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Das Ungeheuer brachte ihn nicht sofort um, sondern beobachtete ihn einige Sekunden lang aufmerksam. Während dieser Zeit zwang sich Jason dazu, diese aus der Dunkelheit aufgetauchte Bedrohung näher in Augenschein zu nehmen.

„K’e vi stas el…?“ sagte das unheimliche Wesen. Erst in diesem Augenblick merkte Jason, daß er es mit einem Menschen zu tun hatte. Die Frage schien nicht völlig unverständlich; Jason glaubte sie fast verstanden zu haben, obwohl er im Augenblick nicht wußte, um welche Sprache es sich handelte.

Er wollte antworten, aber seine Stimme versagte ihm den Dienst.

„Ven k’n torcoy — r’pidu!“

Jason hörte rasche Schritte und sah, daß die Dunkelheit jetzt von mehreren Fackeln erhellt wurde. Jetzt konnte er auch den Mann über sich deutlich erkennen und begriff, weshalb er ihn zunächst für ein großes Tier gehalten hatte. Der Mann war von Kopf bis Fuß in Leder gehüllt und trug zusätzlich einen Panzer aus dicken Lederplatten, der den Oberkörper bedeckte. Sein Kopf steckte in dem ausgehöhlten Schädel eines Tieres, in den er zwei Sehschlitze geschnitten hatte. Diese Maske wirkte noch grauenerregender, weil sie mit langen Zähnen besetzt war. Der einzige menschliche Teil dieses grotesken Kostüms war der verfilzte Bart, der unterhalb der Zähne aus der Maske hervorragte.

Das Ungeheuer erteilte den Fackelträgern einen kurzen Befehl und ließ sie fünf Meter von Jason entfernt anhalten. Jason fragte sich, weshalb er sie nicht näher herankommen ließ, weil das Licht kaum ausreichte. Aber auf diesem Planeten erschien alles unerklärlich…

Jason mußte für kurze Zeit das Bewußtsein verloren haben, denn als er wieder aufsah, steckte eine Fackel neben ihm im Sand. Der Gepanzerte hatte ihm einen Stiefel ausgezogen und zerrte gerade an dem anderen. Jason war zu schwach, um sich wehren zu können. Der Mann beschäftigte sich jetzt mit Jasons Kleidung, wobei er jeweils nach wenigen Sekunden zu den Fackelträgern hinübersah.

Als das unbekannte Wesen an den Magnetverschlüssen herumzerrte, verletzte er Jason an mehreren Stellen mit den scharfen Zähnen, die oberhalb der Knöchel auf seine Handschuhe genäht waren. Der Mann knurrte bereits ungeduldig, als er plötzlich den Medikasten in der Hand hielt. Das glänzende Ding schien ihm zu gefallen, aber als eine Nadel durch seinen Handschuh drang, brüllte er wütend auf, warf den Kasten zu Boden und stampfte darauf herum. Jason wollte retten, was zu retten war; er richtete sich auf, um nach dem Medikasten zu greifen, sank aber bewußtlos in den Sand zurück.


Jason wachte vor Morgengrauen des nächsten Tages aus seiner Ohnmacht auf. Er stellte fest, daß er mit einigen übelriechenden Fellen zugedeckt war, die seine Körperwärme einigermaßen bewahrten. Die Nachtluft war eisig kalt, aber er sog sie trotzdem in langen Zügen ein, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Erst jetzt fiel ihm auf, daß er eine große Beule am Hinterkopf hatte, die von der Bruchlandung des Schiffes stammen mußte. Dann wurde die Kälte unerträglich, so daß er sich gern wieder mit den Fellen zudeckte.

Er fragte sich, was aus Mikah geworden sein mochte, nachdem dieser verrückt kostümierte Raufbold ihm die Keule über den Schädel geschlagen hatte. Das war eigentlich ein unwürdiges Ende für einen Mann, der den Absturz eines Raumschiffes überlebt hatte. Jason mochte den unterernährten Eiferer nicht gerade, aber immerhin verdankte er ihm das Leben. Mikah hatte ihn gerettet, war aber dann selbst ermordet worden.

Jason nahm sich vor, den Mann bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit umzubringen, sobald er körperlich wieder dazu in der Lage war. Zur gleichen Zeit wunderte er sich darüber, daß er diesen Plan so kaltblütig fassen konnte. Offenbar war daran sein langer Aufenthalt auf Pyrrus schuld — und allem Anschein nach würde er sein dortiges Training hier ausgezeichnet verwerten können.

Als die Sonne endlich aufging, stellte Jason zu seiner Überraschung fest, daß Mikah Samon neben ihm unter einigen Fellen lag. Sein Kopf war blutverkrustet, aber der Atem ging regelmäßig.

