In der Andockbucht für Frachtshuttles war es kühl, und Ciaire rieb alle ihre Hände aneinander, um sie zu wärmen. Nur ihre Hände schienen kalt zu sein; ihr Herz pochte heiß vor Erwartung und Furcht. Sie warf einen Seitenblick auf Leo, der so unerschütterlich wirkend wie immer neben ihr bei der Tür schwebte. »Danke, daß Sie mich dafür von meiner Arbeitsschicht abgezogen haben«, sagte Ciaire. »Sind Sie sicher, daß Sie keine Schwierigkeiten bekommen, wenn Mr. Van Atta das herausfindet?«
»Wer sollte es ihm sagen?«, antwortete Leo. »Außerdem denke ich, daß Bruce das Interesse daran verliert, dich zu quälen. Alles ist so offensichtlich wirkungslos. Umso besser für uns. Auf jeden Fall möchte ich auch mit Tony sprechen, und ich stelle mir vor, ich habe eine bessere Chance auf seine ungeteilte Aufmerksamkeit, wenn ihr euer Wiedersehen hinter euch gebracht habt.« Er lächelte ermutigend.
»Ich frage mich, in welchem Zustand er wohl sein mag.«
»Du kannst sicher sein, daß es ihm viel besser geht, sonst würde Dr. Minchenko ihn nicht dem Stress der Reise aussetzen, nicht einmal, um ihn im Auge behalten zu können.« Ein dumpfer Schlag war zu hören, dazu das Surren und Knirschen von Maschinen, und so wußte Ciaire, daß das Shuttle angekommen und in seine Klampen eingeklickt war. Sie streckte die Hände aus und zog sie dann befangen wieder zurück. Der Quaddie in der Steuerkabine winkte den beiden anderen in der Bucht; sie brachten die Anschlußrohre in Position und befestigten sie. Zuerst öffnete sich das Personalrohr, und der Ingenieur des Shuttles steckte den Kopf hindurch, um alles zu überprüfen, dann verschwand er wieder. Claires Herz pochte in ihrer Brust, und ihre trockene Kehle war wie zugeschnürt.
Schließlich kam Dr. Minchenko heraus und verweilte einen Augenblick lang, dabei hielt er sich mit einer Hand am Griff neben der Luke fest. Er war ein kraftvoller Mann mit einem Gesicht wie aus Leder; sein Haar war so weiß wie der Overall des Medizinischen Dienstes von Galac-Tech, den er trug. Einst hochgewachsen, war er jetzt zusammengeschrumpft wie eine getrocknete Aprikose, aber wie eine getrocknete Aprikose war er noch gesund. Ciaire hatte den Eindruck, er müßte nur wieder hydratisiert werden und würde dann wieder jung und frisch aussehen. Dr. Minchenko stieß sich von der Luke ab, kam durch die Ladebucht auf sie zu und landete genau neben den Griffen an der luftdichten Tür. »Nanu, Ciaire, hallo«, sagte er überrascht. »Und, aha — Graf«, fügte er weniger freundlich hinzu. »Sie sind mir ja einer! Ich muß Ihnen sagen, daß ich es nicht schätze, wenn man mich unter Druck setzt, damit ich die Verletzung vernünftiger medizinischer Regeln billige. Sie müssen für die Dauer Ihrer Dienstverlängerung die doppelte Zeit im Turnraum zubringen als sonst, verstanden?«
»Ja, Dr. Minchenko, danke«, sagte Leo prompt, der — soweit Ciaire wußte — in all diesen Tagen überhaupt keine Zeit im Turnraum verbracht hatte. »Wo ist Tony? Können wir Ihnen helfen, ihn zur Krankenstation zu bringen?«
»Ah«, er schaute Ciaire eingehender an. »Ich verstehe. Tony ist nicht dabei, meine Liebe, er ist noch im Krankenhaus auf dem Planeten.«
Ciaire unterdrückte einen Laut des Erschreckens. »O nein — geht es ihm schlechter?« »Überhaupt nicht. Ich hatte durchaus die Absicht, ihn mitzubringen. Meiner Meinung nach braucht er die Schwerelosigkeit, um seine Genesung zu vollenden. Das Problem ist administrativer, nicht medizinischer Art. Und ich bin jetzt direkt unterwegs, um es zu lösen.«
»Hat Bruce angeordnet, daß Tony unten bleibt?«, fragte Leo.
»Ja, so ist es.« Dr. Minchenko blickte Leo finster an. »Und es gefällt mir auch in diesem Fall ganz und gar nicht, daß man sich in meine medizinische Verantwortung einmischt. Er sollte lieber eine außerordentlich überzeugende Erklärung parat haben. Daryl Cay hätte ein solches Durcheinander nicht zugelassen.«
»Sie … hm … haben also von den neuen Anordnungen noch nichts gehört?«, sagte Leo vorsichtig und warf Ciaire einen warnenden Blick zu — pst …
»Welche neuen Anordnungen? Ich bin unterwegs, um mit dem kleinen Fiesling — das heißt, mit dem Mann zu reden. Um dieser Sache auf den Grund zu gehen …« Er wandte sich Ciaire zu und wechselte in einen freundlicheren Ton über. »Das wird schon gut, wir renken alles ein. Tonys innere Blutungen haben aufgehört, und es gibt keine weiteren Anzeichen für eine Infektion. Ihr Quaddies seid zäh. Ihr bewahrt eure Gesundheit viel besser unter Schwerkraft als wir Planetarier in der Schwerelosigkeit. Nun ja, wir haben euch explizit so entworfen, daß ihr keiner Dekonditionierung unterliegt. Ich könnte mir nur wünschen, daß das Experiment, wodurch das bestätigt wurde, nicht unter so bedrückenden Umständen stattgefunden hätte. Natürlich«, er seufzte, »die Jugend hat auch etwas damit zu tun … Da ich von der Jugend spreche, wie geht es dem kleinen Andy? Läßt er dich jetzt besser schlafen?«
Ciaire brach fast in Tränen aus. »Ich weiß es nicht«, piepste sie und schluckte heftig.
