Leo mußte eine Stunde umherpirschen, bevor er Silver allein antraf, in einem Korridor, der vom Turnraum kam, an einer Stelle, die nicht von einer Überwachungskamera erfaßt wurde.
»Gibt es hier einen Ort, wo wir privat reden können?«, fragte er sie. »Ich meine, wirklich privat.« Sie blickte sich vorsichtig um, was zeigte, daß sie ihn vollkommen verstanden hatte. Doch sie zögerte. »Ist es wichtig?«
»Lebenswichtig. Es geht um Leben oder Tod für jeden Quaddie. So wichtig ist es.«
»Gut … warten Sie hier eine Minute lang oder zwei und folgen Sie mir dann.«
Er folgte ihr langsam und beiläufig durch das Habitat, sah ihr schimmerndes Haar und ihr blaues Trikot kurz an dieser oder jener Kreuzung. In einem Korridor hatte er sie dann plötzlich verloren. »Silver …?«
»Pst!«, zischte sie in sein Ohr. Eine Wandplatte schwang sich lautlos nach innen, eine ihrer starken unteren Hände griff nach ihm und zog ihn herein wie einen Fisch an einer Angelschnur.
Nur einen Moment lang war es hinter der Wand dunkel und eng; dann öffnete sich leise eine luftdichte Tür und gab den Blick frei auf eine eigenartige Kammer mit einem Durchmesser von vielleicht drei Meter. Sie schlüpften hinein.
»Was ist das?«, fragte Leo überrascht.
»Das Clubhaus. Jedenfalls nennen wir es so. Wir haben es in diesem kleinen blinden Winkel gebaut. Von außen ist es nicht zu unterscheiden, es sei denn, man schaut genau aus dem richtigen Winkel darauf. Tony und Pramod haben die äußeren Wände gebaut Siggi hat die Rohrleitungen gelegt, andere haben die Verkabelung gemacht … die Luftdichtungen haben wir aus überzähligen Teilen zusammengebaut.«
»Hat man die nicht vermißt?«
Ihr Lächeln war keineswegs unschuldig. »Quaddies geben auch die Daten in den Computer ein. Die Teile hörten im Lagerverzeichnis einfach auf zu existieren. Eine Gruppe von uns arbeitete dabei zusammen — wir haben sie vor gerade zwei Monaten fertiggestellt. Ich war mir sicher, daß Dr. Yei und Mr. Van Atta davon erfahren würden, als sie mich befragten«, ihr Lächeln ging in einen finsteren Blick über, als sie sich daran erinnerte, »aber sie haben einfach nie die richtigen Fragen gestellt. Die einzigen Vids, die wir noch haben, sind die, die zufällig hier drinnen waren, und Darla hat das Vid-System noch nicht zum Laufen gebracht.«
Leo folgte ihrem Blick auf ein totes Holovid-Gerät, das an der Wand befestigt war und offensichtlich gerade repariert wurde. Es gab andere Annehmlichkeiten: Beleuchtung, praktische Gurte, einen Wandschrank voller kleiner Beutel mit getrocknetem Knabberzeug wie Rosinen, Erdnüsse und ähnlichem, das in der Ernährungsabteilung abgezweigt worden war. Leo machte langsam eine Runde durch den Raum und überprüfte nervös die Ausführung der Arbeiten. Alles war dicht. »War das deine Idee?«
»Irgendwie schon. Ich hätte es jedoch nicht allein geschafft. Verstehen Sie bitte, es ist strikt gegen unsere Regeln, daß ich Sie hier hereinbringe«, fügte Silver etwas trotzig hinzu. »Also sollten wir besser einen guten Grund dafür haben, Leo.«
»Silver«, sagte Leo, »deine einzigartig pragmatische Einstellung Regeln gegenüber macht dich im Augenblick zum wertvollsten Quaddie im Habitat. Ich brauche dich — deinen Mut und all die anderen Eigenschaften, die Dr. Yei zweifellos asozial nennen würde. Ich habe eine Arbeit zu tun, die ich nicht allein schaffe.«
Er holte tief Luft. »Wie würde es euch Quaddies gefallen, euren eigenen Asteroidengürtel zu haben?«
»Was?« Ihre Augen wurden groß.