„Der Kerl ist wirklich zäh“, murmelte Jason vor sich hin, während er sich aufsetzte, um die Welt zu betrachten, auf der sie durch seine Schuld gelandet waren.

So weit das Auge reichte, erstreckten sich leicht gewellte Sandflächen nach drei Seiten, während eine Düne Jason auf der vierten die Sicht versperrte. Hinter ihr mußte das Meer liegen, denn er hörte Wellen an den Strand schlagen. Hier und da lagen in Felle gehüllte Gestalten, die sich jetzt allmählich erhoben. Der eiskalte Wind blies noch immer und trieb Jason das Wasser in die Augen. Auf der Düne erschien jetzt eine bekannte Gestalt und rollte ein Seil auf, an dem zahlreiche Metallstäbchen hingen, die klirrend aneinander schlugen. Mikah Samon stöhnte und schlug die Augen auf.

„Na, alter Knabe, wie geht es dir denn?“ erkundigte Jason sich fröhlich. „So schöne blutunterlaufene Augen habe ich wirklich noch nie gesehen.“

„Wo bin ich…?“

„Das ist wieder eine äußerst originelle Frage — ich hätte nie gedacht, daß du dich wie ein modernes Dornröschen aufführen würdest. Ich habe keine Ahnung, wo wir sind, aber ich kann dir erklären, wie wir hierher gekommen sind, falls du dich der Sache gewachsen fühlst.“

Mikah warf Jason einen erstaunten Blick zu, weil dieser ihn duzte, ging aber sofort darauf ein. „Ich erinnere mich daran, daß ich dich ans Ufer gezogen habe. Dann tauchte plötzlich dieses Ungeheuer wie ein Teufel aus der Hölle auf. Wir setzten uns zur Wehr…“

„Und er schlug dir die Keule über den Schädel“, fuhr Jason fort. „Damit war der Kampf auch schon zu Ende, weil ich mich gar nicht erst rühren konnte. Dieser Kerl in dem komischen Kostüm scheint der Boß der ganzen Bande zu sein. Sonst weiß ich nichts über ihn — nur noch, daß er mir die Stiefel gestohlen hat, und ich will sie zurückhaben, selbst wenn ich ihn deswegen umbringen müßte.“

„Hänge dein Herz nicht an materielle Werte“, mahnte Mikah ernst. „Und sprich nicht wieder davon, daß du einen Menschen deshalb umbringen willst. Du bist verderbt, Jason, und… Meine Stiefel sind weg — und meine Kleidung auch!“

Mikah hatte die Felle von sich abgeworfen und diese überraschende Feststellung gemacht. „Belial!“ brüllte er jetzt. „Asmodeus, Abaddon, Satan und Beelzebub!“

„Wunderbar“, sagte Jason anerkennend. „Du hast dich offenbar eingehend mit Dämonen beschäftigt. Wolltest du sie nur aufzählen — oder sollten sie dir zu Hilfe kommen?“

„Ruhe, Gotteslästerer! Ich bin bestohlen worden!“ Er stand auf, so daß sein Körper dem eisigen Wind ausgesetzt war, der seiner Haut sofort einen bläulichen Schimmer verlieh. „Ich werde den Verbrecher finden, der mir das angetan hat, und ihn dazu zwingen, mir mein Eigentum zurückzugeben.“

Mikah wollte gehen, aber Jason erwischte ihn am Knöchel und hielt ihn fest. Ein kurzer Ruck, dann lag der Mann wieder auf dem Boden. Jason deckte ihn mit den Fellen zu.

„Jetzt sind wir quitt“, sagte Jason. „Gestern hast du mir das Leben gerettet, heute verdankst du mir deines. Du bist unbewaffnet und verletzt — aber der Kerl da drüben ist dick und gepanzert und schwer bewaffnet. Außerdem würde er sich kein Gewissen daraus machen, dir auf der Stelle den Schädel einzuschlagen. Bleib lieber hier und benimm dich unauffällig. Wir werden schon einen Ausweg finden. Ich möchte sogar sofort losziehen und Erkundigungen einziehen, damit wir wissen, was sich hier abspielt. Einverstanden?“

Mikah konnte nicht antworten, denn er war wieder ohnmächtig geworden. Jason stand auf, wickelte sich in die Felle und suchte in dem Sand herum, bis er einen faustgroßen Stein gefunden hatte. In diesem Aufzug und mit dieser Bewaffnung machte er sich auf den Weg zu den noch schlafenden Gestalten.

Als er wieder zurückkehrte, war Mikah bei Bewußtsein. Die Schläfer hatten sich unterdessen aufgerichtet und saßen oder standen in kleinen Gruppen beieinander. Insgesamt zählte Mikah etwa dreißig Männer, Frauen und Kinder, die kein besonderes Interesse an den beiden Fremden an den Tag legten. Jason hielt Mikah einen Lederbecher hin und ließ sich neben ihm in den Sand nieder.

