FÜNFTES KAPITEL Die Depesche

Gleich nach Schluß der Oper hatte der Changeur sich nach seiner in der Rue Richelieu liegenden Wohnung begeben. Das Haus, in welchem er sich eingemietet hatte, war ein ziemlich neues und glich mehr einem Palast als einem Privatgebäude.

Als er eintrat, grüßte der Portier ehrerbietig. Eine Treppe hoch stand auf einem Porzellanschild der Name ‚Arthur Belmonte‘. Eine Bezeichnung des Standes war nicht zu lesen. Er zog die Glocke, und ein junger Mann von vielleicht dreiundzwanzig Jahren, in welchem man einen Diener vermuten konnte, öffnete. Als der Changeur sein Zimmer erreicht hatte und die Türen hinter ihm geschlossen waren, fragte er den, der ihm geöffnet hatte:

„Guten Abend, lieber Martin. War jemand da?“

„Nein, Herr Belmonte“, lautete die Antwort.

„Keine Anfrage gehalten?“

„Gar keine.“

„Briefe?“

„Ein einziger. Der Poststempel deutet auf Meudon.“

„Meudon?“ fragte Belmonte mit freudiger Miene. „Ah, vielleicht doch von dem Direktor der Geschützfabrik! Zeig her!“

Martin brachte den Brief, Belmonte öffnete ihn und las. Während des Lesens erheiterte sich sein Gesicht zusehends.

„Ja, er ist von ihm“, sagte er dann. „Unser Wein aus Roussillon tut Wunder.“

„Wird er welchen kaufen?“

„Wahrscheinlich. Zunächst soll ich ihn besuchen, um eine Probe durchzukosten. Morgen vormittag oder bereits früh reise ich nach Meudon.“

„Donnerwetter! Vielleicht läßt er Sie die Fabrik sehen, Herr Belmonte.“

„Ich hoffe es.“

„Dann bekommen Sie auch die famosen Mitrailleusen zu Gesicht. Ich wollte, daß ich dabei sein könnte.“

„Das überlaß mir allein. Übrigens muß einer von uns beiden zu Hause sein.“

Belmonte hatte seinen südfranzösischen Dialekt gesprochen, der Diener aber ein so reines Französisch, daß man hätte meinen sollen, er müsse unbedingt ein geborener Franzose sein. Sein Herr zog den Rock aus, legte dafür ein leichteres Hausjackett an und sagte dann:

„Du mußt heute abend noch auf das Telegraphenbüro.“

„So spät!“ meinte Martin, indem sein hübsches Gesicht den Ausdruck der Enttäuschung annahm. Doch war dieser Ausdruck von dem des Mißmutes weit entfernt.

„Ja, ich habe nämlich Wichtiges erfahren, was ich sogleich benachrichtigen muß.“

„Wohl in Beziehung des Krieges?“ fragte Martin rasch.

„Ja, es handelt sich um die Bildung von Franctireur-Corps und großen Waffenniederlagen.“

Martin nahm schleunigst an dem Schreibtisch Platz, zog einen Papierbogen hervor, griff zur Feder und fragte:

„Sie werden mir die Depesche wie gewöhnlich diktieren?“

„Allerdings. Brennen wir uns aber zuvor eine Zigarre an!“

Es schien ein eigentümlich freundliches Verhältnis zwischen diesen beiden zu herrschen, ein Verhältnis, welches man nur aus ganz ungewöhnlichen Umständen herzuleiten vermochte. Die Vertraulichkeit zwischen ihnen hatte dabei ganz und gar nicht den Anstrich jener Familiarität, welche man zwischen langjährigen Dienern und deren Herren zu beobachten pflegt.

Beide steckten sich eine Zigarre aus einem und demselben Kistchen an, Martin wartete schreibfertig, und Belmonte ging nachdenklich im Zimmer auf und ab. Dann begann das Diktat.

Wer aber geglaubt hätte, dasselbe verstehen oder gar belauschen zu können, der hätte sich geirrt, denn das, was Belmonte diktierte, waren keine Worte, sondern – Ziffern, und sogar sehr viele, lange, lange Reihen von Ziffern. Die Adresse bestand aus einem einfachen, bürgerlichen Vor- und Zunamen, lautend auf die Behrenstraße in Berlin.

Als Belmonte geendet hatte, sprang der Diener auf.

„Ah, also Kapitän Richemonte heißt der Mann?“ sagte er. „Waffenvorräte legt er an? Das ist von großer, von der allergrößten Wichtigkeit für uns.“

„Natürlich. Ich bin begierig, welche Instruktionen ich erhalten werde. Eigentlich ist es jetzt gefährlich, von Paris in Chiffren nach Berlin zu telegraphieren. Man wird die Depesche scheinbar aufgeben, faktisch sie aber erst dann befördern, wenn sie der Polizei zur Entzifferung vorgelegen hat. Doch kann ich mich da auf dich verlassen. Du bist ja ein sehr geschickter Telegraphist, lieber Martin.“

Der Diener machte ein überaus komisch pfiffiges Gesicht und antwortete:

„Ja, es soll diesen Franzosen etwas schwer werden, mich zu meiern, denn ich weiß mich zu –“

Er wurde von einer warnenden Gebärde seines Herrn unterbrochen. Dieser hatte selbst den Namen seines Dieners nicht deutsch, sondern französisch ausgesprochen. Martin aber hatte sich bei seinen letzten Worten der deutschen Sprache bedient.

„Pst! Pst! Nicht deutsch reden!“ meinte Belmonte. „Du sprichst dein gutes Französisch, und ich rede den südlichen Dialekt. Ich bin Agent eines Weingroßhauses und verkaufe am liebsten den in meiner südlichen Heimat wachsenden Roussillon, und du bist mein Diener, den ich während meiner Tour in Lyon engagiert habe. Dabei bleibt es. Französisch sprechen wir selbst dann, wenn wir unter vier Augen sind.“

„Verzeihung, Monsieur Belmonte! Ich hatte sagen wollen, daß Sie sich in Beziehung auf die Depesche ganz auf mich verlassen können. Ein guter Telegraphist liest sogar von fern die Depesche; er kennt das Ticken des Apparates sehr genau, und ich weiß, ohne bei demselben zu stehen, die Zeichen und Worte zusammenzusetzen. Ich werde eine Abschrift des Telegramms nehmen.“

„Wozu? Das ist gefährlich, wenn sie nun in falsche Hände kommt!“

„Das steht bei mir nicht zu befürchten. Es ist immerhin möglich, daß ich die Abschrift brauche, um den Telegraphisten zu überführen.“

„So nimm sie, aber vernichte sie später sofort!“

Martin setzte sich abermals nieder, um die Depesche zu kopieren. Als er fertig war, sagte er, sich erhebend:

„So, das ist gemacht. Vorher aber, ehe ich gehe, habe ich Ihnen etwas mitzuteilen, Herr Belmonte.“

„Etwas Wichtiges?“

„Ja, wichtig, nämlich für einen gewissen Besucher der großen Oper in der Straße Le pelletier.“

Belmonte errötete ein wenig und gebot:

„Nun so sprich!“

„Ich habe nämlich ganz genau erfahren, wer eine gewisse Dame ist, welche gewöhnlich in der Loge neben derjenigen dieses gewissen Herrn zu sitzen pflegt.“

„Ah, wirklich? Ich gab dir diesen Auftrag, weil ich Gründe habe, mich nicht selbst nach ihr zu erkundigen. Wer ist sie?“

„Eine Gräfin, oder vielmehr eine Komtesse.“

„O weh!“

„Ja. Der gewisse Weinagent ist nur Baron!“ lachte Martin.

„Ihre Eltern?“

„Hat keine.“

„Geschwister?“

„Auch keine! Sie hat nur einen einzigen Anverwandten, welcher ihr Großvater ist.“

„Was ist er?“

„General, aber pensionierter.“

„O weh!“

„Ja. Der gewisse Weinagent ist aber nur Husarenrittmeister.“

„Wie ist der Name?“

„Sie heißt Ella, Komtesse de Latreau. Ihre Wohnung wissen Sie ja bereits. Reich sind diese Leute, steinreich sogar. Aber einen Fehler, einen sehr großen Fehler hat diese Dame leider.“

„Wirklich? Welcher Fehler wäre das?“

„Sie ist verlobt.“

Belmonte entfärbte sich. Man merkte es ihm an, daß er bei dieser Gelegenheit mehr als oberflächlich erschrocken war.

„Verlobt ist sie?“ sagte er fast tonlos. „Weißt du mit wem?“

„Mit einem gewissen Bernard de Lemarch, Chef d'Escadron.“

„Also ein Offizier! Weißt du etwas Näheres über diese Sache?“

„Nun, der alte General, Graf von Latreau hat einen Schwager, den Grafen de Lemarch. Ferner hat der erstere eine Tochter und der letztere einen Sohn. Als Sohn und Tochter noch Kinder waren, spielten sie zusammen öfters Mann und Frau, sie waren ja Cousin und Cousine. Und das hat die Alten auf den Gedanken gebracht, sie später miteinander zu verheiraten. Man weiß es gar nicht anders, als daß sie Mann und Frau werden.“

„Sind sie denn einverstanden?“

„Hm! Von einer Verlobung im strengen Sinne des Wortes weiß man allerdings noch nichts; sie sind eben, wie es ja öfter vorzukommen pflegt, bereits in ihrer Jugend miteinander versprochen worden. In gewissem Sinne kann man das ja auch eine Verlobung nennen.“

„Eine unangenehme, sehr unangenehme Geschichte.“

„Unsinn, Monsieur Belmonte!“ lachte Martin. „Verlieben und Verloben ist zweierlei. Warten wir das Ding nur ruhig ab.“

„Wo steckt denn dieser Bernard Lemarch?“

„Sie werden sich wundern, daß ich auf einmal so ziemlich allwissend geworden bin. Aber ich habe eine wunderbare Kneipe entdeckt, wo meist nur Bedienstete großer Herren zu verkehren pflegen. Da tut eine Flasche Wein die beste Wirkung. Da saß zum Beispiel der Leibdiener des alten Grafen Lemarch und erzählte mir in seiner Weinlaune, daß der junge Lemarch plötzlich zum Grafen Rallion nach Metz berufen worden sei. Und da saß ferner der Oberkoch des Grafen Rallion und erzählte mir, daß sein Herr nach Schloß Ortry gereist sei, also der junge Lemarch wohl mit ihm.“

„Ortry? Das ist ja derselbe Name, welchen wir nach Berlin telegraphierten!“

„Das fiel mir eben auch auf. Ferner erzählte mir dieser dicke Oberkoch, daß der Graf Rallion auf Befehl des Kaisers, welcher der Polizei nicht zu trauen scheint, in seinem Hotel ein Büro für die Entzifferung aller zwischen Frankreich und Deutschland hin und her fliegenden Depeschen errichtet habe. Wird die unserige beanstandet, so geht sie in dieses Büro, aber nicht nach der Polizei. Und sodann erzählte er mir, daß in der Hand Rallions, der ja ein erklärter Günstling des Kaisers ist, Fäden zusammenlaufen, von denen selbst die Minister keine Ahnung haben.“

Belmonte machte ein ganz erstauntes, ja betretenes Gesicht.

„Welch eine Nachricht!“ rief er. „Wenn das wahr wäre.“

„Es ist wahr!“

„Sei nicht zu sicher. Was kann ein Koch wissen.“

„Hm. Oft sehr viel. Vielleicht zuweilen mehr als der Herr selbst. Wenn der Herr ein Gourmand ist, so beeinflußt der Koch den Magen des Herrn, der Magen den Kopf und der Kopf die Gedanken und Handlungen. Das ist bei Graf Rallion und seinem Koch der Fall. Letzterer hat einen Neffen, und dieser hat wieder eine Schwester, ein großes Glück für uns.“

„Wieso? Ich verstehe dich nicht.“

„Nun, der Neffe ist vor einigen Jahren infolge des Einflusses seines Küchenonkels Geheimsekretär des Grafen geworden. Er kennt also alles, was im Büro des Grafen vorkommt.“

„Ah! Wir müssen die Bekanntschaft dieses Neffen machen.“

„Wer von uns beiden, Herr Belmonte? Sie oder ich?“

„Du natürlich.“

„Das tue ich nicht.“

„Warum nicht?“ fragte Belmonte, die Brauen ein wenig zusammenziehend.

„Weil ich eine bessere Bekanntschaft vorgezogen habe.“

Dabei machte Martin wiederum eine seiner verschmitzten Gesichter, daß Belmonte lachend sagte:

„Kerl, du hast jedenfalls wieder, wie so oft, alles bereits in das beste Geleis gebracht, ehe ich dir nur einen Wink gab.“

„Möglich“, nickte Martin. „Ich sagte doch bereits, daß dieser Neffe eine Schwester habe.“

„Allerdings.“

„Nun, diese Schwester ist ein nettes, sauberes Mädchen, geradezu zum Anbeißen, Monsieur Belmonte!“

Dabei schnalzte er mit der Zunge, als ob er eben die feinsten Delikatessen verschlungen habe. Belmonte lachte, drohte ihm mit dem Finger und sagte:

„Martin, du bist ein sauberer Patron! Fast bereue ich, den Sohn meines alten, braven Gutsinspektors eine solche Laufbahn eröffnet zu haben, weil er einst mein Lern- und Spielkamerad war. Du treibst alle möglichen Sorten und Arten von Allotria, und ich beginne sogar zu vermuten, daß du jetzt zu allen andern noch angefangen hast, den Mädels nachzulaufen.“

„Hm. Einmal muß doch angefangen werden“, lachte Martin munter. „Ich habe ja leuchtende Beispiele vor mir. Meine Spielkameraden laufen ihrer Schönheit wegen in die große Oper; da ich aber nicht die Mittel besitze, mir eine teure Loge zu mieten, so muß ich meiner Passion auf minder glänzende Weise Rechnung zu tragen suchen.“

„Der Hieb war gut pariert. Ich konstatiere, daß ich mich getroffen fühle. Also du hast mit der Schwester dieses Geheimsekretärs bereits Bekanntschaft angeknüpft?“

„Ich mit ihr und sie mit mir. Es schien mir das vorteilhafter, als mich an ihn selbst zu machen. Er liebt den Wein, und da kommt es öfters vor, daß er sich einen Käfer, einen Aal, einen Spitz oder gar einen Affen holt.“

„In solchen Zeiten ist man mitteilsam. Du hättest also doch vielleicht besser getan, dich mit ihm bekannt zu machen.“

„Habe es versucht, aber mit dem vollständigsten Mißerfolg. Dieser Mensch wird nämlich, wenn die Geister des Weins über ihn kommen, nicht mitteilsam, sondern verschlossener, als er vorher schon war. Er spricht kein Wort und stiert nur so vor sich hin. Solche Menschen gibt es auch. Was ist da aus ihnen herauszuholen? Zudem brachte ich in Erfahrung, daß er sehr oft aus dem Büro des Grafen Rallion Konzepte, Pläne und dergleichen mit nach Hause nimmt, um sie während der Zeit außerhalb der Bürostunden zu mundieren. Der Kaiser verlangt, daß alle Eingaben an ihn kalligraphisch schön gefertigt sind, und da dachte ich, daß es wohl möglich sei, mit Hilfe der Schwester, aber natürlich ohne ihr Vorwissen, so etwas einmal in die Hand zu bekommen.“

„Schlauer Kerl. Dazu aber mußt du ja Eintritt in die Wohnung haben.“

„Hat ihn schon“, lachte Martin.

„Sapperlot! Wirklich?“

„Ja, ich war bereits einmal droben bei ihr, natürlich ohne Wissen des Bruders.“

„Wo wohnen sie?“

„Sie bewohnen vier Zimmer einer zweiten Etage. Im Haus gibt es keinen Portier und auch keinen Hausmann. Ein Dienstmädchen haben sie nicht, denn die gute Alice – so heißt sie nämlich – arbeitet und besorgt alles selbst, die alte, gute Haut! Erst kommt sein Arbeitszimmer, dann sein Schlafzimmer, dann der Miniatursalon meines Schätzchens. Die Küche hat sich in eine Ecke des Korridors verkrochen. Sonst noch etwas, Herr Belmonte?“

„Danke, mein Lieber! In welchem Zimmer warst du mit ihr?“

„Sehr vornehm, im Salon!“

„Nicht in ihrer Schlafstube?“

„Fällt ihr nicht ein, mir aber auch nicht, da meine Absichten nur auf die Zimmer ihres Bruders gerichtet sind.“

„Wann sollst du wiederkommen?“

„Das ist ja eben die verteufelte Geschichte! Ich sollte heute punkt neun eintreffen. Ihr Bruder, der Geheimsekretär, wollte halb neun Uhr ausgehen, und da ließ sich erwarten, daß er erst zu später Stunde nach Hause kommen werde. Nun aber ist es zu spät.“

„Das tut mir wirklich leid! Bei deiner Schlauheit und Gewandtheit hätte sich vermuten lassen, daß dein heutiger Besuch einigen Nutzen gehabt hätte.“

„Vielleicht ist es doch noch Zeit!“

„So spät?“

„Ja. Wenn der Herr Sekretär einmal in der Kneipe sitzt, so sitzt er ordentlich. Und hat er gar zu tief ins Glas geguckt, so sitzt er nicht bloß, sondern er klebt.“

„So versuche es! Ich werde selbst nach dem Telegraphenamt gehen.“

„Bitte um Entschuldigung! Das mit der Depesche ist meine Sache. Ich bin Telegraphist, wenn ich auch jetzt diene, und so wird es den Beamten dort nicht leicht, mir ein X für ein U zu machen. Auf dem Rückweg kann ich ja doch einmal nach Alice sehen. Sie wohnt am Wege. Haben Sie vielleicht noch eine Verordnung für mich?“

„Nein. Gehe immerhin! Ich weiß, daß ich dich nicht zur Vorsicht zu ermahnen brauche.“

„Übel angebracht wäre es doch vielleicht nicht!“ meinte Martin, indem er ein komisch ernstes Gesicht machte.

„Also doch! Wieso?“

„Weil ich glaube, sehr unvorsichtig gewesen zu sein.“

„Ich will doch nicht hoffen, daß du irgendeinen Fehler begangen hast?“ fragte Belmonte, indem er die Brauen emporzog.

„Einen sehr großen sogar!“

„Alle Teufel! Ich hoffe, daß er zu verbessern sein wird.“

„Wohl schwerlich.“

Belmonte schwieg, betreten, wie er doch ein wenig war. Martin bemerkte das und fuhr daher sogleich fort:

„Der Fehler ist nämlich glücklicherweise nur ein privater; aber trotzdem meine ich, daß Ihre Warnung zur Vorsicht gar nicht übel angebracht gewesen wäre. Ich lernte nämlich diese Alice nur kennen, um sie nach ihrem Bruder auszuforschen, ich wollte sie und ihn fangen; nun aber – habe ich meinen eigenen Angelhaken mitsamt der ganzen Köderfliege verschluckt. Ich bin selbst gefangen.“

Da lachte Belmonte erleichtert auf.

