in der Mitte des Moduls. Die Bruchteile des Vortex-Spiegels und die plattgeschlagenen Nahrungskanister wurden zusammengehalten von einer Spule aus reinem Titan, die ein kluges Quaddiekind ihnen aus dem Lager angeschleift hatte. Das dichte graue Metall glitzerte und glühte unter ihren Arbeitslampen und dem Widerschein eines grellen Sonnenstrahls, der durch eines ihrer Eingangslöcher fiel.
Leo blickte sich zum letztenmal in der Kammer um. Vier Quaddies in Arbeitsanzügen bedienten jeweils eine Lasereinheit, die an den Wänden befestigt waren und die Titanmasse umgaben. Leos Meßinstrumente schwebten an einer Leine an seinem Gürtel, bereit für seine Hände in den Druckhandschuhen. Es war Zeit. Leo aktivierte über die Steuerung seines Helms die Verdunkelung seiner Gesichtsscheibe.
»Fangt zu feuern an«, sagte er in den Kommunikator seines Anzugs.
Gleichzeitig schossen vier Strahlen von Laserlicht in den Schrott. In den ersten paar Minuten schien nichts zu geschehen. Dann begann es zu glühen, dunkelrot, hellrot, gelb, weiß — dann begann sichtbar einer der früheren Nahrungskanister zu zerlaufen und in das Durcheinander zu fließen. Die Quaddies ließen auch weiterhin die Energie hineinströmen. Die Masse begann leicht zu wandern, wie Leo von seinen Anzeigen ablesen konnte, obwohl der Effekt für das bloße Auge noch nicht zu sehen war. »Einheit Vier, etwa zehn Prozent mehr Energie«, wies Leo an. Einer der Quaddies winkte bestätigend mit einer unteren Hand und betätigte seine Steuerung. Der Abtrieb hörte auf. Gut, seine Umklammerung funktionierte. Leo hatte eine Schrekkensvision gehabt, wie die geschmolzene Metallmasse gegen eine Seitenwand trieb, oder, noch schlimmer, jemanden lebensbedrohlich streifte, aber gerade die Strahlen, die sie schmolzen, schienen auszureichen, um ihre Bewegung unter Kontrolle zu halten, zumindest beim Fehlen eines stärkeren Bewegungsmoments. Jetzt war die Schmelze offensichtlich, das Metall wurde zu einem riesigen weißglühenden Tropfen Flüssigkeit, der im Vakuum schwebte und nach der Form einer vollkommenen Kugel strebte. Junge, dieses Zeug wird völlig rein sein, wenn wir fertig sind, überlegte Leo befriedigt.
Er schaute auf seine Überwachungsgeräte. Jetzt näherten sie sich einem Augenblick, wo eine kritische Entscheidung getroffen werden mußte: Wann sollten sie aufhören? Sie mußten genügend Energie hineinströmen lassen, um eine absolut einheitliche Schmelze zu erreichen, es durften keine komischen Klumpen mitten in der Soße übrigbleiben. Aber auch nicht zuviel; obwohl es für das Auge noch nicht sichtbar war, wußte Leo, daß jetzt Metalldampf aus dieser Blase strömte, Teil seines einkalkulierten Verlustes.
Wichtiger noch war, auf den nächsten Schritt zu achten — jede Kilokalorie, die sie in diese Titanmasse luden, mußte auch wieder herausgeholt werden. Auf dem Planeten, wäre die Form, die er anstrebte, in einer kupfernen Gußform hergestellt worden, mit Unmengen von Wasser, die die Hitze im gewünschten Tempo — in diesem Fall schnell — davontrugen; Einzelkristall-Spritzkühlung wurde das genannt. Nun ja, wenigstens hatte er herausbekommen, wie er den Teil des Spritzens dabei bewerkstelligte …
»Laser aus!«, befahl Leo.
Und da hing sie nun, ihre Kugel aus geschmolzenem Metall, blauweiß mit der heftigen Hitzeenergie in ihrem Innern, vollkommen rund. Leo prüfte mehrfach ihre zentrierte Position und ließ Laser Zwei noch einmal eine halbe Sekunde feuern, nicht zum Schmelzen, sondern um des Ruhemoments willen.
»In Ordnung«, sprach Leo in seinen Kommunikator. »Jetzt schaffen wir aus diesem Modul alles raus, was rausgeht, und überprüfen alles, was drinnenbleibt. Das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können, ist, daß jemand seinen Schraubenschlüssel in den Suppentopf fallen läßt, kapiert?«
Leo schloß sich den Quaddies an, die ihre Geräte zwanglos durch die Löcher in der Seitenwand des Moduls nach draußen schoben. Zwei seiner Laserbediener gingen mit hinaus, zwei blieben bei Leo. Er überprüfte erneut die Zentrierung und dann gurteten sie sich alle an die Wände.
