SIEBENTES KAPITEL Der Dicke und der Dünne

„Station Tharandt! Eine Minute Aufenthalt!“

So riefen die Schaffner, indem sie eilfertig die Türen der Coupés öffneten.

„Bier, Cognac, belegte Semmeln!“

So rief der Kellner, welcher einen Korb mit gefüllten Gläsern längs des Zugs hin balancierte.

Aus nebeneinanderliegenden, aber getrennten Coupés stiegen zwei Reisende aus. Der eine war hoch und kräftig gebaut, enganliegende Hosen, ein Samtjacket und einen sogenannten Künstlerhut. Der andere war kurz und ungewöhnlich dick, trotzdem er, gerade wie der andere, kaum mehr als sechs- bis achtundzwanzig Jahre zählen mochte. Auf seinem Haupt saß ein riesiger Kalabreserhut, dessen Krampe hinreichte, eine ganze Familie gegen Regen oder Sonnenstich zu beschützen.

Der Hohe drehte sich in das Coupé zurück und brachte aus demselben eine ziemlich große Mappe und einen Regenschirm zum Vorschein. Der Dicke wendete sich ebenso, als seine Füße den Erdboden erreicht hatten, nach dem seinigen zurück und zog eine riesige Mappe und einen Regenschirm hervor. Beide drehten sich, da es in diesem Augenblick zum dritten Male läutete, hastig um, und bei dieser Gelegenheit fuhr der Hohe dem Dicken mit dem Regenschirme in das Gesicht und der Dicke dem Hohen mit dem seinigen in den Leib.

„Herr, nehmen Sie sich in acht!“ donnerte der mit dem Künstlerhut.

„Ich bin dreimal so dick wie Sie“, antwortete der mit dem Kalabreser, „ich bin also dreimal leichter zu bemerken wie Sie; folglich sind Sie es, der nicht achtgegeben hat.“

„Schweigen Sie! Sie sind ein Esel!“

„Ja, ich bin ein dicker und Sie ein langer; das ist so klar wie Pudding.“

Sie blickten einander grimmig in die Gesichter. Da stieß die Maschine ihren schrillsten Pfiff aus; die Wagen setzten sich in Bewegung; die beiden Fremden, welche sehr nahe am Zug standen, sprangen erschrocken zurück und rissen, der eine von rechts und der andere von links, den Kellner um, welcher soeben beabsichtigt hatte, an ihnen vorüberzueilen. Gläser, Flaschen, Teller, belegte Semmeln, alles lag auf der Erde.

Die beiden Reisenden waren zunächst sprachlos vor Schreck und Zorn; sie blickten einander wütend an. Der Kellner raffte sich schnell auf und rief:

„Meine Herren, dieses Malheur haben nur Sie angerichtet. Sechs Glas Lagerbier, fünf Cognacs, vier bestrichene Brötchen mit Schinken und Wiegebraten, nebst Flaschen, Gläsern und Tellern macht einen Taler fünfundzwanzig Groschen und neun Pfennige.“

Er streckte bei diesen in unfehlbarem Ton gesprochenen Worten beide Hände aus, um die Summe möglichst bald in Empfang zu nehmen.

„Sechs Glas Lagerbier?!“ rief der Künstler.

„Fünf Cognacs?!“ schrie der mit dem Kalabreser.

„Vier Brötchen?!“

„Nebst Schinken und Wiegebraten?!“

„Jawohl, meine Herren“, antwortete der Kellner. „Die Herrschaften sind Zeugen, daß Sie mich umgerissen haben.“

Er deutete dabei auf das Publikum, welches sich im Augenblick an dem Unglücksort versammelt hatte. Ein allgemeines Kopfnicken und Beifallsmurmeln gab ihm recht.

„Ich war es nicht!“ sagte der Hohe.

„Und ich noch viel weniger“, meinte der Dicke. „Mein Bauch hat keine Ecken, an denen Kellner hängen bleiben.“

„Herr! Sie waren es!“

„Herr! Sie sind's gewesen!“

„Morbleu! Wissen Sie, wer und was ich bin?“

„Hm! Viel wohl nicht.“

Dabei warf der mit dem Kalabreser dem Künstler einen höchst verächtlichen Blick zu. Dieser letztere war darob im äußersten Grad erzürnt und rief:

„Ich heiße Haller und bin Maler.“

„Stubenmaler etwa?“

„Nein, sondern Kunstmaler. Ich bin aus Stuttgart.“

Da heiterte sich das glänzende Gesicht des kleinen Dicken auf. Er sagte, bereits viel weniger zornig:

„Herr, ich bin auch Maler!“

„Stubenmaler?“

„Nein, sondern Kunstmaler. Mein Lieblingsgenre sind Viehporträts.“

„Wo sind Sie her?“

„Aus Berlin.“

„Wie heißen Sie?“

„Kennen Sie meinen Namen noch nicht? Ich heiße Hieronymus Aurelius Schneffke. Wir sind also Kollegen, Herr!“

Jetzt war aller Groll aus dem Gesicht des Dicken gewichen. Das schien den Langen zu rühren.

„Ja, Kollegen“, nickte er.

„Was wollen Sie in Tharandt?“

„Die ‚Heiligen Hallen‘ sehen.“

„Ich auch. Wollen wir uns aneinanderschließen, Herr Kollege?“

„Mir recht.“

„Gut! So wollen wir auch diesen Pechvogel gemeinsam bezahlen!“

„Ich mache mit.“

„Das beträgt pro Mann siebenundzwanzig Groschen neun und einen halben Pfennig. Den Halben spielen wir auf dem Billard aus. Nicht?“

„Einverstanden!“

„Schön! Die Hand auf, Kellner! Hier ist Asche. Aber ein anderes Mal schwänzeln sie nicht so nahe an uns vorüber, zumal man die Augen nicht auf dem Rücken hat; das ist doch so richtig wie Pudding. Kommen Sie, mein bester Herr Kollege!“

Der Dicke nahm Mappe und Regenschirm unter den linken, und der Lange nahm diese Gegenstände unter den rechten Arm. Die beiden freien Arme aber schlangen sie ineinander und wanderten also dem Ort zu, von einem fröhlichen Gelächter des Publikums begleitet.