»Brucie-Baby versucht es noch geheimzuhalten, aber man hat gerade beschlossen, daß das Cay-Projekt beendet wird — und das meine ich im unheilvollsten Sinn des Wortes.« Er berichtete ihr ausführlich von dem Gerücht über das Antischwerkraftgerät, alles, was er bisher gehört hatte, und Van Attas geheimen Plan für die Abschiebung der Quaddies. Mit zunehmender Leidenschaft beschrieb er seine Vision der Flucht. Er brauchte nichts zweimal zu erklären.
»Wieviel Zeit haben wir noch?«, fragte sie mit bleichem Gesicht, als er geendet hatte.
»Nicht viel. Höchstens ein paar Wochen. Ich habe nur sechs Tage, bis ich durch meinen Schwerkrafturlaub gezwungen bin, mich auf den Planeten zu begeben. Ich muß mir eine Möglichkeit ausdenken, wie ich den umgehen kann, denn ich befürchte, daß ich danach vielleicht nicht wieder hierher kommen kann. Wir — die Quaddies — müssen jetzt eine Wahl treffen. Und ich kann sie nicht für euch treffen. Ich kann euch nur bei einigen Teilen helfen. Wenn ihr euch nicht selbst retten könnt, dann seid ihr garantiert verloren.«
Mit einem leisen Pfiff stieß sie den Atem aus und sah wirklich beunruhigt drein. »Ich dachte — als ich Tony und Ciaire beobachtete —, daß sie es falsch anstellten. Tony redete davon, Arbeit zu finden, aber wissen Sie, daß er nicht daran dachte, einen Arbeitsanzug mitzunehmen? Ich wollte nicht die gleichen Fehler begehen. Wir sind nicht dafür geschaffen, allein zu reisen, Leo. Vielleicht ist das etwas, das zu unseren Anlagen gehört.«
»Aber schaffst du es, daß die anderen mitmachen?«, fragte Leo besorgt. »Im geheimen? Ich muß dir sagen, das schnellste Ende dieser kleinen Revolution, das ich mir vorstellen könnte, wäre, wenn ein Quaddie in Panik geriete und alles verraten würde, weil er lieb sein möchte. Das ist eine wirkliche Verschwörung, hier müssen alle Regeln außer acht bleiben. Ich opfere meinen Job und riskiere juristische Verfolgung, aber ihr riskiert viel mehr.«
»Es gibt einige, denen man es … hm … zuletzt mitteilen sollte«, sagte Silver nachdenklich. »Aber ich kann die wichtigen einweihen. Wir haben einige Methoden, um Dinge vor den Planetariern geheimzuhalten.«
Leo blickte sich in der Kammer um und fühlte sich beruhigt.
»Leo …« Ihre blauen Augen waren forschend auf ihn gerichtet. »Wie werden wir die Planetarier los?« »Nun, wir werden sie nicht mit dem Shuttle nach Rodeo hinunterschicken können, soviel ist sicher. Von dem Augenblick an, wo diese Sache publik wird, wird das Habitat vom Nachschub abgeschnitten, damit kannst du rechnen.« Belagert war das Wort, das Leo einfiel und das er sorgfältig vermied. »Die Methode, an die ich dachte, war, sie alle in einem Modul zu versammeln, dort etwas Notfall-Sauerstoff hineinzugeben, das Modul vom Habitat zu trennen und einen der Lastenschieber zu verwenden, um es im Orbit zu der Transferstation zu transportieren. Dann stellen sie für Galac-Tech ein Problem dar, nicht für uns. Ich hoffe, daß das die Dinge auf der Transferstation auch ein bißchen durcheinanderbringt und uns mehr Zeit gibt.«
»Wie wollen Sie alle in das Modul bringen?«
Leo zuckte verlegen. »Na ja, das ist der Punkt ohne Umkehr, Silver. Überall um uns herum gibt es Waffen, die wir nur nicht als solche erkennen, weil wir sie ›Werkzeuge‹ nennen. Eine Laserlötpistole, bei der die Sicherung entfernt ist, ist so gut wie eine Schußwaffe. In den Werkstätten gibt es ein paar Dutzend davon. Richte sie auf die Planetarier und sage: ›Bewegt euch!‹ — und sie werden sich in Bewegung setzen.«
»Was ist, wenn sie es nicht tun?«
»Dann mußt du auf sie feuern. Oder dich dafür entscheiden, nicht zu feuern, und dafür einen langsamen und sterilen Tod auf dem Planeten in Kauf nehmen. Und du triffst dann deine Wahl für alle, nicht nur für dich.«
Silver schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß das eine so gute Idee ist, Leo. Was ist, wenn jemand in Panik gerät und tatsächlich feuert? Der Planetarier würde schrecklich verbrannt werden!«
»Nun … ja, das ist die Idee.«
Falten des Entsetzens gruben sich in ihr Gesicht. »Wenn ich auf Mama Nilla schießen müßte, dann würde ich lieber nach unten auf den Planeten gehen und sterben.« Mama Nilla war eine der beliebtesten Krippenmütter der Quaddies, erinnerte sich Leo verschwommen, eine große, ältere Frau — er war ihr bisher kaum begegnet, da sein Unterricht die jüngeren Quaddies nicht einbezog. »Ich dachte mehr daran, auf Bruce zu schießen«, bekannte Leo.
»Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich das Mr. Van Atta antun könnte«, sagte Silver langsam. »Haben Sie je eine schlimme Verbrennung gesehen, Leo?«
»Ja.«
»Ich auch.«
Eine kleine Weile herrschte Schweigen. »Wir können unsere Lehrer nicht bluffen«, sagte Silver schließlich. »Alles, was Mama Nilla tun müßte, wäre nur mit ihrer Stimme zu sagen: ›Gib mir jetzt das Ding rüber, Siggi!‹ — und er würde es tun. Das ist — das ist kein cleveres Szenario, Leo.«
Leo ballte wütend die Fäuste. »Aber wir müssen die Planetarier aus dem Habitat entfernen, sonst kann nichts anderes vorangehen! Wenn wir das nicht schaffen, dann werden sie es einfach wieder übernehmen, und ihr wäret dann schlimmer dran als zuvor.«
»Schon gut, schon gut! Wir müssen sie loswerden. Aber das ist nicht die richtige Methode.« Sie zögerte und schaute ihn mißtrauischer an. »Könnten Sie Mama Nilla erschießen? Glauben Sie wirklich, Pramod — zum Beispiel — könnte auf Sie schießen?«
Leo seufzte. »Wahrscheinlich nicht. Nicht kaltblütig. Selbst Soldaten in einer Schlacht müssen in einen besonderen Zustand geistiger Erregung versetzt werden, um auf völlig fremde Menschen zu schießen.«
Silver sah erleichtert aus. »In Ordnung, was wäre also sonst noch zu tun? Wenn wir mal davon ausgehen, daß wir das Habitat übernehmen könnten.«
»Die Rekonfigurierung des Habitats kann mit Werkzeugen und Ersatzteilen ausgeführt werden, die schon an Bord sind, obwohl alles sorgfältig rationiert werden muß. Das Habitat muß während dieses Prozesses gegen alle Versuche von Galac-Tech, es wiederzuerobern, verteidigt werden. Die Hochenergiedichte-Elektronenstrahlschweißbrenner könnten ziemlich wirksam Shuttles entmutigen, die versuchen, bei uns anzukoppeln — falls jemand dazu gebracht werden könnte, sie abzufeuern«, fügte er trocken hinzu. »Glücklicherweise verfügt die Firma über keine gepanzerten Angriffsschiffe. Eine echte Militärstreitkraft würde mit dieser kleinen Revolution nämlich kurzen Prozeß machen, weißt du.« Seine Phantasie malte ihm die Details aus, und sein Magen krampfte sich unbehaglich zusammen. »Unsere einzige echte Verteidigung besteht darin, daß wir weg sind, bevor Galac-Tech ein Kampfschiff herbringen kann. Dazu brauchen wir einen Sprungpiloten.«
Er musterte sie erneut. »Hier kommst du ins Spiel, Silver. Ich kenne einen Piloten, der sehr bald durch die Transferstation hinausreisen wird und der leichter zu entführen sein dürfte als die meisten anderen. Besonders wenn du bereit wärest, deine persönliche Überredungsgabe einzusetzen.«
»Ti.«
»Ja, Ti«, bestätigte er.
Sie blickte unsicher drein. »Vielleicht.«
Leo kämpfte eine weitere, stärkere Welle von Unbehagen nieder. Ti und Silver hatten eine Beziehung, die aus der Zeit vor seiner Ankunft stammte. Er betätigte sich also nicht gerade als Kuppler. Die Logik diktierte sein Vorgehen. Plötzlich wurde ihm bewußt: was er wirklich wollte, war, sie so weit wie möglich von dem Sprungpiloten fernzuhalten. Und was tun? Sie für dich selbst behalten? Mach dich nicht lächerlich. Du bist zu alt fiir sie. Ti war wie alt — fünfundzwanzig, vielleicht? Vielleicht heftig eifersüchtig, nach allem, was Leo wußte. Sie mußte Ti den Vorzug geben. Leo versuchte tugendsam, sich alt zu fühlen. Es war nicht schwer; die meisten Quaddies ließen ihn sich sowieso etwa achtzig Jahre alt fühlen. Er zwang seine Gedanken zurück zur eigentlichen Aufgabe.
