5

Ijale blieb am folgenden Morgen in Jasons Nähe und nahm den Platz neben ihm ein, als die endlose Suche nach krenoj begann. Er stellte ihr weitere Fragen und hatte bereits gegen Mittag alles von ihr erfahren, was sie über ihre Umwelt jenseits des schmalen Küstenstreifens wußte. Das Meer war ein Geheimnis, das eßbare Tiere, Fische und gelegentlich auch eine menschliche Leiche lieferte. Ab und zu waren in der Ferne Schiffe sichtbar, aber niemand wußte, woher sie kamen und wohin sie fuhren.

An die andere Seite des Küstenstreifens schloß sich die Wüste an, die noch unwirtlicher als diese Gegend war, in der wenigstens krenoj wuchsen. In der Wüste konnten nur die d’zertanoj und ihre geheimnisvollen caroj existieren. Letztere konnten Tiere sein — oder vielleicht auch eine Art Fahrzeuge; beides war nach Ijales vager Beschreibung möglich. Meer, Küste und Wüste — aus diesen Elementen bestand ihre ganze Welt, und sie konnte sich nicht vorstellen, daß es auch noch etwas anderes geben könnte.

Jason wußte, daß es etwas anderes geben mußte; die Armbrust war der Beweis dafür, und er mußte herausbekommen, woher sie stammte. Zunächst mußte er aber einen geeigneten Moment abwarten, um sein Sklavendasein zu beenden. Aber das hatte vorläufig keine Eile. Er wußte unterdessen, wie man Ch’akas Stiefeln auswich, brauchte nicht übermäßig schwer zu arbeiten und hatte genug zu essen. Als Sklave brauchte er nicht für seinen Lebensunterhalt zu sorgen und konnte sich mit den Verhältnissen auf diesem Planeten vertraut machen, so daß er die Flucht nicht unvorbereitet antreten mußte.

Gegen Nachmittag des gleichen Tages wurde eine andere Sklavengruppe sichtbar, die langsam näher kam. Jason hatte erwartet, daß die gestrige Vorstellung sich wiederholen würde. Er war angenehm überrascht, als dies nicht der Fall war. Als die andere Gruppe auftauchte, bekam Ch’aka einen Wutanfall, vor dem sich die Sklaven in alle Richtungen in Sicherheit bringen mußten. Ch’aka stampfte mit den Füßen auf, brüllte zornig und schlug sich mit der Keule gegen den Lederpanzer, daß es weithin dröhnte. Nachdem er sich auf diese Weise in die richtige Stimmung versetzt hatte, rannte er schwerfällig los. Jason folgte ihm in sicherer Entfernung, weil er beobachten wollte, wie sich diese interessante Angelegenheit entwickelte.

Vor ihnen stoben die anderen Sklaven auseinander, und aus ihrer Mitte stapfte ein schwer bewaffneter und gepanzerter Mann hervor. Die beiden Sklavenhalter rannten aufeinander zu, so daß Jason schon auf einen Zusammenprall hoffte. Dazu kam es jedoch nicht, denn die Bewaffneten hielten rechtzeitig inne und gingen langsam umeinander herum, wobei sie sich Verwünschungen zuriefen.

„Ich hasse dich, M’shika!“

„Ich hasse dich, Ch’aka!“

Wieder die gleichen Worte, aber diesmal waren sie ernst gemeint, weil die beiden Männer nicht nur eine Formalität zu erfüllen hatten.

„Ich bringe dich um, M’shika! Du bist schon wieder mit deinen schmutzigen Sklaven auf meinem Grund und Boden!“

„Du lügst, Ch’aka — dieses Stück Land gehört mir!“

„Ich bringe dich um!“

Ch’aka sprang mit diesen Worten auf seinen Gegner zu und holte mit der Keule zu einem gewaltigen Schlag aus, der den anderen zu Boden gestreckt hätte, wenn er nicht geschickt ausgewichen wäre. Aber M’shika war auf den Angriff vorbereitet, wich einige Schritte zurück und holte seinerseits zu einem Schlag aus, den Ch’aka ohne Mühe parierte. In dieser Weise dauerte der Kampf noch einige Minuten an, bis die beiden Gegner sich plötzlich umklammert hielten.