Leo wechselte bei seinem Kommunikator auf einen anderen Kanal über. »Bereit, Zara?« rief er. »Bereit, Leo«, antwortete die Quaddiepilotin aus ihrem Schubschiff, das jetzt mit dem Heck des ausgeweideten Moduls verbunden war.
»Jetzt denk dran, langsam und sanft. Aber fest. Stell dir vor, dein Schubschiff ist ein Skalpell und du bist gerade dabei, eine deiner Freundinnen zu operieren oder sowas.«
»In Ordnung, Leo.« In ihrer Stimme klang ein Grinsen an. Gib nicht an, Mädchen, betete Leo stumm.
»Los, wenn du bereit bist.«
»Gestartet. Haltet euch fest da oben!« Zunächst gab es keine wahrnehmbare Veränderung. Dann begannen Leos Gurte sanft an ihm zu ziehen. Das Habitat-Modul bewegte sich, aber nicht die Kugel aus geschmolzenem Titan. Das Metall driftete nicht; die Rückwand bewegte sich vorwärts und umschloß sie.
Es funktionierte, bei Gott, es funktionierte! Die Metallblase berührte die Rückwand, breitete sich aus und senkte sich in die flache Schale.
»Beschleunigung um eine Stufe erhöhen«, rief Leo in seinen Kommunikator. Das Schubschiff beschleunigte und der Kreis aus geschmolzenem Titan dehnte sich aus, seine Ränder näherten sich dem erwünschten Durchmesser von etwa drei Metern, und sein helles Glühen ließ schon nach. So entstand ein Titanrohling von kontrollierter Dicke, der nach der Abkühlung bereit wäre zum explosiven Guß in seine endgültige heikle Form.
»Halt! Das reicht!« Spritzkühlung? Na ja, nicht direkt. Leo war sich unbehaglicherweise bewußt, daß sie wahrscheinlich im Innern keine vollkommene Einzelkristall-Erstarrung erzielen konnten. Aber sie würde gut sein, gut genug — solange sie gut genug war, daß sie nicht wieder alles einschmelzen und von vorn beginnen mußten, das war das Äußerste, worum Leo zu beten wagte. Sie hatten kaum Zeit, eines dieser Babies herzustellen. Nicht zwei. Und wann kam die angedrohte Reaktion von Rodeo? Sicher bald.
Er überlegte kurz, was die neue Gravitationstechnologie für Fabrikationsprobleme im All wie dem vorliegenden bedeutete. Revolution schien ein zu milder Ausdruck dafür zu sein. Schade, daß wir jetzt noch nichts davon haben, dachte er. Immerhin — er grinste im Schutze seines Helms — kamen sie ganz gut voran.
Er zielte mit seinem Temperaturmesser auf die Rückwand. Das Stück kühlte so schnell ab, wie er es erhofft hatte. Sie mußten noch ein paar Stunden abwarten, bis es genügend Hitze abgegeben hatte, daß man es von der Wand abnehmen und ohne Gefahr der Verformung behandeln konnte.
»In Ordnung, Bobbi, ich überlasse dir und Zara hier die Leitung«, sagte Leo. »Es sieht gut aus. Wenn die Temperatur auf etwa fünfhundert Grad Celsius gefallen ist, dann meldet ihr mir das. Wir werden versuchen, für die endgültige Abkühlung und die zweite Phase der Formung bereit zu sein.«
Vorsichtig, um die Wände nicht in Vibrationen zu versetzen, löste Leo sich aus seinen Gurten und kletterte zu dem Ausstiegsloch. Aus dieser Entfernung hatte er eine schöne Sicht auf die D-620, die jetzt mehr als halb beladen war, und dahinter auf Rodeo. Er sollte lieber jetzt zurückkehren, bevor die Distanz größer wurde, als die Düsen seines Anzugs überbrücken konnten.
Er aktivierte seine Düsen und entfernte sich schnell von der Seite der immer noch sanft beschleunigenden Modul-und-Schubschiff-Einheit. Sie schwebte dahin und sah tatsächlich aus wie ein notdürftig hergerichtetes Wrack und barg doch Hoffnung in ihrem Innern.
Leo wandte sich dem Habitat zu, und der Phase II seines Plans der Sprungschiffreparatur während der Wartezeit. Sonnenuntergang über dem ausgetrockneten See. Silver blickte besorgt auf den Monitor in der Steuerkabine des Shuttles, dessen Scanner über den Horizont hin und her strich und der jedesmal hell und dann wieder dunkel wurde, wenn der rote Sonnenball vorbeirollte.