Haller hatte etwas Vornehmes, Aristokratisches an sich; aber sein Gesicht zeigte einen offenen, gutmütigen Ausdruck. Er schien mit dem Dicken vollständig ausgesöhnt.

„Also aus Berlin sind Sie?“ fragte er diesen im Gehen.

„Jawohl, Herr Kollege.“

„Sind Sie da bekannt?“

„Sehr sogar!“

„Kennen Sie eine Familie Königsau?“

„Ja, sogar sehr gut. Bei diesen Leuten wohne ich ja.“

„Ah, wirklich? Das trifft sich prächtig! Es ist ein Großvater da?“

„Das stimmt!“

„Und eine Tochter, ein sehr hübsches Mädchen?“

„Hübsch ist sie, ja“, meinte der mit dem Kalabreser, indem er mit der Zunge schnalzte.

„Könnten Sie mich in die Familie einführen?“

„Mit dem größten Vergnügen, verehrtester Herr Kollege. Wann werden Sie nach Berlin kommen?“

„Ich fahre bereits morgen vormittag hin.“

„Donnerwetter, ich auch! Wir passen zusammen! Uns hat das Schicksal für irgendeinen großen, erhabenen Zweck zusammengeführt.“

„Fast scheint es so.“

„Fahren wir morgen zusammen!“

„Gern!“

„Heute genießen wir Tharandts ‚Heilige Hallen‘ in Gemeinschaft!“

„Ist mir lieb.“

„Und jetzt schwenken wir hier in diese Kneipe ein, um unsere Bekanntschaft mit etwas Nassem zu befeuchten!“

„Ich schließe mich an.“

Sie traten in die Restauration und ließen sich eine Flasche Wein geben. Der Kleine wollte das Vorrecht, sie zu bezahlen, für sich in Anspruch nehmen. Dieselbe Forderung aber erhob der Lange auch, und so kamen sie überein, jeder die Hälfte zu entrichten.

„Also, Sie wohnen wirklich bei Königsau?“ fragte Haller, als das Gespräch in Fluß geraten war.

„Freilich! Bereits seit langer Zeit.“

„Kommt Moltke zuweilen hin?“

„Moltke?“ fragte der Dicke verwundert. „Nein.“

„Oder Bismarck?“

„Nie.“

„Oder verkehren andere höhere Offiziere und Diplomaten dort?“

„Ich wüßte nicht, was die da wollten und sollten. Solche Leute kaufen ihre Handschuhe im großen und ganzen und lassen sie niemals färben.“

„Ihre Handschuhe?“

„Ja. Der Königsau ist Glacehandschuhfärber.“

„Glace-hand-schuh-färber?“

„Natürlich! Das ist so sicher wie Pudding!“

„O weh! Ich meine eine ganz andere Familie Königsau. Das ist eine Offiziersfamilie.“

„Ah, so! Hm, die kenne ich nicht, so leid es mir tut!“

„Na, sie wird wohl zu finden sein.“

„Ganz gewiß. Wünschen Sie, dort eingeführt zu werden?“

„Ja. Ist man in Berlin leicht zugänglich?“

„Sehr leicht. Berlin ist nicht London, und der Preuße ist kein Engländer. Wir werden suchen. Vielleicht treffen wir diese Offiziersfamilie einmal auf der Hasenhaide oder in Charlottenburg. Da macht sich die Bekanntschaft am allerleichtesten. Man borgt sich von dem anderen das Taschentuch für einen Augenblick; das ist die ganze Einleitung. Essen wir erst, ehe wir nach den ‚Heiligen Hallen‘ gehen?“

„Ich habe bereits ein zweites Frühstück genommen.“

„Ich mein drittes. Mit dem vierten kann ich ja noch warten, bis ich in den Wald komme. Da gibt es Schafgarbe, Sauerampfer und Brunnenkresse, meine Leibkompotts zum Schinkenbrot. Ich habe alle Taschen voll Bemmen stecken. Bei einem Kunstausfluge darf man ja nicht Not leiden wollen.“

„Sie wollen heute zeichnen?“

„Ja, natürlich. Deshalb gehe ich ja in die ‚Heiligen Hallen‘.“

„Ich denke, Sie sind Tiermaler?“

„Das bin ich allerdings. Es wird sich wohl etwas Lebendiges sehen lassen, eine Blindschleiche, eine Kaulquappe, oder eine Touristenfamilie. Wollen wir aufbrechen?“

„Einverstanden.“

Kurze Zeit später wanderten die beiden den Weißeritzgrund hinauf. Haller gab sich gemütlicher, als er es gewöhnt war. Der kleine Dicke war ein äußerst guter Gesellschafter, und während der Unterhaltung sah Haller ein, daß er es keineswegs mit einem Minus-Mann, sondern mit einem ganz tüchtigen Künstler zu tun hatte.

„Sie haben so etwas Militärisch-Soldatisches an sich“, meinte der Kleine in seiner humoristischen Ausdrucksweise zu ihm. „Man könnte Sie für einen Offizier in Zivil halten. Sind Sie Soldat gewesen?“

„Ja.“

„Ich auch.“

„Sie?“ fragte Haller, indem er die dicke Figur seines Begleiters erstaunt betrachtete.

„Jawohl. Ich habe es sogar bis zum Unteroffizier gebracht. Die Geschichte ist mir ungeheuer gut bekommen, wie Sie sehen. Meine Taille kann sich sehen lassen. Aber, bitte, schlagen wir uns doch ein bißchen seitwärts in die Wälder. Vielleicht findet sich eine hübsche Baumgruppe, oder so etwas Ähnliches für unsere Stifte. Etwas mitnehmen muß ich!“

Er war, wie es sich zeigte, trotz seines ungewöhnlichen Leibumfangs ein ganz guter Läufer und Steiger. Haller hatte einen recht ausgiebigen Schritt angenommen, aber der Kleine blieb ihm dennoch stets an der Seite.

Es war ein wunderschöner Tag. Draußen im Freien brannte die Sonne beinahe heiß hernieder, obgleich die Jahreszeit noch nicht weit vorgeschritten war. Hier im Wald warf sie schimmernde Lichter durch die Zweige. Die Ränder des jungen Grüns färbten sich goldig. Waldesduft erquickte die Lungen; Vogelgesang ertönte von den Zweigen, und von fern her tönten laute fröhliche Menschenstimmen herüber.