„So also ist es! Das meintest du! Du bist wirklich verliebt?“

„Ich denke es. Ist man verliebt, wenn man den Krampf, das Schneiden und Grimmen im Herzen hat statt im Magen? Ich habe da keine Erfahrung. Vielleicht können Sie mir bessere Auskunft geben, Monsieur Belmonte.“

„Keine Anzüglichkeit! Frage deine Alice nach Auskunft; ich lehne es ab, Rat zu erteilen!“

„Nun wohl, so will ich meine Krankheit sich entwickeln lassen, ob zu meinem Heil oder Unheil, das wird sich zeigen.“

„Kerl! Du wirst doch nicht gar auf den Gedanken kommen, eine Französin zu heiraten?“

„Warum nicht? Will man einmal in das Unglück hineintappen, dann ist es ganz egal, ob es auf französische Manier oder auf deutsche Weise geschieht. Im Gegenteil! Heirate ich eine Französin, welche nicht Deutsch versteht, so zanke ich deutsch, wenn ich wütend werde, und verstehe Französisch nicht, wenn sie in ihrer Muttersprache antwortet. Das gibt viel Sujets zu Lustspielen; ich verkaufe dieselben halb an deutsche und halb an französische Dichter, stecke die Fünfzigtaler- und Hundertfrankenscheine ein und werde dabei ein reicher Mann, ein glücklicher Gatte und ein famoser Familienvater.“

„Du bist unverbesserlich! Mach, daß du fortkommst!“

„Dachte es mir! Gehen Sie heute noch aus?“

„Nein, ich schlafe.“

„So darf ich mir vielleicht Ihr kleines Laternchen einstecken, wenn Sie es nicht brauchen?“

„Wozu?“

„Das weiß ich noch nicht. Auf den Wegen, welche ich wandle, ist es oft vorteilhaft, seine Fußstapfen beim Schein einer Leuchte in den Pfefferkuchen zu drücken.“

„Nimm sie und gute Nacht, wenn wir uns nicht wiedersehen sollten.“

„Gute Nacht, Monsieur Belmonte!“

Der lustige Diener steckte die Depesche nebst der Abschrift zu sich, versah sich mit dem Laternchen und trat den Gang nach dem Büro des Telegraphen an. Dasselbe war jetzt allerdings geschlossen, aber gegen eine unbedeutende Erhöhung der Gebühr mußte der Nachtbeamte zur Verfügung stehen. Dieser blickte verwundert über die Ziffern hin und meinte mürrisch:

„Verdammte Arbeit! Können Sie nicht in Worten telegraphieren?“

„O ja, das kann ich. Können Sie es?“ antwortete Martin.

Der Mann blickte ihn grimmig an und sagte:

„Wie meinen Sie das, Monsieur?“

„Sie erkundigten sich nach meiner Fertigkeit, und da glaubte ich das Recht zu haben, auch in Beziehung auf die Ihrige Nachfrage zu halten.“

„Meine Fertigkeit steht über allen Zweifel erhaben, sonst hätte man mich nicht angestellt. Das lassen Sie sich gesagt sein. Übrigens, wenn Sie sagen, daß Sie sich auch der Worte hätten bedienen können, warum haben Sie das nicht getan?“

„Weil es mir freisteht, mich sowohl der Worte wie auch der Ziffern zu bedienen. Und wenn ich irgendeinem Bekannten zehntausend Gedankenstriche zusenden will, so müssen Sie dieselben auf den Apparat übertragen. Übrigens habe ich mich für die Ziffer entschieden, weil nicht jeder Telegraphenbeamte zu wissen braucht, wieviel ich meinem Wichslieferanten schuldig bin!“

„Sie führen eine hier sehr ungewöhnliche Sprache. Ich werde sofort die Gebühr berechnen und dann die Depesche abgehen lassen.“

„Ich bitte um eine Bescheinigung, daß sie abgegangen ist!“

„Die sollen Sie haben!“

Das Formelle der Sache wurde abgemacht; Martin bezahlte und erhielt die Bescheinigung ausgestellt. Aber anstatt sich zu entfernen, blieb er ruhig stehen. Der Beamte blickte ihm zornig in das Gesicht und fragte:

„Nun? Was stehen Sie noch? Warum gehen Sie nicht?“

„Weil ich mir eine ergebene Frage gestatten muß.“

„Sprechen Sie. Aber machen Sie es kurz. Ich habe für solche Querulanten keine Zeit übrig.“

Martin tat, als ob er das beleidigende Wort gar nicht vernommen habe. Er machte das ehrlichste, treuherzigste Gesicht, welches ihm möglich war, und fragte sehr freundlich:

„Ist die Depesche schon abgegangen?“

Da fuhr der Beamte zornig auf.

„Herr, was denken Sie!“ reif er. „Meinen Sie etwa, daß es nur der Übergabe dieses Papiers bedarf, um den Inhalt desselben nach Berlin zu übermitteln? Soweit haben wir es denn doch noch nicht gebracht.“

„Ah, ich dachte, sie wäre bereits fort“, meinte Martin unbefangen. „Hier, auf meiner Bescheinigung steht, daß die Depesche elf Uhr vier Minuten aufgegeben worden sei. Ich glaubte also, ein Recht zu meiner Frage zu haben. Aber Sie geben doch zu, daß diese Bescheinigung eine Lüge enthält, wenn meine Korrespondenz noch unerledigt sich in Ihren Händen befindet.“

Der Beamte richtete seine Augen mit einem Ausdruck auf ihn, aus welchem zu ersehen war, daß er sich in Ungewißheit darüber befinde, wie er ihn beurteilen solle. Er sah die Depesche noch einmal durch und sagte dann barsch:

„Warten Sie!“

Nach diesen Worten entfernte er sich nachdenklich und trat in ein Nebenzimmer. Martin nickte lächelnd vor sich hin und flüsterte, indem er eine sehr zufriedene Miene machte:

„Er wollte die Ziffern nach dem Büro des Grafen Rallion zum Dechiffrieren schicken, ehe er sie dem Apparat übergibt. Nun erkundigt er sich bei irgendeinem Vorgesetzten, was zu machen sei, da ich nicht von der Stelle gehe. Wie wird der Bescheid lauten? Natürlich wird man mich täuschen wollen und so tun, als ob man telegraphiere. Schön. Das gibt mir Spaß.“

Nach einiger Zeit trat der Telegraphist wieder ein und fragte:

„Wer ist denn dieser Herr Walther, an welchen die Depesche gerichtet ist?“

„Ich weiß es nicht, werde es aber schleunigst erfahren.“

„Wieso? Sie telegraphieren an jemand, den Sie gar nicht kennen? Das ist mir unbegreiflich!“

„Mir nicht. Ich hörte vor einer Viertelstunde, daß in Berlin auf der Behrenstraße ein Mann wohnt, welcher Walther heißt. Ich habe niemals etwas von diesem Herrn gehört; das machte mich wißbegierig. Und da ich ahnte, daß auch Sie neugierig würden, so beschloß ich, ihn zu fragen, was und wer er eigentlich sei. Ich hätte das mit viel weniger Kosten brieflich tun können; um aber Ihre Neugierde schleunigst zu befriedigen, zog ich es vor, zu telegraphieren. Nun werden Sie wohl begreifen.“

Jetzt endlich sah der Beamte ein, daß er es mit einem überlegenen Kopf zu tun habe. Er wollte in eine zornige Bemerkung ausbrechen, befürchtete aber eine nochmalige Zurechtweisung und sagte daher nur kurz:

„Sie täten weit besser, Ihre Gedanken bei sich zu behalten. Ich werde sofort telegraphieren.“

„Ich bitte darum, da bereits zwanzig Minuten über die Zeit vergangen sind, welche Sie mir hier auf der Bescheinigung angegeben haben.“

Der Beamte trat an den Apparat und setzte ihn in Bewegung. Das Ticken und Klappern begann und wurde einige Male durch das Glockenzeichen unterbrochen. Nach einer Weile hörte es auf. Der Telegraphist trat auf Martin zu und sagte in stolz verächtlichem Ton:

„So, jetzt ist es getan! Sie können sich entfernen!“

„Ich muß mir noch eine Frage erlauben“, meinte Martin in dem gleichmütigsten Ton der Welt.

„Ich habe keine Zeit mehr für Sie. Gehen Sie.“

„Ich bleibe. Wenn Sie für mich nicht zu sprechen sind, so werde ich unter Ihren Vorgesetzten doch einen finden, welcher Zeit für meine Beschwerde hat.“

„Beschwerde? Was fällt Ihnen ein. Sie haben keine Veranlassung zur mindesten Beschwerde.“

„O doch! Ich habe vielmehr Veranlassung zur größten Beschwerde. Ich werde anfragen, ob der Apparat dieser Station den Zweck hat, Lügnern und Fälschern als Mittel ihrer Unterschlagungen zu dienen.“

„Herr!“ brauste der Beamte auf.

„Übernehmen Sie sich nicht im Atmen. Sie haben meine Aufgabe gar nicht depeschiert!“

„Wie können Sie das sagen!“

„Sie haben nicht nach Berlin, sondern nach Epernay telegraphiert. Das ist die Station, bis zu welcher die Leitung augenblicklich offen war.“

Der Telegraphist machte ein verlegenes Gesicht. Er konnte gar nicht begreifen, wie Martin das so genau wissen könne. Dennoch nahm er schnell eine strenge Miene an und entgegnete in drohendem Tone:

„Monsieur, Sie beleidigen mich! Sie haben ferner vorhin von Lügnern und Fälschern, von Unterschlagung gesprochen. Ich habe das Recht, Sie sofort arretieren zu lassen!“

„Tun Sie das“, antwortete Martin kalt. „Das würde der beste und kürzeste Weg sein, Genugtuung für mich und Bestrafung für Sie zu erlangen. Ich will an Herrn Walther eine Depesche aufgeben, um ihm, der ein bedeutender Bankier ist, zu sagen, welche Papiere er morgen früh auf der Börse kaufen soll; es hängen Hunderttausende, ja viele Millionen davon ab, daß er die Depesche frühestens erhält, und Sie weigern sich, sie aufzugeben. Sie sollen Ihren Willen meinetwegen haben, aber wir werden wissen, an welcher Stelle wir uns den Ersatz des Schadens, welchen wir erleiden, auszahlen lassen.“

Jetzt wurde der Mann in Wirklichkeit verlegen, so verlegen, daß er es nicht verbergen konnte.

„Aber, wie kommen Sie denn zu der wunderbaren Ansicht, daß Ihre Depesche nicht abgegangen ist?“ fragte er.

„Soll ich Ihnen etwa sagen, was Sie telegraphiert haben?“ entgegnete Martin, sich zornig stellend.

„Nun? Ich bin begierig es zu hören.“

„Ja, Sie sollen es hören! Zunächst haben Sie angefragt, ob die Strecke frei sei, und dann lauteten Ihre Worte: ‚Lieber Kollege. Hier steht einer, welcher nach Berlin telegraphieren läßt und nicht eher fortgeht, als bis er mich in Tätigkeit gesehen hat. Seine Depesche ist chiffriert, ich muß sie zum Entziffern einsenden. Um ihm nun glauben zu machen, daß sie abgeht, will ich mich mit Ihnen unterhalten.‘ Ah, Sie werden blaß. Ich brauche also nicht weiter fortzufahren.“

Der Beamte stand da, als hätte ihn der Schlag gerührt.

„Mein Gott, wie können Sie das wissen?“ stammelte er.

„Das ahnen Sie nicht?“

„Nein.“

„Sie dauern mich. Daß ich Ihre Worte dem Apparat abgelauscht habe, muß Ihnen doch sagen, daß ich selbst ein erfahrener Kenner des Telegraphen bin, vielleicht ein besserer als Sie. Ich frage Sie ernstlich, ob meine Depesche abgehen wird, oder ob ich mich augenblicklich an die Behörde wenden soll!“

„Warten Sie.“

Er wollte sich wieder in das Nebenzimmer begeben, aber Martin hielt ihn mit den Worten auf:

„Halt. Sie wollen Erkundigungen einziehen. Sagen Sie bei dieser Gelegenheit, daß ich, während der Apparat in Tätigkeit ist, dabeistehen werde, um die Worte genau zu kontrollieren.“

Der Mann zog es vor, keine Antwort zu geben und entfernte sich. Bereits nach kurzer Zeit trat er mit einem anderen Beamten ein. Dieser warf einen finsteren, forschenden Blick auf Martin und fragte dann:

„Sie sind selbst bewandert im Telegraphieren?“

„Ja“, lautete die Antwort.

„Wer sind Sie?“

„Monsieur, befinde ich mich gegenwärtig im Telegraphen- oder im Polizeibüro?“

„Im ersteren natürlich. Ich wollte nur gern wissen, wer der Mann ist, welcher uns so viel Stoff zur Unterhaltung gibt. Handelt es sich wirklich um eine rein geschäftliche Depesche?“

„Ich habe keine Veranlassung, mich abermals darüber zu äußern.“

„Gut. Sie sollen Ihren Willen haben. Treten Sie näher und hören Sie. Ich werde die Depesche selbst abgehen lassen.“

Martin zog seine Abschrift hervor und verglich aufmerksam, während der Apparat arbeitete. Als es zu Ende war, fragte der Beamte in ironischem Ton:

„So. Sind Sie nun zufrieden?“

„Ja.“

„So werden Sie nun endlich gehen.“

„Allerdings. Zuvor jedoch mache ich die Bemerkung, daß ich Ihre Bescheinigung, welche übrigens bereits jetzt nicht stimmt, sofort brieflich nach Berlin senden werde, um von dort aus Recherchen zu veranstalten, ob die soeben abgegangene Depesche vielleicht unterwegs noch, nachdem ich mich von hier entfernt habe, von Ihnen aufgehalten und kassiert wird. Ich warne Sie hiermit, dies zu tun. Gute Nacht!“

Er ging.

„Ein entsetzlicher Mensch!“ hörte er hinter sich, noch bevor er die Tür wieder zugemacht hatte.

Draußen stellte er sich gegenüber in den Schatten eines Torweges, um aufzupassen.

„Sie haben“, dachte er, „meine Depesche unentziffert absenden müssen; nun aber werden sie den Zettel schleunigst nach dem Büro des Grafen Rallion bringen, um doch noch zu erfahren, um was es sich handelt. Haha, vergebliche Mühe. Unser Schlüssel ist so kompliziert, daß selbst ein Meister der Deschiffrierkunst ihn nicht finden kann.“

Er hatte noch nicht zwei Minuten gestanden, so kam ein Mann drüben heraus und lief eiligen Schrittes davon.

„Ah, das ist der Bote, der den Zettel hat. Viel Glück, ihr armen Leute! Ihr werdet euch vergeblich die Köpfe zerbrechen.“

Er ahnte nicht, wie bald er seine Schrift wieder vor die Augen bekommen werde, und wie wenig es demjenigen, der sie hatte, einfiel, sich den Kopf darüber zu zerbrechen.

Jetzt entfernte auch er sich. Beschleunigten Schrittes kam er durch zwei Straßen und blieb da auf dem Trottoir stehen. Seine Blicke suchten die Fenster der zweiten Etage eines Hauses, welchem er gegenüberstand.

Da oben war noch ein Fenster erleuchtet; es stand offen, und eine Frau sah heraus.

„Das ist Alice“, murmelte er. „Sie wird ihren Bruder, erwarten. Oder sollte sie vielleicht meinen, daß ich doch noch kommen könne? Ich werde ihr zeigen, daß ich da bin.“

Er trat auf die Mitte der Straße und hustete einige Male halblaut. Als er dies wiederholt hatte, bog sich der Kopf noch weiter heraus, und eine unterdrückte Stimme fragte:

„Robert, bist du es?“

Das war der Name ihres Bruders.

„Nein!“ antwortete der Diener empor.

„Monsieur Martin?“

„Ja.“

„Warten Sie!“

Der Kopf verschwand. Martin trat zur Türe. Nach kurzer Zeit wurde im Schloß derselben leise ein Schlüssel herumgedreht, sie öffnete sich, und das Mädchen trat leise heraus.

„Ah, Sie Böser!“ flüsterte sie. „Ich habe so lange gewartet. Warum kamen Sie nicht?“

Er ergriff ihre Hand, zog dieselbe an seine Lippen und antwortete ebenso leise, wie sie gesprochen hatte:

„Und ich habe so lange, so sehr lange wie auf der Tortur gesessen. Ich freute mich auf Sie; ich sehnte mich so sehr nach Ihnen und konnte nicht fort.“

„Wo waren Sie, was hielt Sie ab?“

„Es gab Berichte nach Hause zu senden. Monsieur Belmonte diktierte, und ich mußte schreiben. Erst vor zwei Minuten sind wir fertig geworden.“

„Dieser böse Belmonte!“

„Oh, ich bin sonst sehr zufrieden mit ihm; heute konnte er selbst nicht anders. Werden Sie mir verzeihen?“

„Ich muß wohl, da Sie nicht der Schuldige sind. Aber ich darf nicht hier stehen. Man könnte kommen und mich hier überraschen. Waren da oben noch viele Fenster erleuchtet?“

„Nein, nur das Ihrige.“

„So sind alle Bewohner zur Ruhe gegangen. Ich werde das auch tun, nun ich Sie wenigstens gesehen habe.“

„O nein, nein, tun Sie das noch nicht! Wann ging Monsieur Ihr Bruder fort?“

„Er war noch gar nicht hier; er ist seit Mittag nicht nach Hause gekommen. Ich hätte Sie also auch nicht oben bei mir empfangen können.“

„Auch jetzt nicht?“

„Nein. Er kann in jedem Augenblick nach Hause kommen.“

„Das befürchte ich nicht. Er hat viel und notwendig zu arbeiten gehabt, so daß er zum Abendessen doch zu spät gekommen wäre; daher hat er es vorgezogen, das Souper in seiner Weinstube einzunehmen. Da befindet er sich noch. Und Sie kennen ihn ja: Ist er einmal dort, so bleibt er bis längere Zeit nach Mitternacht.“

„Das ist leider wahr!“ seufzte sie.

„Darum bliebe uns immer ein Stündchen übrig, vielleicht auch zwei. Wollen Sie mich wirklich abweisen, nachdem ich mich so sehr nach Ihnen gesehnt habe?“

Sie ging ein Weilchen mit sich zu Rate; dann meinte sie:

„Man kann doch unmöglich so spät noch einen Herrenbesuch empfangen.“

„Es wird ja niemand etwas bemerken.“

„Ich möchte nicht haben, daß Sie eine ungute Ansicht von mir erhalten, Monsieur Martin.“

„Oh, wenn es nur das ist, so kann ich Sie sehr leicht beruhigen.“

Er nahm auch ihre andere Hand in Beschlag und fuhr dann fort:

„Sagen Sie mir einmal, Mademoiselle Alice, ob es Ihnen lieb sein würde, wenn wir wieder auseinandergehen müßten.“

„Lieb? Wie könnte mir das lieb sein.“

„Sie meinen also, daß es besser sei, wir lernen uns kennen?“

„Ja“, flüsterte sie.

„Nun wohl! Wie aber wollen wir das bewerkstelligen? Des Tages muß ich in dieser großen Stadt herumgehen, um für unser Geschäft tätig zu sein, also können wir uns doch nur des Abends sehen und sprechen.“

„Aber nicht so spät!“

„Wenn ich nun nicht eher kann?“

„So müssen wir unsere Zusammenkünfte auf solche Abende verlegen, an denen Sie Muße dazu haben.“

„So glauben Sie also, daß ich sehr lange hier bleiben werde?“

„Ja. Ist es nicht so?“

„Nein. Wir haben auch anderwärts sehr viel zu tun. Es kann bereits morgen für mich die Weisung eintreffen, Paris zu verlassen.“

Sie erschrak; das fühlte er am Zucken ihrer Hände.

„Das habe ich nicht gewußt“, meinte sie im bedauernden Ton.