»Es dauert mindestens noch eine weitere Stunde, bis sie zurück sind«, erklärte Madame Minchenko, die Silver beobachtete, »im günstigsten Fall.«
»Ich halte nach etwas anderem Ausschau«, antwortete Silver.
»Hm.« Madame Minchenko trommelte mit ihren langen, vom Alter gekrüminten Fingern auf die Konsole, klinkte den Sitz des Copiloten aus seiner Verankerung, schwenkte ihn nach hinten und starrte nachdenklich auf die Decke der Kabine. »Nein, vermutlich nicht. Jedoch — wenn die Flugkontrolle von Galac-Tech euch landen sah und einen Jetcopter losgeschickt hat, um die Sache zu untersuchen, dann hätte der schon längst hier sein müssen. Vielleicht ist ihnen eure Landung doch entgangen.«
»Vielleicht sind sie bloß nicht sehr gut organisiert«, meinte Silver, »und rücken jede Minute an.«
Madame Minchenko seufzte. »Das ist nur allzu wahrscheinlich.« Sie betrachte Silver und schürzte die Lippen. »Und was solltest du in diesem Fall tun?«
»Ich habe eine Waffe.« Silver berührte ihre Laserlötpistole, die auf der Konsole vor dem Pilotensitz lag, in dem sie sich räkelte. »Aber ich würde lieber auf keinen mehr schießen. Nicht, wenn ich es vermeiden kann.«
»Auf keinen mehr?« Madame Minchenkos Stimme klang um eine Nuance respektvoller.
Auf Leute zu schießen war eine so dumme Sache. Warum waren alle — jeder! — so beeindruckt? fragte sich Silver irritiert. Man sollte meinen, sie hätte etwas wirklich Großes getan, wie zum Beispiel eine neue Behandlungsmethode für die schwarze Stengelfäule entdeckt. Sie preßte ihre Lippen aufeinander.
Dann öffnete sie den Mund und beugte sich vor, um auf den Monitor zu starren. »Oh, oh. Hier kommt ein Bodenwagen.« »Sicher nicht unsere Jungs«, sagte Madame Minchenko mit einem gewissen Unbehagen. »Ich frage mich, ob etwas schiefgegangen ist.«
»Es ist nicht Ihr Landrover.« Silver fummelte an den Knöpfen für die Bildauflösung herum. Das schräg einfallende Sonnenlicht ergoß sich auf den Staub und verwandelte ihn in einen rotglühenden Rauchschleier. »Ich glaube … es ist ein Bodenwagen des Galac-Tech-Sicherheitsdienstes.« »Ach du lieber Himmel.« Madame Minchenko setzte sich aufrecht hin. »Was jetzt?« »Wir öffnen jedenfalls die Luken nicht. Unter keinen Umständen.«
Nach ein paar Minuten hielt der Bodenwagen etwa fünfzig Meter vor dem Shuttle an. Aus seinem Dach stieg eine Antenne auf und schwenkte sich ihnen gebieterisch zu. Silver schaltete den Kommunikator ein — es irritierte sie, daß sie ihre unteren Arme nicht voll einsetzen konnte — und rief vom Computer ein Menü der Kommunikatorkanäle auf. Das Shuttle schien Zugang zu einer Unmenge Kanäle zu haben. 9999 war der Audiokanal der Sicherheitsabteilung. Sie stellte den Kommunikator darauf ein.
»… bei Gott! He, Sie da drinnen — antworten Sie!«
»Ja, was wünschen Sie?«, sagte Silver.
Nach einer Pause der Überraschung: »Warum haben Sie nicht geantwortet?«
»Ich wußte nicht, daß Sie mich sprechen wollten«, antwortete Silver ganz logisch.