Sie rollten miteinander durch den Sand. Dabei ließen sie die schweren Keulen achtlos fallen, die für den Nahkampf ohnehin ungeeignet waren, und kämpften mit Messern und Knien weiter. Jetzt begriff Jason auch, weshalb Ch’aka sich lange Stoßzähne an die Knie geschnallt hatte. Die Gegner kämpften wütend und legten erst nach längerer Zeit eine kurze Pause ein, um dann den Kampf mit verdoppelter Energie fortzuführen.

Ch’aka entschied schließlich den langen Kampf zu seinen Gunsten. Er ließ den Dolch fallen, nahm ihn mit dem Mund wieder auf und hielt dann die Arme des Gegners mit beiden Händen fest, während er gleichzeitig nach einer schwachen Stelle in der Rüstung des anderen suchte. M’shika stieß einen Schmerzensschrei aus, riß sich los und sprang auf, um zu fliehen. Er hatte eine Wunde am Oberarm davongetragen, die heftig blutete. Ch’aka stürzte sich erneut auf ihn, aber der Verletzte wehrte den Angriff mit seiner Keule ab.

M’shika stolperte rückwärts und suchte hastig die verschiedenen Waffen zusammen, die er im Laufe des Kampfes verloren hatte. Dann wandte er sich endgültig zur Flucht. Ch’aka verfolgte ihn ein kurzes Stück weit und schrie ihm Schimpfworte nach. Jason sah ein nadelspitzes Horn im Sand liegen und hob es rasch auf, bevor Ch’aka zurückkehrte.

Nachdem der Gegner endgültig in die Flucht geschlagen war, suchte Ch’aka sorgfältig den Kampfplatz ab und nahm alles an sich, was militärischen Wert haben mochte. Obwohl die Sonne erst in einigen Stunden untergehen würde, ließ er seine Sklaven nicht weiter nach krenoj suchen, sondern verteilte die Abendration an Ort und Stelle.

Jason kaute nachdenklich an einer Wurzel, während Ijale ihren Kopf an seine Schulter lehnte und sich ausdauernd kratzte. Die Sklaven hatten alle Läuse, und auch Jason war von dieser Plage nicht verschont geblieben. Er kratzte sich ebenfalls.

„Jetzt habe ich es satt“, stellte er fest und stand auf. „Dieses Sklavendasein hängt mir zum Hals heraus. In welche Richtung muß ich gehen, um auf die d’zertanoj zu treffen?“

„Dort hinüber — zwei Tage weit. Wie willst du Ch’aka umbringen?“

„Ich will ihn nicht umbringen. Ich gehe einfach. Seine Gastfreundschaft und seinen Stiefel habe ich jetzt lange genug genossen.“

„Das kannst du nicht“, warnte Ijale, „sonst wirst du umgebracht.“

„Ch’aka kann mich nicht gut umbringen, wenn ich nicht hier bin.“

„Jeder bringt dich um. Das ist überall so. Fliehende Sklaven werden immer umgebracht.“

Jason setzte sich wieder und biß nachdenklich ein Stück krenoj ab. „Schön, ich lasse mich gern überzeugen. Aber ich habe eigentlich nicht die Absicht, Ch’aka umzubringen, obwohl er meine Stiefel gestohlen hat. Und ich sehe nicht ein, was sein Tod mir nützen würde.“

„Du bist wirklich dumm. Wenn du Ch’aka umbringst, bist du der neue Ch’aka. Dann kannst du tun, was dir gefällt.“

Natürlich. Plötzlich erschien Jason alles sonnenklar. Er hatte irrtümlich angenommen, daß es hier zwei Klassen geben müsse — Sklaven und Sklavenhalter. Aber in Wirklichkeit gab es nur eine, in der der Stärkste herrschte.