„Sie sehen also ein, daß mir ein jeder Augenblick, in welchem ich bei Ihnen sein kann, kostbar und teuer sein muß. Ich wünsche, daß Sie mich kennenlernen, und Sie versagen es mir!“

„O nein, Monsieur Martin, ich versage es Ihnen ja nicht!“

„Aber Sie wollen mich ja fortschicken! Wie nun, wenn ich morgen abreisen muß!“

„Es würde mir sehr, sehr leid tun! Aber Sie würden doch wohl wiederkommen?“

„Wenn wir hier einmal fertig sind, können Jahre vergehen, ehe ich zurückkehre. Hätte ich eine Geliebte, eine Braut hier zurückgelassen, so würde ich gern die Erlaubnis erhalten, sie zu besuchen. Aber einer Dame wegen, welche ich nur flüchtig kennengelernt habe, erhalte ich die Erlaubnis nicht.“

Sie schwieg nachdenklich, und nach einer Weile sagte sie:

„Sie mögen recht haben. Aber ist die Stunde nicht zu spät?“

„Mißtrauen Sie mir etwa? Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich gegen Sie nicht anders sein werde, als ich sein würde, wenn Vater und Mutter sich dabei befänden.“

„Glauben Sie nicht, daß ich Ihnen mißtraue, Monsieur Martin! Wäre das der Fall, so wäre ich jetzt nicht heruntergekommen. Ich befürchte jedoch, daß mein Bruder zurückkehren und uns überraschen könnte.“

„Er würde mich nicht sehen.“

„Wie wollten Sie das bewerkstelligen?“

„Oh, diese kleine allerliebste Alice würde wohl scharfsinnig genug sein, irgendeine Weise zu ersinnen, auf welche es mir möglich wäre, mich seinem Blick zu entziehen. Vielleicht würde sie mir ein Versteck anweisen, aus dem ich mich dann erst entfernte, wenn er zur Ruhe gegangen ist.“

„Das ist immerhin bedenklich, Monsieur!“

„Der Liebe fällt nichts zu schwer!“

Da ließ sie ein leises, munteres Lachen hören und fragte:

„Sie glauben also, daß ich Sie liebe?“

Er legte den Arm um ihre Taille, zog sie an sich heran, strich ihr mit der Hand liebkosend über das weiche Haar und antwortete:

„Ich möchte es glauben, meine teure Alice! Es ist der größte Wunsch meines Lebens, mein Bild recht tief in Ihr gutes, reines Herzchen einzugraben, so daß Sie es nie und nimmer wieder vergessen können.“

Sie lehnte ihr Köpfchen leise an ihn an und sagte:

„Das sagt man oft als bloße Redensart.“

„Bei mir aber ist es die reine, wirkliche Wahrheit!“

„Ist das wahr, Monsieur?“

„Ja; ich schwöre es Ihnen!“

„So will ich es wagen, Sie heute nicht fortzuschicken, obgleich die Mitternacht bereits sehr nahe ist. Kommen Sie! Aber bitte, wir müssen sehr leise sein!“

Er trat in den nur spärlich erleuchteten Flur. Sie verschloß die Tür hinter ihm, und dann stiegen sie geräuschlos die beiden Treppen empor. Die Wohnung, welche sie betraten, war nicht luxuriös eingerichtet; aber es glänzte alles von Sauberkeit. Man sah, daß hier ein Wesen waltete, welches bereits an der Wiege von dem Geist der Häuslichkeit geküßt worden war.

Sie führte ihn in den kleinen Salon. Dort nahm sie auf dem Sofa Platz und er auf einem Stuhl neben demselben. Jetzt beim Schein der Lampe konnte man sehen, daß Martin nicht ohne Geschmack gewählt hatte. Alice war ein hübsches Mädchen. Alles an ihr war schmuck und nett; sie war wirklich zum Küssen.

„Nun sagen Sie einmal, daß ich, um Ihnen gefällig zu sein, nichts wage“, meinte sie, ihn mit offenem Auge anblickend.

„Ich wollte, ich könnte Ihnen beweisen, daß ich um Ihretwillen noch mehr wagen würde“, antwortete er. „Ich bin Ihnen herzlich dankbar für das kleine Wagnis. Vielleicht schickt es Gott, daß wir einst in einer ebenso traulichen Häuslichkeit beieinander sitzen, ohne Befürchtungen hegen zu müssen!“

Sie errötete leise. Ihre Fingerchen glitten irr über die kleine Stickerei, welche sie zur Hand genommen hatte; ihr Busen hob sich unter einem tiefen Atemzug, und dann bemerkte sie:

„Gott ist es allerdings allein, den man um ein solches Glück zu bitten hat.“

Da ergriff er schnell ihr Händchen, zog es zu sich heran und fragte in innigem Ton:

„Würden Sie es wirklich für ein Glück halten, mit mir ein liebes Heim Ihr eigen nennen zu können?“

Da schlug sie die Augen groß zu ihm auf und antwortete:

„Monsieur Martin, ich habe keine Eltern mehr, und mein Bruder bekümmert sich um mich nicht. Ich bin fast nur auf mich angewiesen und sehne mich doch nach jemand, der gut zu mir ist, dem ich vertrauen kann und dem es eine liebe Beschäftigung wäre, sich ein wenig mit meinen kleinen Gedanken und Gefühlen zu bemühen. Das hat bis jetzt noch niemand getan. Ich lebte einsam, bis Sie kamen und mir sagten, daß Sie gern an mich dächten. Ich habe mir dann vorgestellt, wie schön es sein würde, wenn Sie mir Vater, Mutter und Bruder sein wollten. Ich würde glücklich sein. Ich sage Ihnen das aufrichtig und bitte Sie von ganzem Herzen, ebenso ehrlich zu mir zu sein. Ich fürchte mich vor dem Unglück des Lebens; aber an der Seite eines geliebten Mannes würde mich alles Leid und alle Sorge angstlos lassen. Ihm würde ich gehören, nur ihm: für ihn würde ich schaffen und arbeiten; mein Herz, meine Seele, mein ganzes Leben, mein Denken und Empfinden müßte wie ein Kristall sein, welchen er durchblicken könnte. Ich bin nicht schön; ich bin auch keine feine Dame; aber ich möchte stets so hübsch sein, daß er mich immer lieben möchte, und ich würde immer Mittel finden, mir sein Herz warm und offen zu erhalten. Würden Sie mit einer solchen Frau glücklich sein können, Monsieur Martin?“

Das war die Sprache eines reinen Herzens, eines warmen Gemütes. Martin fühlte sich davon so ergriffen, daß seine Augen feucht wurden. Er saß im nächsten Augenblick neben ihr, er wußte gar nicht, wie es gekommen war. Er schlang seine beiden Arme um sie, zog ihr Köpfchen an seine Brust und sagte:

„Ja, mit einer solchen Frau würde ich sehr, sehr glücklich sein. Und dieses Glück werde ich nur bei Ihnen finden. Alice, sagen Sie, ob dieses kleine, gute, reine Herzchen mir gehören möchte!“

Er legte ihr die Hand auf den leise sich bewegenden Busen, da wo unter demselben das Herz klopfte, von welchem er sprach. Sie duldete diese Berührung, schlug die Augen zu ihm auf und antwortete unter hervorquellenden Tränen:

„Ja, es soll Ihnen gehören, Ihnen allein, ganz allein! Wollen Sie es denn auch haben?“

„Ob ich es haben will. Ein solches Herz ist ja kostbar, so wertvoll, daß es mit allen Schätzen der Erde nicht zu erkaufen ist. Ja, ja, und tausendmal ja, ich will es haben. Und wenn ich es nicht bekommen sollte, so würde ich alles, alles tun, um es endlich doch noch zu erlangen!“

„So lieben Sie mich? Wirklich, wirklich?“

„Wie sehr, o wie sehr!“

Er legte ihr die Hand unter das zarte Kinn, hob ihr Gesichtchen zu sich empor und küßte sie auf die warmen Lippen, welche seinen Kuß leise und verschämt erwiderten. Dann aber legte sie plötzlich die Arme um seinen Nacken und sagte in bittendem Ton:

„Martin, laß dies keinen bloßen Scherz sein. Viele tausend Männer gibt es, welche solche Worte sagen, um für kurze Zeit eine Unterhaltung zu haben. Ich würde sterben und vergehen, wenn ich dir heute mein Herz und meine Seele schenkte, und du stießest sie dann wieder von dir.“

Da drückte er sie fest und innig an sich, so fest, daß beide gegenseitig ihre Herzen schlagen fühlten, und beteuerte:

„Alice, du sollst mein Leben, meine Wonne sein, und eher will ich alles meiden und alles von mir geben, ehe ich dir entsage. Willst du das glauben, Geliebte?“

„Ich glaube es!“ flüsterte sie, indem ein strahlender Blick durch Tränen hindurch ihn traf.

„Und wenn ich Paris verlassen muß und einige Zeit lang nicht wiederkommen kann, wirst du da immer an mich denken und mir treu bleiben?“

„Immer und immer! Ich werde nur an dich denken und täglich und stündlich zu Gott beten, daß er dich recht bald wieder zu mir bringen mag. Und dann –“

Sie stockte, und bei dem Gedanken an das, was sie, hingerissen von der Aufrichtigkeit ihres Herzens, noch hatte hinzufügen wollen, trat eine tiefe Röte in ihre Wangen.

„Und dann –?“ fragte er. „Willst du nicht weitersprechen?“

„Ich darf es nicht sagen!“ antwortete sie in holder Scham.

„Warum?“

„Kein Mädchen soll das sagen dürfen.“

„O doch! Versprachst du mir nicht, stets wie ein Kristall zu sein, dessen Klarheit ich durchschauen könne?“

„So meinst du, daß ich es wirklich sagen soll?“ fragte sie zagend.

„Ja. Bitte! Bitte! Und dann –?“

„Und dann, wollte ich sagen, wenn du zurückgekehrt bist, dann können wir die Schwalben sein, welche miteinander davon zwitschern, wohin sie ihre Nestchen bauen wollen.“

Er war ganz hingerissen von dieser kindlichen, natürlichen Naivität. Er küßte sie entzückt auf die Stirn, Mund und Wangen und antwortete:

„Ja, meine Alice, mein Schwälbchen, dann sprechen wir von dem Nestchen, welches wir bauen wollen. Groß wird es allerdings nicht werden!“

„Oh, groß soll es auch nicht sein, groß will ich es gar nicht haben. Es soll gerade so groß sein, daß zwei Vögel, welche sich lieben, Platz darin haben. Und wie schön würde ich es einrichten! Und wie sehr, wie sehr würde ich mich freuen, wenn es dir darin gefiele!“

So sprachen und flüsterten sie weiter. Für die Liebe hat ja selbst das sonst Wertloseste Bedeutung, wenn man nur die Stimme dessen hört, den man liebt. Sie achteten nur auf sich; sie hatten vergessen, daß die Zeit für den Unglücklichen Schneckenfüße, für den Glücklichen aber Flügel hat, bis Alice plötzlich aufhorchte.

Draußen an der Vorsaaltür wurde ein Schlüssel umgedreht. Das Mädchen wurde vor Schreck leichenblaß; es flog aus den Armen Martins fort, schlug die Hände angstvoll zusammen und flüsterte:

„Gott, mein Bruder! Was tun wir?“

„Ich verstecke mich!“

„Wohin aber so schnell?“

„Hierherein!“

Er raffte seinen Hut vom Stuhl und öffnete die nächste Tür.

„Um Gottes willen, da nicht! Das ist ja seine Schlafstube!“

Ihre Warnung kam bereits zu spät. Martin hatte die Tür schon hinter sich zugezogen. Der Raum war finster, aber beim öffnen der Tür war ein Lichtstrahl hereingefallen, und der junge Mann hatte die hier stehenden Möbel ziemlich deutlich erkennen können. Es befand sich hier ein Bett, ein Waschtisch, ein Spiegel, ein Kleiderschrank und außer drei Stühlen noch ein Tisch, welcher in der Mitte stand.

Martin meinte es ehrlich mit der Geliebten, er sagte sich also, daß er eigentlich keine Veranlassung habe, den Bruder derselben zu scheuen. Unter anderen Umständen wäre er demselben jedenfalls ruhig entgegengetreten, um ihm den Grund seiner Anwesenheit offen zu erklären. Hier aber war er nicht bloß der Geliebten wegen anwesend; er hatte sich nebenbei eine weitere Aufgabe noch gestellt.

Er hätte leicht in das Schlafzimmer Alices treten können, wohin zu kommen ihrem Bruder wohl nicht eingefallen wäre, aber einesteils war ihm die Geliebte zu rein und heilig erschienen, als daß er selbst aus Angst vor einer Entdeckung ihr Sanktuarium hätte entweihen mögen, und sodann kam es ihm darauf an, Zutritt zu dem Zimmer des Sekretärs zu finden. Daher hatte er es vorgezogen, in dasselbe zu treten.

Er probierte den Kleiderschrank. Er war verschlossen, und der Schlüssel steckte nicht an. Ob er in der nächsten Stube, dem Arbeitszimmer des Sekretärs, einen Zufluchtsort finden werde, war zweifelhaft; die Arbeitszimmer unverheirateter Männer sind gewöhnlich mit Möbeln nicht sehr überladen. Daher blieb ihm nur der Tisch und das Bett übrig.

Sich unter dem Bett zu verbergen, das war eine ebenso unbequeme wie gefährliche Geschichte; aber auf dem Tisch lag eine große Decke ausgebreitet, deren Ecken bis auf den Fußboden niederreichten. Er hob also eine dieser Ecken auf, kroch hinunter und machte es sich in sitzender Stellung zwischen den vier Beinen so bequem wie möglich.

Als ihr Bruder eintrat, hatte Alice ihren Schreck noch nicht vollständig gemeistert; aber er bemerkte es nicht. Sein Gang war wankend, und seine Augen zeigten einen trüben, gläsernen Glanz. Er befand sich jedenfalls in demjenigen Zustand, welchen Martin dem Changeur gegenüber mit Käfer, Aal und Affen bezeichnet hatte. Damit waren Steigerungen der Betrunkenheit bezeichnet. Welcher Ausdruck hier der treffende sei, ob der kleine Käfer oder der große Affe, das war sehr leicht zu erkennen. Der Sekretär hatte einen riesigen Affen, einen Schimpansen, einen Orang-Utan oder gar einen riesenhaften und schrecklichen Gorilla.

„Noch nicht schlafen?“ brummte er. „Warum bist du denn noch auf?“

„Ich wollte dich erwarten“, antwortete sie. „Du bist ja noch gar nicht zu Abend gespeist.“

„Speist, Abend –“, stotterte er. „Habe gegessen – Weinstube – famoser Wein – vier Flaschen, ah!“

Er taumelte auf die Tür seines Schlafzimmers zu, hinter welcher Martin verschwunden war. Alice bekam Angst, sie faßte ihn am Arm und sagte:

„Nimm doch hier erst noch ein wenig Platz!“

„Platz?“ fragte er, sie erstaunt anstierend. „Hier erst noch! Warum? Oh!“

„Ich habe mit dir zu reden.“

„Reden? Oh – nein. Mag nicht – nicht reden. Kann nicht – nicht – mehr reden.“

Er faßte die Klinke; aber sie ließ ihn nicht los.

„Nur einen Augenblick setze dich hier nieder!“ bat sie.

„Au – augenblick – blick? Unsinn, Blick! Mag nichts erblicken – nichts sehen. Ärgere mich nicht, Mädchen. Habe mich – schon – schon sehr – sehr genug geärgert – ärgert!“

„Worüber denn?“ fragte sie, indem sie den Versuch machte, ihn wenigstens durch das Gespräch noch eine kurze Zeit festzuhalten.

Da stellte er sich kerzengerade auf, sah sie zornig an, fuchtelte mit dem Stock, welchen er noch in der Hand hielt, weit um sich herum und antwortete:

„Wo – rüber? Donnerwetter. Verdamm – dammte Depesche – pesche. Kann der Teufel holen – holen.“

„Welche Depesche denn?“

„Hatte lange – lange gearbeitet – beitet. Sitze beim Glas Wein. Kommt der Kerl – Kerl – Bürodiener. Noch eine Depesche – pesche angekommen, zum Entziffern – Ziffern. Kein Mensch mehr dagewesen. Muß sie also – also mir bringen. Depesche nach – Berlin – lin. Gebracht werden von – von einem Kerl – frecher Kerl. Muß sie einmal – einmal ansehen – sehen.“

Er öffnete die Tür, sie konnte es nicht mehr verhindern und folgte ihm mit der Lampe. Er setzte sich sofort auf einen der Stühle. Ihr Auge schweifte angstvoll im Zimmer umher. Es war keine Spur von Martin zu erblicken. Sie glaubte infolgedessen, er müsse draußen in der Arbeitsstube seine Zuflucht gesucht haben. Nun galt es, den Bruder vom Betreten derselben abzuhalten.

Dieser kramte gähnend in seinen Taschen herum.

„Was suchst du?“ fragte sie.

„Du? Du nicht. Ich suche!“ meinte er, sich verbessernd.

„Ja. Was aber denn?“

„Die – die De – die die De – Donnerwetter, die De – De – Depesche – pesche!“

„Hier wird sie sein.“

Sie zog aus seiner Seitentasche ein Schriftstück hervor. Das war aber keine Depesche; dazu war es zu dick.

„Depesche?“ fragte er. „Unsinn. Das ist – ist der Feld – Feldzugsplan – plan, gegen die Preu – reußen.“

Sie legte das Schriftstück auf den Tisch und meinte:

„Ein Feldzugsplan gegen die Preußen?“

„Ja“, nickte er. „Preu – reußen und Süddeut – deutschen.“

„Mein Gott. Gibt es denn Krieg?“

„Krieg ja! Krieg – Sieg Kei – keile und Revan – vanche! Aber pst! Still, Ruhig! Kein Mensch darf – darf es jetzt erfahren – fahren! Ich soll den Plan – Plan aufs Neue schrei – schreiben. Famos! Bismarck kriegt tüchtige Prü – rügel. Die Preu – reußen die Bay – Bayern, die Württember – berger, Westpha – phalen, die Sach – achsen und die Pom – pommer – pommeranzen. Alles kriegt Hie – Hiebe! Wo – wo – Donnerwetter, wo ist die De Die De Diepesche?“

Sie half ihm suchen und brachte schließlich den Zettel, welchen Martin nach dem Telegraphenbüro getragen hatte, in einem höchst zerknitterten Zustand aus seiner Westentasche hervor.

„Ist sie das?“ fragte die Schwester.

„Ja – ja! Muß le – le – lesen, entziff – siff – schiff – Schiffern.“

Er klaubte den Zettel mühsam auseinander und rückte mit Lebensgefahr seinen Stuhl zum Tisch.

„Aber“, meinte seine Schwester, „du wirst doch nicht noch lesen und arbeiten wollen?“

„Wa – rum nicht? Muß – muß! Pflicht – licht! Muß morgen wissen – was in der De – Depesche steht!“

„Lege dich doch lieber schlafen!“ riet sie ihm.

Sie hatte die ganz richtige Ansicht, daß Martin desto eher entkommen könne, je früher ihr Bruder schlafen gehe. Dieser sagte:

„Schla – lafen! Nein! Ich bin nicht schlä – läferig! Ich muß die de de Diepesche entziff – ziff – liff – liffern.“

„Aber du kannst ja kaum mehr lallen!“

„Lall –!“ Er warf ihr einen zornigen Blick zu. „Lallen? Ich will – nicht mehr lall –! Ich, der Se – sekre – kretär des Grafen Ralli – lion! Mä – mädchen, pack dich hi – naus!“

Er stand vom Stuhl auf, packte sie an und schob sie trotz ihres Widerstrebens zu der noch offenstehenden Tür hinaus. Und als sie sich den Eintritt wieder erzwingen wollte, rief er grimmig:

„Mache mich nicht – nicht zo – zornig! Hinaus mit dir – dir; ich muß arbei – bei – beiten.“

Bei diesen Worten drehte er den Schlüssel um und schob sogar den Riegel vor. Er hatte sich und Martin eingeschlossen.

„Wo – wo – ist die De – Depesche?“ fragte er dann.

Sie war ihm entfallen und lag am Boden. Er suchte eine Weile, fand sie aber nicht. Das ermüdete ihn. Das mühsame und in seinem Zustand gefährliche Bücken hatte ihn drehend gemacht und die Geister des Weines in doppelte Aufregung versetzt.