„Außer Wasser scheint es hier nichts Trinkbares zu geben“, erklärte er Mikah. „Ich habe mich ein bißchen umgesehen, aber außer den Leuten dort drüben ist mir nichts aufgefallen. Unter ihnen herrscht ein ganz primitives Faustrecht, deshalb habe ich von meinen Fäusten Gebrauch gemacht, damit wir trinken können. Später werde ich mich ums Essen kümmern.“

„Wer sind sie? Was tun sie hier?“ fragte Mikah. Er sprach undeutlich und schien noch immer an den Nachwirkungen des Schlages zu leiden. Jason überlegte sich, daß er, um eine Infektion zu vermeiden, die Kopfwunde nicht mit Wasser auswaschen dürfe.

„Ich weiß nur eines sicher“, sagte Jason. „Sie sind Sklaven. Ich habe allerdings keine Ahnung, weshalb sie hier sind, was sie tun und was aus ihnen eines Tages wird. Aber ihre Stellung ist offensichtlich — unsere übrigens auch. Der Kerl dort auf der Düne ist der Boß. Wir übrigen sind Sklaven.“

„Sklaven!“ rief Mikah empört aus. „Das ist ja schrecklich! Die Sklaven müssen befreit werden.“

„Bitte keine Vorträge, sondern nüchterne Überlegungen, selbst wenn sie dir schwerfallen. Im Augenblick gibt es hier nur zwei Sklaven, die befreit werden müssen — du und ich. Alle übrigen scheinen sich mit dem bestehenden Zustand abgefunden zu haben, deshalb sehe ich gar nicht ein, warum wir ihn ändern sollen. Ich habe nicht die Absicht, irgendwelche Veränderungen einzuführen, bevor ich nicht einen Ausweg aus unserer Misere gefunden habe. Wahrscheinlich fange ich auch dann nicht damit an, denn dieser Planet ist so lange ohne mich ausgekommen, daß er es vermutlich auch in Zukunft schaffen wird.“

„Feigling! Du mußt für die Wahrheit eintreten, damit du durch die Wahrheit zur Freiheit gelangst!“

„Schon wieder diese fürchterliche Ausdrucksweise“, stöhnte Jason. „Wenn mir überhaupt jemand die Freiheit wiedergibt, dann bin ich’s. Das ist vielleicht nicht gut ausgedrückt, aber trotzdem wahr. Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos, deshalb wäre es besser, wenn du endlich zuhören würdest.

Der Boß — er heißt übrigens Ch’aka — ist auf die Jagd gegangen. Er kommt bald wieder zurück, so daß wir nicht viel Zeit für Erklärungen haben. Wie ich bereits vermutet habe, sprechen die Menschen hier eine Art verstümmeltes Esperanto — deshalb kam mir ihre Sprache von Anfang an so bekannt vor. Sie leben offensichtlich noch in der Steinzeit, aber das bedeutet nicht unbedingt, daß der Planet ganz isoliert sein muß. Vielleicht gibt es irgendwo eine Handelsniederlassung auf diesem Planeten. Darüber können wir uns später noch Sorgen machen. Im Augenblick müssen wir damit zufrieden sein, daß wir die Sprache verstehen und…“

„Ich spreche kein Esperanto“, warf Mikah ein.

„Dann lernst du es eben. Es ist ganz leicht. Jetzt hörst du lieber weiter zu. Diese Menschen hier sind als Sklaven geboren, stammen von Sklaven ab und wissen gar nicht, daß es auch freie Menschen gibt. Untereinander streiten sie sich ab und zu, wobei die Stärkeren die Schwachen unterdrücken, wenn Ch’aka nicht in der Nähe ist. Dieses häßliche Ungetüm ist unser größtes Problem. Wir müssen uns erst besser informieren, bevor wir es mit ihm aufnehmen können. Er ist gleichzeitig Boß, Verteidiger, Ernährer und Vater dieses zerlumpten Haufens und scheint etwas von seiner Aufgabe zu verstehen. Deshalb mußt du dich zunächst für einige Zeit als guter Sklave erweisen.“

„Sklave! Ich?“ Mikah wollte aufstehen, aber Jason drückte ihn wieder zu Boden — fester als notwendig.