Eigentlich hätte ihm dieser Gedanke schon kommen müssen, als er sah, wie sehr Ch’aka darauf achtete, daß keiner der Sklaven ihm zu nahe kam, und daß er sich jede Nacht in ein unbekanntes Versteck zurückzog. Das alles war ein Wettbewerbssystem höchster Vollendung, denn die Stellung des einzelnen hing nur von seiner Körperkraft und seiner Reaktionsfähigkeit ab. Jeder Mann, der allein für sich zu leben versuchte, mußte als Gegner dieser Ordnung angesehen und deshalb auf der Stelle getötet werden. Daraus ergab sich, daß Jason Ch’aka umbringen mußte, wenn er nicht ewig Sklave bleiben wollte.

An diesem Abend beobachtete Jason Ch’aka, als der Sklavenhalter sich fortschlich, und merkte sich die Richtung, in der er verschwunden war. Selbstverständlich würde Ch’aka einen Kreis beschreiben, aber mit etwas Glück konnte Jason ihn trotzdem finden. Und umbringen. Jason war von diesem mitternächtlichen Überfall nicht begeistert, weil er darin eine feige Lösung sah — aber in diesem speziellen Fall blieb nur dieses spezielle Mittel. Er konnte es nicht wagen, dem gepanzerten und schwerbewaffneten Ch’aka offen gegenüberzutreten, deshalb war das Messer des Meuchelmörders vorzuziehen — oder vielmehr das spitze Horn.

Jason schlief unruhig bis kurz nach Mitternacht; dann wickelte er sich leise aus den Fellen und stahl sich fort. Ijale wußte, daß er fortschlich; er sah ihre offenen Augen, die auf ihn gerichtet waren. Aber sie sprach ihn nicht an und blieb unbeweglich liegen. Jason wich den Schläfern aus und verschwand in der Dunkelheit zwischen den Dünen.

Die Suche nach Ch’aka war nicht einfach, aber Jason gab nicht so rasch auf. Er zog immer weitere Kreise um das Lager und untersuchte jede kleine Senke und Rinne. Dabei bemühte er sich leise zu sein, denn der Sklavenhalter würde bestimmt bei dem ersten Geräusch aufwachen.

Die Tatsache, daß Ch’aka sich zusätzlich durch eine Art Alarmanlage gegen einen Überfall gesichert hatte, fiel Jason erst auf, als er die Glocke hörte. Sie gab nur einen leisen Klang von sich, aber Jason blieb wie angewurzelt stehen. Er spürte eine dünne Schnur an seinem Arm, die mit der Glocke verbunden sein mußte, denn das Läuten wiederholte sich, als Jason vorsichtig einen Schritt zurücktrat. Er fluchte vor sich hin, als er sich daran erinnerte, daß er dieses Läuten schon einmal aus der Richtung von Ch’akas Versteck gehört hatte. Der Sklavenhalter hatte sich offenbar durch ein System von Schnüren gesichert, bei deren Berührung eine Glocke ertönte. Jason zog sich leise tiefer in die Rinne zurück.

Ch’aka kam herbeigerannt, schwang seine Keule über den Kopf und kam genau auf Jason zu. Jason rollte zur Seite, so daß die Keule seinen Kopf verfehlte. Dann sprang er auf und rannte so schnell wie möglich davon. Er wußte, daß er nicht stolpern oder fallen durfte, denn der geringste Fehltritt hätte den sicheren Tod bedeutet. Andererseits durfte er sich auch dem überlegen bewaffneten Ch’aka nicht zum Kampf stellen. Der Sklavenhalter konnte wegen seiner schweren Rüstung nicht mit Jason Schritt halten und blieb fluchend zurück. Jason verschwand keuchend in der Dunkelheit und schlich leise an seinen Platz innerhalb des Lagers zurück.

Er machte einen weiten Bogen um das Lager, bevor er sich ihm von der entgegengesetzten Seite näherte. Er wußte, daß der Lärm die Schlafenden geweckt haben mußte, deshalb wartete er etwa eine Stunde in der eisigen Kälte. Erst dann kehrte er unter seine Felle zurück. Er konnte lange nicht einschlafen und überlegte angestrengt, ob er erkannt worden sei.