„Fort! Weg!“ meinte er. „Werde morgen su – suchen und sie morgen entziff – liff – liffern. Ah!“

Er gähnte, wankte zum Bett und warf sich in voller Kleidung auf dasselbe nieder.

Alice klopfte noch einige Male an die Tür, vergebens. Er antwortete gar nicht. Er drehte sich von einer Seite auf die andere und verfiel zuletzt in den tiefen Schlaf, welchen ein tüchtiger Rausch mit sich bringt.

Martin hatte in seinem Versteck alles mit angehört. Er ahnte, daß von seiner eigenen Depesche die Rede sei, und als er den Zettel am Boden liegen sah, war er sogar davon überzeugt. Aber es war auch vom Krieg und von einem Feldzugsplan die Rede. Was war damit gemeint? Bot sich ihm hier etwa gar ein Fund, welcher von Wichtigkeit sein konnte?

Er lugte unter der Tischdecke hervor. Der Schläfer regte sich nicht. Langsam und vorsichtig kroch Martin heraus und richtete sich auf. Da auf dem Tisch lag das Schriftstück. Auf die Gefahr hin, ertappt zu werden, griff er danach und schlug die erste Seite auf. Da stand in großer Frakturschrift zu lesen:

‚Entwurf des strategischen Aufmarsches der französischen Heere im Kriege gegen Preußen und Süddeutschland‘.

Es durchzuckte ihn, als ob er elektrifiziert worden sei. Er war noch jung, aber entschlossen und besonnen wie ein Alter. Diesen Entwurf durfte er nicht mitnehmen; aber wie nun, wenn es ihm gelang, eine Abschrift von ihm zu nehmen? Er klinkte leise an der Tür, welche nach dem Arbeitszimmer führte. Sie öffnete sich, ohne ein Geräusch zu verursachen.

Er hatte sein Laternchen mit, aber das Licht derselben reichte nicht aus. Die Lampe konnte ihm gefährlich werden, wenn sie hier stehenblieb. Ihr Schein konnte den Schläfer wecken, welcher jedenfalls ruhig weiterschlief, wenn es im Zimmer dunkel war. Er ergriff sie und den Entwurf und schlich sich mit beiden in das Arbeitszimmer.

Hier gab es, wie er vermutet hatte, nicht viele Möbel. Ein Schreibtisch, ein Büchergestell und einige Stühle, das war alles, was er erblickte. Er setzte die Lampe auf den Tisch, auf welchem zehnmal mehr Papier lag, als er brauchte, und zog dann die Tür leise hinter sich zu, die er verriegelte, nachdem er aus Vorsicht den Schlüssel drüben abgezogen und hüben wieder angesteckt hatte.

Auch Tinte und Feder waren vorhanden. Er setzte sich und begann zunächst zu lesen. Falls er ja erwischt wurde, war es gut, wenn er wenigstens den Inhalt kannte. Als er zu Ende war, verklärte sich sein Gesicht.

„Welch ein Fund!“ dachte er. „Diese Blätter sind Hunderttausende wert. Wie gut, daß ich Stenographie gelernt habe; da geht es schnell. O Alice, verzeih, daß ich diesen Raub begehe, aber du bist es ja nicht, an der ich mich versündige!“

Einige Augenblicke flog der Stift mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit über das Papier. Viertelstunden vergingen, eine Stunde und noch eine, und als er zu Ende war, zog er die Uhr.

„Drei und eine Viertelstunde habe ich geschrieben“, murmelte er. „Das war eine Riesenarbeit; ich habe fast den Krampf in der Hand. Nun aber fort! Wo wird Alice sein? Sicher schläft sie nicht, sondern wartet auf mich.“

Er faltete seine Abschrift zusammen und steckte sie mit dem Gefühl zu sich, als ob es lauter Tausendtalerscheine seien. Sonach brachte er auf dem Schreibtisch alles in die gehörige Ordnung. Dann löschte er die Lampe aus, riegelte die Tür leise auf, steckte den Schlüssel wieder ein und lauschte.

Der Betrunkene schlief noch und schnarchte leise. Martin setzte die Lampe auf den Tisch und legte den Entwurf daneben. Dann schloß und riegelte er die Tür auf, welche nach dem Salon führte und die der Sekretär vor seiner Schwester verschlossen hatte. Als er hinausgetreten war und die Tür wieder in die Klinke schob, hörte er ein leises:

„Martin?“

„Ja“, antwortete er ebenso leise.

„Gott sei Dank!“

Dabei fühlte er, daß sich zwei warme, weiche Arme um ihn legten.

„Du hast auf mich gewartet?“ fragte er.

„Ja, und was habe ich für eine Angst ausgestanden. Ich glaubte, er würde dich entdecken.“

„Das wäre nicht schlimm gewesen. Ich hätte ihm gesagt, daß wir uns lieben und du mein Weibchen werden willst!“

„Und wenn er dann gezankt hätte?“

„Keine Sorge. Ich wäre schon mit ihm fertig geworden. Einmal muß er es doch erfahren.“

„Wo hast du gesteckt?“

„Unter dem Tisch in seiner Schlafstube.“

„O weh, welch eine unbequeme Situation! Du armer, armer, lieber Martin.“

Sie strich ihn mit dem Händchen liebkostend über die Wange. Er drückte sie an sich und flüsterte glücklich:

„Für dich würde ich noch viel schlimmere Situationen nicht scheuen; das darfst du mir getrost glauben, mein gutes, süßes Schwalbenweibchen!“

„Und ich war im Schlafzimmer und habe dich nicht bemerkt! Warum kamst du nicht eher?“

Er sah sich gezwungen, eine Unwahrheit zu sagen:

„Es war unmöglich. Er hatte den Zettel fallen lassen, wollte ihn aufheben und fiel nun selbst hin. Da blieb er an der Tür liegen, so daß ich sie nicht öffnen konnte. Schließlich kam ich auf den Gedanken, ihn durch leise Stöße nach und nach zu wecken. Es gelang. Er raffte sich auf und legte sich auf das Bett. Dann erst konnte ich fort.“

„Mein Gott, was mußt du denken! Er will es mir nie zur Liebe tun und weniger trinken. Kannst du denn wirklich ein Mädchen liebhaben, dessen Bruder du betrunken gesehen hast?“

„Warum nicht? Kannst du was dafür?“

„Er schläft fest?“

„Ja, sehr fest.“

„So kannst du dich also entfernen, ohne daß er es hören wird?“

„Wir sind vollständig sicher. Nun aber hast du auf den Schlaf verzichten müssen.“

„Du ebenso. Aber wir werden es nachholen, und ich werde dir sicher sagen können, daß ich von dir geträumt habe.“

Er zog sie an sich, küßte sie und fragte:

„Hast du mich denn wirklich so lieb, daß ich dir sogar im Traum erscheine?“

„Oh“, gestand sie ihm. „Es wäre wohl nicht das erstemal, daß dies geschieht.“

„So hast du bereits von mir geträumt? Ich von dir noch nicht, leider; aber ich werde es jetzt tun, wenn ich nach Hause gekommen bin. Erlaubst du mir, daß ich gehe?“

„Ja. Ich werde dich bis zur Tür begleiten.“

Sie führte ihn hinunter bis zum Eingang des Hauses, den sie öffnete. Der Morgen begann bereits zu grauen.

„Wann sehen wir uns wieder?“ fragte sie.

„Wann wünscht du, liebes Kind?“

„Ich würde mich freuen, wenn es heute möglich sein könnte.“

„Wann geht heute abend dein Bruder aus?“

„Das weiß ich nicht. Vielleicht bleibt er gar zu Hause, weil er dieses Mal so spät gekommen ist.“

„So müssen wir also leider auf den Abend verzichten.“

„Am Nachmittag befindet er sich im Büro. Da bin ich ganz allein daheim. Könntest du da nicht vielleicht kommen?“

„Nein. Monsieur Belmonte verreist, und da bin ich gezwungen, daheim zu bleiben. Wenn etwas eingeht, muß jemand da sein. Ah, da fällt mir etwas Schönes ein!“

„Was?“

„Ich bin also am Nachmittag zu Hause.“

„So wie ich.“

„Und zwar ganz allein. Gehst du zuweilen aus?“

„Nur um meine Einkäufe zu machen.“

„Spazieren nicht?“

„Höchst selten.“

„Aber heute möchte doch einmal eine Ausnahme stattfinden.“

„Warum?“

„Da ich nicht zu dir kommen kann, so könntest du mir die Freude machen, zu mir zu kommen.“

„Eine Dame auf Besuch zu einem Herrn? Das geht ja nicht!“

„Nicht eine Dame zu einem Herrn, sondern ein Schwälbchen zu ihrer Schwalbe, ein gutes Mädchen zu ihrem Verlobten, der sie so herzlich liebt und so glücklich sein würde, wenn sie zu ihm käme.“

„Ist das wahr?“ fragte sie, glücklich lächelnd.

„Du darfst ganz und gar nicht daran zweifeln.“

„Und wenn ich komme, wer öffnet mir die Tür, wer wird mich ganz erstaunt mit grimmigen Augen anblicken?“

„Nun, wer?“

„Dein Monsieur Belmonte.“

„Ich versichere dir, daß er nicht zu Hause sein wird.“

„So dürfte ich es vielleicht wagen, dir zuliebe natürlich, und weil ich bereits jetzt merke, daß ich große Sehnsucht nach dir haben werde, wenn ich dich von jetzt an bis zum Nachmittag nicht zu sehen bekomme.“

„Du gutes, gutes Schwälbchen! Ja, meine Alice, wir wollen immer so lieb und brav gegeneinander sein! Also, ich darf dich sicher bei mir erwarten?“

„Ja, obgleich es gegen die Regel ist. Um wieviel Uhr?“

„Wann du deiner Sehnsucht nicht mehr Herr werden kannst.“

„Oh, da wird es sehr zeitig werden. Aber ich weiß deine Wohnung nicht genau.“

„Rue de Richelieu 12, erste Etage. Sobald du klingelst, werde ich gesprungen kommen, um dir zu öffnen. Gute Nacht, meine Alice, mein Leben!“

„Gute Nacht, mein Martin. Behalte mich lieb.“

„Das kannst du glauben. Ich weiß, daß ich heute bei dir ein Glück gefunden habe, wie es größer gar keines geben kann!“

Er küßte sie innig auf die Lippen, welche sie ihm liebevoll darbot, und entfernte sich dann. Er hatte seine letzten Worte aus vollster Seele gesprochen. Der Fund, welchen er in dem Entwurf getan hatte, war von allerhöchstem Wert, persönlich lieber noch aber war ihm der Schatz, welchen er so glücklich gewesen war, in dem Gemüt dieses einfachen, unentweihten, reinen Mädchens zu entdecken.

Als er seine Wohnung erreichte, war es bereits ziemlich hell geworden, und der Portier, welcher öffnen mußte, machte darüber ein erstauntes Gesicht. Er hatte noch nicht bemerkt, daß dieser Hausbewohner ein solcher Nachtschwärmer sei.

Oben im Logis angekommen, begab er sich sofort nach dem Schlafkabinett seines Herrn. Dieser, welcher einen sehr leisen Schlaf besaß, erwachte, als er eintrat.

„Martin, du bist es?“ fragte er.

„Ja. Entschuldigung, daß ich Sie stören muß!“

„Ich lasse mich sehr gern stören, denn daß du mich weckst, gibt mir die Überzeugung, daß du mir etwas Wichtiges und Gutes mitzuteilen hast.“

„Sie haben es erraten. Nicht wahr, Sie können stenographieren?“

„Spaßt du schon wieder? Wir haben es ja beide zusammen gelernt und dann miteinander geübt!“

„Nun, so wollen wir diese Übung fortsetzen!“

„Muß das sogleich sein?“

„Sogleich!“

„Dann vermute ich, daß du mir ein Stenogramm zu lesen bringst. Ist es so, oder nicht?“

„Es ist so. Ich will die Lampe anzünden. Es ist zwar bereits Tag, aber durch die dichten Vorhänge kann das Morgenlicht doch nicht herein.“

Während er dieses tat, erhob sich Belmonte von seinem Lager. Über dem Ankleiden fragte der letztere nach der Depesche, und Martin erzählte, was er da erlebt hatte. Beide mußten herzlich darüber lachen.

„Aber, woher kommst du so spät?“ fragte dann Belmonte, als er nach der Uhr gesehen hatte.

„Das erraten Sie nicht? Sehen Sie mich doch einmal an!“

Er stellte sich stramm vor seinen Herrn hin. Dieser blickte ihm in das lachende Gesicht, zuckte die Achsel und meinte:

„Ich sehe an dir jetzt ebenso wenig wie sonst.“

„Das möchte ich nicht glauben! Bin ich nicht auf einmal ein ganz anderer Kerl geworden? Sehe ich nicht geradeso aus, wie das Männchen von einem glücklichen Schwalbenpärchen?“

„Unsinn!“ antwortete Belmonte. Dann aber, sich besinnend, lachte er laut auf und sagte:

„Ich glaube gar, du hast noch fester in die Angel gebissen, so daß du die Fliege, von welcher du gestern abend sprachst, vollständig verschluckt hast!“

„Getroffen!“ stimmte Martin in das Lachen ein.

„Du bist also der Liebste?“

„Ja, und sie ist die Liebste!“

„Ein Schwalbenpärchen habt ihr euch genannt?“

„Freilich! Und diesen trefflichen Vergleich hat die Schwälbin zusammengebracht!“

„Eine geistreiche Schwalbe! Gratuliere! Das mag ein Gezwitscher und Gepiepe gewesen sein!“

„Zum Entzücken!“

„Ich glaube es und hätte dabei sein mögen. Aber wo bleibt das Stenogramm? Wir vergessen es über dieser Schwalbengeschichte sonst ganz und gar.“

„Hier!“

Er zog die Blätter aus der Tasche hervor und reichte sie ihm hin. Belmonte setzte sich zum Lesen nieder, öffnete und warf den Blick zunächst auf die Überschrift. Als er diese erblickte, warf er einen erstaunten Blick auf Martin.

„Dieser Titel ist ja außerordentlich!“ sagte er.

„Das dachte ich auch, als ich ihn sah“, antwortete der Diener.

„Aber ob der Inhalt ihn rechtfertigen wird!“

„Vollständig! Bitte, lesen Sie nur, Monsieur Belmonte!“

Der Changeur begann zu lesen. Je weiter er kam, desto aufmerksamer wurde er, desto mehr Ausrufe des Staunens und der Verwunderung stieß er aus. Und als er zu Ende war, sprang er erregt vom Stuhl auf und rief:

„Mensch, wo hast du diesen Fund gemacht?“

„Sie meinen, wo ich diesen Diebstahl begangen habe!“

„Das ist mir einerlei. Antworte!“

„Bei der Schwälbin.“

„Wie? Bei diesem Mädchen? Ah, der Bruder ist ja Sekretär des Grafen Rallion. Erzähle!“

Martin berichtete nun von seinem Erlebnis. Belmonte schritt dabei im Zimmer auf und ab. Nachdem der Diener zu Ende war, blieb er vor demselben stehen und sagte:

„Kerl, du bist ein Glückspilz, ein wirklicher, wahrhaftiger Glückspilz! Dieser Fund wird dir reiche Früchte bringen. Hier gibt es kein Säumen. Das Schriftstück muß abgeschrieben und sogleich nach Hause gesandt werden. Einer braucht lange dazu; wir werden beide sofort beginnen. Vorwärts, zur Feder!“

Sie teilten sich die Blätter, und bald waren beide in die Arbeit so vertieft, daß sie für nichts anderes Augen hatten. Selbst als die Zeitungen kamen, wurden dieselben unbeachtet beiseite geworfen. Sie brauchten bis weit in den Vormittag hinein; dann wurde die Kurrentschrift sorgfältig eingepackt, und Belmonte trug sie selbst fort, um sie derjenigen Person zu bringen, welche für solche Fälle in Bereitschaft stand. Das Schriftstück hatte einen zu hohen Wert, als daß man es der Post hätte anvertrauen können. Es mußte durch einen sicheren, zuverlässigen Kurier überbracht werden.

Als Belmonte von diesem kurzen Gang zurückgekehrt war, bereitete er sich auf die Fahrt nach Meudon vor. Eben wollte er aufbrechen, als der Telegraphenbote eintrat. Er brachte bereits die Antwort auf das gestrige Telegramm. Dasselbe war in Mainz aufgegeben worden und lautete:

„Herrn Arthur Belmonte, Paris, Rue Richelieu 12.

Reichenberger Rotwein nicht gebraucht; bereits vortrefflich versorgt. Aber möglichst schnell Risparger Auslese und dann sofort Metzheimer Berg und Tal in bester Qualität.

Albrecht. Weingroßhandlung.“

Belmonte wußte, daß er dem braven Martin sein Vertrauen schenken könne. Er las ihm daher das Telegramm vor. Der Diener schüttelte den Kopf und meinte:

„Und das soll die Antwort auf unser chiffriertes Telegramm sein?“

„Natürlich!“

„Es kommt ja aus Mainz!“

„Das ist sehr klug gehandelt. Es kommt aus Berlin, hat aber in Mainz Station gemacht, damit die hiesigen Beamten irregeleitet werden und nicht daran denken sollen, daß beide Depeschen im Zusammenhange stehen.“

„Nun, das ist freilich zu begreifen; aus dem Inhalt aber werde der Teufel klug, ich nicht.“

„So muß ich ihn dir erklären. Von welcher Person handelte unser Telegramm?“

„Von dem alten Kapitän Richemonte.“

„Wie würdest du diesen Namen ins Deutsche übersetzen?“

„In das Wort Reichenberg.“

„Nun, hier steht, daß Reichenberger Rotwein nicht gebraucht werde und man bereits vortrefflich versorgt sei.“

„Donnerwetter! Ich beginne zu begreifen!“

„Was?“

„Man kennt diese Richemonte bereits und hat vortreffliche Maßregeln getroffen. Habe ich recht?“

„Ja. Aber nun weiter! Es wird möglichst schnell Risparger Auslese verlangt. Auslese bedeutet für uns natürlich eine Auswahl unserer Beobachtungen. Was aber soll das Wort Risparger?“

„Da steht mein Verstand am Ende der Welt!“

„So weit brauchst du gar nicht zu gehen. Bleibe nur in Paris, wo wir uns befinden. Also Paris. Wieviel Silben?“

„Zwei.“

„Setze die erste hinter und die zweite vor.“

„Rispar – ah, Risparger Auslese! Jetzt habe ich es endlich.“

„Schön! Das dritte Wort wird dir nicht so sehr viel zu schaffen machen wie die anderen.“

„Metzheimer? Ich denke, daß hier nur die erste Silbe gilt.“

„Das ist jedenfalls das Richtige: Metz. Und Berg und Tal, was soll das bedeuten?“

„Nicht bloß Stadt und Festung Metz, sondern auch Berg und Tal, die ganze Umgebung.“

„Wie würdest du also die ganze Antwort deuten?“

„Wir sollen uns um diesen Richemonte nicht kümmern, da man bereits vortrefflich dafür gesorgt hat, daß dieser Mann nicht mit der Nase in den Wolken hängen bleibt. Wir sollen möglichst schnell mitteilen, was wir über Paris wissen, und endlich sollen wir dann sofort nach Metz gehen, um uns dieser guten Festung nebst ihrer Umgebung liebevoll anzunehmen.“

„Ja, das ist die Instruktion, welche wir zu befolgen haben. Nur in einem Stück werde ich ein wenig abweichen.“

„Ist diese Abweichung gefährlich?“

„Gar nicht. Ich werde mich nämlich um diesen Richemonte doch ein wenig kümmern.“

Martin nickte mehrere Male sehr eifrig und sagte lachend:

„Ja, ja. Ich verstehe!“

„Was denn?“

„Ein gewisser Weinagent möchte sich um diesen alten Kapitän ein wenig kümmern, weil es gestern ruchbar geworden ist, daß sich bei dem Alten ein gewisser Bernard de Lemarch befindet, welcher verlobt ist mit einer gewissen dritten Person, der die Ehre geworden ist, in der großen Oper neben dem erwähnten Weinagenten zu sitzen.“

„Schlingel!“

„Oh, der Wahrheit muß man die Ehre stets geben!“

„Ich leugne ja auch nicht.“

„Sie wollen also doch einen Abstecher nach Ortry machen?“

„Hm! Wenn wir von hier nach Metz reisen, ist es ja gar nicht so weit nach Ortry. Einige Stunden abseits werden uns in der Erfüllung unserer Pflichten nicht sehr hinderlich sein. Und sodann habe ich eine Vermutung, der ich nachgehen möchte.“

„Darf ich mitgehen?“

„Natürlich!“

„So ist es mir wohl auch erlaubt, diese Vermutung kennenzulernen?“

„Ich kann sie dir immerhin mitteilen. Da man uns sagt, daß ich betreff Richemontes vortreffliche Fürsorge getroffen worden sei, so denke ich, daß sich ein Kamerad von uns bei ihm befindet, den man auf irgendeine feine Weise dort plaziert hat. Stellt sich das als richtig heraus, so wäre es vielleicht ganz vorteilhaft, mit demselben Fühlung zu nehmen.“

„Das leuchtet mir ein. Sehen wir also zu! Wann reisen wir von hier ab?“

„In kürzester Zeit. Die Hauptsache hast du getan. Mit Erlangung des Entwurfs sind die Karten des Feindes verraten. Ich will mir heute nur noch die Mitrailleusen ansehen; dann sind die Berichte in höchstens drei Tagen fertigzustellen. Nachher reisen wir ab.“

Martin schüttelte wehmütig den Kopf, schlug die Augen gen Himmel, faltete die Hände und rief:

„In drei Tagen schon! O Schwälbchen, o Schwälbchen, wie wirst du die Flüglein hängen lassen! Dein Schwalbert nimmt Abschied von dir!“

Belmonte machte ein ernstes, fast trübes Gesicht. Er zuckte die Achseln und sagte:

„Heute zusammengefunden und in drei Tagen bereits wieder scheiden; das ist allerdings höchst bedauerlich. Und dennoch möchte ich dich beneiden!“

Da wurde auch Martin ernst und antwortet:

„Ich glaube es Ihnen! So eine echte, richtige Liebe ist ein wunderbares Ding. Ich habe mein Schwälbchen. Wir sind eins geworden und wenn wir auch für ein Weilchen auseinanderfliegen, so finden wir uns doch ganz sicher wieder zusammen. Wenn aber so ein Täuberich nach einer Taube girrt, die er nur von weitem gesehen hat, und welche bereits für einen anderen bestimmt ist, so mag der Teufel dreinschlagen. Aber nur Mut! Die Hilfe ist bereits unterwegs!“

„Ich weiß nichts davon!“

„Nicht? So! Wird nicht vielleicht schon bald der Tag kommen, an welchem der hiesige Boden unter den Hufen unserer Pferde erzittern wird? Als Sieger und Rittmeister oder gar Major und Oberst sitzt es sich ganz anders in der großen Oper, denn als obskurer Weinagent, der von weitem zusehen muß, wie bereits in frühester Jugend die Paare zusammengekoppelt werden. Monsieur Belmonte, mir zuckt es bereits in den Gliedern, daß es bei unserer Schwadron zwei geben wird, von denen jeder bei der Heimkehr eine schmucke Französin vor sich auf dem Sattel sitzen hat. Die Chefs d'Escadron, welche uns daran hindern wollen, werden einfach in die Pfanne gehauen! Hurra, wenn meine Schwalbe wüßte, daß sie Gräfin wird, nämlich Tele-Gräfin! Ich wollte, es ginge lieber heute als morgen los!“

Was der brave Mensch bezweckte, nämlich, den Trübsinn seines Herrn nicht aufkommen zu lassen, das erreichte er. Die Züge Belmontes heiterten sich auf, und als er sich in den Wagen setzte, welcher ihn nach Meudon bringen sollte, zeigte er das glücklichste Gesicht, welches es nur geben kann. – – –

Nun erst, nachdem die Arbeit vollendet und abgeschickt worden war, und Belmonte sich entfernt hatte, fand Martin Zeit, nach den Journalen zu greifen. Er pflegte nur das Politische und Wissenschaftliche zu lesen, aber bereits als er das erste Blatt aufschlug, fiel ihm eine fettgedruckte Alinea auf, welche unter der Rubrik ‚Polizeibericht‘ zu lesen war. Sein Auge flog halb unachtsam darüber hin. Da aber traf es einen Namen, der ihn frappierte:

„Gräfin Ella von Latreau?“ sagte er vor sich hin. „Das ist ja die heimlich Angeschmachtete meines Ritt – wollte sagen meines famosen Weinagenten! Was ist mir der? Das muß ich lesen!“

Aber kaum hatte er die letzte Zeile verschlungen, so fuhr er empor, schlug mit der Faust auf den Tisch und rief:

„Höllenteufelschockmillionenhagelwett – ist das wahr, oder ist das nicht wahr? Hier mitten in dem großen Dorf, welches sie die Metropole der Intelligenz nennen, wird eine Dame, eine Komtesse, eine Generalsenkelin, eine heimliche Geliebte von uns aus der Equipage gerissen, in eine Droschke geworfen, welche die Nummer 996 hat, und irgendwohin verschleppt, vielleicht gar in die Unterwelt? Und diese Polizei will der Herkules sein, der den Zerberus totbeißt? Steht es denn auch in den anderen Journalen? Ich muß doch sofort nachsehen.“

Er schlug nach und fand ganz denselben Bericht, nur dem Wortlaute nach verändert, in allen anderen Blättern.

„Es ist wahr!“ rief er. „Sie ist fort, sie ist futsch! Sie wird nicht mehr in der großen Oper zu sehen sein. Und diese Polizei, was hat sie herausgebracht? Daß die betreffende Droschke eine gefälschte Nummer gehabt hat; die richtige Nummer hat nachgewiesen, daß sie sich um die betreffende Zeit in einem ganz anderen Stadtteil mit dem Transport von zwei alten Mamsellen abgewürgt hat. Der Diener der Equipage hat, als er von seinem Sitz herabgeschleudert worden war und auf der Erde lag, die Nummer 996 ganz deutlich am Schlag des Fiakers gesehen. Ist das alles? Ja! Die Polizei ist in allgemeiner Bewegung, heißt es. Das bedeutet, daß diese Herren entsetzlich lange Beine machen, durch alle Straßen jagen, an allen Ecken zusammenrennen und heute abend schweißtriefend sich zu Bett legen werden. Und unterdessen geht die geraubte Gräfin zugrunde oder sie wird zu einer Ehe mit irgendeinem Menschen gezwungen, oder auf irgendeine andere Weise abgemurkst. Der Teufel soll mich holen, wenn ich da ruhig zusehe. Da muß ich auch dabei sein! Ich muß meinen Senf auch mit dazubringen. Ich mache mich auch auf die Beine! Finde ich eine Spur, so reiße ich die Komtesse vom Himmel herunter, wenn man sie etwa da hinauf gehängt hat. Und finde ich nichts, so kann ich doch wenigstens mit der Polizei um die Wette rennen, und zu meinem Herrn, wenn er von Meudon kommt, sagen, daß ich nicht die Arme müßig in den Schloß gelegt habe.“

Er machte sich zum Ausgehen fertig, aber mitten in der Eile, mit welcher er das tat, hielt er plötzlich inne und blickte nachdenklich vor sich nieder.

„Aber die Alice, die Schwalbe?“ fragte er sich. „Die will doch kommen! Was wird sie denken, wenn ich nicht zu Hause bin! Vielleicht kommt sie in ihrer Angst gar auf die Idee, daß man mich auch in einer Droschke 996 fortgeschleppt hat. Da muß ich vorbeugen. Ich werde eine Karte in die Türritze stecken, worauf geschrieben steht: Ich lebe, aber ich bin nicht da, oder: Ich bin einstweilen in die Wicken, aber ich komme bald wieder!“

Trotz seiner Aufregung doch bei Humor, nahm er wirklich eine Karte und schrieb auf die Rückseite derselben die Worte: „Mein Schwälbchen, verzeih! Ich konnte nicht warten, aber ich komme heute abend zu dir geflogen!“

Die Karte steckte er, als er ging, in die Türritze, so, daß sie von dem, welcher klingeln wollte, unbedingt bemerkt werden mußte. Dann eilte er von dannen.

Der Vormittag verging, auch der Nachmittag zur Hälfte; da kam Alice. Sie klingelte, und als nicht geöffnet wurde, zog sie die Karte hervor, um zu sehen, was darauf geschrieben stand. Sie las die Worte und ging dann nachdenklich von dannen.

Es dunkelte bereits, als Martin wiederkehrte. Er sah, daß die Karte verschwunden war und sagte zu sich:

„Nun weiß sie wenigstens, woran sie ist. Ich will – ah, da kommt ein Wagen gerasselt. Er hält unten vor der Tür, sollte es mein Herr sein?“

Er hatte richtig geraten. Belmonte kam die Treppe herauf, sah ihn vor der Vorsaaltür stehen und rief ihm bereits von weitem zu:

„Spät zurück! Nicht wahr? Aber es war dafür auch ein sehr glücklicher Ausflug!“

Er sah ganz so aus, als ob er mit dem Ergebnis seiner Tour ganz und gar zufrieden sei. Sie traten ein, und nun erst, als sie im Zimmer standen, fragte Martin:

„Haben Sie den Direktor angetroffen?“

„Ja. Wir haben tüchtig geprobt und getrunken. Darüber ging ihm das Herz auf, und ich kehre mit reicher Ausbeute zurück. Ich wollte heute wieder in die Oper, aber das muß ich bleiben lassen, da ich zu Papier bringen muß, was ich mir in Gegenwart anderer nicht notieren durfte.“

„Hm! Aus der Oper wäre auf keinen Fall etwas geworden.“

„Wieso? Was für ein Gesicht machst du? Du siehst ja aus, als ob ein Unglück geschehen sei.“

„Das ist auch wirklich der Fall.“

„Was denn? Was denn? So rede doch!“

„Wissen Sie wirklich noch nichts?“

„Nein.“

„So lesen Sie hier.“

Belmonte las. Er wurde bleich wie der Tod und fuhr sich mit beiden Händen nach den Schläfen. Dann schlug er sich vor die Stirn und schritt fieberhaft erregt hin und her. Endlich sagte er:

„Hunderttausend Franken wird er bezahlen, um sie wieder zu bekommen – Fiakerkutscher – Nummer aufgeklebt!“

Er wiederholte einen Teil dessen, was er gestern bei Vater Main von der heimlichen Unterredung erlauscht hatte. Martin dachte, er phantasiere vor Schreck.

„Monsieur Belmonte“, sagte er, „es ist wohl noch nicht alles verloren. Zwar bin auch ich umsonst hin- und hergerannt, um eine Spur oder einen guten Gedanken zu finden, aber –“

„Unsinn!“ unterbrach ihn sein Herr. „Lade unsere Revolver und mache dich fertig zum Ausgehen! Ich weiß, wo die Komtesse steckt und werde sie befreien. Ich eile jetzt zum General, ihrem Großvater, mit dem ich vorher sprechen muß; dann aber werden wir sofort aufbrechen.“

Er hatte bereits die Klinke in der Hand und war mit den letzten Worten zur Tür hinaus. Martin aber stand inmitten des Zimmers und wußte nicht, was er denken solle. Woher konnte sein Herr wissen, wer die Dame geraubt und wohin man sie geschafft hatte?

„Na, zerbrechen wir uns nicht den Kopf“, murmelte er. „Dieser sogenannte Weinagent Belmonte ist in allen Ecken und Winkeln von Paris herumgekrochen. Vielleicht kennt er Orte, an denen man so hübsche Vögel einzusperren und zu zähmen pflegt, und will nun da nach der Komtesse suchen. Alle Teufel! Die Revolver soll ich laden! Vier Stück haben wir, zwei Totschläger auch. Er hat sie angeschafft, weil gewisse Kneipen, in denen wir aus- und eingehen, ganz allerliebst verrufen sind. Da ist so eine Waffe zuweilen ganz nützlich. Ich werde also die Revolver laden und auch die Totschläger hervorsuchen. Ich muß sagen, daß es heute abend hübsch zu werden scheint. Anstatt mein Schwälbchen beim Kopf nehmen zu können, habe ich vielleicht irgendwelche Spitzbuben bei der Parabel zu packen. Dieses Paris ist eine höchst sonderbare Gegend; aber da ich einmal Naturmensch bin, so muß ich sie genießen, wie sie eben ist.“

Nach diesem Selbstgespräche machte er sich daran, die Waffen instandzusetzen.

Der Changeur hatte unterdessen seinen Gang angetreten. Er schritt in höchster Eile der Straße zu, in welcher, wie er wußte, der alte General de Latreau wohnte. Das Hotel desselben war ein palastähnliches Gebäude; unter dem geöffneten Tor stand der Portier, den Stock mit dem üblichen großen, vergoldeten Knauf in der Hand.

„Ist Seine Exzellenz, der Herr General daheim?“ fragte er ihn.

Der Portier musterte ihn mit mißtrauischen Blicken, doch schien das elegante Äußere des Changeurs seine Besorgnis zu zerstreuen. Er antwortete durch die Gegenfrage:

„Was wollen Sie?“

„Ich habe mit ihm zu sprechen.“

„Das wird schwer gehen. Nach dem Unglück, welches unserem Haus widerfahren ist, sind wir gezwungen, in Beziehung der Annahme von Besuchen sehr vorsichtig zu sein.“

„Ah! Halten Sie mich vielleicht für einen Straßenräuber?“

„Nein. Wenigstens sehen Sie nicht wie ein solcher aus. Gehen Sie eine Treppe hoch und melden Sie sich durch den Kammerdiener.“

Belmonte folgte dieser Aufforderung. Auch der Kammerdiener machte Schwierigkeiten; da jedoch der Changeur erklärte, daß die Ursache seines Besuches von höchster Wichtigkeit sei, so wurde die Karte, welche er überreichte, endlich angenommen. Der Diener las den Namen, zuckte die Achsel und meinte:

„Ein Weinkauf ist niemals von solcher Wichtigkeit, wie Sie es dazustellen suchen.“

„Es handelt sich nicht um Wein und ähnliches. Ich habe auch keine Zeit, Ihnen eine lange Erklärung zu geben. Melden Sie mich, oder ich bin gezwungen, mir den Zutritt selbst zu suchen.“

„Sie scheinen ein sehr energischer Mann zu sein. Ich werde versuchen, ob der Herr General geneigt ist, Sie zu empfangen.“

Er ging, und kehrte nach einiger Zeit mit der Weisung zurück, daß Belmonte eintreten könne. Er führte den letzteren durch einige Zimmer und öffnete dann eine Tür. Sie führte in das Kabinett des Grafen.

Dieser saß bei einem Tisch, welcher fast ganz mit Geldrollen bedeckt war. Diese hatten jedenfalls die Bestimmung, in ein offenes Köfferchen zu wandern, welches neben dem Tisch stand. Der General war ein schöner Greis, dessen Züge allerdings durch das Ereignis des gestrigen Abends verdüstert worden waren. Er musterte den Eintretenden, erwiderte die tiefe Verbeugung desselben mit einem leichten Kopfnicken, und fragte dann:

„Sie sind Weinhändler, wie ich sehe. Was wünschen Sie, Monsieur?“

Belmonte wiederholte seine Verbeugung, allerdings etwas weniger tief als vorher, und antwortete dann:

„Zunächst, Exzellenz, habe ich meinen Dank auszusprechen für die Güte, mit welcher Sie geneigt gewesen sind, einen Unbekannten zu empfangen. Sodann beeile ich mich zu erklären, daß mich nicht die Absicht, ein Geschäft mit Ihnen abzuschließen, zu meinem Besuch veranlaßt hat. Es ist vielmehr eine ungleich wichtigere Angelegenheit, welche mich zu Ihnen führt.“

Der General zog die Brauen zusammen, ließ seinen Blick abermals sehr scharf an Belmonte herabgleiten, nickte dann langsam mit dem Kopf und sagte:

„Ich beginne zu verstehen. Sprechen Sie, Monsieur.“

„Sie haben gestern Ihr einziges Kind verloren –“

„Allerdings. Doch hoffe ich nicht für immer“, fiel der General schnell und beinahe in scharfem Ton ein.

„Ich hoffe dies ebenso. Darf ich mir vielleicht die Frage gestatten, in welcher Weise Sie die gnädige Komtesse aus der Lage, in welcher sie sich befindet, befreien wollen?“

Jetzt nahm das Gesicht des Grafen einen wirklich finsteren Ausdruck an. Er sagte:

„Monsieur, eigentlich sollte ich Sie sofort festnehmen lassen, aber da ich meine Enkeltochter zu sehr liebe, um sie einer Verschlimmerung ihrer jedenfalls bereits genug unglücklichen Lage auszusetzen, so will ich mich doch zur Ruhe zwingen.“

Jetzt kam Belmonte eine Ahnung, wie die Worte und das Benehmen des Grafen zu verstehen seien. Er machte eine energische Handbewegung und antwortete schnell und in abweisendem Tone:

„Exzellenz, Sie halten mich für einen der Täter?“

„Aufrichtig gestanden, ja.“

„Der die Kühnheit oder vielmehr Frechheit besitzt, auf diese Weise erfahren zu wollen, welche Maßregeln zu ergreifen Sie beabsichtigen?“

„Natürlich!“

„Sie irren sich ganz und gar.“

„Wirklich?“ fragte der General, beinahe höhnisch.