„Ja, du — ich übrigens auch. Das ist unsere einzige Chance. Wir müssen mit den Wölfen heulen und nach Möglichkeit nicht auffallen, damit wir lange genug leben, um einen Ausweg aus dieser Klemme zu finden.“

Mikahs Antwort ging in einem lauten Schrei unter, den der zurückkehrende Ch’aka ausstieß, als er wieder auf der Düne erschien. Die Sklaven erhoben sich rasch, rafften ihre Bündel an sich und bildeten eine lockere Kette. Jason half Mikah auf und stützte den Verletzten, während sie ihren Platz am äußeren Ende der Formation einnahmen. Ch’aka versetzte dem nächsten Sklaven einen Tritt, den die anderen als Startzeichen anzusehen schienen, denn sie marschierten los und sahen dabei aufmerksam zu Boden. Jason hatte keine Ahnung, was sie dort suchten, kümmerte sich aber auch nicht weiter darum, solange er und Mikah nicht belästigt wurden.

Einer der Sklaven wies auf den Sand vor seinen Füßen. Jason konnte nicht erkennen, weshalb der Mann so erregt war, aber dann bückte der Sklave sich und grub mit einem Stock eine Art Wurzel aus, die kaum größer als seine Hand war. Er hob sie hoch über den Kopf und rannte damit zu Ch’aka hinüber. Der Sklavenhalter nahm sie entgegen, biß ein Stück davon ab und versetzte dem Mann einen gutgelaunten Fußtritt, als der Sklave sich umdrehte und an seinen Platz zurückging. Die Suche wurde fortgesetzt.

Ch’aka verschlang die nächsten beiden Wurzeln, bevor er seinem Ruf als Ernährer gerecht zu werden versuchte. Als die nächste Wurzel gefunden worden war, rief er einen Sklaven zu sich heran und warf sie in den Korb, den der Mann auf dem Rücken trug. Von da ab ging der Korbträger vor Ch’aka her, der sorgfältig darauf achtete, daß alle weiteren Wurzeln in den Korb geworfen wurden.

Der Sklave neben Jason stieß einen Schrei aus und zeigte zu Boden. Jason ließ Mikah einen Augenblick lang im Sand sitzen und beobachtete, wie der Mann mit seinem Stock eine bräunliche Wurzel mit wenigen grauen Trieben ausgrub. Das Ding schien so eßbar wie ein Kieselstein, aber der Sklave war offenbar anderer Meinung, denn er besaß die Unverschämtheit, an der Wurzel zu riechen, bevor er sie ablieferte. Ch’aka brüllte ihn zornig an und versetzte ihm einen heftigen Tritt, so daß der Mann humpelnd an seinen Platz zurückkam.

Kurze Zeit später ordnete Ch’aka eine Rast an. Die zerlumpten Sklaven versammelten sich in respektvoller Entfernung und sahen zu, wie er in dem Korb herumwühlte. Ihr Herr rief sie nacheinander zu sich und warf ihnen eine größere oder kleinere Wurzel vor die Füße. Offenbar entschied er nach eigenem Gutdünken, wer viel und wer wenig verdient hatte. Der Korb war fast leer, als er mit seiner Keule auf Jason wies.

„K’e nam h’vas vi?“ fragte er.

„Mia namo estas Jason, mio amiko estas Mikah.“

Jason hatte auf Esperanto geantwortet. Ch’aka hatte ihn anscheinend gut verstanden, denn er grunzte und suchte mit einer Hand in dem Korb herum. Sein maskiertes Gesicht starrte die beiden Fremden an. Dann hob der Sklavenhalter wieder die Keule.

„Woher kommt ihr? War das euer Schiff, das brennend versunken ist?“

„Es war unser Schiff. Wir kommen von weither.“

„Von der anderen Seite des Meeres?“ Das war offensichtlich die größte Entfernung, die der Sklaventreiber sich vorstellen konnte.

„Richtig, von der anderen Seite des Meeres.“ Jason wollte dem Kerl nicht erst einen Vortrag über Astronomie halten. „Wann bekommen wir etwas zu essen?“

„Du bist ein reicher Mann in deiner Heimat gewesen. Du hast ein Schiff und Stiefel gehabt. Jetzt habe ich deine Stiefel. Du bist hier Sklave. Mein Sklave. Ihr seid beide meine Sklaven.“

„Ich bin dein Sklave, wir sind deine Sklaven“, gab Jason resigniert zu. „Aber selbst Sklaven müssen essen. Wann bekommen wir etwas?“

Ch’aka wühlte in dem Korb herum, bis er eine kleine vertrocknete Wurzel gefunden hatte, die er zerbrach und Jason vor die Füße warf.

„Arbeitet gut, dann bekommt ihr mehr.“

Jason hob die Stücke auf und wischte den Sand so gut wie möglich ab. Er gab Mikah eines und biß selbst in das andere. Das Zeug schmeckte wie ranziges Fett mit Streusand. Jason mußte sich dazu zwingen, es mühsam hinunterzuwürgen, aber schließlich gelang es ihm doch. Jedenfalls war die Wurzel eßbar und konnte als Nahrung dienen, bis sie etwas anderes auftrieben.