Nur von fern her? O nein! Die beiden hielten unwillkürlich ihre Schritte an. Ganz in unmittelbarer Nähe, gerade vor ihnen, ließ sich soeben eine Frauenstimme von ganz besonderem Wohllaut vernehmen. Die Stimmlage war im Alt, aber dieser Alt hatte eine eigentümliche silberne Klangfarbe.

„Horchen Sie!“ flüsterte der Kleine. „Das ist entweder vorgelesen oder deklamiert. Das sind Verse. Lassen Sie uns einmal sehen, wer es ist.“

Sie wandten sich leise durch ein lichtes Buchengebüsch hindurch und standen nun am Rand eine kleinen Kessels. Unten auf der Sohle desselben lagen einige mit Moos bewachsene Steine, und da saßen zwei Frauen, ganz und gar in ihre Beschäftigung vertieft.

Die eine war nicht mehr jung; aber man sah es ihr an, daß sie sehr schön gewesen sein mußte. Ihr Gesicht war bleich, von vornehmen Schnitt und zeigte jenen stabilen Hauch der Schwermut, welcher stets die Folge eines still getragenen Leides ist. Die Toilette dieser Dame war, obgleich von touristenmäßigem Schnitt, doch reich zu nennen.

Die andere war jung, eine wirkliche Schönheit, hoch und voll gebaut, mit blondem Haar und schneeigem Teint, ihr Gewand war höchst einfach. Selbst an dem Hut, welchen sie neben sich gelegt hatte, war weder Blume, noch Schleife zu sehen. Sie hatte ein Buch in der Hand, aus welchem sie vorlas.

„Eine Aristokratin vom reinsten Blut; das will ich wetten“, flüsterte der Kleine.

„Und die jüngere ist Gouvernante, Gesellschafterin, Vorleserin“, fügte der Lange hinzu.

„Möglich. Eine schöne Gruppe! Wollen wir?“

Er warf dabei einen bezeichnenden Blick auf seine Mappe.

„Ich möchte wohl“, antwortete Haller, „aber hier können sie uns zu leicht bemerken.“

„Kriechen wir da rechts hinüber. Dort hängt der Rand ein gutes Stück über; dahinter können wir uns verstecken.“

Gesagt, getan. Sie schlichen sich nach der angegebenen Stelle, machten es sich dort so bequem wie möglich, und begannen dann zu zeichnen.

„Was mag es sein, was sie vorliest?“ fragte Haller.

„Ich glaube, das Buch sind Geroks Palmblätter“, antwortete der Berliner. „Ja, horchen Sie! Jetzt liest sie den Frühlingsglauben: ‚Und schau ich Gottes Welt im Frühlingslicht, wenn junges Grün erglänzt auf allen Triften, wenn Blütenschnee aus dürren Ästen bricht, und Lustgesang ertönt in blauen Lüften, dann hoff ich wieder, und noch glaub ich nicht an die Erfüllung schon der letzten Schriften, wo krachend unsre sündenmorsche Welt in Flammen des Gerichts zusammenfällt.‘“

„Herrlich, herrlich!“ flüsterte der Kleine. „Diese Betonung, diese Innigkeit des Ausdrucks! Sehen Sie, wie ihre Wangen sich gerötet haben wie – – Mohrenschockelement! Da geht, weiß Gott, die Ruschel fort.“

In dieser Begeisterung hatte er sich aufgerichtet und zu weit vorgewagt. Das lockere, überhängende Erdreich, auf welchem die beiden saßen, konnte die ungewöhnliche Last des Dicken nicht mehr halten, es gab nach und rutschte niederwärts.

„Hui! Ich halte mich doch noch fest.“

Bei diesen Worten streckte der Kleine den Arm aus und erfaßte, bereits im Abwärtsrutschen begriffen, das Bein seines langen Kollegen.

„Mille tonnerres!“ rief dieser. „Sie reißen mich ja mit in die Lawine hinein! Halt, Dicker, halt! Brrrr! Eh!“

Ja, leider gab es keinen Halt mehr, die Lawine fuhr zu Tal. Die beiden Damen hatten gar keine Ahnung davon gehabt, daß sie beobachtet seien. Der kleine Talkessel war ihnen zur Kirche geworden, und das fromme Dichterwort zum Evangelium. Diese ihre Andacht wurde nun so gewaltsam gestört durch die lauten Rufe, welche über ihnen erschallten.

Sie sprangen, im höchsten Grad erschrocken, von ihren improvisierten Sitzen auf und blickten empor. Was sie da sahen, war keineswegs erbaulich.

Eine ganze Partie von Erde, Sand und Geröll ergoß sich vom Rand der Schlucht nach unten, und mitten in diesem Chaos wälzte, rutschte, kugelte und kollerte der Dicke schreiend, prustend und stöhnend mit hernieder. An jedem Busch, an jeder Wurzel, an welchen er vorübersauste, wollte er sich festhalten, doch vergebens. Daher die verschiedenen, schnell aufeinanderfolgenden Ausrufungen des Schreckens, der Hoffnung, des Ärgers.

„Halt! Heh, hih, höh! Jetzt hab ich's! Au waih! Es geht wieder weiter! Hurrjeh! Gott, vergib mir meine Sünden! Hoppsa! Au! Pfeu Teufel! Ah, da ist ein Stamm! Halt fest, Dicker! Ätsch, da dampft er vorbei! Jemineh! Geht weg da unten, ihr Weibsen! Jetzt komme ich! Links, Dicker, weiter links, sonst brichst du Hals und Beine! So! Na, jetzt endlich nimmt's ein Ende.“

So kam er von oben heruntergefahren. Die Gewalt des Sturzes trieb ihn bis zu den beiden Damen hin, welche kaum wußten, ob sie fliehen oder bleiben sollten. Gerade vor ihnen blieb er beschmutzt und bestaubt, mit zerrissenen Hosen liegen, streckte alle viere von sich und sagte:

„Ergebenster Diener, verehrte Damen! Wünsche, wohl geruht zu haben. Stelle mich ihnen vor: Ich bin Herr Hieronymus Aurelius Schneff – Herrjesses, wer kommt denn da noch angesaust? Na, so ein Weihnachten! Hat's denn nicht bald ein Ende?“

Haller hatte sich nämlich etwas länger zu halten vermocht, endlich aber doch dem verhängnisvollen Gesetz der Schwere nachgeben müssen. Jetzt kam er angestürmt und fuhr mit solcher Wucht gegen den Dicken an, daß dieser noch ein großes Stück fortkugelte und sich, bevor er liegenblieb, noch einige Male überkugelte.