„Ja. Es ist eine Folge meiner Art des Geschäftsbetriebs, daß ich mich zuweilen auch in obskure Restaurationen, ja sogar Spelunken bemühe, um dort eine Quantität meiner Ware abzusetzen. Ich war gestern an einem solchen Ort. Es verkehrten vorzugsweise Verbrecher dort. Ich hatte Gelegenheit, abgerissene Worte einer sehr eigentümlichen Unterhaltung zu erlauschen. Heute war ich von Paris entfernt. Soeben kehrte ich zurück und erfuhr, was gestern nach dem Schluß der Oper geschehen ist. Das, was ich gestern erlauschte, stimmt so genau zu der ruchlosen Tat, daß ich überzeugt bin, den Ort zu kennen, an welchen man die Komtesse gebracht hat.“

„Sie sprechen sehr gut, aber Sie erreichen Ihren Zweck doch nicht. Sie wollen mich prüfen, und ich gehe darauf ein, indem ich Ihnen erkläre, daß Sie unbesorgt sein können. Ich habe völlig davon abgesehen, die Hilfe der Polizei in Anspruch zu nehmen. Ich will nicht auch das Leben meines Kindes in Gefahr bringen. Sie sehen, hier steht bereits das Köfferchen, in welches ich die hunderttausend Franken zählen werde.“

„Hunderttausend Franken!“ rief Belmonte. „Ein solches Lösegeld hat man von Ihnen verlangt?“

„Pah! Sie wissen das ebensogut wie ich! Ich werde mich in eigener Person zur bestimmten Zeit an dem Ort einstellen, welcher im Brief angegeben ist.“

„Ah! Einen Brief hat man Ihnen geschrieben?“

„Monsieur, geben Sie sich keine Mühe, mich zu täuschen. Wollen wir denken, daß es sich einfach um ein Tauschgeschäft handelt, dessen Abschluß ich so bald wie möglich erreichen möchte. Bringen Sie mir mein Kind noch heute abend, und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort als Edelmann und Offizier, daß ich Ihnen noch fünftausend Franken über die stipulierte Summe auszahlen und dann in Zukunft Ihre Sicherheit niemals in irgendeine Gefahr bringen werde.“

Da trat Belmonte einen Schritt näher und sagte:

„Exzellenz, ich bitte Sie, um Himmels willen, mir zu glauben, daß Ihre Ansicht über mich eine irrige ist. Ich habe erlauscht, daß eine Dame geraubt werden soll, und daß man ein Lösegeld verlangen will; das ist alles.“

„Warum haben Sie nicht sofort Anzeige gemacht? Sie haben das unterlassen, ein Umstand, welcher nicht geeignet ist, Ihnen mein Vertrauen zu erwerben.“

„Die einzelnen, abgerissenen Worte, welche ich vernahm, waren so zusammenhanglos, daß ich ihren Sinn unmöglich erfassen konnte.“

„Aber jetzt verstehen Sie diesen Sinn?“

„Nachdem die Tat geschehen ist, konnte er mir erst klar werden.“

„Ich glaube Ihnen nicht.“

„Und dennoch bitte ich Sie inständigst, mir Ihr Vertrauen nicht vorzuenthalten. Ich kenne die Personen, welche die Komtesse raubten, und ebenso ist mir der Ort bekannt, an welchem sie sich befindet. Es ist sehr wahrscheinlich, daß ich mich nicht irre.“

Der General schüttelte den Kopf und fragte:

„Und wenn ich nun bereit wäre, auf Ihre Intentionen einzugehen, was würden sie mir da raten?“

„Geben Sie mir nur eine genügende Anzahl Polizeisergeanten mit, so hoffe ich, Ihr Kind Ihnen in der Zeit von einer Stunde zurückbringen zu können.“

„Diesen Vorschlag hatte ich erwartet. Ich kann nicht auf denselben eingehen, denn in ihm besteht ja eben die Prüfung, welcher Sie mich unterwerfen wollen.“

„Ich schwöre Ihnen bei Gott und meiner Ehre, daß ich es aufrichtig mit Ihnen meine.“

„Hat ein Verbrecher Ehre? Glaubt ein Verbrecher an Gott?“

Das war eine harte Probe für die Geduld des Weinhändlers. Seine Augen leuchteten zornig auf, doch beherrschte er sich und fragte:

„Darf ich fragen, von wessen Hand der Brief geschrieben ist, welchen Sie bekommen haben?“

„Meine Tochter hat ihn geschrieben. Das wissen Sie natürlich ganz genau.“

„Ich weiß ganz und gar nichts. Ist es nicht möglich, ihn lesen zu dürfen?“

„Sie haben ihn bereits gelesen und können es auch zum zweiten Male tun. Hier ist er.“

Der Brief lag bei den Geldrollen auf dem Tisch. Er nahm ihn weg und gab ihn an Belmonte. Dieser las ihn. Das Schreiben war in herzzerreißenden, angstvollen Worten abgefaßt, und besonders bat Ella von Latreau ihren Großvater, ja nicht etwa eine Vergrößerung der Gefahr herbeizuführen, daß er die Hilfe der Polizei in Anwendung bringe.

Der Changeur gab den Brief zurück und bemerkte:

„Aus dem Inhalt dieses Schreibens läßt sich vermuten, daß die Verfasserin wenigstens kein größeres Leid zu erdulden hatte. Das ist beruhigend. Aber man weiß nicht, was geschehen kann. Jede Minute ist von unendlicher Wichtigkeit. Glauben Sie überhaupt, daß man Ihnen die Dame zurückgeben wird?“

„Ja, gegen die verlangte Summe natürlich.“

„Ich glaube es nicht.“

Der Graf erschrak.

„Aus welchem Grund?“ fragte er.

„Die Dame wird die Räuber kennen, und diese letzteren werden sich nicht einer Gefahr aussetzen, indem sie die Geraubte freigeben und von ihr früher oder später einmal gesehen und angezeigt werden.“

„Man wird uns das Ehrenwort, für immer zu schweigen, abverlangen.“

„Sie würden dieses Wort zwar geben und auch unter allen Umständen halten; aber der Verbrecher glaubt und traut einem solchen Versprechen niemals. Ich bin überzeugt, daß man unter dem Vorgeben, die Komtesse doch endlich frei zu lassen, eine Summe nach der anderen von Ihnen fordern wird. Sie werden zahlen, und wieder zahlen, aber Ihr Kind niemals wiedersehen.“

Der General war totenbleich geworden; er sah ein, daß diese Darstellung keineswegs aller Gründe entbehre.

„Das ist eine Eventualität“, meinte er, „welche man allerdings in das Auge fassen muß. Das, was Sie da sagen, erweckt den Schein, als ob Sie es ehrlich mit mir meinten. Wo haben Sie die Worte belauscht, von denen Sie sprachen?“

„In einem Bier- und Weinlokal, der Vorstadt, La Chapelle.“

„Wie heißt der Wirt?“

„Man nennt ihn Vater Main.“

„Das scheint ein Beiname zu sein. Den richtigen Namen kennen Sie nicht?“

„Nein.“

„Wer waren diejenigen, welche Sie belauschten?“

Belmonte erzählte so viel, als er erzählen konnte. Der Graf hörte ihm aufmerksam zu und meinte dann:

„Sie können es ehrlich meinen, doch ist auch das Gegenteil denkbar. In beiden Fällen ist es geraten, vorsichtig zu sein. Ich sehe einstweilen von allen Gewaltmaßregeln ab. Ich bin reich; zahle ich die hunderttausend Franken, so werde ich dadurch noch keineswegs arm. Warten wir also ab, wie der morgige Tag verläuft.“

„Sie wünschen also, daß Ihr Kind noch eine zweite Nacht in einer Lage zubringe, welche eine geradezu fürchterliche genannt werden muß?“

„Ist meine erste Ahnung die richtige, so könnten Sie das allerdings ändern, indem Sie mir Ella noch heute gegen die angegebene Mehrzahlung ausliefern.“

„Ihre Ahnung ist grundfalsch.“

„Nun, so muß ich mich eben bescheiden. Eine zweite Nacht in Gefangenschaft ist doch besser, als daß ich Gewaltmaßregeln gebrauche, welche sehr leicht mißglücken können.“

„Ist Ihnen der Wortlaut des Briefes im Gedächtnisse? Haben Sie nicht gelesen, daß der gnädigen Komtesse noch weit Schlimmeres als nur der Tod angedroht worden ist? Ich wiederhole, eine jede Minute ist kostbar.“

„Diese Gefahren sind ihr eben nur für den Fall angedroht, daß ich Polizei requiriere. Sie sehen also, daß ich gerade im Interesse meines Kindes handle, wenn ich mich genau nach den Wünschen desselben richte, indem ich für heute auf die Hilfe der Polizei noch verzichte.“

„Aber die Menschen, welche in dem betreffenden Hause verkehren, sind zu allem fähig!“

Da richtete sich der Graf hoch empor. Sein Gesicht nahm einen finster drohenden Ausdruck an.

„Monsieur“, sagte er, indem er die geballte Hand schwer auf den Tisch legte, „bekomme ich mein Kind nicht wieder, oder nicht so rein, wie es mich verlassen hat, dann wehe diesen Schurken. Ich würde mich in diesem Fall nicht an die Gerechtigkeit der Gesetze wenden, sondern die Rache in meine eigene Hand nehmen.“

„Und ich würde Ihnen helfen, wenn es mein Leben kosten sollte, Exzellenz!“

Diese Worte waren in einem so tiefen Brustton gesprochen, sie kamen so grollend, ja knirschend zwischen den Zähnen hervor, daß der Graf den Sprecher überrascht anblickte.

„Sie scheinen es doch ehrlich zu meinen!“ sagte er.

„Prüfen Sie mich!“ antwortete Belmonte einfach.

„Warum aber diese Teilnahme, welche sogar das Leben zu opfern imstande ist, mit mir und meinem Kinde?“

Konnte Belmonte die Wahrheit sagen? Nein. Er antwortete:

„Exzellenz, ich bin ein ehrlicher Karl und hasse das Laster und das Verbrechen. Als Mitglied der menschlichen Gesellschaft habe ich die Pflicht, beide zu bekämpfen.“

„Das ist allerdings eine sehr lobenswerte Gesinnung. Vielleicht nehme ich Sie beim Wort. Für heute aber kann ich keine andere als die bereits ausgesprochene Entscheidung treffen.“

„Sie werden also die Summe bezahlen?“

„Ja.“

„Und wenn die Komtesse zurückkehrt?“

„Werde ich schweigen.“

„Wenn man Sie aber betrügt?“

„So sehe ich ein, daß Sie es ehrlich gemeint haben, und Sie werden der erste sein, an den ich mich wende. Auf Ihrer Karte fehlt die Angabe Ihrer Wohnung, Monsieur Belmonte. Wollen Sie das nachholen? Da steht Tinte.“

„Unsere Unterhaltung ist also soweit beendet, daß Sie mir nur noch ein Versprechen zu geben haben.“

„Ich werde es geben, wenn ich es für zweckmäßig halte.“

„Immer einen Vorbehalt! Sie geben mir die Hand darauf, daß Sie von dem, was Sie wissen, der Polizei nicht eher etwas sagen, als bis Sie einsehen, daß ich ohne dieselbe nichts erreichen kann.“

Er hielt Belmonte die Hand entgegen.

„Gut, das kann ich versprechen“, antwortete dieser, indem er einschlug. „Ich bin überzeugt, daß Ew. Exzellenz mich in kurzer Zeit nicht mehr zu denen rechnen werden, welche die Veranlassung sind, daß ein einfacher Weinagent es wagt, in diesem Haus Zutritt zu suchen.“

Der Changeur ging. Sein Plan war an dem Mißtrauen des Grafen gescheitert.

Was sollte er nun beginnen? Auf dem Rückweg nach seiner Wohnung dachte er an die Gefahren, welchen die heimlich Angebetete ausgesetzt war. In einem Haus, in dem Mädchen wie die beiden Kellnerinnen bedienten und fast nur der Abschaum der Menschheit verkehrte – was alles konnte da bis morgen geschehen.

„Nein!“ sagte er zu sich. „Ich werde zwar das Wort halten, welches ich gegeben habe, aber doch auch tun, was ich vielleicht zu tun vermag. Wenn es in meiner Macht liegt, soll dieses herrliche Wesen keine Sekunde zu lange sich in den Händen dieser Ungeheuer befinden. Martin ist schlau und mutig; er soll mir helfen.“

Als er nach Hause zurückkehrte, hatte der Diener längst mit großer Spannung auf ihn gewartet.

„Nun, Monsieur Belmonte“, fragte er, „kann der Tanz endlich losgehen?“

„Ja.“

„Der General macht mit?“

„Nein. Er mißtraute mir.“

„Hole ihn der teuflische Satanas.“

„Er glaubt nämlich, daß ich zu den Räubern gehöre und nur gekommen bin, um zu erfahren, ob er das Geld zahlen oder andere Maßregeln ergreifen will.“

„Geld?“

„Ah, du weißt es ja ebenso wenig, wie ich es wußte. Ich muß dir das Nähere erläutern.“

Er erzählte nun, was ihm gestern in dem Branntweinkeller begegnet war, und fügte daran die Unterredung mit dem Grafen Latreau. Martin hörte aufmerksam zu und sagte dann:

„Nach dem, was ich gehört habe, ist es dem Grafen gar nicht zu verargen, daß er Ihnen nicht traut. Aber hunderttausend Franken! Kreuzmillionenschockdonnerwetter! Wie viele Schuhzwecken könnte man dafür kaufen, acht Stück für einen Pfennig, nämlich von der Mittelsorte! Wenn man sich diesen Sparpfennig verdienen könnte!“

„Das geht nicht!“

„Nein, aus reiner Ambition nicht! Aber gut, so machen wir es umsonst und heiraten dann das Mädchen. Dann sind die Hunderttausend doch noch unser.“

„Martin, Martin!“

„Schon gut, Monsieur Belmonte. Sie meinen, ich soll zwischen meine Ausdrücke einige Ellen Ehrerbietung mit einschieben? Das soll von jetzt an geschehen. Also, was haben Sie ehrerbietigst zu tun beschlossen?“

„Du bist unverbesserlich! Ich werde sehen, ob es nicht möglich ist, die Dame auch ohne Hilfe der Polizei zu befreien.“

„Warum soll das nicht ehrerbietigst möglich sein! Der Martin ist dabei, und wo der seine Hand im Spiel hat, da ist stets das ungeheuerste Glück in schuldigster Hochachtung und tiefster Untertänigkeit vorhanden!“

„Mensch, scherze jetzt nicht!“ mahnte Belmonte unwillig. „Die Hauptsache ist natürlich, daß sich meine Vermutung bestätigt, ich meine, daß die Komtesse sich wirklich bei Vater Main befindet.“

„Ich möchte gar nicht daran zweifeln.“

„Ich auch nicht.“

„So müssen wir einen Feldzugsplan entwerfen.“

„Das ist unmöglich, da wir die Faktoren ja gar nicht kennen, mit denen wir zu rechnen haben. Weißt du die Kneipe?“

„Ich kenne sie nur aus der Beschreibung, welche Sie mir von ihr gegeben haben.“

„So wirst du sie ohne mich finden.“

„Wir gehen nicht miteinander?“

„Nein. Wir dürfen uns gar nicht kennen, müssen aber in inniger Fühlung bleiben, um gegebenenfalls eingreifen zu können.“

„Gut, ich greife hinein, mag es nun Tinte, Quark oder Sirup sein, aus dem wir die ehrerbietigste Komtesse herausziehen müssen.“

„Mache ein Ende mit diesem Unsinn! – Wir dürfen uns auch nicht zueinandersetzen.“

„Woher soll da die Fühlung kommen?“

„Die wird von Sally besorgt werden.“

„Ah! Ist mir lieb! Solche Fühlung ist angenehmer, als Tornister an Tornister und die Ellbogen dazwischen. Sie glauben also, diesem Mädchen vertrauen zu dürfen?“

„Ich hoffe es und werde sie noch ein wenig bearbeiten.“

„Mit Fühlung?“

„Unsinn über Unsinn! Hast du die Revolver geladen?“

„Alle vier. Dort auf dem Tisch liegen sie und daneben die beiden Totschläger.“

„Das ist gut, sehr gut. An die habe ich gar nicht gedacht, obgleich sie viel praktischer sind, als Schußwaffen. Mit ihnen läßt sich ganz unhörbar arbeiten, während die Revolver trotz des nicht sehr lauten Geräuschs, welches sie verursachen, uns doch verhängnisvoll werden können.“

„Wahr, sehr wahr! Wir befinden uns heute zwar auf sehr guten, braven und lobenswerten Wegen; aber dennoch ist es immer besser für uns, unbemerkt zu bleiben. Die Polizei würde uns zwar zu Hilfe kommen, uns vielleicht ein Verdienstdiplom ausfertigen lassen, aber sie könnte doch wohl auch einige unbequeme Fragen an uns tun, welche am besten unausgesprochen bleiben.“

„Was das betrifft, so brauchen wir solche Fragen ganz und gar nicht zu fürchten. Ich bin mit ausgezeichneten Legitimationen versehen und stehe unter sicherem Schutz.“

„Das beruhigt mich. Also, ich bin in dieser Kellerkneipe noch niemals gewesen. Darf ich um eine Beschreibung der Räumlichkeiten bitten, damit ich weiß, woran ich bin.“

„Sobald du die Stufen hinabkommst, trittst du in das eigentliche Schanklokal. Dort kann ein jeder verkehren. Durch eine Tür kommt man dann in einen zweiten Raum, wo sich Stammgäste und andere Bevorzugte aufhalten dürfen. Daran stößt linkerhand ein kleines Seitenkabinett, in welches sich der Wirt mit seinen Vertrauten zurückzuziehen pflegt, wenn er mit ihnen eine wichtige, heimliche Besprechung vorzunehmen hat. Von da aus liegt weiter nach hinten ein Raum, in welchem allerhand Gerätschaften und leere Fässer aufbewahrt werden, und aus welchem eine steinerne Treppe nach dem Hof und nach dem Inneren des Hauses emporführt. Hier führt nun auch eine starke, mit Eisen beschlagene Tür in den tiefen Hinterkeller hinab.“

„Schön. Und das Innere des Hauses?“

„Ist mir unbekannt. Ich kenne nur ein Zimmer des ersten Stockwerks, welches nach dem Hof hinaus liegt, und in dem wir zu spielen pflegen.“

„Schön. Wir werden jedenfalls die Laterne mitnehmen müssen.“

„Allerdings. Weiter läßt sich nichts vorbereiten. Wir müssen uns nach dem Augenblick richten.“

„Und wann brechen wir auf?“

„Sofort.“

„Teilen wir die Revolver?“

„Natürlich. Jeder zwei.“

„Ah! Da fällt mir ein, daß wir doch die Hauptsache vergessen haben. Wenn man mich nun fragt, wer ich bin?“

„Wirklich, wirklich! Daran dachte ich nicht, das ist allerdings ein höchst kitzliger Punkt. Für einen ehrlichen Kerl darfst du dich nicht ausgeben.“

„Das ist mir Wurst wie Haut. Ich habe heute all mein Ehrgefühl verloren und will ein Spitzbube werden.“

„Aber was für einer.“

„Wie wäre es, wenn ich mütterlicherseits ein Urenkel vom Schinderhannes und väterlicherseits ein Großonkel des Bayrischen Hiasel wäre?“

„Laß das Scherzen.“

„Ein Paletotmarder?“

„Ist nichts.“

„Ein ausgewiesener Sozialdemokrat aus Sibirien?“

„Unsinn! Du gibst dir irgendwelchen Namen und bist nach der Hauptstadt gekommen, weil du –“

„Weil – ah, da fällt mir es ein“, unterbrach ihn der Diener. „Sie erzählten ja, daß Franctireurs angeworben werden sollen! Ich bin also nach Paris gekommen, weil ich munkeln gehört habe, daß man hier Leute sucht, welche zu diesem Geschäft passen.“

„Das mag gehen.“

„Gut, so gehe ich auch! Adieu, Monsieur Belmonte.“

Er ging zur Tür hinaus, wohlgemut und trällernd, als ob es sich darum handle, eine Vergnügungspartie anzutreten.

Sein Herr folgte ihm bald. Er hatte die Revolver eingesteckt, den Totschläger und das Laternchen ebenso. Er begab sich zunächst nach seiner zweiten Wohnung, in deren Nähe er die Haartour anlegte und den tänzelnden Schritt annahm.

Als er stolz an dem Portier vorüberging, murmelte dieser ärgerlich in den Bart:

„Dieser Mensch kann nicht grüßen! Gestern abend fort und jetzt erst wieder zurück! Wo mag sich der Kerl herumtreiben. Da lobe ich mir seinen Nachbarn welcher seit gestern abend noch nicht ausgegangen ist. Jetzt nun wird er wohl ein wenig Luft schöpfen. Es ist ihm zu gönnen.“

Wirklich kam dieser scheinbare Nachbar, in seine Bluse gekleidet, bereits nach einigen Minuten herab.

„Spazieren, Monsieur?“ fragte der Portier freundlich.

„Ja, mein Lieber. Aber nicht lange. Man hat zu arbeiten.“

„Sie scheinen mit Ihrem Nachbar gar nicht zu sympathisieren?“

„Wieso?“

„Wenn er kommt, so gehen Sie, und wenn Sie kommen, so geht er.“

„Wir sprechen allerdings gar nicht miteinander. Auf Wiedersehen.“

„Wiedersehn!“

Als Belmonte, denn dieser war es wirklich, in den Schankkeller trat, saßen nur zwei Gäste in dem vorderen Raum. Er kannte sie nicht. Sollte Martin so zuversichtlich gewesen sein und sogleich in die nächste Abteilung getreten sein, aus welcher ein wüstes Schreien und Lachen herausscholl?