»Das dritte, was anfangs getan werden muß«, Leo überdachte seine Formulierung noch einmal und kam unglücklich zu dem Schluß, daß sie allzu akkurat war, »ist, ein Frachtsprungschiff festzuhalten. Wenn wir warten, bis wir das Habitat beschleunigen für den ganzen Weg hinaus zum Wurmloch, dann hat Galac-Tech Zeit, sich etwas auszudenken, wie sie die Sprungschiffe verteidigen können. Wie zum Beispiel sie alle auf die Seite von Orient IV springen zu lassen und uns dann eine lange Nase zu machen, bis wir gezwungen sind, uns zu ergeben. Das bedeutet« — er erwog den nächsten logischen Schritt mit etwas Bestürzung — »wir müssen ein Kommando zum Wurmloch schicken, um ein Sprungschiff zu entführen. Und ich kann nicht mitgehen und gleichzeitig hier bleiben, um das Habitat zu verteidigen und zu rekonfigurieren … es muß eine Truppe von Quaddies sein. Ich weiß nicht …« — Leo wurde unsicher — »vielleicht ist das alles in allem doch keine so großartige Idee.« »Schicken Sie Ti mit ihnen mit«, schlug Silver vernünftigerweise vor. »Er weiß mehr über die Frachtsprungschiffe als alle von uns.«
»Mm«, sagte Leo und geriet wieder in eine optimistische Stimmung. Wenn er den geringen Aussichten für den Erfolg seiner Eskapade zuviel Aufmerksamkeit schenkte, dann konnte er die Sache genauso gut gleich aufgeben und den Kampf vermeiden. Zum Teufel mit den geringen Aussichten. Er würde an Ti glauben. Falls notwendig, würde er an Elfen glauben, an Engel und an die Zahnpastafee.
»Das macht die … hm … Bestechung von Ti zu Schritt eins im Flußdiagramm«, überlegte Leo laut. »Von dem Augenblick an, wo man sein Fehlen bemerkt, sind wir aus der Deckung draußen und rennen gegen die Uhr. Das bedeutet, daß die ganze Vorausplanung für die Verlegung des Habitats besser — im Voraus erfolgt. Und — oh. Du meine Güte!« Leos Augen leuchteten auf.
»Was?« »Ich hatte gerade eine brillante Idee, wie wir uns einen Vorsprung verschaffen können …«
Leo stimmte den Zeitpunkt seines Eintritts sorgfältig ab, indem er wartete, bis sich Van Atta nahezu die ersten zwei Stunden der Schicht in seinem Büro im Habitat verkrochen hatte. Jetzt würde der Projektleiter allmählich an seine Kaffeepause denken und jenen Grad von Frustration erreichen, der immer die Folge der ersten Beschäftigung mit einem neuen Problem war, in diesem Fall mit der Zerlegung des Habitats. Leo konnte sich den verworrenen Zustand von Van Attas Planung lebhaft vorstellen; er selbst hatte ihn etwa acht Stunden zuvor durchgemacht, als er, eingeschlossen in seinem Quartier, an seiner Computerkonsole ein Brainstorming veranstaltete, nachdem er seine Programme für Schnüffler unzugänglich gemacht hatte. Der militärische Sicherheitscode, der ihm von dem Projekt Argus-Kreuzer geblieben war, wirkte Wunder. Leo war sich ganz sicher, daß niemand im Habitat, nicht einmal Van Atta und gewiß nicht Yei, über einen höheren Zugriffsschlüssel verfügte. Van Atta blickte mit gerunzelter Stirn von seinem Durcheinander aus Datenausdrucken auf, während sein Computer-Vid auf mehreren Schirmen bunt szintillierend verschiedene Baupläne des Habitats wiedergab. »Was ist jetzt schon wieder, Leo? Ich bin beschäftigt. Wer kann, der tut; wer nicht kann, der lehrt.«
Und wer nicht lehren kann, vollendete Leo insgeheim den Satz, der geht in die Verwaltung. Er behielt sein übliches höfliches Lächeln bei; kein unvorsichtiges Funkeln in den Augen verriet seinen bissigen Gedanken. »Ich habe nachgedacht«, säuselte er. »Ich würde mich gern freiwillig melden für die Zerlegung des Habitats.«
»Würden Sie?« Van Atta hob erstaunt seine Augenbrauen und senkte sie dann wieder mißtrauisch. »Warum?«
Van Atta würde wohl kaum glauben, daß dieses Angebot reiner Herzensgüte entstammte. Leo war darauf vorbereitet. »Weil Sie wieder recht hatten, so ungern ich das zugebe. Ich habe darüber nachgedacht, was ich wohl von diesem Auftrag mitnehme. Wenn ich die Reisezeit einrechne, dann habe ich vier Monate meines Lebens drangegeben — mehr noch, bis das hier vorbei ist —, und ich habe nichts dafür vorzuweisen außer ein paar Minuspunkten in meiner Personalakte.« »Da sind Sie selbst dran schuld.« Van Atta, an den Vorfall erinnert, rieb sich das Kinn, wo der blaue Fleck in einen grünen Schatten überging, und blickte Leo finster an.