»Was?«
»Ich darf ihn nicht sehen.«
»Was?«
Leo, der distanziert seine Fingernägel studierte, warf ein: »Andy wurde Ciaire weggenommen. Wegen Gefährdung des Kindes oder sowas. Hat Bruce Ihnen das auch nicht gesagt?«
Dr. Minchenkos Gesicht lief dunkelrot an. »Weggenommen? Von einer stillenden Mutter — das ist widerlich!« Sein Blick suchte Ciaire.
»Man hat mir ein Medikament gegeben, um meine Laktation zu beenden«, erklärte Ciaire. »Also, das ist ja …« Diese Erklärung hatte ihn nur wenig besänftigt. »Wer hat das getan?«
»Dr. Curry.«
»Er hat es mir nicht gemeldet.«
»Sie waren im Urlaub.« »›Im Urlaub‹ heißt doch nicht ›von der Außenwelt abgeschnitten‹. Sie, Graf! Spucken Sie es aus. Was, zum Teufel, ist hier los? Hat diese Taschenausgabe von einem Leuteschinder völlig den Verstand verloren?«
»Sie haben es also wirklich noch nicht gehört. Nun, dann sollten Sie lieber Bruce fragen. Ich habe die direkte Weisung bekommen, nicht darüber zu reden.«
Minchenko durchbohrte Leo mit einem Blick. »Das werde ich tun.« Er stieß sich ab und schwebte in den Korridor, wobei er leise vor sich hinmurmelte.
Ciaire und Leo blieben zurück und blickten sich erschrocken an.
»Wie bekommen wir jetzt Tony wieder her?« schrie Ciaire. »Es sind weniger als vierundzwanzig Stunden bis zu Silvers Signal!«
»Ich weiß es nicht — aber gib jetzt nicht auf! Denk an Andy. Er braucht dich.«
»Ich gebe nicht auf«, sagte Ciaire. Sie holte tief Luft. »Nie wieder. Was können wir tun?«
»Nun, ich werde sehen, welche Drähte ich ziehen kann, um Tony herauszuholen — Bruce etwas vorquatschen, ihm sagen, daß ich Tony brauche, damit er seine Schweißergruppe leitet oder sowas — ich bin mir noch nicht sicher. Vielleicht können Minchenko und ich zusammen etwas bewirken, obwohl ich nicht das Risiko eingehen möchte, Minchenkos Verdacht zu wecken. Wenn ich das nicht kann«, Leo holte bedachtsam Atem, »müssen wir etwas anderes ausarbeiten.«
»Lügen Sie mich nicht an, Leo«, sagte Ciaire drohend.
»Zieh keine voreiligen Schlüsse. Ja, ich weiß — und du weißt es auch —, es besteht die Möglichkeit, daß wir ihn nicht zurückholen können, na schön, ich hab’s gesagt, ganz offen und laut. Aber nimm bitte zur Kenntnis, daß alle anderen Szenarios davon abhängen, daß Ti für uns ein Shuttle steuert, und damit müssen wir warten, bis wir wieder Kontakt mit der Entführermannschaft haben. Zu dem Zeitpunkt werden wir ein Sprungschiff gekapert haben, und dann werde ich anfangen zu glauben, daß alles möglich ist.« Seine Augenbrauen zuckten vor Anspannung. »Und wenn es möglich ist, dann werden wir es versuchen. Das verspreche ich.« Sie wurde zunehmend kühler und preßte ihre Lippen aufeinander, damit sie nicht zitterten. »Sie können nicht nur um eines Einzigen willen alle aufs Spiel setzen. Das ist nicht recht.«
»Nun … es gibt tausend Dinge, die zwischen jetzt und dem — Punkt ohne Umkehr für Tony schiefgehen können. Das Problem kann sich als völlig theoretisch erweisen. Ich weiß, wenn wir jetzt unsere Energie auf tausend Was-ist-wenn aufspalten, anstatt sie auf den einen sicheren nächsten Schritt zu konzentrieren, dann ist das eine Art Selbstsabotage. Nicht das, was wir nächste Woche tun, zählt jetzt am meisten, sondern, was wir als nächstes tun. Was müssen wir als nächstes tun?«
Ciaire schluckte und versuchte, sich zusammenzureißen. »Wieder an die Arbeit gehen … so tun, als passierte nichts. Die geheime Inventur aller möglichen Samenvorräte fortführen. Ach, den Plan fertigstellen, wie wir die Wachstumslichter aufhängen, um die Pflanzen am Wachsen zu halten, während das Habitat von der Sonne entfernt wird. Und sobald das Habitat uns gehört, mit den neuen Setzlingen beginnen und die Reserve-Pflanzrohre aktivieren, damit wir anfangen, zusätzliche Nahrungsvorräte für Notfälle anzulegen. Und die Kryo-Lagerung von Exemplaren jeder genetischen Varietät einrichten, die wir an Bord haben, damit wir im Falle einer Katastrophe neu pflanzen können …«
»Das ist genug!« Leo lächelte ermutigend. »Nur den nächsten Schritt! Und du weißt, daß du das tun kannst.«
Sie nickte.
»Wir brauchen dich, Ciaire«, fügte er hinzu. »Wir alle, nicht nur Andy. Lebensmittelproduktion ist eine der Grundlagen unseres Überlebens. Wir brauchen die Hände aller Experten. Und du wirst anfangen müssen, Jüngere auszubilden und diese Fertigkeiten weiterzugeben, die die Bibliothek nicht erfassen kann, egal wie fachlich vollständig sie ist.«
»Ich werde nicht aufgeben«, wiederholte Ciaire und antwortete damit auf den Unterton seiner Rede, nicht auf die einzelnen Worte. »Du hast mir kürzlich einen Schreck eingejagt, da in der Luftschleuse«, entschuldigte er sich verlegen.
»Ich habe mir selbst einen Schreck eingejagt«, gestand sie.
»Du hattest ein Recht, wütend zu sein. Aber denk daran, das wahre Ziel deiner Wut ist nicht da drin …«, er berührte flüchtig ihr Schlüsselbein, oberhalb des Herzens. »Es ist dort draußen.«
Also hatte er erkannt, daß es Wut gewesen war, blockierte und nach innen gerichtete Wut, und nicht Verzweiflung, was sie an jenem Tag in die Luftschleuse gebracht hatte. In gewisser Hinsicht war es eine Erleichterung, ihrer Emotion die richtige Bezeichnung zu geben. In anderer Hinsicht war es keine Erleichterung.