»Ja, nun — dieses Frachtshuttle ist Eigentum von Galac-Tech.«
»Ich ebenfalls. Also, was gibt’s?« »Hä …? Hören Sie, Lady, hier ist Sergeant Fors vom Galac-Tech-Sicherheitsdienst. Sie müssen aussteigen und uns dieses Shuttle übergeben.«
Eine Stimme im Hintergrund, die nicht ausreichend gedämpft wurde, fragte: »He, Bern — glaubst du, wir kriegen hierfür den Zehnprozent-Bonus für die Wiederbeschaffung von gestohlenem Eigentum?«
»Träum ruhig weiter«, knurrte eine andere Stimme. »Niemand wird uns eine Viertelmillion geben.« Madame Minchenko hob die Hand und lehnte sich vor, um zitternd einzuwerfen: »Junger Mann, hier spricht Ivy Minchenko. Mein Mann, Dr. Minchenko, hat dieses Raumfahrzeug beschlagnahmt, um auf einen dringenden medizinischen Notfall zu reagieren. Das ist nicht nur sein Recht, es ist seine gesetzlich vorgeschriebene Pflicht — und Sie sind nach den Vorschriften von Galac-Tech gehalten, ihm zu helfen, nicht ihn zu behindern.«
Darauf kam ein etwas verblüfftes Knurren: »Ich bin gehalten, dieses Shuttle zurückzubringen. Das sind meine Befehle. Niemand hat mir etwas von einem medizinischen Notfall gesagt.«
»Nun gut, dann sage ich es Ihnen jetzt.«
Wieder die Stimme aus dem Hintergrund: »… es sind nur ein paar Frauen. Los!«
Der Sergeant: »Werden Sie die Luke öffnen, Lady?«
Silver antwortete nicht. Madame Minchenko hob fragend die Augenbrauen, und Silver schüttelte stumm den Kopf. Madame Minchenko seufzte und nickte.
Der Sergeant wiederholte seine Forderungen, seine Stimme klang gereizt — nach Silvers Empfinden war er kurz davor, ordinär zu werden. Nach einer Minute oder zwei brach er ab. Nach ein paar weiteren Minuten gingen die Türen des Bodenwagens auf und die drei Männer kletterten heraus. Sie trugen Atemmasken, stapften herüber und starrten auf die Luken des Shuttles hoch über ihren Köpfen. Sie kehrten zum Bodenwagen zurück, stiegen ein — das Fahrzeug fuhr einen Bogen. Fuhr es weg? Silver hoffte es, wider alle Hoffnung. Nein, es kam wieder und parkte wieder, unter der vorderen Luke des Shuttles. Zwei der Männer wühlten hinten im Wagen nach Werkzeugen, dann stiegen sie auf das Dach ihres Fahrzeugs. »Sie haben so eine Art Schneidewerkzeuge«, sagte Silver erschrocken. »Sie versuchen anscheinend, das Shuttle aufzuschneiden.«
Schläge hallten durch das Shuttle.
Madame Minchenko nickte in Richtung der Laserlötpistole. »Ist es Zeit dafür?«, fragte sie furchtsam.
Silver schüttelte unglücklich den Kopf. »Nein. Nicht schon wieder. Außerdem kann ich auch nicht zulassen, daß sie das Schiff beschädigen — es muß raumfähig bleiben oder wir kommen nicht mehr nach Hause.«
Sie hatte Ti beobachtet … Sie holte tief Luft und griff nach der Shuttle-Steuerung. Es war hoffnungslos schwierig, die Fußpedale zu erreichen, sie würde ohne sie auskommen müssen. Rechtes Triebwerk aktivieren, linkes Triebwerk aktivieren — ein Summen lief durch das Schiff. Bremsen — da waren sie, sicher. Sie zog den Hebel sanft auf die Stellung ›Freigabe‹. Nichts geschah.
Dann taumelte das Shuttle vorwärts. Erschrocken über die plötzliche Bewegung, stieß Silver den Bremshebel wieder zurück und das Schiff kam schwankend zum Stehen. Sie suchte hektisch auf den Außenmonitoren. Wo …?
Die Steuerbordtragfläche des Shuttles war über das Dach des Bodenwagens dahingefegt und hatte es nur um einen halben Meter verfehlt. Silver erkannte mit einem schuldbewußten Schaudern, daß sie die Höhe der Tragfläche hätte überprüfen sollen, bevor sie das Shuttle in Bewegung setzte. Sie hätte den Flügel abreißen können, mit gräßlichen Konsequenzen für sie alle.
Die Sicherheitsleute waren nirgendwo zu sehen — nein, da lagen sie, über den trockenen Seegrund verstreut. Einer erhob sich aus dem Sand und hinkte zurück zum Bodenwagen. Was jetzt? Wenn sie parkte, oder selbst wenn sie in eine gewisse Entfernung rollte und dann parkte, dann würden sie es nur wieder versuchen. Es konnte nicht viele weitere Versuche geben, bevor sie schlauer wurden und die Reifen des Shuttles zerschossen oder es auf andere Weise unbeweglich machten. Eine gefährlich instabile Sackgasse. Silver saugte an ihrer Unterlippe. Dann lehnte sie sich unbeholfen nach vorn, in einem Sitz, der nicht für Quaddies entworfen worden war, ließ die Bremsen teilweise los und schaltete das Backbordtriebwerk ein. Das Shuttle zitterte ein paar Meter weiter vorwärts, schlitternd und stöhnend. Der Monitor zeigte, wie hinter ihnen der Bodenwagen halb von orangefarbenem Staub verdeckt wurde, den der Auspuff des Shuttletriebwerks hochwirbelte. Das Bild des Bodenwagens zitterte in der Hitze der Abgase.