Der Lange raffte sich möglichst rasch auf und machte den Damen eine Verbeugung. Er wollte sich beinahe beleidigt fühlen, als er auf dem Gesicht der jüngeren ein ziemlich spöttisches Lächeln bemerkte, da aber rief ihm der Kleine zu:

„Reiß aus, Christlieb! Guck nur deine Hosen an! Vorn bei den Knien und hinten.“

Die engen Beinkleider Hallers waren allerdings noch viel schlimmer zugerichtet, als diejenigen des Berliners. Er warf einen erschrockenen Blick nach unten, sah seine beiden Knie durch zwei fürchterliche Risse gucken, wendete sich um und war im nächsten Augenblick hinter den Büschen verschwunden.

Jetzt raffte sich auch der Dicke empor. Er bot einen so komischen Anblick dar, daß die beiden Damen nur mit allergrößter Mühe ihr Lachen verbergen konnten.

„Schneffke, wollte ich vorhin sagen, meine Damen, da aber kam dieser Hans Tapps angesaust und riß mir das Wort vom Mund weg. Hieronymus Aurelius Schneffke, Kunstmaler. Meine Visitenkarten werde ich wohl unterwegs verloren haben. Es ist eine heillose Geschichte. Sehen Sie sich nur meinen Regenschirm an, da liegt er! Der hat nur noch total zerbrochene Knochen, die Haut ist ganz und gar verschwunden.“

Sein Skizzenbuch hatte die ganze Reise mitgemacht. Es lag am Boden, beschmutzt, zerrissen und zerzaust. Die jüngere Dame warf einen Blick darauf, bückte sich dann rasch und hob es auf, um das Blatt zu betrachten, welches gerade obenauf gewesen war.

„Ah, sieh, Tantchen, das sind wir“, sagte sie. „Das Schicksal hat glücklicherweise diesen Diebstahl auf das schnellste bestraft. Komm, laß uns unseren Spaziergang fortsetzen.“

Sie riß das Blatt, welches die Skizze enthielt, in kleine Stücke und streute die letzteren umher; dann verließ sie mit der anderen Dame den Talkessel.

„Donnerwetter!“ brummte ihr der Dicke nach. „Stolz lobe ich mir die Spanierin! So eine Vorleserin! Aber hat sie denn nicht Tante gesagt? Hm! Wohl nicht. Ich habe mich verhört. Mir brummt der Kopf wie eine Baßgeige. Wo muß nur dieser Herr Kollege stecken? Ah, dort kommt er!“

Haller hatte sich aus Scham vor den Damen zurückgezogen. Jetzt kam er aus den Büschen heraus.

„Verdammter Fall!“ fluchte er. „Schauderhaftes Ereignis! So ein Mädchen! So wunderbar schön! Mein Ideal gefunden! Endlich gefunden! Und dabei zerplatzt mir die Hose.“

„Das ist doch immer noch besser, als wenn sie eine Hose gefunden hätten, und dabei wäre das Ideal zerplatzt. Da oben liegen Ihr Schirm und Ihre Mappe. Sie sind viel besser weggekommen als ich. Bei mir ist alles zum Teufel.“

„Ja, das ist ein Trost. Ich habe die Skizze dieses herrlichen Kopfes, dieser köstlichen Figur erobert. Wissen Sie nicht, wer die beiden waren?“

„Nein. Daran sind ganz allein nur Sie schuld.“

„Wieso?“

„Ich hatte gerade begonnen, mich ihnen nach allen Regeln der Etikette und guten Lebensart vorzustellen, da kamen Sie geflogen und rissen mich aus dem Konzept heraus. Die Damen wären verpflichtet gewesen, mir auch ihren Namen zu nennen.“

„Es ist ja möglich, daß wir sie wiedersehen. Jetzt gilt es vor allen Dingen, uns zu restaurieren. Es wird doch in Tharandt einen Schneider geben, der auf Lager hat, was wir brauchen?“

„Ich hoffe es. Aber Sie können sich auch in Tharandt nicht sehen lassen. Warum tragen Sie so enge Hosen?“

„So gehen wir jetzt einstweilen zu zweien, und in der Nähe des Städtchens bleibe ich zurück und warte auf Sie.“

So wurde es gemacht. Sie putzten sich, so gut es ging, den Schmutz aus den Kleidern und wanderten dann der Stadt zu. Haller blieb im Wald zurück und wurde dann von dem Dicken in den Stand gesetzt, sich wieder vor Menschen sehen lassen zu können. Aber die Freude am Ausflug war ihnen verdorben. Sie beschlossen, mit dem nächsten Zug nach Dresden zu fahren, von wo aus sie dann morgen nach Berlin Weiterreisen wollten.

Auf dem Bahnhof waren beide gezwungen, einige Zeit auf den Zug zu warten.

„Welche Klasse fahren wir, Verehrtester?“ fragte Schneffke.

„Ich werde die Billets sogleich besorgen.“

Sie saßen in der Restauration und hatten sich jeder ein Bier geben lassen. Haller ging und brachte dann zwei Billets erster Klasse.