„Worüber habt ihr gesprochen?“ erkundigte sich Mikah und spuckte einen kleinen Stein aus.

„Wir haben uns gegenseitig angelogen. Er glaubt, daß wir seine Sklaven sind, und ich habe zugestimmt. Aber nur vorläufig“, fügte Jason hinzu, als Mikah vor Zorn rot anlief und aufstehen wollte. „Wir befinden uns auf einem unbekannten Planeten, du bist verletzt, wir haben weder Nahrungsmittel noch Wasser und wissen nicht, wie wir hier überleben könnten. Deshalb müssen wir vorläufig noch tun, was der häßliche Vogel dort drüben sagt. Wenn er uns als Sklaven bezeichnen will, dann sind wir eben Sklaven…“

„Lieber in Freiheit sterben, als in Ketten verderben!“

„Laß den Unsinn! Lieber in Ketten leben und lernen, wie man sich ihrer entledigt. Auf diese Weise ist man am Schluß lebend-frei, anstatt nur tot-frei — was mir nicht angenehm wäre. An deiner Stelle würde ich den Mund halten und essen. Wir können nichts unternehmen, solange deine Wunde nicht geheilt ist.“

Der Rest des Tages verlief ähnlich wie der Vormittag. Jason half nicht nur Mikah, sondern fand auch zwei krenoj, wie die eßbaren Wurzeln hießen. Bei der abendlichen Essensverteilung erhielt er eine etwas größere Wurzel, die vermutlich eine Art Belohnung darstellen sollte. Mikah und er waren so erschöpft, daß sie sofort einschliefen, ohne sich um die anderen Sklaven zu kümmern.

Am folgenden Morgen wurde die routinemäßige Suche nach Wurzeln erstmals durchbrochen. Einer der Sklaven, der auf der Düne suchte, hinter der das Meer lag, stieß einen lauten Schrei aus und winkte aufgeregt. Ch’aka lief zu ihm hinüber, sprach mit ihm und jagte ihn dann mit einem Tritt davon.

Jason beobachtete ihn aufmerksam, als der Sklavenhalter eine Armbrust aus dem Sack auf seinem Rücken nahm und die Sehne mit einer Kurbel spannte. Diese verhältnismäßig komplizierte Waffe paßte durchaus nicht zu den hier herrschenden Verhältnissen. Jason hätte sie gern aus größerer Nähe gesehen. Ch’aka holte einen Bolzen aus seiner Gürteltasche und legte ihn auf die Sehne.

Die Sklaven blieben ruhig sitzen, während ihr Herr über die Düne schlich und auf der anderen Seite verschwand. Einige Minuten später war ein kurzer Schmerzenslaut zu hören. Die Sklaven sprangen auf und rannten zu der Düne hinüber, um zu gaffen. Jason ließ Mikah zurück und erreichte den Kamm der Düne eher als alle anderen.

Die Zuschauer hielten sich wie üblich in respektvoller Entternung auf und riefen Ch’aka von dort aus ihre Komplimente zu. Jason mußte zugeben, daß sie nicht unrecht hatten. Am Rande des Wassers lag ein großes Amphibium, aus dessen Hals das Ende des Bolzens hervorragte. Aus der Wunde tropfte Blut, das sich mit dem Meerwasser vermischte.

„Fleisch! Heute gibt es Fleisch!“

„Ch’aka hat ein rosmaro erlegt! Ch’aka ist wunderbar!“

„Heil Ch’aka, unserem Ernährer“, fiel Jason ein, um nicht hinter den anderen zurückzustehen. „Wann gibt es zu essen?“

Der Sklavenhalter ignorierte seine Sklaven und blieb im Sand sitzen, bis er sich von der anstrengenden Pirsch erholt hatte. Dann spannte er die Armbrust wieder, ging zu dem erlegten Tier hinüber und schnitt den Bolzen aus dem Fleisch, um ihn wieder auf die Sehne zu legen.

„Sucht Feuerholz“, befahl er. „Opisweni, du gebrauchst das Messer.“

Ch’aka ging rückwärts, ließ sich auf einer Erhöhung nieder und zielte mit der Armbrust auf den Sklaven, der sich dem Tier näherte. Der Mann hob das Messer auf, das Ch’aka im Sand hatte liegen lassen, und häutete die Beute ab, um sie anschließend auszunehmen. Dabei kehrte er seinem Herrn, der jede Bewegung verfolgte, stets den Rücken zu.

„Eine vertrauensvolle Seele, unser Sklaventreiber“, sagte Jason zu sich selbst, als er mit den anderen nach Feuerholz suchte. Ch’aka war bewaffnet, aber er hatte trotzdem Angst vor einem Überfall. Wenn Opisweni das Messer nicht für den angegebenen Zweck benützte, bekam er einen Bolzen durch den Kopf.