»Leo … auch das macht mir Angst.«
Er lächelte spöttisch. »Willkommen im Club der Menschen.«
»Der nächste Schritt«, murmelte sie. »Richtig. Der nächste Griff.« Sie winkte Leo zu und schwang sich in den Korridor.
Leo kehrte mit einem Seufzer in die Ladebucht zurück. Diese Rede über den nächsten Schritt war schön und gut, außer wenn die Leute und die Umstände ständig einem die Route vor der Nase umstellten, während man den Fuß noch in der Luft hatte. Sein Blick verweilte einen Moment auf der Quaddiemannschaft, die das Anschlußrohr an die große Frachtluke des Shuttles angebracht hatte und jetzt die Fracht mit ihren Powerhantierern in die Bucht entlud. Die Fracht bestand aus mannsgroßen grauen Zylindern, die Leo zuerst nicht erkannte.
Doch die Fracht sollte eigentlich nicht unbekannt sein; sie sollte aus einem beträchtlichen Vorrat an Ersatzbrennstäben für Lastenschubschiffe bestehen. »Um das Habitat zu zerlegen«, hatte Leo Van Atta vorgesäuselt, als er die Anforderung durchdrückte. »Dann brauche ich nicht zu unterbrechen und nachzubestellen. Und falls dann welche übrigbleiben, dann können sie mit den Schubschiffen zur Transferstation gehen, wenn die verlegt werden. Schreiben Sie sie dann der Wiederverwertung gut.«
Beunruhigt schwebte Leo zu den Frachtarbeitern hinüber. »Was ist das, Jungs?«
»Oh, Mr. Graf, hallo. Na ja, ich bin mir nicht ganz sicher«, sagte der Quaddiejunge in dem kanariengelben T-Shirt und den gelben Shorts der Abteilung Wartung Luftsysteme, von der Docks Schleusen eine Unterabteilung darstellte. »Ich glaube nicht, daß ich das schon einmal gesehen habe. Es ist jedenfalls massiv.« Er hielt inne, nahm ein Berichtspanel von seinem Powerhantierer ab und reichte es Leo. »Hier ist der Frachtschein.«
»Das sollten Brennstäbe für Lastenschubschiffe sein …« Die Zylinder hatten in etwa die richtige Größe. Man hatte sie sicher nicht umkonstruiert. Leo betätigte die Tastatur des Berichtspanels — Artikel: eine Folge von Codeziffern, Menge: astronomisch hoch.
»Sie gluckern«, merkte der Quaddie im gelben Hemd hilfsbereit an.
»Gluckern?« Leo schaute etwas genauer auf die Codenummer auf dem Berichtspanel, dann auf die grauen Zylinder — sie paßten zusammen. Aber er erkannte doch den Code für die Schubschiffstäbe — oder? Er tippte ein: ›Brennstäbe, Orbit Frachtschubschiff Typ II, Verweis auf Artikelnummer.‹ Das Berichtspanel flimmerte und zeigte eine Nummer an. Ja, das war die gleiche — nein, um Himmels willen! G77618PD, dagegen stand auf den Zylindern G77681PD. Schnell tippte er ›G77681PD‹ ein. Dann gab es eine lange Pause — nicht für das Berichtspanel, sondern für Leos Hirn, um zu begreifen, was da stand.
»Benzin?«, krächzte Leo ungläubig. »Benzin? Diese Idioten haben tatsächlich hundert Tonnen Benzin auf eine Raumstation transportiert …?«
»Was ist das?«, fragte der Quaddie.
»Benzin. Ein Treibstoff aus Kohlenwasserstoff, den sie auf dem Planeten benutzen, um ihre Landrover anzutreiben. Ein kostenloses Nebenprodukt beim Krackverfahren in der Petrochemie. Atmosphärischer Sauerstoff liefert das Oxydationsmittel. Eine voluminöse, toxische, ätherische, leichtentzündliche — explosive! — Flüssigkeit in Zimmertemperatur. Um Himmels willen, paßt auf, daß keines dieser Fässer aufgeht.«
»Jawohl, Sir«, versprach der Quaddie, sichtlich beeindruckt von Leos Aufzählung der Gefahren. In diesem Moment traf der zweibeinige Aufseher der Mannschaften der Orbitalschubschiffe in der Bucht ein, gefolgt von einer Gruppe von Quaddies aus seiner Abteilung.
»Ach, hallo, Graf. Hören Sie, ich glaube, es war ein Fehler, daß ich mich von Ihnen überreden ließ, diese Ladung zu bestellen — wir werden Lagerprobleme haben …«
»Haben Sie das bestellt?«, wollte Leo wissen.
»Was?« Der Aufseher blinzelte, dann betrachtete er die Szene, die sich ihm bot. »Was zum — wo sind meine Brennstäbe? Man hat mir gesagt, sie seien hier.«
»Ich meine, haben Sie persönlich die Bestellung abgeschickt? Mit Ihren eigenen kleinen Fingern?«
»Ja. Sie haben mich doch darum gebeten, wissen Sie noch?«
»Nun«, Leo holte Luft und reichte dem Mann das Berichtspanel, »Sie haben einen Tippfehler gemacht.«
Der Aufseher blickte auf das Berichtspanel und erbleichte. »O Gott!«
»Und die haben die Bestellung ausgeführt«, sagte Leo und fuhr sich mit der Hand durch den Rest seines Haares, »sie haben sie ausgeführt — ich kann es einfach nicht glauben. All dieses Zeug auf das Shuttle geladen, ohne daß auch nur einer nachgefragt hat, hundert Tonnen Benzin auf eine Raumstation geschickt, ohne auch nur ein einzigesmal zu merken, daß das völlig absurd war …«
»Ich kann es nicht glauben«, seufzte der Aufseher. »O Gott. Na schön. Wir müssen es einfach zurückschicken und umbestellen. Es wird vermutlich etwa eine Woche dauern. Eigentlich sind unsere Vorräte an Brennstäben noch nicht wirklich so gering, trotz der Geschwindigkeit, mit der Sie sie für dieses ›Sonderprojekt‹ verbrauchen, über das Sie so geheimnisvoll tun.«
Ich habe keine Woche mehr, dachte Leo verzweifelt. Ich habe vielleicht noch vierundzwanzig Stunden.