Eine Kellnerin war auch nicht vorhanden. Beide waren wohl augenblicklich beschäftigt. Bald aber trat Sally ein, welche sich außerordentlich freute, als sie ihn erblickte. Er hatte sich in die Ecke zurückgezogen, in welcher er gestern mit ihr gespielt hatte und verlangte eine Flasche Wein. Nachdem sie ihm dieselbe gebracht hatte, nahm sie an seiner Seite Platz.

„Hast du denn Zeit, heute hier zu sitzen?“ fragte er.

„Warum nicht?“

„Weil darin viele Gäste zu sein scheinen. Da gilt es, aufmerksam zu bedienen.“

„Gerade deshalb kann ich abkommen. Heute gibt es viel Trinkgeld; da sieht es Betty gern, wenn ich ihr allein die Gäste überlasse.“

„Viel Trinkgeld? Was ist denn los?“

„Es werden Rekruten für die Franctireurs gemacht. Man trinkt nur Wein.“

„Gibt es denn Leute, welche sich anwerben lassen?“

„Ja. Der Emissär des alten Kapitäns ist tagsüber sehr tätig gewesen. Jetzt nun kommen sie nach und nach herbei. Der letzte kam vor kaum einer Viertelstunde und sitzt nun auch bereits bei ihnen.“

„Kennst du ihn?“

„Nein. Er wurde gefragt. Es ist ein relegierter Student der Weltweisheit aus Tours. Er hat bereits mit allen Brüderschaft getrunken und zu diesem Zweck ein ganzes Dutzend Wein gegeben. Bei jedem Schluck singt er eine lateinische Strophe. Horch, da wieder!“

Der Changeur lauschte und hörte die Worte:

„Bos bos dice tur, terris abicunque videtur.“

„Was heißt das?“ fragte das Mädchen.

„Kommt ein Ochs in fremdes Land, wird er gleich als Rind erkannt.“

„Sonderbar! Diese Studenten sind eigentümliche Menschen. Er ist überhaupt ein hübscher, allerliebster Junge!“

Der Changeur hatte die Stimme Martins erkannt. Dieser wollte ihn jedenfalls hören lassen, wo er sich eben befinde.

„Gefällt er dir?“

„Nicht so, wie du“, antwortete sie.

„Schmeichelkätzchen! Wo ist der Wirt?“

„In der Seitenstube. Brecheisen, Dietrich und noch drei sitzen bei ihm. Sie trinken schweren Wein und scheinen über außerordentliche Geheimnisse zu verhandeln. Vater Main bedient selbst. Weder ich noch Betty darf hinein.“

„Hat man gestern oben noch gespielt?“

„Nein. Aber bemerkt habe ich, daß man irgend etwas durch das Hoftor gebracht hat.“

„Jedenfalls Ware!“

„Hm!“ brummte das Mädchen nachdenklich.

„Nicht?“ fragte er so unbefangen wie möglich.

„Ich darf nichts sagen.“

„Pah! Wer zwingt dich zum Schweigen?“

„Der Wirt.“

„Ich denke, du willst fort von hier?“

„Kann ich denn bei den Schulden, die ich vorher an Vater Main zu bezahlen hätte? Fortzukommen wäre mir nur dann möglich, wenn du es gestern ernst gemeint hättest.“

„Ich habe es ernst gemeint, Sally. In solchen Sachen treibe ich niemals Scherz.“

„Mein Gott! Wie glücklich würde ich sein!“ flüsterte sie, indem ihre Augen aufleuchteten. „Bist du denn wohlhabend?“

„Hm, für eine gute Freundin habe ich immer einige Franken übrig.“

„Oh, es ist mehr als nur einige Franken!“

„Wieviel bist du schuldig?“

„Über dreihundert. Und wenn ich zu meinem Bruder will, brauche ich doch auch noch einiges Geld. Also vierhundert Franken. Hätte ich sie, so könnte ich ein braves, ehrliches Mädchen werden. Nun aber ist dies doch unmöglich.“

„Man darf nicht verzweifeln. Vierhundert Franken würde ich wohl noch für dich zusammenbringen.“

Dann fuhr sie schnell nach seiner Hand, faßte dieselbe und sagte:

„Ist's wahr, ist's wahr? Oh, welch ein Glück! Ich wollte Tag und Nacht arbeiten, um dir diese Summe einst zurückgeben zu können.“

„Ich schenke sie dir – oder vielmehr, du könntest unter Umständen noch mehr erhalten.“

Sie blickte ihn ganz erstaunt an.

„Noch mehr? Das ist doch ein Scherz. Sei aufrichtig mit mir, lieber Arthur.“

Er ließ ihr seine Hand, rückte ein wenig näher an sie heran und antwortete:

„Ich will aufrichtig sein. Ich habe einen Freund, einen reichen, sehr reichen Mann, der sich freuen würde, wenn du ein gutes Mädchen werden wolltest. Er würde dir geben, was du zum Eintritt in ein besseres Leben bedarfst, nur aber müßtest du ihm beweisen, daß es dir wirklicher, voller Ernst ist.“

„Wie gern, wie gern würde ich ihm das beweisen. Aber wie soll ich dies anfangen?“

„Das möchte ich dir gern sagen, wenn ich nur wüßte, ob ich mich auf dich verlassen kann.“

„Ist es etwas Unrechtes?“

„O nein, sondern im Gegenteil etwas sehr Lobenswertes.“

„So werde ich es tun.“

„Ich bezweifle es noch, obgleich es dir vielleicht tausend Franken einbringen könnte.“

Sie legte die Hände zusammen wie jemand, dem man etwas Erstaunliches, Unbegreifliches gesagt hat.

„Tausend Franken! Ist das wahr?“

„Ja, gewiß!“

„So sage mir schnell, was ich machen soll!“

„Hast du heute die Zeitung gelesen?“

„Nein. Vater Main leidet das nicht.“

„Hast du auch nicht gehört, was in den Zeitungen gestanden hat?“

„Nein.“

„Nun, ich will dir einmal mein ganzes Vertrauen schenken. Du brummtest vorhin so eigentümlich, als ich fragte, ob es Ware sei, welche man gestern abend durch das Hoftor gebracht habe. Was hat dieses Brummen zu bedeuten?“

Da legte sie ihm die Hand auf die Schulter, so, daß sie ihren Mund seinem Ohre nähern konnte und antwortete:

„Auch ich will aufrichtig sein. Es war keine Ware.“

„Was denn?“

„Eine Person.“

„Weißt du das genau?“

„Sehr genau. Ich weiß sogar, daß es ein Frauenzimmer ist.“

Der Changeur konnte seine Freude kaum verbergen, doch zwang er sich zu einem möglichst gleichgültigen Ton, in welchem er vor sich hinbrummte:

„Eigentümlich! Vater Main wird Besuch bekommen haben. Vielleicht eine Verwandte.“

„O nein! Ich war neugierig und schlich mich hinauf, als er seinen Mittagsschlaf hielt. Ich lauschte an der Tür, die mit zwei Hängeschlössern verschlossen ist, und da hörte ich ein leises Weinen. Es war die Stimme eines Frauenzimmers.“

„Hast du nicht angeklopft und gefragt?“

„Das darf ich nicht wagen. Ich bin ebenso leise fortgeschlichen, wie ich gekommen bin.“

Da nahm er, ungesehen von den beiden anderen Gästen, einige Scheine aus der Tasche, zeigte sie ihr und sagte:

„Siehe hier diese fünfhundert Franken! Die könntest du sofort als dein Eigentum einstecken, wenn du mir einen Gefallen tun wolltest.“

Ihre Augen wurden größer. Es wurde ihr hier eine Summe geboten, wie sie eine solche noch niemals besessen hatte, und doch schob sie die Hand Belmontes zurück und sagte:

„Mein lieber Arthur, ich bin ein ungutes Geschöpf geworden, halb mit, halb ohne mein Verschulden. Ich bin die Sklavin des Vaters Main; ich darf nicht auf die Gasse, nicht in den Hof; ich habe keinen Willen und kein Recht. Ich sehe, wie glücklich andere sind und möchte es auch gern sein. Die Summe, welche du mir bietest, könnte mich retten, denn wenn ich meine Schuld an den Wirt bezahle, bin ich frei. Aber ich habe nach unserer gestrigen Unterredung mir selbst das heilige Versprechen gegeben, nichts Unrechtes mehr zu tun. Dieses viele Geld kann man nur durch ein Unrecht so leicht und schnell verdienen. Ich bitte dich, es zu behalten.“

Er sah, welche Überwindung ihr dieser Entschluß verursachte und fühlte sich im Herzen tief gerührt.

„Du irrst, liebe Sally“, antwortete er. „Ich verlange kein Unrecht von dir. Es wäre ganz im Gegenteil eine Sünde oder gar ein Verbrechen, wenn du mir meinen Wunsch nicht erfüllen wolltest. Ich bin dir gut, wenn ich auch nicht von Liebe reden will, ich glaube deiner Versicherung, daß du gern ein anderes, besseres Leben beginnen möchtest; ich habe Vertrauen zu dir und weiß, daß du das, was ich von dir erbitten möchte, auch ohne Bezahlung tun würdest. Ich biete dir das Geld nur deshalb an, damit du überzeugt sein kannst, daß du, wenn du das Gute beginnst, nicht wieder zum Bösen zurückkehren brauchst.“

„Ist das wahr? Ist das wahr?“ fragte sie.

„Ich will dein Glück. Glaube es mir.“

„Gut, ich will es glauben! Was soll ich tun, Arthur?“

„So höre. Es ist gestern eine Dame geraubt worden, die Enkelin eines Grafen und Generals. Ich vermute, daß sie sich hier im Haus befindet. Die Polizei suchte bisher vergebens nach ihr, wird sie aber noch finden, und dann wird das Verderben auch dich mit erfassen.“

„Gott, ich weiß ja gar nichts davon! Warum hat man sie geraubt?“

„Um ein Lösegeld zu erpressen.“

„So haben es die fünf getan, welche jetzt bei dem Wirt draußen sitzen.“

„Ja, sie sind es. Man muß ihnen ihr Opfer entreißen. Gelingt dies mit deiner Hilfe, so darfst du auf eine hohe Belohnung rechnen.“

Sie blickte lange schweigend vor sich nieder. Er sah es ihr an, daß ihr Inneres sich in großer Aufregung befand. Endlich sagte sie leise:

„Vater Main würde sich fürchterlich rächen.“

„Das kann er nicht. Er wird unschädlich gemacht.“

„Ich fürchte die Polizei.“

„Diese soll ja gar nicht dabei sein.“

„Wie soll man die Dame sonst aus dem Haus bringen?“

„Das zu entwerfen wird deine Aufgabe sein.“

„Es geht nicht. Sobald der Wirt merkt, daß sie fort ist, würde es mir traurig ergehen.“

„Du sollst ja dieses Haus verlassen.“

Da erhob sie schnell den Kopf und fragte:

„Ihr wollt mich mitnehmen?“

„Natürlich.“

„Und für mich sorgen? Ich meine, dafür sorgen, daß der Wirt sich nicht an mir rächen kann?“

„Ja. Entschließe dich. Die Zeit drängt.“

„Arthur, ich möchte gern. Aber wenn wir ertappt werden.“

„Ich bin bewaffnet und habe einen Gehilfen mit.“

„Wer wäre das?“

„Der relegierte Student da draußen. Er ist mein Diener.“

„Dein Diener? Hast du, der Changeur, einen Bedienten?“

Er nickte ihr lächelnd zu und antwortete:

„Ich bin kein Changeur, kein Verbrecher. Ich habe das nur gesagt, um hier ungestört sitzen zu können. Wenn du tust, was ich von dir erbitte, so stehst du unter einem sichern Schutz, mein liebes Kind.“

Da blickte sie ihn verklärten Auges an und fragte:

„So bist du wohl ein vornehmer Herr!“

„Was ich bin, wirst du sehr bald erfahren; hier aber ist zu solchen Mitteilungen nicht der richtige Ort. Aus meiner Aufrichtigkeit aber mußt du sehen, welches Vertrauen ich zu dir habe.“

„Ja, ich sehe es. Und das macht mich glücklich. Sei, wer du immer seist. Ich liebe dich, und darum schmerzte es mich, dich unter den Verbrechern zu wissen. Wenn ich von dir träumte, erschienst du mir als hoch und rein, und nun ist dieser Traum zur Wirklichkeit geworden. Ja, Arthur, ja, ich bin bereit, zu tun, was du von mir verlangst. Aber beantworte mir vorher eine Frage. Liebst du die verschwundene Dame?“

Er erschrak fast über diese Frage. Aber es widerstrebte ihm, ein Wesen, welches begonnen hatte sich aus dem Schmutz emporzuringen, durch eine Unwahrheit wieder in denselben hinabzustoßen. Er wagte viel, aber er wagte es doch, indem er antwortete:

„Ja, Sally, ich liebe sie.“

„Weiß sie es?“

„Nein.“

Sie war bleich, sehr bleich geworden. Sogar aus ihren Lippen war die Farbe gewichen, und auch in ihren Augen schimmerte es feucht, als sie stockend sagte:

„Ja, mich konntest du nicht lieben. Aber daß du mir deine Liebe zu jener gestanden hast, ist der größte Beweis deines Vertrauens. Eine andere würde sich kränken und ärgern und vielleicht Schlimmes planen; aber du hast vorhin gesagt, daß du mir gut seist, und das ist fast mehr, als ich verlangen darf. Ja, Arthur, ich werde dir helfen. Ich werde sogar das Leben wagen, um dir die heimlich Geliebte zu retten: aber ich tue es nicht für Geld; ich nehme nichts von dir. Aber wenn es uns gelingt, und du wolltest mir dann für meine Beihilfe einen – einen Kuß, einen einzigen Kuß geben – Arthur, ich verlange ihn nicht, er soll nicht Bedingung sein; du darfst ihn mir verweigern; aber dieser Kuß von dir, der du kein Verbrecher bist, oh, es würde sein, als ob mir mit einem Mal alle meine Sünden vergeben wären.“

Er blickte hinüber zu zwei anderen Gästen. Der eine schlief, und der andere stierte betrunken in sein Glas. Sie beobachteten ihn und Sally gar nicht. Da legte er den Arm um sie, zog sie an sich heran und drückte seinen Mund ein-, zwei-, dreimal auf ihre Lippen. Sie schloß die Augen und ließ die Arme nieder. So lag sie eine Weile an seinem Herzen. Dann aber öffnete sie die Lider, blickte ihm mit einem langen, unergründlichen Ausdruck in die Augen und sagte, in ein leises, stilles Weinen ausbrechend:

„Ich danke dir. Ich komme bald wieder.“

Sie erhob sich und verließ das Zimmer. Er hatte nicht das Gefühl, als ob er sich durch diesen Kuß entehrt hätte; es war ihm vielmehr zumute wie einem Priester, welcher einem Reuigen die Absolution erteilt hat.

Er brauchte auf ihre Rückkehr gar nicht lange zu warten. Sie trat in einer Hast ein, daß er sofort erkannte, daß etwas Wichtiges geschehen sei.

„Was ist's?“ fragte er.

„Um Gottes willen, was soll da geschehen!“ antwortete sie. „Ich sah, daß Vater Main einen Schlüssel von seinem Bund losmachte und Brecheisen und Dietrich gab. Diese beiden sind die Treppe hinaufgegangen.“

„Und der Wirt?“ fragte der Changeur weiter.

„Sitzt wieder am Tisch bei den anderen dreien.“

„Was können sie oben wollen?“

„Sie können nur zu der Dame sein.“

„Alle Teufel! So muß ich ihnen nach.“

„Das ist gefährlich.“

„Danach darf ich nicht fragen. Weiß der Wirt, daß ich hier bin?“

„Noch nicht.“

„Kann er mich sehen, wenn ich an der Tür vorübergehe?“

„Nein, sie ist zu. Sie haben zugemacht, damit niemand hören soll, was gesprochen wird.“

„Und die anderen, welche draußen sitzen? Sind viele Bekannte dabei?“

„Oh, nur einer, der Emissär nämlich, welcher dich gestern gesehen hat.“

„Er wird mich nicht beachten, wenn ich rasch an ihm vorüber gehe. Der Bajazzo, welcher gestern bei uns saß, ist nicht hier?“

„Nein. Er wollte aber noch kommen.“

„Gut. So kann es noch glücken. Gib dem Studenten einen Wink. Wenn ich zu lange oben bin, so ist Gefahr vorhanden. Er soll mir da zu Hilfe kommen.“

„Aber du hast kein Licht.“

„Ich habe eine Laterne. Vorwärts!“

Er wollte fort; sie hielt ihn noch für einen Augenblick zurück und fragte:

„Und ich! Was soll ich tun?“

„Das kann ich jetzt nicht wissen. Schicke nur den Studenten nach und suche dann, uns den Wirt und die Gäste fernzuhalten. Wenn ich die Komtesse wirklich oben finde, so kann ich sie unmöglich durch diese Räume entfernen. Gibt es keinen anderen Weg?“

„Hinten zum Hoftor hinaus. Aber da müßte man den Schlüssel haben. Die Mauer ist viel zu hoch.“

„Wo ist der Schlüssel?“

„Vater Main hat ihn am Bund.“

„Ich muß ihn haben, und zwar um jeden Preis und möglichst schnell. Sage das dem Studenten.“

Bei diesen Worten schob er sie von sich und trat in den zweiten Raum. Dort saßen gegen dreißig Personen, lauter Galgengesichter. Sie kannten ihn nicht und waren übrigens so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß sie ihm nicht die mindeste Aufmerksamkeit schenkten. Er gelangte unaufgehalten an ihnen vorüber in den dritten Raum, von welchem aus die Treppe emporführte.

Nur Martin hatte seinen Herrn scharf angesehen und im Vorbeipassieren von ihm einen Wink hin nach der Kellnerin erhalten, welche unter der geöffneten Tür stand. Er erhob sich, näherte sich ihr, schob sie in die vordere Stube zurück und zog die Tür hinter sich zu. Er bemerkte sofort, daß er den Schläfer und den Betrunkenen gar nicht zu berücksichtigen brauche.

„Haben Sie sich mit dem Herrn unterhalten, welcher soeben hier hinausging?“ fragte er das Mädchen.

„Ja“, antwortete sie schnell. „Sie sind doch sein Diener?“

„Ah, er hat sich Ihnen anvertraut?“

„Ich weiß alles.“

„Werden Sie uns helfen?“

„Ganz gewiß. Ich glaube wirklich, daß die Dame oben steckt. Zwei der Räuber sind hinauf zu ihr, und Monsieur Arthur ist ihnen nach. Sie sollen schnell folgen und den Schlüsselbund mitbringen, welchen der Wirt am Schürzenbandträgt.“

Martin stieß ein kurzes, leichtes Lachen aus und meinte:

„So! Also den Schlüsselbund am Schürzenband. An dieser Schürze aber hängt unglücklicherweise eben der Wirt, der es sich nicht gefallen lassen wird, wenn ich ihn bitte, das Band aufknüpfen zu dürfen. Alle Wetter! Den Schlüsselbund am Schürzenband. Als ob das so etwas ganz und gar Leichtes und Einfaches sei.“

„Auch ich weiß da keinen Rat!“ sagte sie ängstlich.