Als die Sonne am Horizont aufging, erschien Ch’aka vor Wut bebend auf der nächstgelegenen Düne.

„Wer war es?“ kreischte er. „Wer ist heute nacht gekommen?“ Er ging durch die Reihe seiner Sklaven, die betroffen schwiegen und sich nur bewegten, um ihrem Herrn auszuweichen. „Wer war es?“ wiederholte Ch’aka, als er die Stelle fast erreicht hatte, an der Jason lag.

Fünf Sklaven wiesen schweigend auf Jason. Ijale fuhr zusammen und wich vor ihm zurück.

Jason sprang auf und floh vor der drohend geschwungenen Keule. Er hielt das spitze Horn in der Hand, war aber klug genug, um Ch’aka nicht offen entgegenzutreten; es mußte eine andere Möglichkeit geben. Er sah sich rasch nach seinem Verfolger um und hätte dabei fast das ausgestreckte Bein eines anderen Sklaven übersehen.

Sie waren alle gegen ihn! Hier war jeder gegen jeden, so daß Jason nicht mit ihrer Unterstützung rechnen durfte. Er ließ die Sklaven hinter sich und rannte die Düne hinauf. Von oben aus warf er Ch’aka Sand entgegen und hoffte ihn dadurch zu blenden, aber der Sklavenhalter griff nach seiner Armbrust und legte einen Bolzen auf die Sehne. Jason mußte wieder flüchten. Ch’aka verfolgte ihn keuchend.

Jason wußte, daß jetzt der beste Zeitpunkt für den Gegenangriff gekommen war. Die Sklaven waren außer Sicht, so daß der Kampf sich nur zwischen Ch’aka und ihm abspielen würde. Er kletterte einen steilen Abhang hinauf, drehte sich aber plötzlich um und warf sich auf seinen Verfolger. Ch’aka war von diesem plötzlichen Angriff so überrascht, daß er die Keule erst halb erhoben hatte, als Jason ihn mit sich zu Boden riß.

Der Sklavenhalter stürzte schwer und kämpfte vergeblich gegen Jason an, der sich auf seinem Rücken festklammerte. Jason suchte nach einer Stelle, wo er seine kümmerliche Waffe mit Erfolg gegen die Rüstung des anderen einsetzen konnte. Dann griff er nach Ch’akas Kopf, schnitt sich die Hand an den Reißzähnen des Tierschädels auf und bekam endlich den Bart zu fassen. Als er heftig daran zerrte, lag Ch’akas Kehle einen Augenblick lang frei, bevor der Mann sich zur Seite rollen konnte. Jason stieß entschlossen zu, und Ch’aka starb.

Jason besaß kaum noch die Kraft, um wieder auf die Füße zu kommen. Er entfernte sich einige Schritte weit von dem toten Gegner, wischte sich die Hände mit einem Grasbüschel ab und ließ sich erschöpft in den Sand nieder. Einige Minuten später hatte er sich so weit erholt, daß er darangehen konnte, dem Toten die Rüstung auszuziehen.

Nachdem er die Leiche eingescharrt hatte, scheuerte Jason den Helm mit Sand aus, legte die Rüstung an und kehrte zu den wartenden Sklaven zurück. Diese standen hastig auf, als er auftauchte, und bildeten die übliche Kette, um die Suche nach krenoj fortzusetzen. Ijale sah besorgt zu ihm herüber und versuchte zu erraten, wer gesiegt hatte.

„Eins zu null für die Besucher“, rief Jason ihr zu. Ijale lächelte schüchtern und erschrocken, dann wandte sie sich wieder ab. „Alles kehrt und den gleichen Weg zurück. Von jetzt ab beginnt eine neue Zeit für euch Sklaven. Ich weiß, daß ihr nicht daran glaubt, aber trotzdem stehen einige Änderungen bevor.“

Er pfiff vor sich hin, während er den Sklaven in sicherem Abstand folgte, und kaute zufrieden an der ersten krenoj herum, die gefunden wurde. Der Anfang war gemacht — alles andere hing jetzt nur noch von ihm ab.

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