»Ich habe keine Woche mehr«, hörte Leo sich brüllen. »Ich möchte sie auf der Stelle haben. Schicken Sie eine Eilbestellung.« Er dämpfte seine Stimme, als ihm bewußt wurde, daß er sich auffällig benahm.
Der Aufseher war beleidigt genug, um seine eigene Schuld zu verdrängen. »Kein Grund, einen Anfall zu bekommen, Graf. Das war mein Fehler, und wahrscheinlich werde ich dafür büßen müssen, aber es ist doch einfach blöd, meine Abteilung obendrein noch mit einem Shuttle-Eilflug zu belasten, wenn wir ganz gut noch warten können. Es ist schon schlimm genug, so wie es ist.« Er deutete auf das Benzin. »Heh, Jungs«, fügte er hinzu, »hört mit dem Ausladen auf! Diese Ladung ist ein Fehler; alles muß wieder nach unten geschickt werden.«
Der Shuttlepilot kam gerade rechtzeitig aus der Personalluke, um das zu hören. »Was?« Er schwebte zu ihnen herüber, und Leo gab ihm in sehr knappen Worten eine kurze Erklärung des Versehens. »Nun, Sie können das Benzin nicht mit diesem Flug zurückschicken«, sagte der Shuttlepilot bestimmt. »Ich habe nicht genügend Treibstoff für eine volle Ladung. Das wird warten müssen.« Er stieß sich ab und begab sich zu seiner obligatorischen Sicherheitspause in die Cafeteria.
Die Quaddies blickten ziemlich vorwurfsvoll drein, da nun die Richtung ihrer Arbeit schon zum zweitenmal umgekehrt wurde. Aber sie beschränkten ihre implizite Kritik auf ein säuerliches »Sind Sie diesmal sicher, Sir?«
»Ja«, seufzte Leo. »Aber sucht für dieses Zeug einen Lagerplatz in einem separaten Modul. Ihr könnt es nicht hier drinnen lassen.«
»Jawohl, Sir.« Leo wandte sich wieder an den Aufseher der Schubschiffmannschaften. »Ich brauche diese Brennstäbe.«
»Nun, Sie müssen einfach warten. Ich werde sie jetzt nicht bestellen. Van Atta wird mir schon deswegen genug zusetzen.«
»Sie können mein Sonderprojekt damit belasten. Ich werde dafür unterschreiben.«
Der Aufseher hob seine Augenbrauen, etwas getröstet. »Na ja … ich werde es versuchen, in Ordnung, ich werde es versuchen. Aber wie steht es mit Ihnen und Van Atta?«
Da ist schon alles zu spät, dachte Leo. »Das ist meine Sache, oder?« Der Aufseher zuckte die Achseln. »Vermutlich schon.« Er verließ murmelnd die Ladebucht. Einer der Quaddies von den Schubschiffmannschaften, der ihm folgte, warf Leo einen vielsagenden Blick zu; Leo reagierte darauf mit einem strengen Kopfschütteln, das er noch unterstrich, indem er sich mit dem Zeigefinger quer über den Hals fuhr: Schweigen!
Er wandte sich um und stieß fast mit Pramod zusammen, der geduldig hinter ihm wartete. »Schleich dich nicht so an mich heran!«, schrie Leo, dann hatte er seine strapazierten Nerven wieder unter Kontrolle. »Tut mir leid, du hast mich erschreckt. Was ist los?«
»Wir sind auf ein Problem gestoßen, Leo.«
»Aber natürlich. Wer kommt denn mal zu mir mit einer guten Nachricht? Ach, lassen wir’s. Um was geht es?«
»Klampen.«
»Klampen?« »An der Außenseite sind viele Verbindungen mit Klampen realisiert. Wir sind das Flußdiagramm für die Zerlegung des Habitats für morgen durchgegangen, wissen Sie …«
»Ich weiß schon.«
»Wir dachten, daß ein wenig Übung die Dinge beschleunigen könnte.«
»Ja, gut …«
»Kaum eine der Klampen läßt sich lösen. Nicht einmal mit elektrischen Werkzeugen.«
»Hm …« Leo schwieg verdutzt, dann erkannte er, worin das Problem lag. »Metallklampen?«
»Meistens.«
»Schlimmer auf der Sonnenseite?« »Viel schlimmer. Von denen haben wir keine einzige aufgebracht. Ein paar sind sichtbar verschmolzen. Irgendein Idiot muß sie geschweißt haben.«
»Geschweißt, ja. Aber nicht von irgendeinem Idioten. Sondern von der Sonne.«
»Leo, es wird doch nicht so heiß …« »Nicht direkt. Was ihr dort seht, ist spontanes Vakuumdiffusionsschweißen. Metallmoleküle verdampfen von den Oberflächen der Teile im Vakuum. Sicherlich langsam, aber es ist ein meßbares Phänomen. In den verklampten Bereichen wandern sie auf die benachbarten Oberflächen hinüber und bewirken am Ende eine hübsche Verbindung. Ein bißchen schneller bei den heißen Teilen auf der Sonnenseite, etwas langsamer bei den kalten Teilen im Schatten — aber ich wette, manche dieser Klampen sind schon seit zwanzig Jahren an ihrem Platz.«
»Oh. Aber was machen wir jetzt mit ihnen?«
»Sie müssen durchtrennt werden.« Pramod schürzte besorgt die Lippen. »Das wird die Sache verlangsamen.«
»Jaa. Und wir werden auch eine Methode finden müssen, um alle Verbindungen in der neuen Konfiguration wieder zu verklampen … Geh und hol alle zusammen, die jetzt schichtfrei haben. Wir werden eine kleine Notfallübung im Klauen abhalten müssen.« Leo hörte auf sich zu fragen, ob er die Große Übernahme überleben würde, und begann sich stattdessen zu fragen, ob er bis zur Großen Übernahme überleben würde. Er betete inständig darum, daß Silver es leichter haben würde als er selbst.