Sie stellte die Bremsen so fest, wie es nur ging, und gab dem Backbordtriebwerk noch mehr Saft. Sein Surren wurde zu einem Winseln — sie wagte es nicht, es bis zum Jaulen hochzufahren, das Ti bei der Landung hervorgerufen hatte. Wer wußte, was dann geschehen würde? Das Plastikverdeck des Bodenwagens zerbrach in einem Krakelee sternförmiger Sprünge und sackte zusammen. Falls Leo recht gehabt hatte mit seiner Beschreibung des Treibstoffs, den sie hier unten für ihre Fahrzeuge benutzten, dann müßte eigentlich dieses Kohlenwasserstoff-Zeugs in jener Sekunde …
Ein gelber Feuerball verschlang den Bodenwagen. Er leuchtete einen Moment lang heller als die untergehende Sonne. Trümmer flogen in alle Richtungen davon, vollführten phantastische Bögen und Sprünge unter dem Einfluß der Schwerkraft. Ein Blick auf ihre Monitore zeigte Silver, daß die Sicherheitsleute jetzt alle in die andere Richtung davonrannten.
Silver drosselte das Backbordtriebwerk, löste die Bremsen und ließ das Shuttle vorwärts über den festgebackenen Lehm rollen. Glücklicherweise war der alte Seegrund eben, so daß sie sich nicht um die Feinheiten der Shuttlebedienung wie das Steuern kümmern mußte. Einer der Sicherheitsleute lief eine Minute oder zwei hinter ihnen her und winkte mit den Armen, aber er blieb schnell zurück. Silver ließ das Shuttle ein paar Kilometer rollen, bremste wieder und schaltete die Triebwerke aus.
»Tja«, seufzte sie, »damit sind die versorgt.«
»Ganz gewiß«, sagte Madame Minchenko matt und regulierte die Monitorvergrößerung für einen letzten Blick nach hinten. Eine schwarze Rauchsäule und ein ersterbendes orangefarbenes Glühen markierten ihren früheren Parkplatz. »Ich hoffe, daß ihre Atemmasken gut gefüllt waren«, fügte Silver hinzu.
»Ach, meine Liebe«, sagte Madame Minchenko. »Vielleicht sollten wir umkehren und … etwas unternehmen. Allerdings werden sie sicher so vernünftig sein und in der Nähe ihres Wagens bleiben und auf Hilfe warten, und nicht versuchen, in die Wüste hinauszugehen. Die Sicherheitsvids der Firma betonen das immer. ›Bleiben Sie bei Ihrem Fahrzeug und warten Sie auf den Such- und Rettungstrupp.‹«
»Sollen nicht die ein Such- und Rettungstrupp sein?« Silver studierte die winzigen Bilder auf dem Monitor. »Von dem Fahrzeug ist nicht viel übrig. Aber sie scheinen alle drei dort zu bleiben. Na ja …« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist zu gefährlich für uns, wenn wir versuchen, sie aufzuklauben. Aber wenn Ti und der Doktor mit Tony zurückkommen, dann könnten vielleicht die Sicherheitsleute Ihren Landrover haben, um damit nach Hause zu fahren — falls niemand anderer zuerst hierherkommt.«
»Oh«, sagte Madame Minchenko, »das stimmt. Gute Idee. Jetzt ist mir viel besser zumute.« Sie guckte nachdenklich auf den Monitor. »Arme Kerle.«
Eis. Aus der abgeschlossenen Steuerkabine über der Frachtbucht des Habitats beobachtete Leo, wie vier Quaddies in Arbeitsanzügen den intakten Vortex-Spiegel, den sie vom zweiten Necklinstab der D-620 abgenommen hatten, vorsichtig durch die Luke von draußen hineinmanövrierten. Der Spiegel war heikel zu handhaben, praktisch ein enormer, flacher Titantrichter, drei Meter im Durchmesser und einen Zentimeter dick an seinem breiten Rand, nach mathematischen Berechnungen gekrümmt und an der zentralen, geschlossenen Vertiefung zu einer Dicke von etwa zwei Zentimeter anwachsend. Eine hübsche Kurve, aber ganz und gar kein Standardwert, und mit dieser Tatsache mußte Leos Wiederherstellungsvorhaben fertigwerden.