„Auch Sie nicht?“ fragte er nachdenklich. „Hm, da muß ich sehen, daß ich Rat bei mir selbst finde.“

„Aber eilen Sie, eilen Sie!“

„Warum? Wie viele sind hinauf?“

„Zwei.“

„Oh, dann hat es keine sehr große Eile. Mit zweien wird dieser verteufelte Monsieur Arthur schon fertig werden. Sagen Sie mir lieber, auf welche Weise die Dame aus dem Haus gebracht werden soll.“

„Hinten zum Hoftor hinaus. Hier hindurch ist es unmöglich. Ich soll auch mitgehen.“

„Sie auch? Das dachte ich mir. Der heutige Abend wird zu Ihrem Glück sein. Lassen Sie uns also überlegen! Die Schürze hängt am Wirt, das Band an der Schürze, der Bund am Band und der Schlüssel zum Hoftor wohl am Bund?“

„Ja, freilich, Monsieur. Aber beeilen Sie sich doch, sonst könnte Ihrem Herrn ein Leid geschehen.“

Er sah ihr ruhig in die angstvollen Züge und antwortete:

„Ein Leid? Welche Sorte von Leid meinen Sie denn?“

„Wenn sie ihn sehen, werden sie ihn ganz gewiß töten.“

„Töten? Ah pah! Dieser Monsieur Arthur nimmt es schon mit den Banditen auf. Der Torschlüssel hängt also am Schlüsselbund, dieses am Schürzenband, dieses an der Schürze und diese an dem Wirt; also, wer den Schlüssel haben will, der muß vorher den Wirt haben. Nicht?“

„Mein Gott“, klagte sie, „ich begreife Sie nicht! Mir ist es nicht wie Scherz zumute.“

„Mir auch nicht, denn ich habe mir zu überlegen, wie ich nun zum Wirt komme. Ah, vielleicht habe ich's! Ihre Kollegin hat uns den Wein aus dem Keller gebracht. Gibt es denn da unten nicht eine Sorte, welche der Wirt unter seiner eigenen Aufsicht hat?“

„Ja. Es ist der Champagner.“

„Schön! Bestellen Sie mir ein halbes Dutzend von diesem Gemisch; aber schnell, weil Sie solche Eile haben.“

„Was wollen Sie tun?“

„Das werden Sie sehen. Passen Sie auf. Ich folge dem Wirt in den Keller. Wenn ich wieder heraufkomme, müssen Sie an der Treppe bereitstehen, mir nach oben zu folgen, natürlich mit einer Lampe. Nehmen Sie mit, was Sie hier haben und augenblicklich brauchen; denn Sie werden in diesem Paradies hier nicht wieder Engel sein.“

Er kehrte wieder in den anderen Raum auf seinen Platz zurück. Sally zitterte vor Angst und Aufregung. Sie trat in das Seitengemach, in welchem der Wirt mit seinen drei Komplizen saß und meldete, daß sechs Flaschen Champagner bestellt worden seien. Er erhob sich, um den Wein selbst zu holen.

Kaum hatte er die dritte Abteilung betreten, so folgte ihm Martin. Er sah ihn eben noch mit dem Licht in die Tiefe des Kellers verschwinden. So leise wie möglich, folgte er ihm. Auf der Sohle des Kellers angekommen, sah er ihn in der hintersten Ecke kauern, um die Flaschen aufzunehmen. Er zog den Totschläger hervor, schlich sich hinzu und versetzte dem Nichtsahnenden einen Hieb auf den Kopf, daß er sofort zusammenbrach.

„So, lieber Papa Main“, murmelte er. „Tot bist du nicht, aber eine Weile wirst du doch suchen müssen, ehe du den ersten Gedanken findest. Bis dahin leihe ich mir diesen Schlüsselbund. Später kannst du ihn dir vom Tor holen.“

Er band die Schlüssel los, verlöschte das Licht und tappte sich wieder hinauf. Droben in der dritten Abteilung, deren Tür nicht geöffnet war, erwartete ihn Sally mit einer Lampe in der Hand. Sie sah die Schlüssel und fragte bestürzt:

„Wo aber ist der Wirt, Monsieur?“

„Er studiert das große Einmaleins. Wenn er es auswendig kann, kommt er herauf. Jetzt vorwärts!“

Droben, wo die Treppe in den Hausflur mündete und von wo aus man in den Hof und nach den Stockwerken gelangen konnte, war eine Tür angebracht.

„Kann man diese Tür verschließen?“ fragte Martin leise.

„Ja. Der Schlüssel dazu hängt auch am Bund, welches Sie hier haben.“

„So wollen wir zuschließen, damit uns die Rotte Korah, Dathan und Abiram da unten nicht zu folgen vermag. Dann aber rasch hinauf!“ –

Vorher war Belmonte dieselbe Treppe emporgestiegen. Im Flur angekommen, hatte er seine Laterne angebrannt und beim Schein derselben sehr leicht die weiter empor führenden Stufen gefunden. Obgleich ihm die Augenblicke kostbar erschienen, schritt er doch nur langsam weiter. Das Haus war alt. Die Treppensteine bröckelten, und die Diele des Korridors bestand aus Brettern, welche aus den Fugen gegangen waren und sehr leicht ein kreischendes Geräusch verursachen konnten. Das mußte vermieden werden.

Er gelangte an die zweite Treppe, und es war ihm, als ob er da oben sprechen höre. Er steckte die Laterne ein, um sein Nahen nicht zu verraten und tastete sich im Finstern empor. Ja, als er den oberen Korridor erreichte, erblickte er an der rechten Seite ein Lichtviereck, welches dadurch hervorgebracht wurde, daß in einem gegenüberliegenden Raum, welcher geöffnet war, eine Lampe brannte. Er war am Ziel angelangt.

Leise, ganz leise, Schritt für Schritt bewegte er sich vorwärts, bis er hinter der offenen Tür stand und zwischen dieser und dem Türgewand hindurchblicken konnte.

Da stand sie, oder vielmehr hing sie vor Ermattung in ihren Fesseln. Die Augen waren geschlossen, die Wangen bleich, ja fast weiß wie Gips. Vor ihr standen Brecheisen und Dietrich, ihre Tabakspfeifen rauchend und die Schönheiten dieses nur halb verhüllten Körpers mit gierigen Augen verschlingend. Dabei warfen sie sich Bemerkungen zu, welche die Gefangene nicht zu verstehen schien, da ihr Aussehen vermuten ließ, daß sie ohnmächtig sei.

„Denkst du wirklich, daß wir sie für die hunderttausend Francs hingeben?“ fragte Brecheisen.

„Fällt keinem Menschen ein!“ antwortete der andere. „Der Alte muß bluten, bis wir sein ganzes Vermögen haben. Und dann –“

„Was dann –“

Er schnalzte mit der Zunge, schnipste mit dem Finger und sagte:

„Dann wird sie unsere Frau.“

„Dann erst? Warum nicht jetzt schon? Schau her, ich werde ihr einen Kuß geben, ich, einer Gräfin! Donnerwetter! Das ist auch noch nicht dagewesen!“



Er trat näher, um seine Absicht auszuführen. Da aber zeigte es sich, daß sie doch nicht besinnungslos gewesen war. Sie war schwach, todesmatt, und gegen die Blicke dieser Buben hatte sie kein anderes Mittel gehabt, als dasjenige des kleinen Käfers, welcher sich totstellt, sobald er sich in Gefahr befindet. Verteidigen kann er sich ja nicht. Sie hatte also die Augen geschlossen, um die Blicke nicht zu fühlen und den Seelenschmerz, welchen dieselben hervorrufen mußten. Aber sie hörte, was gesprochen wurde; sie vernahm, daß sie geküßt werden sollte, geküßt von einem solchen Ungeheuer. Das gab ihrem Körper für den Augenblick die verlorene Spannkraft zurück. Sie öffnete die Augen, erhob das Köpfchen und rief:

„Zurück, Teufel! Dein – –“

Sie sprach nicht weiter, denn hinter den beiden tauchte eine Gestalt auf, welche einen Totschläger in der Hand trug. Der Schein der Lampe viel hell auf diesen Mann. Welch ein Gesicht! Sie kannte es. Sie hatte es gesehen, gesehen in der Oper und es dann nicht wieder aus ihrem Gedächtnisse und aus ihrem – Herzen gebracht. Ihr Atem stockte, und ihre Pulse flogen. Sie wußte nicht, war es Schreck, fürchterlicher Schreck, oder ein unendliches Entzücken, infolgedessen die Sprache ihr versagte.

„Teufel?“ lachte der Schurke höhnisch auf. „Nun, mit so einer Teufelin muß es schön sein, Teufel zu sein.“

Er streckte die Arme aus.

„Halt!“ ertönte es hinter ihm. Die beiden fuhren erschrocken herum. Belmonte hatte, sich anders besinnend, die Tür herangezogen und die Hände in die Taschen gesteckt, so daß man den Totschläger nicht sehen konnte.

„Der Changeur!“ rief Brecheisen.

„Donnerwetter, der Changeur!“ fluchte auch Dietrich. „Was willst du hier? Wer hat dir erlaubt, nach oben zu kommen?“

„Ich selbst habe mir die Erlaubnis gegeben, um euch zu sagen, daß in einer halben Minute hier zwei Leichen liegen werden.“

„Ah! Wer?“

„Ihr beide!“

„Mensch, was fällt dir ein? Oder hast du dich etwa als Spion nachgeschlichen?“

„Nicht als Spion, sondern als euer Richter. Ihr sollt an der Herrlichkeit sterben, welche eure Augen hier entheiligt haben. Fahrt zur Hölle, über welche ihr vorhin gelacht habt.“

Ein rascher Schritt zu ihnen hin, ein Aufschrei der Gefangenen und zwei fürchterliche, blitzschnelle Hiebe mit dem Totschläger – Belmonte hatte seine Worte erfüllt; zwei Tote lagen mit zerschmetterten Schädeln am Boden.

Jetzt wendete er sich zu der Komtesse zurück. Das letztere war zu viel für sie gewesen. Ihre Fesseln waren scharf angespannt, sie hing ohnmächtig in denselben. Er zog sein Messer hervor, öffnete die feine, scharfe Klinge und zerschnitt die Stricke. Die Gestalt der Besinnungslosen festhaltend, ließ er sie langsam niedergleiten.

Erst jetzt sah er die Zerstörung ihres Gewandes in ihrer ganzen Vollständigkeit. Das Blut stieg ihm nach oben; er fühlte sein Herz laut klopfen beim Anblick einer so unvergleichlichen Fülle von Schönheiten; aber er wendete sich weg, trat hinaus und schob die Tür heran.

Er nahm die Revolver zur Hand. Es war ihm zumute, als ob er Englands Kronjuwelen, als ob er alle Schätze der Erde zu bewachen habe.

War unten alles nach Wunsch gegangen? Oder war der Anschlag verraten worden? Leichte Schritte kamen zur Treppe herauf; der Schein eines Lichtes ging ihnen voran. Waren es Feinde, oder war es Martin? Der Changeur war entschlossen, die Komtesse im ersteren Fall bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Da, da blickte Martins Kopf vorsichtig hinter der Treppenecke hervor.

„Heda! Wer ist das dort?“ fragte er, indem er zu gleicher Zeit die Hand mit dem gespannten Revolver zeigte.

„Ich, Martin“, antwortete sein Herr, erleichtert aufatmend.

„Sie selbst, Monsieur? O weh! Ich dachte, ein wenig in Bewegung kommen zu können! Sind die beiden futsch?“

„Sie wachen nicht wieder auf.“

„Das ist unangenehm. Ich hätte so gern ein bißchen nachgeholfen.“

„Ah, da kommt Sally mit! Wie steht es unten?“

„Sehr gut. Der Wirt ist futsch, aber bloß halb, und die Gäste sind eingeschlossen. Hier ist der Schlüsselbund, den ich Ihnen bringen sollte.“

„Wie hast du es angefangen, ihn zu bekommen?“

„Davon später! Wie steht es mit der Komtesse?“

„Sie ist ohnmächtig. Nach Wasser zu gehen, haben wir keine Zeit; wir dürfen keinen Augenblick länger als nötig verweilen. Sally wo ist Ihre Stube?“

„Hier vorn, die erste Tür.“

„Offen?“

„Ja.“

„Haben Sie vielleicht einen Mantel oder ein Tuch?“

„Ein Umschlagetuch.“

„Bringen Sie es schnell.“

„Was soll ich noch mitnehmen?“

„Gar nichts. Sie werden alle Ihre Sachen später erhalten.“

Das Mädchen eilte fort, stolz darauf, daß er sie jetzt, mit dem ehrbaren ‚Sie‘ angeredet hatte.

Sally war zurückgekehrt. Er nahm ihr das Tuch aus der Hand, ging zu der Besinnungslosen hinein, hüllte sie in dasselbe und nahm sie auf seine Arme.

„Sie leuchten, Sally, und du öffnest mit dem Schlüssel!“ gebot er.

So gelangten sie hinunter in den Flur. Dort blieb der voranschreitende Martin stehen und lauschte.

„Im Keller ist man noch nichts wahr geworden, wie es scheint“, sagte er. „Wollen sehen, ob wir den Schlüssel zu dieser Hoftür auch mithaben.“

Während er suchte und probierte und Sally ihm leuchtete, war es Belmonte, als ob die Komtesse sich bewegt hätte. Er näherte seinen Kopf dem ihrigen und sah, daß ihre Augen offen standen. Er hätte gern ein Wort zu ihr gesprochen, zog es aber doch vor, zu schweigen.

Da endlich gelang es Martin, zu öffnen. Ein Lufthauch kam ihnen entgegen und verlöschte die Lampe.

„Schadet nichts“, meinte Martin. „Werfen Sie den alten Gasometer weg, Sally. Ich gehe voran. Da vorn ist das Tor.“

Die anderen folgten ihm. Sie hatten aber kaum einige Schritte getan, so stieß Martin einen lauten Schrei aus. Man hörte einen Fall und dann ein tiefes, zorniges Knurren.

„Mein Gott! Der Hund!“

„Gibt es hier einen Hofhund?“

„Ja; ich habe gar nicht an ihn gedacht. Er ist eine fürchterliche Bestie.“

„Locken Sie ihn an sich! Er wird Sie doch kennen?“

„Er gehorcht mir so wenig wie jedem Fremden. Herr Jesus, er hat Monsieur Martin niedergerissen und gestellt.“

Es war so, wie sie sagte. Martin lag auf der Erde. Der Hund stand mit gefletschten Zähnen über ihm.

„Rühren Sie sich nicht!“ warnte Sally. „Er zerbeißt Ihnen sonst die Kehle!“

„Das ist schlimm!“ sagte Belmonte. „Wir können doch diese Kerle da drin im Keller nicht über uns kommen lassen.“

Er ließ seine süße Last langsam zur Erde gleiten und bückte sich selbst auch möglichst weit nieder, um bei der im Hof herrschenden Finsternis den Hund erkennen zu können.

„Sie wollen sich doch nicht etwa an den Hund wagen?“ fragte die Kellnerin.

Er antwortete nicht; aber einen Augenblick später hörte man ein böses Knirschen, ein Krachen wie von Knochen und ein fürchterliches Heulen, welches aber rasch in ein ersterbendes Röcheln überging.

„Jesus Maria!“ klagte Sally. „Jetzt bringt er beide um!“

„Nein“, ertönte die Stimme Martins, „sondern wir beide haben ihn umgebracht. Wo ist denn der Schlüssel? Ah, hier liegen sie. Nun aber rasch und hinaus!“

Belmonte nahm die Gräfin wieder vom Boden auf. Er konnte nicht sehen, ob sie die Augen noch offen habe. Er fühlte aber, daß sie vollständig bewegungslos war.

Da klirrten die Riegel, das Tor gab nach, es öffnete sich und nun war nichts, gar nichts mehr zu befürchten.

„Jetzt schnell zur nächsten Polizeistation, nachdem du wieder zugeschlossen hast!“ gebot Belmonte. „Erzähle, was geschehen ist, und laß alle, welche sich im Keller befinden, aufheben.“

„Wo treffe ich Sie dann?“ fragte Martin.

„Daheim.“

„Schön! Ich werde eilen! Na, so ein Wiedersehen beim Wein!“

Er sprang davon. Sein Herr schritt mit Sally und der Komtesse, letztere natürlich auf seinen Armen, langsam durch das enge Gäßchen hinauf, an dessen Mündung sich eine Fiakerstation befand. Hier stiegen sie in einen Wagen, um nach dem Hotel des Generals zu fahren. Er mochte die Gräfin nicht der Kellnerin anvertrauen; er legte sie vorsichtig neben sich in die Kissen und hielt ihre beiden Hände in den seinigen.

Nach einiger Zeit war es ihm, als ob er einen leisen, leisen Druck fühle. Er neigte sich ihr näher und fragte:

„Sind Sie wieder bei sich, Komtesse?“

„Ja“, hauchte sie.

„Haben Sie Schmerzen?“

„Nein. Ich bin nur matt, sehr, sehr matt!“

Sie ließ ihre Hände nicht aus den seinigen, als ob sie bei ihrer Mattigkeit auf diese Stütze nicht verzichten könne. Nach einiger Zeit hielt der Wagen vor dem Portal, und Belmonte sprang heraus.

„Bleiben Sie!“ flüsterte er hinein. „Ich muß seine Exzellenz erst vorbereiten.“

Der Portier erkannte ihn wieder.

„Abermals zum Herrn General?“ fragte er ihn.

„Ja. Der Herr Graf sind doch zu sprechen?“

Belmonte schritt die Treppe empor und trat in das Vorzimmer ein. Dort war niemand vorhanden; im nächsten auch nicht, und so klopfte er an die Tür, welche zum Kabinett des Generals führte. Ein lautes „Eintreten“ ließ sich hören. Als er diesem Gebot folgte, sah er den Kammerdiener neben dem General stehen, welcher am Tisch saß.

Der alte Herr erhob sich überrascht, als er ihn erkannte.

„Monsieur Belmonte!“ sagte er. „Sie wieder? Und zwar unangemeldet! Ah! Ich verstehe! Sie wollen sich die Hunderttausend nebst der übrigen Summe holen.“

„Sie irren von neuem. Ich will mir nichts holen, sondern ich bringe Ihnen etwas.“

„So erklären Sie, was – mein Gott, was ist das? Sie bluten ja ganz entsetzlich!“

Fast erschrocken blickte Belmonte an sich nieder, und nun erst bemerkte er, daß das Blut in schweren Tropfen aus seinem linken Ärmel zur Erde fiel. Er hatte bisher vor Aufregung nicht den mindesten Schmerz empfunden; aber in dem Augenblick, in welchem er das Blut sah, fühlte er, daß er verwundet sei.

„Entschuldigung, Exzellenz!“ sagte er. „Ich wußte nicht, daß ich blute; sonst wäre ich nicht hier eingedrungen. Der Hund wird mich in den Arm gebissen haben.“

„Welcher Hund?“

„Der mich verhindern wollte, Ihnen eine gute Nachricht zu bringen. Ich komme nämlich, Ihnen zu sagen, daß Sie die gnädige Komtesse vielleicht noch heute abend wiedersehen werden.“

„Wirklich? Wirklich? Wäre das möglich?“ rief der Graf freudig. „Sind ihre Peiniger geneigt, sie mir bereits heute zurückzugeben?“

„Ihre Peiniger? Ich glaube nicht – daß – daß diese – daß diese – ah, wie wird – wird –!“

Er konnte kein Wort mehr hervorbringen. Ein dicker Blutstrahl schoß ganz plötzlich aus seinem Ärmel hervor. Er griff mit der Rechten nach der Lehne eines nahen Stuhles und verlor, von dem schnell herzutretenden Diener gehalten, die Besinnung.

Nun war es ihm, als träume er, daß er verwundet wurde. Er hörte wie aus weiter Ferne laute Ausrufe und freudiges Schluchzen; dann verschwand diese Vision.

Als er erwachte, lag er in einem prachtvoll ausgestatteten Zimmer auf einem Ruhebett. Er war angekleidet und trug den Arm, welcher ihn sehr schmerzte, in der Binde. Einige Augenblicke später war er wieder eingeschlafen.

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