Silver hoffte inständig, daß Leo es leichter haben würde als sie selbst.
Sie drehte sich in dem Beschleunigungssitz herum, der nach ihren ersten acht Stunden Flug zunehmend unbequem wurde, legte das Kinn auf die Polsterung und betrachtete ihre Mannschaft, die sich in der Kabine des Schubschiffes drängte. Die anderen Quaddies hingen ebenso schlaff da wie sie, nur Ti schien sich wohlzufühlen, hatte die Füße aufgestützt und lehnte sich unter der beständigen Schwerkraft in seinem Sitz zurück.
»Ich habe dieses großartige Holovid gesehen«, Siggy winkte begeistert mit einigen Händen, »in dem ein Enterkampf vorkam. Die Marines benutzten Magnetminen, um in die Seite des Mutterschiffes Löcher wie in einem Blasenkäse zu sprengen.« Er gab einen unheimlichen, heulenden Schrei von sich, der die Geräuscheffekte des Vids darstellen sollte. »Die Außerirdischen rannten in alle Richtungen, überall flog Zeug herum, während die Luft entwich …«
»Das habe ich gesehen«, sagte Ti, »Nest des Verderbens, nicht wahr?«
»Du hast es für uns besorgt«, erinnerte ihn Silver.
»Hast du gewußt, daß es eine Fortsetzung gibt?«, sagte Ti zu Siggy. »Die Rache des Nestes.«
»Nein, wirklich? Meinst du …« »Erstens«, sagte Silver, »hat niemand bis jetzt intelligente Außerirdische gefunden, egal ob feindlich oder nicht, zweitens haben wir keine Magnetminen«, Gott sei Dank, »und drittens glaube ich nicht, daß Ti gerne eine Menge unschöner Löcher in der Hülle seines Schiffes hätte.«
»Nein«, gestand Ti.
»Wir werden durch die Luftschleuse hineingelangen«, sagte Silver mit Nachdruck, »denn die wurde genau für diesen Zweck konstruiert. Ich denke, die Mannschaft des Sprungschiffs wird überrascht genug sein, wenn wir sie in ihr Rettungspod setzen und es starten, ohne sie durch vorzeitiges Geheul so zu erschrecken, daß sie Gott-weiß-was tun. Selbst wenn Colonel Wayne in Nest des Verderbens seine Truppen mit seinem Rebellengeschrei über ihre Kommunikatoren in den Kampf geführt hat, so glaube ich nicht, daß wirkliche Marines das tun würden. Das würde ja ihre Kommunikation stören.« Unter ihrem finsteren Blick schwieg Siggy.
»Wir werden es einfach auf Leos Art machen«, fuhr Silver fort, »und die Laserlötpistolen auf sie richten. Sie kennen uns nicht, sie wissen nicht, ob wir feuern würden oder nicht.« Wie konnten schließlich Fremde etwas wissen, das sie selbst nicht wußte? »Da wir davon sprechen, wie wissen wir, welchen Superjumper …« — sie suchte nach einem passenden Ausdruck — »von der Herde absondern? Es dürfte eigentlich einfacher sein, die Erlaubnis an Bord zu gehen zu erhalten, wenn jemand bei der Mannschaft ist, der Ti gut kennt. Andrerseits mag es schwieriger sein …« Sie brach ab, da der Gedanke ihr nicht gefiel. »Besonders, wenn sie versuchen, sich zu wehren.«
»Jon könnte mit ihnen ringen, bis sie aufgeben«, schlug Ti vor. »Dafür ist er schließlich mitgekommen.«
Der stämmige Jon blickte ihn besorgt an. »Ich habe gedacht, daß ich als der Ersatzpilot für das Schubschiff dabei bin. Ring du mit ihnen, wenn du willst; es sind ja deine Freunde. Ich werde eine Lötpistole halten.«
Ti räusperte sich. »Ich würde jedenfalls gern D771 bekommen, wenn es da ist. Wir werden jedoch keine große Wahl haben. Wahrscheinlich sind sowieso immer nur ein paar Supersprungschiffe auf dieser Seite des Wurmloches im Einsatz. Grundsätzlich gehen wir auf das Schiff los, das gerade von Orient IV herübergesprungen ist, seine leeren Frachtbehälter abgestoßen hat und noch nicht damit begonnen hat, neue zu laden. Auf diese Weise kommen wir am schnellsten weg. Da muß nicht viel geplant werden; wir tun es einfach.«
»Die echten Schwierigkeiten werden beginnen«, sagte Silver, »wenn sie dahintergekommen sind, was wir wirklich vorhaben, und wenn sie versuchen, das Schiff zurückzubekommen.« Niedergeschlagene Gesichter. Schweigen trat ein. Im Augenblick hatte nicht einmal Siggy einen Vorschlag. Leo fand Van Atta im Turnraum der Planetarier, wo er entschlossen auf dem Tretwerk stampfte. Das Tretwerk war ein medizinisches Folterwerkzeug wie eine umgekehrte Streckbank. Mit Zugfedern ausgestattete Gurte zogen den Gehenden in Richtung auf die Tretfläche, gegen die er mit seinen Füßen stieß. Eine Übung, die auf ärztliche Anweisung eine Stunde oder mehr pro Tag dauerte und die Dekonditionierung des Unterleibs und die Entmineralisierung der langen Knochen der Bewohner der Schwerelosigkeit verlangsamen, wenn nicht aufhalten sollte. Nach dem Ausdruck auf Van Attas Gesicht zu schließen, trampelte er die vorgesehenen Tritte heute mit beträchtlicher persönlicher Animosität ab. Eine kultivierte Gereiztheit war in der Tat eine Methode, um die Energie aufzubringen, um diese langweilige, aber notwendige Aufgabe zu bewältigen. Nachdem er einen Augenblick nachdenklich zugeschaut hatte, entschloß sich Leo zu einem beiläufigen und indirekten Vorgehen. Er schlüpfte aus seinem Overall und klettete ihn an dem dafür vorgesehenen Streifen an der Wand fest, schwebte in seinem roten T-Shirt und seinen roten Shorts hinüber und legte sich den Gürtel und die Gurte der unbesetzten Maschine neben Van Atta an.