„Verdammt!“ sagte der Berliner. „Diese Noblesse ist mein Geldbeutel nicht gewöhnt.“

„Aber der meinige! Sie haben gewünscht, daß wir uns bis Berlin aneinanderschließen – – –“

„Auch in Berlin!“ unterbrach ihn der Dicke. „Sie gefallen mir, obgleich sich Ihre Hosen nicht sehr durabel betragen haben, und da ist es mir lieb, wenn wir uns auch in Berlin nicht ganz aus den Augen verlieren.“

„Das ist mir recht, obgleich auch Ihre Hosen bei der Rutschpartie bedeutend gelitten haben. Aber wollen wir beisammen bleiben, so sind sie gezwungen, sich in meine Art und Weise zu fügen. Ich fahre nur erster Klasse!“

„Hm!“ lachte der Dicke. „Welche Klasse sind Sie denn da draußen im Wald gefahren? Übrigens bitte ich, mir zu sagen, wo Sie in Dresden logieren.“

„Das weiß ich nicht. Ich kam, gerade wie Sie, von Chemnitz her und nahm nur bis Tharandt Billet, um die berühmten ‚Heiligen Hallen‘ in Augenschein zu nehmen. In Dresden bin ich noch gar nicht gewesen.“

„Und ich kam aus dem Flöhattal, welches seiner landschaftlichen Schönheiten wegen bekannt ist. Ich stieg hier aus, um das seltene Vergnügen zu haben, einmal ohne Schnee auf ebener Erde Schlitten zu fahren. Ich werde im Trompeterschlößchen logieren.“

„Ein Hotel?“

„Nein, sondern ein Gasthof.“

„Pah!“ sagte Haller verächtlich. „Wer verkehrt da?“

„Der Mittelstand.“

„Der Künstler gehört nicht zum Mittelstande. Ist Ihnen nicht ein vornehmes Haus bekannt?“

„Hotel de Saxe oder Stadt Rom am Neumarkt.“

„So fahren wir nach Hotel de Saxe.“

„Wie? Ich auch mit? Da soll mich Gott behüten!“

„Warum?“

„Weil leider mein Beutel zum Mittelstand gehört.“

„Das ist kein Grund. Wir bleiben zusammen, und die Rechnung werde ich begleichen.“

„Sapperlot, diese Ouvertüre ist famos komponiert! Aber bester Herr Kollege, haben sie denn wirklich ihren Narren so an mir gefressen, daß sie mir solche Opfer bringen?“

„Diese geringe Ausgabe ist gar nicht der Rede wert; ich bin sehr reichlich mit Reisegeld versehen. Sie gefallen mir, und zudem bin ich noch nie in Berlin gewesen und sage mir daher, daß sie mir dort vielleicht von Nutzen sein können.“

„Soll ich Ihnen dort auch neue Hosen besorgen? Ich stelle mich sehr gern zur Verfügung. Dabei ist es ein wahres Glück, daß es dort keine heiligen Hallen gibt. Ich liebe es zwar, zuweilen ein kleines Abenteuer zu erleben, aber eine Omnibusfahrt ohne Omnibus ist denn doch nicht gerade angenehm, zumal wenn man sich dabei vor zwei solchen Damen blamiert. Die Alte war interessant. Ein höchst feines, geistreiches, aristokratisches Gesicht! Die Gesellschafterin aber war noch bei weitem wünschenswerter. Hat sie Ihnen gefallen?“

Haller blickte nachdenklich vor sich hin, als ob er sich ihr Bild noch einmal vergegenwärtigen wolle. Dann antwortete er:

„Sie ist eine Schönheit ersten Ranges!“

„Jawohl, jawohl! Allerersten Ranges! Donnerwetter! Wenn ich erstens wüßte, wer sie ist, und zweitens – ah! Hm!“

„Was zweitens?“

„Ob – na, ob sie bereits einen Liebsten hat oder nicht!“

„Sacrée! Sind Sie verliebt in sie?“

Der Dicke fuhr sich mit beiden Händen über den Mund, schnalzte mit der Zunge und antwortete:

„Verliebt, sagen Sie? Das ist ein verteufelt unpoetisches Wort. Ich an ihrer Stelle würde mich etwas anders ausdrücken.“

„Wie denn zum Beispiel?“

„Nun, das kann ich augenblicklich auch nicht sofort sagen. Aber als ich da oben von der Höhe herabgesaust kam und gerade vor ihren Füßen halten blieb, da überkam es mich wie – wie – ja, jetzt habe ich es – wie Schiller in seiner Glocke. Sie stand da vor mir ‚herrlich in der Jugend Prangen, wie ein Gebild aus Himmelshöhen‘; ich lag vor ihr auf jener menschlichen Gegend, auf welcher ungeratene Buben die meisten Prügel zu erhalten pflegen, und in diesem feierlichen Augenblick hätte ich ausrufen mögen, wie Schiller in der Glocke: ‚O zarte Sehnsucht, süßes Hoffen, der ersten Liebe goldne Zeit! Ich lieg vor dir, grad wie besoffen. Und du? Du lachst, wie nicht gescheit!‘“

Haller konnte sich bei dieser Auslassung nicht enthalten, auch zu lachen. Der Dicke war wirklich köstlich; er ließ den Gefährten auslachen und meinte dann mit der ernsthaftesten Miene von der Welt:

„Was lachen Sie? Glauben Sie etwa, daß meine Verse ein empfängliches, sehnsuchtsvolles Mädchenherz nicht zu rühren vermögen! Ich bin in Berlin als einer der größten Don Juans bekannt!“

Der andere musterte ihn mit einem ungläubigen Blick und fragte:

„Sie? Ah! Wie viele Erfolge haben Sie zu verzeichnen?“

„Sehr viele! Die eine lacht mich aus; die andere zuckt die Achsel; die dritte läßt mich stehen und rauscht davon, und die vierte, Donnerwetter, wer kann sich das alles merken. Na, sie werden mich schon noch kennenlernen. Aber diese Gouvernante, diese Gesellschafterin, zu deren Füßen ich vorhin niedergesäuselt bin, die hat mir's angetan. Sollte ich sie jemals wieder treffen, so lasse ich eine Liebeserklärung vom Stapel, die sich gewaschen hat!“

„Viel Glück dabei, mein Lieber. Aber da ertönt das Zeichen. Lassen sie uns aufbrechen; der Zug kommt.“

Sie begaben sich nach dem Perron und stiegen in ein Coupé erster Klasse.

Sie hatten gar nicht die beiden Damen bemerkt, welche ganz in ihrer Nähe das Einlaufen des Zuges beobachtet hatten. Es waren dieselben, mit denen sie im Wald auf eine so ungewöhnliche Weise zusammengetroffen waren.

„Nehmen wir Frauencoupé?“ fragte die jüngere.

„Nein, liebe Emma.“

„Aber man weiß nicht, welche Gefährten man trifft.“

„Ich bin Offiziersfrau, und als solche darf ich mich nicht fürchten.“

Sie sahen ein Coupé erster Klasse offen stehen und stiegen ein, die ältere voran, die jüngere dann.