Als Jason mit dem Holz zurückkam, das er am Strand gefunden hatte, war das rosmaro bereits zerwirkt worden. Ch’aka jagte seine Sklaven von dem Holzstoß fort und holte ein primitives Feuerzeug aus der Tasche. Jason sah aufmerksam zu, wie er mit dem Stahl gegen einen Feuerstein schlug und damit eine Handvoll Zunder in Brand setzte.

Wo hatte Ch’aka das Feuerzeug und die Armbrust her? Beide Geräte gehörten einer wesentlich höheren Kulturstufe an, die diese Nomaden unmöglich selbst erreicht haben konnten. Vielleicht existierte auf diesem Planeten doch eine weiter entwickelte Zivilisation? Während die übrigen Sklaven ihr Fleisch verschlangen, sprach Jason mit Mikah über diese überraschende Entdeckung.

„Wir können wieder Hoffnung schöpfen. Diese primitiven Wilden haben weder das Feuerzeug noch die Armbrust erfunden. Wir müssen herausbekommen, woher die Geräte stammen, damit wir wissen, wohin wir fliehen können. Ich habe den Bolzen nicht genau gesehen, aber ich möchte schwören, daß er aus Stahl gedreht war.“

„Spielt denn das eine Rolle?“ fragte Mikah erstaunt.

„Das bedeutet eine Industriegesellschaft und vielleicht sogar Verbindung zu anderen Planeten.“

„Dann müssen wir Ch’aka fragen, woher er diese Gegenstände hat, und sofort aufbrechen. Wir werden die Behörden verständigen, unsere Lage erklären und nach Cassylia abfliegen. Ich werde dich erst wieder verhaften, wenn wir an Bord des Schiffes sind.“

„Wie rücksichtsvoll!“ Jason zog spöttisch eine Augenbraue in die Höhe. Dieser Mikah war wirklich unmöglich! „Tut es dir denn nicht leid, wenn du mich zur Hinrichtung abtransportierst? Schließlich sitzen wir hier gemeinsam in der Patsche — und ich habe dir das Leben gerettet.“

„Ich tue es nicht gern, Jason, weil ich einsehe, daß du doch nicht von Grund auf verderbt bist. Vielleicht könntest du sogar noch zu einem nützlichen Glied der menschlichen Gesellschaft werden. Aber meine persönlichen Gefühle haben keinen Einfluß auf die Pflicht, die ich zu erfüllen habe. Du darfst nicht vergessen, daß du die gerechte Strafe für deine Verbrechen erleiden mußt.“

Ch’aka rülpste in seinen Helm hinein und brüllte die Sklaven an.

„Genug gefressen, ihr Schweine! Ihr werdet nur zu fett. Wickelt das Fleisch ein und nehmt es mit — es ist noch hell genug, um krenoj zu suchen. Los, bewegt euch, sonst mache ich euch Beine!“

Die Sklaven bildeten wieder eine Kette und bewegten sich langsam über den sandigen Boden. Sie fanden einige Wurzeln und machten eine kurze Pause, um ihre Wassersäcke an einer Quelle zu füllen, die aus dem Sand sprudelte. Die Sonne verschwand hinter den Wolken am Horizont. Jason sah auf und bemerkte eine ganz ähnliche Formation, die sich in einiger Entfernung näherte. Er stieß Mikah in die Rippen, der sich noch immer auf ihn stützte.

„Anscheinend bekommen wir Gesellschaft. Ich bin gespannt, was daraus wird.“

Mikah hatte heftige Schmerzen und achtete deshalb nicht auf Jasons Bemerkung. Eigenartigerweise kümmerten sich aber auch weder die Sklaven noch Ch’aka um die entfernten Gestalten. Als sie näher kamen, war deutlich zu sehen, daß sie ebenfalls nach Wurzeln suchten. Sie sahen zu Boden und gingen langsam weiter, während ihr Herr ihnen in einigem Abstand folgte. Beide Gruppen näherten sich einander.

In der Nähe der Dünen war ein Steinhaufen zusammengetragen worden, an dem Ch’akas Sklaven haltmachten und sich niederließen. Die Steine stellten offenbar eine Art Grenze dar. Ch’aka ging darauf zu, stellte einen Fuß darauf und beobachtete die Sklaven, die sich ihm näherten. Auch sie ließen sich in der Nähe des Haufens nieder. Beide Gruppen zeigten wenig Interesse an der anderen, aber ihre Herren verhielten sich genau entgegengesetzt. Der andere Sklaventreiber blieb zehn Schritte von Ch’aka entfernt stehen und fuchtelte drohend mit einem Steinbeil herum.

„Ich hasse dich, Ch’aka!“ brüllte er dabei.

„Ich hasse dich, Fasimba!“ ertönte die lautstarke Antwort.