»Hat man diese Dinger mit Kleister geölt?«, keuchte er, während er die Handgriffe packte und sich anstrengte, um das Tretwerk in Bewegung zu setzen.
Van Atta wandte seinen Kopf und grinste sarkastisch. »Was ist los, Leo? Hat Minchenko, der ärztliche Minidiktator, Ihnen eine kleine körperliche Rache verordnet?«
»Ja, so etwas in der Art …« Endlich bekam er das Ding in Gang und beugte seine Beine in einem gleichmäßigen Rhythmus. Er hatte wirklich in letzter Zeit zu viele Übungsstunden ausfallen lassen. »Haben Sie mit ihm gesprochen, seit er wieder oben ist?«
»Ja.« Van Attas Beine traten gegen seine Maschine, die ein wütendes Surren von sich gab.
»Haben Sie ihm schon erzählt, was mit dem Projekt geschehen wird?«
»Unglücklicherweise mußte ich das tun. Ich hatte gehofft, ihn ganz zum Schluß dranzunehmen, mit den Übrigen. Minchenko ist wahrscheinlich der arroganteste von Cays alter Garde — er hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß er dachte, er hätte Cay als Projektleiter nachfolgen sollen, anstatt daß man einen Außenseiter herholte, nämlich mich. Wenn er nicht in einem Jahr pensioniert werden würde, dann hätte ich, verdammt noch mal, Schritte unternommen, um ihn schon vorher loszuwerden.«
»Hat er Einwände vorgebracht?«
»Sie meinen, ob er gebrüllt hat wie ein Schwein am Spieß? Ganz gewiß. Hat sich aufgeführt, als wäre ich persönlich verantwortlich für die Erfindung dieser verdammten künstlichen Schwerkraft. Ich kann diesen Quatsch nicht gebrauchen.« Van Attas Tretwerk untermalte seine Worte mit einem Stöhnen.
»Wenn er bei dem Projekt von Anfang an dabei war, dann sind die Quaddies wohl praktisch sein Lebenswerk«, gab Leo zu bedenken.
»Mm.« Van Atta marschierte weiter. »Das gibt ihm jedoch nicht das Recht, eingeschnappt in Streik zu treten. Selbst Sie waren am Ende vernünftiger. Wenn er nicht Zeichen einer kooperativeren Haltung an den Tag legt, sobald er die Gelegenheit hatte, sich zu beruhigen und einzusehen, wie nutzlos es ist, dann wird es vielleicht leichter sein, Currys Dienstzeit zu verlängern und Minchenko einfach wieder nach unten zu schicken.« »Aha.« Leo räusperte sich. Das roch nicht nach der guten Eröffnung, auf die er gehofft hatte. Aber es war nur noch so wenig Zeit. »Hat er mit Ihnen über Tony gesprochen?«
»Tony!« Van Attas Tretwerk brummte einen Moment lang wie eine Hornisse. »Ich hoffe, daß ich das kleine Biest nie wieder in meinem Leben sehe. Er hat nichts als Schwierigkeiten bereitet, Schwierigkeiten und Kosten.«
»Ich selbst hatte eigentlich gehofft, noch etwas mehr Nutzen aus ihm herausholen zu können«, sagte Leo vorsichtig. »Selbst wenn er medizinisch noch nicht in der Lage ist, wieder bei regulären Außenarbeitsschichten mitzumachen, so habe ich doch eine Menge Arbeit an der Computerkonsole und Überwachungsaufgaben, die ich ihm übertragen könnte, wenn er hier wäre. Wenn wir ihn hochholen könnten.«
»Unsinn«, versetzte Van Atta. »Sie könnten viel einfacher einen Ihrer anderen Quaddie-Vorarbeiter — Pramod zum Beispiel — nehmen oder einen beliebigen anderen Quaddie auf diesen Posten setzen. Mir ist egal, wen, dafür habe ich Ihnen ja Ihre Befugnisse gegeben. In zwei Wochen fangen wir sowieso an, die kleinen Monster nach unten zu bringen. Es macht keinen Sinn, einen heraufzuholen, den Minchenko bis dahin nicht aus der Krankenstation entlassen würde. Das habe ich ihm gesagt.« Er blickte Leo finster an. »Ich möchte kein einziges Wort mehr über Tony hören.«
»Aha«, sagte Leo. Verdammt. Es war klar, daß er Minchenko hätte beiseite nehmen sollen, bevor er bei Van Atta das Wasser trübte. Jetzt war es zu spät. Van Attas Gesicht war nicht nur von der Bewegung gerötet. Leo überlegte, was Minchenko wohl alles gesagt hatte — bestimmt ziemlich starken Tobak; es wäre ein Vergnügen gewesen, dabei zuzuhören. Ein Vergnügen, das für die Quaddies jedoch zu teuer war. Leo bemühte sich um einen Gesichtsausdruck, von dem er hoffte, daß bei allem Schnaufen und Pusten Mitgefühl für Van Atta darin zu lesen war.
»Wie kommt die Planung für die Wiederverwertung voran?«, fragte Van Atta nach einer Weile.
»Sie ist fast abgeschlossen.«
»So, wirklich?« Van Attas Gesicht hellte sich auf. »Na, das ist mal wenigstens eine gute Nachricht.« »Sie werden überrascht sein, wie vollständig das Habitat recycelt werden kann«, versprach Leo völlig wahrheitsgemäß. »Und auch die hohen Tiere von Galac-Tech werden überrascht sein.«
»Und wie schnell kann’s losgehen?«
»Sobald wir grünes Licht bekommen. Ich habe es wie ein Kriegsspiel angelegt.« Er schluckte weitere Doppeldeutigkeiten hinunter. »Planen Sie immer noch die Große Bekanntgabe vor dem übrigen Personal morgen um 13.00 Uhr?«, sondierte Leo beiläufig. »Im Hauptvortragsmodul? Ich möchte wirklich dabeisein; ich habe etwas Anschauungsmaterial zu präsentieren, sobald Sie Ihren Part hinter sich haben.«
»Nö«, sagte Van Atta.
»Was?« Leo schluckte. Er trat daneben, und die Federn knallten ihn mit einem Knie schmerzhaft auf das Tretwerk, das genau wegen solcher Ungeschicklichkeiten gepolstert war. Er rappelte sich wieder auf die Füße.