„Donnerwetter, die sind's!“ tönte es ihnen entgegen.

Der Dicke war es, der aus Überraschung diesen Ruf ausgestoßen hatte. Die ältere Dame hörte es und erkannte ihn. Sie machte sofort Miene, wieder auszusteigen, aber ihre Gefährtin, welche weder etwas gehört noch gesehen hatte, stand bereits auf dem Trittbrett und der Schaffner rief:

„Bitte schnell, meine Damen! Es läutet zum dritten Mal!“

Unter diesen Umständen gab es keine Wahl; man mußte bleiben. Der Schaffner warf die Tür zu, und der Zug setzte sich in Bewegung.

Jetzt sah nun auch die Jüngere, in welche Gesellschaft sie geraten war. Ein eigentümliches, ironisches Lächeln zuckte um ihren Mund; dann ließ sie den Schleier nieder, wie um anzudeuten, daß sie für niemand vorhanden sei.

Die beiden Herren saßen an dem einen und die Damen an dem anderen Fenster.

„Glückliches Omen!“ flüsterte der Berliner. „Soll ich?“

„Was?“ flüsterte sein Gefährte zurück.

„Na, die Liebeserklärung.“

„Unsinn. Wollen Sie die Damen beleidigen?“

„Keineswegs. Ich verstehe mich ganz gut auf solche Sachen.“ Er setzte sich in Positur, drehte sich nach den Damen hin, zupfte sich die Weste, welche ein wenig emporgerutscht war, zurecht, räusperte sich verheißungsvoll und sagte:

„Darf ich Ihnen vielleicht meinen Platz anbieten, gnädige Frau? Sie fahren wohl nicht gern rückwärts?“

Hätte sie angenommen, so wäre er vis-á-vis der Jüngeren zu sitzen gekommen. Seine Frage war in einem höflichen Ton gesprochen worden. Die Dame konnte also nicht umhin zu antworten. Sie neigte den Kopf ein wenig und sagte:

„Ich danke! Ich bin nicht nervös!“

„Oh, ich auch nicht!“ fügte er sehr geistreich hinzu, indem er einen triumphierenden Blick auf seinen Gefährten warf.

„Das habe ich bemerkt“, antwortete sie, indem ein feines, satyrisches Lächeln über ihr Gesicht glitt.

„Sehr freundlich. Wo haben Sie das bemerkt, gnädige Frau?“

„Im Wald. Es ist Ihnen ganz gleich, auf welche Weise Sie fahren.“

„Nicht wahr?“ lachte er. „Ich brauche dazu weder Kutscher, noch Pferde und Wagen, nicht einmal eine Lokomotive. Ganz gewiß haben Sie unsere Fertigkeit bewundert. Ich muß allerdings annehmen, daß Ihnen das Vorkommnis ein wenig unerklärlich gewesen ist?“

„Ich gestehe das allerdings ein.“

„Darf ich Ihnen die Erklärung geben?“

„Ich bitte darum.“

Es hatte eigentlich gar nicht in ihrer Absicht gelegen, auf eine Unterhaltung einzugehen, aber ein Blick in das offene, ehrliche und gutmütige Gesicht des Dicken, brachte sie zu dem Entschluß, ihm nicht wehe zu tun.

„Nun sehen Sie, gnädige Frau“, sagte er; „wir haben uns nämlich entschlossen, per Veloziped zu fahren, haben aber die Maschinen noch nicht erhalten. Um nun keine Zeit zu verlieren, sind wir in den Wald gegangen, um uns einstweilen einzuüben. Der Mensch muß praktisch sein. Wenn wir dann später die Velozipeds erhalten, besitzen wir bereits so viel Fertigkeit, daß wir uns sofort aufsetzen können. Ich hoffe, daß sie das sehr zweckmäßig finden.“

„Allerdings ebenso zweckmäßig wie außerordentlich!“ lachte sie.

„Das kann nicht auffallen; wir sind ja zwei außerordentliche Menschen. Wir sind Künstler. Wenn ich mich nicht irre, habe ich bereits im Wald die Ehre gehabt, mich Ihnen vorzustellen?“

„Ja, mein Herr; aber Ihr Name ist ebenso außerordentlich wie Ihre Person; ich muß Ihnen daher gestehen, daß ich ihn leider nicht behalten habe.“

„Sie haben ihn vergessen? Dieses Schicksal haben die meisten irdischen Größen zu erdulden; erst nach ihrem Tod setzt man ihnen Denkmäler. Ich werde mir aber erlauben, mein Andenken bereits jetzt zu Ehren zu bringen, indem ich Ihnen wiederhole, daß ich Hieronymus Aurelius Schneffke heiße.“

„Ich danke.“

Sie hielt die Sache für abgemacht, er aber blickte ihr so erwartungsvoll in das Gesicht, daß sie, innerlich im höchsten Grad belustigt fortfuhr:

„Mein Name ist Goldberg.“

Das war ihm nicht genug; darum fragte er: „Auch Künstlerin? Vielleicht Malerin?“

„Leider nicht. Mein Mann ist General.“

Er fuhr zurück und rief dabei:

„Sapristi. General von Goldberg etwa?“

„Ja.“

„Der ist ja Graf.“

„So viel ich weiß, ja!“ nickte sie.

„Habe die Ehre, gnädige Frau Gräfin. Und wie es scheint, steht dieses Fräulein als Vorleserin und Gesellschafterin in Ihrem Dienst?“

Über das fein gezeichnete Gesicht der Generalin glitt ein schalkhaftes Lächeln. Sie antwortete:

„Sie haben es erraten. Fräulein Emma ist meine Vorleserin, meine liebste Gesellschafterin. Darf ich vielleicht fragen, welche Genre Sie als Maler bevorzugen?“

Er nahm eine höchst wichtige Miene an, und erklärte:

„Ich bin zoologischer Künstler, und habe mich ganz besonders für diejenigen Erscheinungen des Tierreiches entschieden, durch welche die Natur den Gedanken der höchsten Schönheit, der ästhetischen Vollkommenheit verkörpert.“