Der unbeschädigte Spiegel wurde an den vorgesehenen Platz bugsiert und inmitten eines Geschnörkels von Kühlerspiralen abgesetzt. Die Quaddies in den Raumanzügen verließen die Frachtbucht. Von der Kontrollkabine aus ließ Leo die Luke nach draußen schließen und wieder Luft in die Ladebucht pumpen. In seiner Unruhe flitzte Leo buchstäblich aus der Steuerkabine, mit einem Zischen der Luft aufgrund des restlichen Druckunterschieds, und mußte den Unterkiefer bewegen, um seine Ohren zu öffnen.
Die einzigen Kühlerspiralen, die für die Aufgabe entsprechend groß genug waren, hatte Bobbi in einem Augenblick der Eingebung gefunden, und zwar wieder in der Abteilung Ernährung. Das Quaddiemädchen, das die Abteilung leitete, hatte gestöhnt, als sie Leo und seine Mannschaft wieder nahen sah. Sie hatten rücksichtlos die Eingeweide aus ihrer größten Kühlkammer herausgerissen und sie zu ihrem Arbeitsbereich bugsiert, in dem größten verfügbaren Andockmodul, das jetzt als Teil der D-620 installiert war. Leo schätzte, daß weniger als ein Viertel der endgültigen Umstrukturierung des Habitats noch zu machen war, trotz der Tatsache, daß er ein Dutzend der besten Arbeiter für sein Projekt abgezogen hatte.
Ein paar Minuten später kamen drei seiner Quaddies zu Leo in die Frachtbucht. Leo überprüfte sie. Sie hatten zusätzliche T-Shirts und Shorts übergezogen, dazu Overalls mit langen Ärmeln, die von den vertriebenen Planetariern zurückgelassen worden waren; dabei waren die Hosenbeine eng um ihre unteren Arme gewickelt und mit elastischen Bändern festgebunden. Sie hatten genügend Handschuhe organisiert; das war gut, denn Leo hatte sich schon Sorgen gemacht, daß es bei all den ungeschützten Fingern Erfrierungen geben könnte. »In Ordnung, Pramod, bereit zum Rollen. Her mit den Wasserschläuchen!«
Pramod entrollte etliche Schläuche und gab sie den wartenden Quaddies; ein anderer überprüfte ihre Anschlüsse an den Wasserhähnen. Leo schaltete die Kühlerspiralen ein und nahm einen Schlauch.
»In Ordnung, Jungs, beobachtet mich, und ich zeige euch, wie man’s macht. Ihr müßt das Wasser langsam auf die kalte Oberfläche fließen lassen und Spritzer in die Luft vermeiden; gleichzeitig müßt ihr dafür sorgen, daß es dauernd fließt, damit eure Schläuche nicht einfrieren. Wenn ihr merkt, daß eure Finger taub werden, dann macht eine kurze Pause in der Nachbarkammer. Wir können uns keine Verletzungen leisten.«
Leo drehte sich zur Rückseite des Vortex-Spiegels, der inmitten der Kühlerspiralen saß, sie aber nicht berührte. In den letzten paar Stunden draußen hatte sich der Spiegel im Schatten befunden und war hinlänglich abgekühlt. Er drehte mit dem Daumen sein Ventil auf und ließ einen silbrigen Schuß Wasser auf die Spiegelfläche fließen. Es verteilte sich rasch in Federn aus Eis. Er versuchte es mit einigen Tropfen auf den Spiralen; sie froren sogar noch schneller.
»In Ordnung, genau so. Fangt an, die Eisgußform um den Spiegel herum aufzubauen. Macht sie so solide, wie ihr könnt, ohne Luftlöcher. Vergeßt später nicht, das kleine Rohr einzusetzen, damit die Luft aus der Formkammer entweichen kann.«
»Wie dick soll es werden?«, fragte Pramod, der mit seinem Schlauch Leos Beispiel folgte und fasziniert beobachtete, wie sich das Eis bildete.
»Mindestens einen Meter. Die Masse des Eises muß mindestens gleich der Masse des Metalls sein. Da wir es hier nur einmal versuchen können, nehmen wir wenigstens das Doppelte der Masse des Metalls. Leider werden wir von diesem Wasser nichts zurückgewinnen können. Ich möchte noch einmal unsere Wasserreserven überprüfen, weil eine Dicke von zwei Metern sicher besser wäre, wenn wir es entbehren können.« »Wie sind Sie darauf gekommen?«, fragte Pramod in respektvollem Ton.