»Ich habe für eine kleine Weile meine Perspektive verloren, das stimmt«, gab Leo zu. »Jetzt habe ich sie wiedergefunden.«
»Ein bißchen spät«, spottete Van Atta.
»Aber ich könnte meine Sache gutmachen«, argumentierte Leo und überlegte, wie man den Effekt eines schuldbewußten Füßescharrens in der Schwerelosigkeit erreichen konnte. Vielleicht sollte er besser nicht übertreiben. »Ich brauche wirklich eine Empfehlung, etwas, das diese Verweise aufwiegt. Mir sind ein paar Ideen gekommen, die einen ungewöhnlich hohen Anteil an Wiederverwertung erzielen und die Verluste begrenzen könnten. Damit würde Ihnen die ganze langweilige Plackerei abgenommen und Sie wären frei für die administrativen Maßnahmen.«
»Hm«, sagte Van Atta, sichtlich verlockt von einer Vision, in der sein Büro zu seiner früheren, ursprünglichen klaren Ordnung zurückkehrte. Er musterte Leo mit zusammengekniffenen Augen. »Sehr gut — nehmen Sie’s. Hier sind meine Notizen, die gehören jetzt alle Ihnen. Ach, schicken Sie die Pläne und Berichte durch mein Büro. Ich schicke sie dann weiter. Das ist schließlich meine wahre Aufgabe, die Verwaltung.«
»Gewiß.« Leo räumte alles zusammen. Ja, durch Sie schicken — damit Sie meinen Namen durch Ihren ersetzen können. In dem selbstgefälligen Leuchten von Van Attas Augen konnte Leo fast sehen, wie sich die Rädchen drehten. Soll doch Leo die Arbeit tun, und Van Atta das Verdienst einheimsen. Oho, Sie werden schon das Verdienst dafür ernten, wie dieses Projekt endet, Brucie-Baby — das ganze Verdienst.
»Ich brauche noch ein paar Sachen«, bat Leo demütig. »Ich möchte alle Quaddie-Mannschaften von den Schubschiffen haben, die bei ihrem regelmäßigen Dienst abkömmlich sind, zusätzlich zu meinen Unterrichtsgruppen. Diese nutzlosen Kinder werden zu arbeiten lernen, wie sie nie zuvor gearbeitet haben. Ersatzteile, Ausrüstung, die Befugnis, Schubschiffe und Treibstoff anzufordern — ich muß mit einigen Vermessungen an Ort und Stelle anfangen —, und ich muß in der Lage sein, nach Bedarf andere Quaddie-Arbeitsgruppen anzufordern. In Ordnung?«
»Oh, Sie melden sich auch für den praktischen Teil der Arbeit?« Eine rachsüchtige Gier erschien flüchtig auf Van Attas Gesicht, gefolgt von Zweifeln. »Wie steht es damit, diese Sache bis zur letzten Minute geheimzuhalten?«
»Ich kann die Vorplanung zuerst als eine theoretische Übung im Unterricht präsentieren. Eine Woche oder zwei herausschinden. Am Ende muß man es ihnen doch sagen, wissen Sie.«
»Nicht zu bald. Ich mache Sie dafür verantwortlich, daß die Schimpansen unter Kontrolle gehalten werden, kapiert?«
»Ich verstehe. Habe ich die Befugnis? Oh — und ich brauche eine Dienstverlängerung zum Aufschub meines Schwerkrafturlaubs auf dem Planeten.«
»Die Zentrale hat das nicht gern. Wegen der Haftung.«
»Entweder ich oder Sie, Bruce.«
»Stimmt …« Van Atta, der sich schon entspannt hatte, winkte mit der Hand. »In Ordnung. Sie haben die Verlängerung.«
Einen Blankoscheck. Leo machte aus einem wölfischen Grinsen ein schmeichlerisches Lächeln. »Sie werden sich daran erinnern, nicht wahr, Bruce — später?«
Van Atta verzog auch die Lippen. »Das garantiere ich Ihnen, Leo. Ich werde mich an alles erinnern.«
Leo murmelte dankbar und zog sich zurück.