„Ah, welche Tiere sind das?“

„Die Krebse, Spinnen und Tausendfüßler.“

Sie warf einen Blick auf ihn, in welchem sie die deutliche Besorgnis aussprach, ob er bei Sinnen sei; er aber machte ein Gesicht, welchem sie anmerkte, daß es sich nur um einen Scherz handle. Bereits wollte sie antworten, aber da kam ihr die Gefährtin zuvor, denn hinter dem Schleier heraus erklang die Frage:

„Gehörte Ihre heutige Leistung auch diesem Genre an?“

„Welche, mein Fräulein?“

Man sah ihm die Befriedigung an, sie zum Sprechen gebracht zu haben. Sie antwortete:

„Als Sie vor mir parterre ausruhten, lag neben Ihnen das Portrait eines Wesens, von welchem es mich interessieren würde, zu erfahren, ob sie dasselbe auch zu den Spinnen und Tausendfüßlern rechnen, Herr – Herr Schneffke.“

Er wußte, daß sie die Skizze ihrer eigenen Person meinte, doch brachte ihn das nicht im mindesten in Verlegenheit. Er antwortete:

„Das ist ein ganz anderes Genre, und nicht ich bin es, der dieses Portrait gezeichnet hat.“

„Ah! Wer sonst?“

„Ich habe meinem Herzen den Bleistift borgen müssen.“

Da, endlich war sie heraus, die Liebeserklärung! Er strampelte vor Freude mit den dicken Beinen, faltete die Hände befriedigt über dem Bauch, und warf seinen Gefährten einen höchst stolzen, siegreichen Blick zu.

Ein kurzes goldenes Lachen erscholl hinter dem Schleier.

„Ihr Herz zeichnet auch Figuren?“ fragte sie.

„Wie es scheint“, antwortete er. „Ich habe allerdings bisher davon noch nichts gewußt. Sie sind die erste Figur, an welche es sich gewagt hat.“

„Ich fühle mich ganz beglückt davon, Herr – Schneffke! Nicht wahr, so hießen Sie doch wohl?“

„Ja, Hieronymus Aurelius Schneffke. Das ist so gewiß und sicher wie Pudding. Sapperlot, das ist jammerschade!“

Die Unterhaltung war nicht ungestört geführt, sondern oft durch das Geräusch der Räder und das Anhalten des Zuges an den kleinen Stationen unterbrochen worden. Jetzt nun waren sie auf dem böhmischen Bahnhof angelangt. Die Tür wurde geöffnet, und man stieg aus.

Der Dicke wäre gern den Damen behilflich gewesen, saß aber leider auf der verkehrten Seite des Coupés. Doch sprang er, so rasch es ihm seine Korpulenz gestattete, ihnen nach und fragte den Hut ziehend:

„Befehlen die gnädige Frau vielleicht eine Droschke?“

Sie wollte diese Höflichkeit, welche man vielleicht mit eben demselben Recht eine Zudringlichkeit nennen konnte, zurückweisen, brachte dies aber bei den guten, treuen Augen, deren Blick er auf sie richtete, nicht fertig.

„Mein Herr, ich darf Sie doch nicht bemühen!“ meinte sie.

„Warum nicht?“

„Hm!“ lächelte sie, indem sie ihn vom Kopf bis zu den Füßen betrachtete. „Ihr Äußeres ist zu einer solchen Anstrengung wohl schwerlich prädestiniert!“

„Weil ich nicht ganz und gar hager bin? Oh, meine Taille geniert mich nicht im mindesten. Einer, welcher im Wald so außerordentlich hurtige Velozipedistenübungen fertig bringt, wird wohl auch nach einer Droschke springen können. Sie sollen sehen, wie ich fliege!“

Er eilte davon, und zwar mit einer Geschwindigkeit, die sie ihm gar nicht zugetraut hätte. Er ließ sich von dem Polizisten, welcher am Ausgang stand, eine Nummer geben und suchte dann nach der Droschke, welche diese Nummer führte. Dabei brummte er befriedigt vor sich hin:

„Auf diese Weise erfahre ich, nach welchem Gasthof oder Hotel sie fahren. Ein gescheiter Kerl darf kein dummer Esel sein; das ist so gewiß wie Pudding. Diese Gesellschafterin lasse ich mir auf keinen Fall entlaufen.“

Die Generalin hatte ihm lächelnd nachgeblickt und dabei an ihre Begleiterin die Frage gerichtet:

„Konnte ich es ihm abschlagen, liebe Emma?“

„Nein, liebe Tante. Er ist ein guter Mensch, wenn auch ein sehr mittelmäßiger Geist.“

„Du hast ihn erobert.“

„So ist der heutige Tag der glücklichste meines Lebens“, scherzte Emma von Königsau. „Aber, was sagst du zu dem andern?“

„Der erste Augenblick ist oft entscheidend, wenn es sich um die Beurteilung eines Menschen handelt. Hier möchte ich diese Regel nicht gelten lassen. Er macht auf mich den Eindruck eines ungewöhnlichen Mannes.“

„Diesen Eindruck hat er auf mich nicht hervorgebracht. Ich halte ihn im Gegenteil für einen sehr gewöhnlichen Menschen. Ist dir nichts an ihm aufgefallen?“

„Was meinst du?“

„Seine Ähnlichkeit mit Fritz.“

„Mit Fritz? Welchen Fritz meinst du?“

„Fritz Schneeberg, den Diener meines Bruders.“

„Ich habe diesen Fritz nur einmal höchst vorübergehend gesehen. Es ist möglich, daß er öfters in meine Nähe gekommen ist, aber ich habe ihn nicht bemerkt, oder nicht beachtet. Aus der Ähnlichkeit mit Fritz darfst du aber doch nicht schließen, daß dieser Maler ein gewöhnlicher Charakter ist.“

„Geist hat er nicht. Er hat ja nicht einmal ein Wort gefunden, sich wegen des Schrecks zu entschuldigen, den er uns bereitet hat. Dieser dicke Hieronymus hat doch wenigstens einige drollige Witze darüber gemacht.“

„Und dennoch ist mir der andere außerordentlich sympathisch. Vielleicht ist es deshalb, weil – ah, weißt du, mein Mann fast ganz dasselbe Äußere hatte, als er in diesen Jahren war?“

„Wirklich? Nun, dann ist es erklärlich, daß du ihn verteidigst. Da ist die Droschke, liebe Tante!“

Sie stiegen ein und bedankten sich bei dem Maler.