Leo prustete, als er erkannte, daß Pramod den Eindruck hatte, er würde sich diese ganze Prozedur in der Hitze des Gefechts ausdenken. »Das habe nicht ich erfunden. Ich habe darüber gelesen. Es ist eine alte Methode, die man bei vorbereitenden Versuchsanordnungen verwendete, bevor die Fraktaltheorie vervollkommnet und die Computersimulationen bis zum heutigen Standard verbessert worden waren.«
»Oh«, sagte Pramod ziemlich enttäuscht.
Leo grinste. »Wenn du je zwischen Wissen und Inspiration wählen mußt, mein Junge, dann wähle das Wissen. Es funktioniert häufiger.«
Hoffe ich zumindest. Leo wich zurück und beobachtete prüfend, wie seine Quaddies arbeiteten. Pramod hatte zwei Schläuche, in jedem Händepaar einen, und wechselte rasch zwischen beiden ab. Schuß um Schuß Wasser floß auf die Spiralen und den Spiegel, und das Eis begann schon sichtbar dicker zu werden. Bis jetzt hatte er keinen Tropfen verloren. Leo stieß einen müden Seufzer der Erleichterung aus; es schien, als könnte er ihnen diesen Teil der Aufgabe unbesorgt überlassen. Er gab Pramod ein Zeichen und verließ den Raum, um einen Teil der Aufgabe in Angriff zu nehmen, den er niemand anderem zu überlassen wagte.
Leo verirrte sich zweimal, als er sich seinen Weg durch das Habitat zum Giftstofflager suchte, und dabei hatte er doch selbst die Rekonfiguration entworfen. Es war kein Wunder, daß er unterwegs an so vielen verwirrt dreinblickenden Quaddies vorbeikam. Alle schienen hektisch beschäftigt zu sein; nach dem Grundsatz, daß geteiltes Leid halbes Leid ist, konnte Leo dem nur zustimmen. Das Giftstofflager war ein kühles Modul, das keinerlei Verbindungen mit dem Rest des Habitats hatte außer einer Luftschleuse aus dickem Stahl, die aus drei Kammern bestand und immer geschlossen war. Leo ging hinein und traf dort einen der Quaddies seiner Schweißer- und Lötertruppe, der noch mit der Rekonfiguration des Habitats beschäftigt war und gerade herauskam.
»Wie geht es voran, Agba?«, fragte Leo ihn.
»Ziemlich gut.« Agba sah müde aus. Rote Linien zogen sich über sein gelbbraunes Gesicht und seine gelbbraune Haut und verrieten, daß er bis vor kurzem längere Zeit seinen Arbeitsanzug getragen hatte. »Diese blöden gefrorenen Klampen haben uns wirklich aufgehalten, aber jetzt sind wir mit ihnen so gut wie fertig. Wie geht Ihre Sache voran?«
»Ganz gut soweit. Ich bin hergekommen, um den Sprengstoff vorzubereiten; so weit sind wir schon. Weißt du noch, wo wir, verdammt noch mal, in diesem ganzen Verhau …« — die gekrümmten Wände des Moduls waren mit Vorräten vollgepackt — »den Flüssigsprengstoff aufbewahren?«
»Der war da drüben«, erwiderte Agba und deutete mit dem Kopf.
»Gut …« Plötzlich hatte Leo ein flaues Gefühl im Magen. »Was meinst du damit, war?« Er meint nur, daß das Zeug umgeräumt wurde, versuchte Leo sich hoffnungsvoll einzureden.
»Na ja, wir haben ihn ganz schön schnell verbraucht, beim Aufsprengen der Klampen.«
»Aufsprengen? Ich dachte, ihr würdet sie abschneiden.«
»Haben wir zuerst gemacht, aber dann hat Tabbi herausgefunden, wie man eine kleine Ladung hinpackt, die sie an der Linie der Vakuumverschmelzung aufknackt. Etwa die Hälfte davon sind wiederbenutzbar. Die andere Hälfte ist nicht stärker beschädigt, als wenn wir sie durchgeschnitten hätten.« Agba schien sehr stolz auf sich zu sein.
»Ihr habt doch sicher nicht alles dafür verwendet, oder?«
»Na ja, ein bißchen wurde verschüttet. Draußen natürlich«, fügte Agba hinzu, der Leos entsetzten Blick mißverstand. Er hielt Leo eine verschlossene Halbliterflasche vor die Nase. »Das ist der letzte Rest. Ich nehme an, damit wird die Sache zum Ende kommen.«
»Grr!« Leo grapschte nach der Flasche und drückte sie an seinen Bauch wie ein Mann, der eine Granate unschädlich machen möchte. »Die brauche ich! Die muß ich haben!« Ich muß zehnmal soviel haben! heulte er innerlich stumm auf. »Oh«, sagte Agba, »tut mir leid.« Er blickte Leo völlig unschuldig an. »Bedeutet das, daß wir die Klampen wieder durchschneiden müssen?«
»Ja«, quiekte Leo. »Geh!« fügte er hinzu. Ja, bevor er selbst explodierte.