»Haben Sie sich verletzt?«, fragte Van Atta. »Sie machen ein komisches Gesicht …«
»In einer Minute geht es schon wieder.« Leo blieb stehen und spannte die Beinmuskeln gegen den elastischen Zug. Er bemühte sich, trotz Schmerz und Panik seinen Atem und sein Gleichgewicht wiederzufinden. »Ich dachte — Sie würden so die Katze aus dem Sack lassen. Alle zusammenholen und die Tatsachen bloß einmal abhandeln.«
»Nach der Geschichte mit Minchenko bin ich es müde, mich deswegen zu streiten«, sagte Van Atta. »Ich habe Yei gesagt, daß sie es machen soll. Sie kann die Leute in kleinen Gruppen in ihr Büro rufen und gleichzeitig die Pläne für die Evakuierung der einzelnen und der Abteilungen austeilen. Das ist viel effizienter.«
Leos und Silvers schöner Plan, die Planetarier friedlich vom Habitat abzukoppeln, den sie in vier geheimen Planungssitzungen ausgearbeitet hatten, war so im Nu vom Tisch. Umsonst war jetzt all die Schmeichelei und die indirekten Anregungen, mit denen Van Atta die Überzeugung eingeflößt worden war, es wäre seine Idee gewesen, das gesamte planetarische Personal des Habitats gegen alle Gewohnheit auf einmal zu versammeln und seine Ankündigung in einer Rede zu mächen, mit der er allen einreden würde, daß sie ausgezeichnet und nicht verdammt würden … Die speziell angepaßten Sprengladungen, die auf einen Knopfdruck hin das Vortragsmodul vom Habitat abtrennen sollten, waren schon alle plaziert. Die Atemmasken für die Sauerstoffversorgung der fast dreihundert Menschen während der paar Stunden, die notwendig waren, um das Modul um den Planeten zur Transferstation zu schieben, waren sorgfältig in dem Modul versteckt worden. Die beiden Schubschiffcrews waren gedrillt, ihre Schubschiffe mit Treibstoff versehen und startbereit. Ein Narr war er gewesen, Pläne zu schmieden, die davon abhingen, daß Van Atta etwas durchziehen würde … Leo wurde plötzlich übel. Dann mußten sie eben den zweitbesten Plan nehmen, den Notfallplan, den sie durchdiskutiert und dann als zu riskant hatten fallen lassen, da sich seine Ergebnisse möglicherweise zu wenig steuern ließen.
Benommen nahm Leo seine Federn und Gurte ab und hängte sie wieder am Rahmen des Tretwerks auf.
»Das war keine Stunde«, sagte Van Atta.
»Ich glaube, ich hab mir was am Knie gemacht«, log Leo.
»Da wundere ich mich nicht. Glauben Sie, ich wüßte nicht, daß Sie Übungsstunden geschwänzt haben? Versuchen Sie bloß nicht, Galac-Tech zu verklagen, denn wir können Ihnen persönliche Versäumnisse nachweisen.« Van Atta grinste und marschierte tugendsam weiter.
Leo zögerte. »Übrigens, wußten Sie, daß das Nachschublager auf Rodeo uns gerade irrtümlicherweise hundert Tonnen Benzin geschickt hat? Und daß unser Konto damit belastet wird?«
»Was?« Als Leo sich abwandte, hörte er mit einer gewissen rachsüchtigen Befriedigung, wie Van Attas Tretwerk anhielt und dann ein zu schnell gelöster Gurt zurückschnellte und seinem Träger einen Schlag versetzte. »Au!«, schrie Van Atta.
Leo blickte nicht zurück.
Dr. Curry nahm Ciaire in Empfang, als sie zu ihrem Termin in der Krankenstation eintraf. »Oh, gut, du kommst gerade rechtzeitig.«
Ciaire blickte den Korridor hinauf und hinab, und ihre Augen wanderten in dem Behandlungsraum umher, in den Dr. Curry sie bugsierte. »Wo ist Dr. Minchenko? Ich dachte, er wäre hier.«
Dr. Curry errötete leicht. »Dr. Minchenko ist in seinem Quartier. Er kommt heute nicht zum Dienst.«
»Aber ich wollte mit ihm reden …«
Dr. Curry räusperte sich. »Hat man dir gesagt, worum es bei deinem Termin geht?«
»Nein … ich vermute, es geht um weitere Medikamente für meine Brust.«
»Ah, verstehe.«
Ciaire wartete einen Moment, aber er äußerte sich nicht weiter, sondern war damit beschäftigt, medizinische Instrumente mit ihren Klettringen auf einem Tablett zu befestigen und dann in den Sterilisator zu schieben. Dabei vermied er Claires Blick. »Nun, es ist völlig schmerzlos.«
Früher hätte sie vielleicht keine Fragen gestellt, sondern fügsam gehorcht — sie war schon Tausenden von unbekannten medizinischen Untersuchungen unterzogen worden, und das hatte schon begonnen, bevor sie überhaupt als Kind aus dem Uterusreplikator genommen worden war, aus jener künstlichen Gebärmutter, in der sie in einer jetzt geschlossenen Abteilung dieser Krankenstation herangereift war. Früher war sie eine andere Person gewesen, vor der Katastrophe auf dem Planeten mit Tony. Danach war sie einige Zeitlang nahe daran gewesen, überhaupt niemand zu sein. Jetzt fühlte sie sich seltsam erregt, als zitterte sie am Beginn einer Neugeburt. Ihre erste Geburt war mechanisch und schmerzlos gewesen, vielleicht hatte sie deshalb keine Wurzeln getrieben …
»Was …«, begann sie zu piepsen. Ihre Stimme war zu leise. Sie hob sie und sagte, für ihre eigenen Ohren jetzt laut: »Um was geht es bei diesem Termin?«
»Nur um eine kleine lokale Prozedur am Unterleib«, sagte Dr. Curry unbekümmert. »Es dauert nicht lang. Du muß dich nicht einmal ausziehen, roll einfach dein Hemd hoch und schieb deine Shorts ein bißchen runter. Ich werde dich vorbereiten. Du mußt unter der Abschirmung des sterilen Luftstroms ruhiggestellt werden, für den Fall, daß sich ein oder zwei Bluttropfen selbständig machen.«
Sie werden mich nicht ruhigstellen … »Was ist das für eine Prozedur?«
»Es tut nicht weh und schadet dir überhaupt nicht. Komm jetzt her.« Er lächelte und klopfte auf die Abschirmeinheit, die aus der Wand hervortrat.