Silver steckte den Kopf durch die Tür zum privaten Schlafraum der Krippenmutter. »Mama Nilla?«
»Pst!« Mama Nilla hielt den Finger an die Lippen und nickte in Richtung auf Andy, der in einem Sack an der Wand schlief; man konnte gerade noch sein Gesicht sehen. Sie flüsterte: »Um Himmels willen, weck das Baby nicht auf. Er war heute so heikel mit dem Essen — ich glaube, er verträgt die künstliche Nahrung nicht. Ich wünschte mir, Dr. Minchenko wäre wieder da. Warte, ich komme hinaus in den Korridor.«
Die Tür glitt hinter ihr zu. Mama Nilla hatte sich zur Nachtruhe fertiggemacht und ihren rosafarbenen Arbeitsoverall gegen einen Pyjama mit Blumenmuster vertauscht, der um ihre üppige Taille etwas straff saß. Silver unterdrückte den Impuls, sich an diesen weichen Leib zu klammern, wie sie es in verzweifelten Augenblicken getan hatte, als sie noch klein war — jetzt war sie viel zu erwachsen, um noch gehätschelt zu werden, sagte sie sich streng. »Wie geht es Andy?«, fragte sie statt dessen mit einem Nicken in Richtung auf die geschlossene Tür. »Hm. Alles in Ordnung«, sagte Mama Nilla. »Ich hoffe allerdings, daß ich dieses Problem mit der Nahrung bald lösen kann. Und … na ja … ich bin mir nicht sicher, ob man es wirklich Depression nennen kann, aber seine Aufmerksamkeitsspanne scheint kürzer zu sein, und er ist heikel beim Essen — sag das aber bitte nicht Ciaire, der Armen, sie hat schon genug Schwierigkeiten. Sag ihr, es sei alles in Ordnung.«
Silver nickte. »Ich verstehe.« Mama Nilla runzelte Sie Stirn. Ihr Blick war nach innen gerichtet. »Ich habe einen Protest geschrieben, aber meine Vorgesetzte hat ihn nicht weitergeleitet. Ungünstiger Zeitpunkt, hat sie gesagt. Sieht eher aus, als ob Mr. Van Atta ihr Angst eingejagt hätte. Ich könnte einfach … hm. Jedenfalls habe ich Überstundenzettel eingereicht wie verrückt, und ich habe für meine Krippeneinheit eine zusätzliche Assistentin angefordert. Vielleicht wird man nachgeben, wenn man einsieht, daß diese Narretei Geld kostet. Das kannst du Ciaire sagen, meine ich.«
»Ja«, sagte Silver, »ein bißchen Hoffnung täte ihr gut.«
Mama Nilla seufzte. »Das ganze ist mir so unangenehm. Was ist überhaupt in diese Kinder gefahren, daß sie versuchen, wegzulaufen? Ich könnte Tony packen und schütteln. Und was diesen dummen Wachmann angeht, den könnte ich einfach … na ja …« Sie schüttelte den Kopf.