Mit einem unsicheren Lächeln verdrückte sich Agba wieder durch die Luftschleuse. Sie schloß sich und ließ Leo einen Moment allein, damit er in Ruhe Luft holen konnte.
Denk nach, Mann, denk nach! sagte Leo zu sich selbst. Keine Panik! Etwas rumorte in seinem Hinterkopf, ein schwer faßbares Faktum, das ihm zu sagen versuchte, daß dies nicht das Ende war, aber er konnte sich im Augenblick nicht daran erinnern. Er ging seine Berechnungen noch einmal in Gedanken sorgfältig durch und benutzte zum Rechnen die Finger (ach, wenn er jetzt doch ein Quaddie wäre!), aber unglücklicherweise wurde seine anfängliche Befürchtung bestätigt.
Die Umformung des Titanrohlings mittels einer Sprengung in die komplexe Form des Vortex-Spiegels erforderte, außer allerhand Distanzstücken, Ringen und Klampen, drei hauptsächliche Teile: die Gußform aus Eis, den Metallrohling und den Sprengstoff zur Vermählung der beiden. Eine Mußheirat, in der Tat. Und welches ist der wichtigste Fuß eines dreibeinigen Schemels? Natürlich der, der fehlt. Und er hatte gedacht, der Plastiksprengstoff wäre der leichteste Teil …
Verzweifelt begann Leo das Giftstofflagermodul systematisch durchzugehen und seine Vorräte zu überprüfen. Eine Extraflasche des Sprengstoffs war vielleicht irgendwo falsch abgestellt worden. Leider waren die Quaddies nur allzu gewissenhaft bei ihrer Lagerkontrolle. Jeder Behälter enthielt nur, was sein Etikett verkündete, nicht mehr, nicht weniger. Agba hatte sogar das Etikett auf diesem Behälter auf den neuesten Stand gebracht: Inhalt: Flüssigsprengstoff Typ B-2, Halbliterflaschen. Menge: 0.
Da stolperte Leo buchstäblich über ein Faß mit Benzin. Nein, sechs Fässer von dem verdammten Zeug, das irgendwie hier gelandet und jetzt fest an die Wände gezurrt war. Gott allein wußte, wohin der Rest der hundert Tonnen geraten war. Leo wünschte ihn in die Hölle, wo er zumindest von einem gewissen vorstellbaren Nutzen sein mochte. Er hätte gern die ganzen hundert Tonnen gegen vier Tabletten Aspirin getauscht. Hundert Tonnen Benzin, von dem …
Leo blinzelte und stieß ein frohlockendes »Aaah« aus.
Von dem ein Liter oder so, vermischt mit Tetranitromethan, einen noch stärkeren Sprengstoff ergeben würde.
Er würde in einem Handbuch nachschauen müssen — er würde auf jeden Fall das genaue Mischungsverhältnis nachschlagen müssen —, aber er war sich sicher, daß er sich richtig erinnert hatte. Wissen und Inspiration, das war die allerbeste Kombination. Tetranitromethan wurde in verschiedenen Habitat- und Schubschiffsystemen als Notfall-Sauerstoffquelle benutzt. Es ergab mehr O2 pro ccm als flüssiger Sauerstoff, ohne die Temperaturund Druckprobleme der Lagerung, in einer höchst verfeinerten Version der frühen Tetranitromethan-Kerzen, die Sauerstoff abgaben, wenn sie angezündet wurden. Wenn jetzt — o Gott! — nur das TNM nicht von jemandem völlig aufgebraucht worden war, um — um Ballons für Quaddiekinder aufzublasen oder irgend so einen Unsinn — sie hatten während der Rekonfiguration des Habitats Luft verloren … Leo stellte die Flasche wieder in ihren Lagerbehälter und befestigte auf den Fässern eine Notiz, die in großen roten Buchstaben verkündete: DIESES BENZIN GEHÖRT LEO GRAF. WENN JEMAND ANDERER ES ANRÜHRT, WIRD ER IHM ALLE SEINE ARME BRECHEN. Dann eilte er aus dem Giftstofflager davon, zum nächsten Terminal des Bibliothekscomputers.