Dieser Wortwechsel wirkte so zeremoniell wie ein pas de deux. Die beiden Männer warfen sich noch einige Beleidigungen an den Kopf und unterhielten sich dann ganz ruhig miteinander. Fasimba war ähnlich abstoßend wie Ch’aka gekleidet, aber sein Kostüm unterschied sich darin, daß er den ausgehöhlten Schädel eines rosmaro als Helm trug, den er mit einigen zusätzlichen Hörnern und Stoßzähnen aufgeputzt hatte. Die Unterschiede zwischen den beiden Männern waren nur äußerlich, denn sie betrachteten sich offenbar selbst als gleichberechtigte Herren über Leben und Tod ihrer Sklaven.

„Heute habe ich ein rosmaro erlegt, das zweite in zehn Tagen“, prahlte Ch’aka.

„Du hast eine gute Treibgutküste. Jede Menge rosmaroj. Wo sind die beiden Sklaven, die du mir noch schuldig bist?“

„Ich bin dir zwei Sklaven schuldig?“

„Du bist mir zwei Sklaven schuldig. Du brauchst gar nicht den Ahnungslosen zu spielen. Ich habe dir die Eisenpfeile von den d’zertanoj besorgt. Der eine Sklave, mit dem du bezahlt hast, ist gestorben. Den anderen schuldest du mir noch immer.“

„Ich habe zwei Sklaven für dich. Ich habe zwei Sklaven aus dem Meer gezogen.“

„Du hast eine gute Treibgutküste.“

Ch’aka ging die Reihe seiner Sklaven entlang, bis er zu dem Mann kam, der am Vortag wegen seiner Unverschämtheit mit einem gewaltigen Tritt bestraft worden war. Jetzt zog er ihn hoch und schickte ihn mit einem weiteren Fußtritt zu der anderen Gruppe hinüber.

„Hier hast du einen guten Sklaven“, sagte er dabei zu Fasimba.

„Sieht mager aus. Nicht allzu gut.“

„Nein, alles Muskeln. Arbeitet ausgezeichnet. Ißt fast nichts.“

„Du bist ein alter Lügner!“

„Ich hasse dich, Fasimba!“

„Ich hasse dich, Ch’aka! Wo ist der zweite Sklave?“

„Ein erstklassiger Mann. Ich habe ihn aus dem Meer gefischt. Er kann dir viele Geschichten erzählen, und er arbeitet besser als alle anderen.“

Jason wich dem Fußtritt rechtzeitig aus, aber Ch’aka erwischte ihn beim zweiten Versuch, so daß Jason sich auf dem Bauch im Sand liegend wiederfand. Ch’aka griff Mikah Samon am Arm und zerrte ihn hinter sich her über die unsichtbare Grenzlinie zwischen den beiden Gruppen. Fasimba kam heran, um den neuen Sklaven abschätzend zu betrachten.

„Sieht nicht sehr gut aus. Hat großes Loch im Kopf.“

„Er arbeitet sehr fleißig“, versicherte Ch’aka ihm. „Das Loch ist schon fast verheilt. Er ist sehr stark.“

„Bekomme ich einen anderen, wenn der hier stirbt?“ erkundigte Fasimba sich mißtrauisch.

„Ja. Ich hasse dich, Fasimba!“

„Ich hasse dich, Ch’aka!“

Die Sklaven wurden aus ihrer Ruhe aufgescheucht und marschierten in entgegengesetzte Richtungen weiter.

Jason rannte zu Ch’aka hinüber. „Warte! Du darfst meinen Freund nicht verkaufen. Wir arbeiten nur gemeinsam gut. Du kannst einen anderen…“

Die übrigen Sklaven starrten Jason erschrocken an. Ch’aka warf sich herum und hob die schwere Keule.

„Halt das Maul! Du bist mein Sklave. Noch ein Wort, dann schlage ich dir den Schädel ein!“

Jason schwieg, weil er wußte, daß der andere seine Drohung wahrmachen würde. Andererseits brauchte er sich keine Gedanken mehr wegen Mikah zu machen, denn er hatte alles getan, was in seiner Macht stand. Jetzt mußte Jason sich vor allem um Jason kümmern, anstatt für andere zu sorgen.

Diesmal marschierten sie nur noch kurze Zeit, bis die andere Gruppe außer Sicht war; dann war ihre Tagesarbeit beendet. Jason ließ sich in einer windgeschützten Mulde nieder und wickelte ein großes Stück Fleisch aus, das er vor dem Aufbruch aus dem Feuer geholt hatte. Es war zäh und ölig, aber trotzdem wesentlich schmackhafter als die kaum eßbaren krenoj, von denen die Menschen hier sonst zu leben schienen. Jason nagte eben einen Knochen ab, als einer der anderen Sklaven zu ihm herankam.