»Haben Sie noch mehr über Tony gehört, was ich an Ciaire weitererzählen könnte?«
»Ach ja.« Mama Nilla blickte den Korridor hinauf und hinab, um sicherzugehen, daß niemand mithörte. »Dr. Minchenko hat mich gestern Abend über den persönlichen Kanal angerufen. Er hat mir versichert, daß Tony jetzt außer Gefahr ist und daß man diese Infektion unter Kontrolle hat. Aber er ist immer noch sehr schwach. Dr. Minchenko hat vor, ihn wieder ins Habitat zurückzubringen, wenn er seinen Schwerkrafturlaub beendet. Er meint, Tony wird sich hier oben schneller erholen. Das ist also ein bißchen gute Nachricht, und die kannst du an Ciaire weitererzählen.« Silver rechnete, und mit ihren unteren Fingern zählte sie unauffällig unterhalb von Mama Nillas Gesichtskreis die Tage, dann atmete sie erleichtert auf. Das war ein massives Problem gewesen, und sie konnte jetzt Leo mitteilen, daß es gelöst war. Tony würde zurück sein, bevor ihre Revolte an die Öffentlichkeit drang. Seine sichere Rückkehr würde vielleicht sogar das Signal für die Revolte werden. Ein Lächeln strahlte auf ihrem Gesicht. »Danke, Mama Nilla, das ist eine gute Nachricht.«
Kurs 101: Revolution für die Verwirrten, so sollte der Titel seines Kurses sein, entschied Leo grimmig. Oder noch schlimmer: Kurs 050: Revolution als Fördermaßnahme … Die Schar der Quaddies, die ihn im Unterrichtsmodul erwartungsvoll umschwebten, war offiziell durch die beiden dienstfreien Schubschiffmannschaften verstärkt worden; dazu kamen alle schichtfreien älteren Quaddies, die Silver hatte heimlich kontaktieren können. Insgesamt waren es sechzig oder siebzig. Sie hatten sich alle in das Unterrichtsmodul gezwängt, was Leo geistig vorauseilen und an Pläne über Sauerstoffverbrauch und -erneuerung im rekonfigurierten Habitat denken ließ. Es lag eine Spannung in der Luft. Gerüchte machten schon die Runde, wie Leo erkannte, in Gott weiß welchen verzerrten Formen. Es war an der Zeit, Gerüchte durch Tatsachen zu ersetzen.
Silver gab an der Tür ein Zeichen, daß alles klar war; sie hielt alle vier Daumen nach oben und grinste Leo zu, während ein letzter Quaddie in einem T-Shirt sich hastig hereinzwängte. Die Tür schloß sich und verdeckte Silver, die auf dem Korridor Wache schob.
Leo nahm seinen Posten in der Mitte ein. In der Mitte, der Nabe des Rades, wo sich die Belastungen am stärksten konzentrieren. Nach ein bißchen anfänglichem Geflüster und Geknuffe verstummten die Quaddies, und es herrschte eine fast beängstigende Aufmerksamkeit. Er konnte ihre Atemzüge hören. Wir würden Sie brauchen, selbst wenn Sie kein Ingenieur wären, Leo, hatte Silver bemerkt. Wir alle sind zu sehr daran gewöhnt, Befehle von Leuten mit Beinen entgegenzunehmen.
Willst du damit sagen, daß du einen Strohmann brauchst? hatte er amüsiert gefragt.
Nennt man das so? Sie hatte ihn dabei ganz kühl pragmatisch angeblickt.
Er wurde zu alt dafür. Sein Gehirn schaltete auf einen fernen Rockrhythmus um, zurück zur lärmenden Musik seiner Jugend. Laß mich dein Strohmann sein, Baby. Ruf mich Leo. Ruf mich jederzeit, am Tag oder bei Nacht. Laß mich dir helfen. Er schaute auf die geschlossene luftdichte Tür. Zog der Mann, der an der Spitze des Zuges den Taktstock schwenkte, die anderen hinter sich her — oder wurde er von ihnen vorangeschoben? Er hatte das unbehagliche Gefühl, daß er die Antwort bald erfahren würde. Er knurrte leise und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Unterrichtsraum.
»Wie einige von euch schon gehört haben«, begann Leo, und seine Worte fielen wie Kieselsteine in den Teich des Schweigens, »ist von den Außenplaneten eine neue Schwerkrafttechnologie gekommen. Sie basiert anscheinend auf einer Variation der Necklinfeld-Tensorgleichungen, der gleichen Art Mathematik, die der Technologie zugrundeliegt, die wir benutzen, um durch jene Verbiegungen des Raumzeitgefüges zu stoßen, die wir Wurmlöcher nennen. Ich habe mir bisher noch keine technischen Spezifikationen besorgen können, aber es sieht so aus, als wäre das Ganze schon so weit entwickelt, daß man es auf den Markt bringen kann. Die theoretische Möglichkeit war genaugenommen nicht neu, aber ich zum Beispiel hatte nie erwartet, noch zu meiner Zeit die praktische Umsetzung zu erleben. Offensichtlich ging es den Leuten, die euch Quaddies geschaffen haben, genauso.