»Was?«, wiederholte Ciaire und bewegte sich nicht.
»Ich kann darüber nicht diskutieren. Es ist — geheim. Tut mir leid. Du wirst Mr. Van Atta fragen müssen, oder Dr. Yei, oder sonst jemanden. Weißt du was, ich werde dich gleich danach zu Dr. Yei schicken, und dann kannst du mit ihr reden, in Ordnung?« Er leckte seine Lippen; sein Lächeln wurde immer unsicherer.
»Bruce Van Atta würde ich nicht einmal …« Ciaire suchte nach einem Ausdruck, den sie einmal von einem Planetarier gehört hatte, »würde ich nicht einmal um die Uhrzeit fragen.«
Dr. Curry blickte sehr überrascht drein. »Oh.« Und er murmelte nicht allzu leise: »Ich habe mich gefragt, wieso du die zweite auf der Liste warst.«
»Wer war die erste auf der Liste?«, fragte Ciaire. »Silver, aber dieser Ausbilder hat sie zu einem Auftrag abgestellt. Sie ist doch eine Freundin von dir, oder? Du wirst ihr dann erzählen können, daß es nicht weh tut.«
»Es ist mir egal — es ist mir verdammt egal, ob es weh tut. Ich möchte wissen, um was es geht.« Sie kniff die Augen zusammen, als es ihr endlich aufging, dann riß sie sie empört weit auf. »Die Sterilisationen«, keuchte sie, »Sie fangen mit den Sterilisationen an!«
»Wie hast du … — du solltest doch nicht … — ich meine, wie kommst du denn darauf?«, schluckte Curry.
Sie versuchte zur Tür zu gelangen. Er war jedoch näher daran und auch schneller und schloß Ciaire die Tür vor der Nase. Sie prallte von der Türfüllung zurück.
»Ciaire, jetzt beruhige dich doch mal!«, keuchte Curry und verfolgte sie im Zickzack. »Du wirst dir nur völlig unnötigerweise wehtun. Ich kann dich auch unter Vollnarkose setzen, aber es ist besser für dich, wenn wir nur eine Lokalanästhesie machen und du einfach ruhig liegst. Du mußt ruhig liegen. Ich muß das machen, so oder so …«
»Warum müssen Sie das machen?«, schrie Ciaire. »Mußte Dr. Minchenko das machen — oder ist er deshalb nicht hier? Wer zwingt Sie, und wie, daß Sie das machen müssen?«
»Wenn Minchenko hier wäre, dann müßte ich es nicht machen«, versetzte Curry wütend. »Er hat sich davor gedrückt und läßt mich die Sache ausbaden. Jetzt komm hier herüber und leg dich unter dem Steri-Schild und laß mich die Scanner einstellen, oder ich muß ziemlich grob mit dir werden.« Er holte tief Luft, um sich aufzuputschen.
»Müssen«, höhnte Ciaire, »müssen, müssen! Es ist erstaunlich, was die Planetarier meinen, daß sie tun müssen. Aber das ist fast nie das gleiche, was ihrer Meinung nach Quaddies tun müssen. Warum ist das so, was meinen Sie?«
Curry knurrte und preßte die Lippen wütend zusammen. Dann nahm er eine Injektionsspritze von seinem Instrumententablett.
Er hat sie schon vorher hergerichtet, dachte Ciaire. Er hat das schon geübt, in Gedanken — er hat sich dazu entschlossen, bevor ich überhaupt hierhergekommen bin …
Er stieß sich ab, schwebte zu ihr, packte ihren linken oberen Arm und stieß die Nadel in einem jähen silbernen Bogen darauf zu. Sie packte sein rechtes Handgelenk und bremste die Armbewegung bis zum Stillstand; so hielten sie sich einen Moment lang mit zitternden Muskeln gegenseitig fest und taumelten langsam in der Luft. Dann griff sie auch mit ihren unteren Händen zu. Curry verschlug es den Atem, als sie seine Arme weit öffnete und sogar seinen jungen männlichen Körper bezwang. Er stieß um sich und traf sie mit seinen Knien, aber da er nichts hatte, woran er sich abstützen konnte, konnte er nicht genügend Kraft in die Stöße legen, um sie wirklich zu verletzen.
Sie grinste in wilder Euphorie und zwang nach Belieben seine Arme nach außen und nach innen. Ich bin stärker! Ich bin stärker! Ich bin stärker als er, und ich habe es nicht einmal gewußt … Sorgfältig umklammerte sie seine Handgelenke mit ihren starken unteren Händen und ließ die oberen los. Mit beiden oberen Händen zusammen löste sie leicht seine Finger von der Spritze. Sie hielt sie hoch und summte: »Das tut gar nicht weh.«
»Nein, nein …«
Da er zu sehr zappelte, konnte sie bei ihrer Unerfahrenheit keine schnelle venöse Injektion versuchen; deshalb nahm sie sich statt dessen einen Deltamuskel vor und hielt ihn noch weiterhin, bis er benommen und schwach wurde. Danach war es einfach, ihn unter dem Steri-Schild ruhigzustellen. Sie betrachtete sein Tablett und berührte staunend die Instrumente. »Wie weit sollte ich diesen Umschwung treiben, was meinen Sie?«, fragte sie laut.
Er wimmerte in seiner Benommenheit und zupfte schwach an den weichen Gurten. In seinen Augen stand Panik. Claires Augen leuchteten; sie warf den Kopf zurück und lachte, lachte wirklich, zum erstenmal seit — wann? Sie konnte sich nicht erinnern.
Sie brachte ihre Lippen nahe an sein Ohr und sagte deutlich: »Ich muß nicht.« Sie lachte immer noch leise, als sie die Türen des Behandlungsraumes hinter sich schloß und den Korridor hinab flüchtete.