„Gibst du mir ein Stück Fleisch?“ bat der Sklave mit heller Stimme. Erst jetzt fiel Jason auf, daß ein Mädchen vor ihm stand. Allerdings sahen die Sklaven alle gleich aus, weil das verfilzte Haar und die unförmigen Felle alle Unterschiede verwischten. Jason riß einen Brocken Fleisch ab.

„Hier. Setz dich und iß. Wie heißt du?“ Als Gegenleistung für seine Großzügigkeit erwartete Jason, daß das Mädchen ihm einige Fragen beantwortete.

„Ijale.“ Sie blieb stehen und biß von dem Fleisch ab, während sie sich gleichzeitig mit dem Zeigefinger der freien Hand in den Haaren kratzte.

„Wo kommst du her? Bist du schon immer hier gewesen — wie jetzt?“ Wie fragt man einen Sklaven, ob er als Sklave geboren worden ist?

„Nicht hier. Zuerst war ich bei Bul’wajo, dann bei Fasimba, jetzt gehöre ich Ch’aka.“

„Wer ist Bul’wajo? Ein Sklavenhalter wie Ch’aka?“

Das Mädchen nickte und aß weiter.

„Und die d’zertanoj, von denen Fasimba die Pfeile bekommt — was sind das für Leute?“

„Du weißt wirklich nicht viel“, antwortete Ijale, verschlang den letzten Bissen und leckte sich das Fett von den Fingern.

„Ich weiß genug, um Fleisch zu haben, wenn du keines hast — sieh dich also vor, damit du meine Gastfreundschaft nicht mißbrauchst. Wer sind die d’zertanoj?

„Jeder weiß, wer sie sind.“ Das Mädchen zuckte verständnislos mit den Schultern und ließ sich in dem Sand nieder. „Die d’zertanoj leben in der Wüste. Sie fahren in caroj herum, die fürchterlich stinken. Sie haben viele hübsche Sachen. Einer von ihnen hat mir mein schönstes Ding geschenkt. Nimmst du es mir bestimmt nicht weg, wenn ich es dir zeige?“

„Nein, ich fasse es nicht einmal an. Aber ich möchte sehen, was die d’zertanoj hergestellt haben. Hier hast du noch ein Stück Fleisch. Jetzt möchte ich dein schönstes Ding sehen.“

Ijale fuhr mit der Hand in eine Art Geheimtasche zwischen ihren Fellen und zog sie dann zur Faust geballt wieder heraus. Sie streckte Jason stolz die Hand entgegen und öffnete sie langsam. Auf der Handfläche lag eine winzige rote Glasperle.

„Ist das nicht schön?“ fragte das Mädchen.

„Sehr schön“, stimmte Jason zu und empfand ein unerklärliches Mitleid, als er die kümmerliche Glasperle betrachtete. Die Vorfahren dieses Sklavenmädchens waren in Raumschiffen auf diesen Planeten gekommen und hatten ohne Zweifel eine hochstehende Technik mitgebracht. Aber die Nachkommen dieser Pioniere waren so tief gesunken, daß sie eine wertlose Glasperle als ihren kostbarsten Besitz betrachteten.

„Also gut“, sagte Ijale und ließ sich in den Sand zurücksinken. Sie begann die Felle auseinanderzuschlagen, die ihr als Kleidung dienten.

„Nein, nein“, wehrte Jason ab. „Das Fleisch war ein Geschenk — du brauchst nicht dafür zu bezahlen.“

„Du willst mich nicht?“ fragte das Mädchen erstaunt und wickelte sich wieder ein. „Magst du mich nicht? Findest du mich zu häßlich?“

„Du bist hübsch“, log Jason. „Sagen wir einfach, ich sei zu müde.“

War das Mädchen häßlich oder hübsch? Jason konnte es nicht beurteilen. Das verfilzte Haar verdeckte die obere Gesichtshälfte, während eine Schmutzkruste die untere verbarg. Die aufgesprungenen Lippen und die entzündete rote Stelle auf der Backe ließen das Mädchen nicht gerade hübscher erscheinen.

„Darf ich heute nacht bei dir bleiben, obwohl du zu alt bist, um mich zu wollen? Mzil’kazi will mich immer und tut mir weh. Siehst du, dort drüben schleicht er schon wieder herum.“

Der Mann, auf den sie wies, lungerte in einiger Entfernung herum und zog sich rasch weiter zurück, als Jason aufsah.

„Seinetwegen brauchst du keine Angst zu haben“, versicherte Jason dem Mädchen. „Wir haben uns schon am ersten Tag darüber geeinigt, wer stärker ist. Wahrscheinlich ist dir die Beule an seinem Kopf aufgefallen.“ Als Jason nach einem Stein griff, rannte der Sklave davon.

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