Da ist eine Art seltsamer Symmetrie am Werk. Der Sprung nach vorn in der genetischen Biotechnik, der euch möglich machte, basierte auf der Vervollkommnung einer neuen Technologie, dem Uterusreplikator, auf Kolonie Beta. Jetzt kommt knapp eine Generation später aus derselben Quelle die neue Technologie, die euch obsolet macht. Das seid ihr nämlich geworden, bevor ihr zum erstenmal im Einsatz wart — technologisch veraltet. Zumindest vom Standpunkt der Firma Galac-Tech aus gesehen.« Leo holte Luft und wartete auf ihre Reaktionen.
»Nun, wenn eine Maschine veraltet ist, dann verschrotten wir sie. Wenn die Ausbildung eines Mannes veraltet ist, dann schicken wir ihn wieder auf die Schule. Aber eure Veralterung ist euch schon einprogrammiert worden. Sie ist entweder ein grausamer Fehler oder … oder … oder …« — er legte eine kurze Pause ein, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen — »die größte Chance, die ihr je haben werdet, um ein freies Volk zu werden. Macht euch … macht euch keine Notizen«, würgte Leo, als etliche ihre Köpfe automatisch über ihre Notizpanels beugten und seine Stichworte mit ihren Lichtgriffeln hervorhoben, während die Autotranskription über die Displays flimmerte. »Das ist kein Unterricht. Das ist das wirkliche Leben.« Er mußte für einen Augenblick innehalten, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Er war sich sicher, daß irgendein Kind im Hintergrund ganz reflexartig ›keine Notizen — das wirkliche Leben‹ hervorhob.
Pramod schwebte in seine Nähe und blickte ihn erregt aus seinen dunklen Augen an. »Leo? Es ist ein Gerücht herumgegangen, daß die Firma uns alle zum Planeten hinunterbringt und erschießen läßt, wie Tony.«
Leo lächelte säuerlich. »Das ist eigentlich das am wenigsten wahrscheinliche Szenario. Ihr sollt zum Planeten hinuntergebracht werden, ja, in eine Art Internierungslager. Aber so wird ein schuldfreier Genozid eingefädelt. Ein Administrator gibt euch weiter an den nächsten, und der wieder an den nächsten, und immer so weiter. Ihr werdet zu einer Routineausgabe im Inventar. Die Ausgaben steigen, wie immer. Als Reaktion darauf werden die planetarischen Angestellten, die auch für euren Unterhalt sorgen sollen, allmählich abgezogen, da die Firma euch ›autark‹ nennt. Die lebenserhaltenden Geräte werden mit zunehmendem Alter schlechter. Pannen ereignen sich immer häufiger, Wartung und Ersatzteillieferung werden immer unregelmäßiger.
Dann ereignet sich eines Nachts — ohne daß jemand je einen Befehl gegeben oder einen Auslöser gedrückt hätte — eine kritische Panne. Ihr schickt einen Hilferuf. Niemand weiß, wer ihr seid. Niemand weiß, was zu tun ist. Diejenigen, die euch dort untergebracht haben, sind längst über alle Berge. Kein Held ergreift eine Initiative, denn Initiativen sind durch administrative Pfuscherei und dunkle Hinweise längst entmutigt worden. Nachdem der untersuchende Inspektor die Leichen gezählt hat, entdeckt er mit Erleichterung, daß ihr nur zum Inventar gehört habt. Die Bücher werden still über dem Cay-Projekt geschlossen. Ende. Abgeschlossen. Das mag zwanzig Jahre dauern, vielleicht auch nur fünf oder zehn. Ihr werdet einfach tödlich vergessen.« Pramod griff sich an die Kehle, als spürte er schon, wie die toxische Atmosphäre von Rodeo seine Atemwege reizte. »Ich meine, ich würde mich lieber erschießen lassen«, murmelte er.
»Oder«, Leo hob seine Stimme, »ihr könnt euer Leben in eure eigenen Hände nehmen. Folgt mir und setzt alles auf eine Karte. Das große Spiel mit dem großen Gewinn. Laßt mich erzählen«, er schluckte, um Mut zu fassen, und wünschte sich den Größenwahnsinn als Verbündeten — denn gewiß konnte nur ein Größenwahnsinniger dieses Vorhaben zum Erfolg bringen —, »laßt mich erzählen vom Land der Verheißung …«