„Hotel de Saxe!“ befahl die Generalin.

Hieronymus machte eine tiefe Verneigung und blickte dem Wagen ein Weilchen nachdenklich nach.

„Ein famoses Mädchen“, brummte er. „Wie sie sich wohl als Frau Hieronymus Aurelius Schneffke ausnehmen würde? Emma heißt sie? Hm, kein übler Name! Emma heißt: die Emsige, die Fleißige. Sie könnte mir die Farben reiben.“

Da erhielt er einen Schlag auf die Schulter.

„Donnerwetter“, rief er, „welcher Flegel ist denn – ah, Sie sind es, Kollege! Holen Sie ein anderes Mal etwas weniger aus, wenn Sie mich liebkosen wollen.“

„Und Sie, laufen Sie nicht jedem Lärvchen nach, wenn Sie in meiner Gesellschaft bleiben wollen“, erwiderte Haller.

„Nennen Sie etwa dieses Fräulein Emma eine Larve?“

„Wen ich meine, das ist gleichgültig. Hier habe ich eine Droschkennummer. Lassen Sie uns nach dem Hotel de Saxe fahren?“

„Das werden wir vielleicht bleiben lassen.“

„Warum?“

„Die beiden Damen wohnen dort.“

„Ah. Fürchten Sie sich vor ihnen? Ich denke, Sie sind in die Vorleserin verliebt?“

„Verliebt? Pfui Teufel, abermals dieser ungeeignete Ausdruck. Ihr Bild ist siegreich zu den Pforten meines Herzens eingezogen. So drücke ich mich aus. Ich möchte zwar höchst gern in ihrer beglückenden Nähe weilen, aber ich habe sehr triftige Gründe, sie einstweilen noch in zarter Schamhaftigkeit zu fliehen.“

„So? Welche Gründe wären das?“

„Erstens die Art und Weise, in welcher die Bekanntschaft angeknüpft wurde, und zweitens mein gegenwärtiger äußerer Adam. Sehen Sie mich einmal an.“

„Nun, was ist an Ihnen zu ersehen?“

„Diese verteufelte Rutschpartie hat meinen Anzug bedeutend mitgenommen, und ich habe augenblicklich nicht über Millionen zu verfügen, so daß ich mir einen neuen Gottfried kaufen könnte. Ich muß warten, bis ich nach Berlin zu meinem Kleiderschrank komme. Bis dahin muß ich die Sehnsucht meines liebenden Herzens in die dickste Pappschachtel einstecken.“

„Ich glaube, der Kleiderschrank wird Ihnen auch keine Station zum Glück werden. Diese Emma sah mir gar nicht so aus, als ob sie sich von einem Krebs- und Spinnenmaler erobern ließe; hier ist unsere Nummer. Steigen wir ein, wir fahren nach dem Hotel Stadt Rom.“

Dort angekommen, ließen sie sich zwei nebeneinanderliegende Zimmer geben. Haller hatte den Gedanken, in das Theater zu gehen und ließ sich zwei Billets holen.

„Was wird gegeben?“ fragte der Dicke.

„Die Jungfrau von Orleans.“

„Ich werde mitgehen, obgleich mir die Jungfrau von Tharandt bedeutend lieber ist. Übrigens habe ich mich unterwegs im Coupé schauderhaft über Sie geärgert.“

„Warum?“

„Sie haben keinen Laut von sich gegeben. Was müssen die beiden Damen von mir denken.“

„Von Ihnen? Wenn ich schweigsam bin, ist das doch meine, nicht aber Ihre Sache.“

„O doch! Ein Künstler, welcher sich in der Gesellschaft eines Menschen befindet, welcher nicht reden kann, ist selbst auch blamiert.“

„Pah! Sie hatten die Unterhaltung so geistreich eingeleitet, daß ich Ihnen auch den ganzen Ruhm und Genuß lassen wollte.“

„Das läßt sich hören. Die Generalin ist ein Prachtfrauenzimmer. Ich bin überzeugt, daß meine Persönlichkeit einen bedeutenden Eindruck auf sie gemacht hat.“

„Natürlich. Ihre Persönlichkeit wiegt ja schwer genug.“

„Einen Zentner achtundneunzig Pfund. Das hat Nachdruck. Wenn nur diese Emma nicht verschleiert gewesen wäre. Ich bin aber doch so glücklich gewesen, zu bemerken, daß sie einige bewundernde Blicke auf mich geworfen hat. Wenn ich mich nicht getäuscht habe, so wird sie am längsten Vorleserin gewesen sein. Wissen Sie, was ich jetzt tun werde?“

„Dummheiten werden Sie machen, wie es ja alle Verliebten zu tun pflegen.“

„Oho, gerade recht pfiffig werde ich sein. Ich gehe nämlich jetzt nach dem Hotel de Saxe und suche zu erfahren, wie lange die Damen noch da logieren.“

„Dieser Gedanke ist allerdings nicht schlecht. Gehen Sie und fangen Sie es gescheit an.“

„So gescheit wenigstens wie jeder andere. Ein Trinkgeld tut ja Wunder.“

Er ging. Haller trat an das Fenster und blickte nachdenklich hinab. Er sah Leute unten gehen und dennoch sah er sie nicht. Sein Geist war drüben im Hotel de Saxe.

„Was ist's nur“, fragte er sich, „was mich gezwungen hat, mein Auge immer wieder auf die Generalin zu richten. Mir war es ganz, als ob ich sie kenne, als ob ich sie bereits sehr oft gesehen habe. Unbegreiflich. Es gibt Personen, welche man lieben muß vom ersten Augenblick an. So geht es mir mit dieser Dame, für die ich viel, sehr viel tun könnte, um nur mit einem freundlichen Lächeln belohnt zu werden.“

Er begann jetzt, nachdenklich im Zimmer auf und ab zu schreiten.

„Und die andere“, fuhr er fort, „ist wirklich wert, geliebt zu werden. Wäre sie nicht bloß Vorleserin und wäre ich nicht bereits verlobt, so könnte sie mir gefährlich werden. Ich weiß wirklich nicht, ob Ella von Latreau schöner ist als sie.“

Nach einer Weile kehrte der Dicke zurück. Er hatte den Portier im Hausflur des Hotels getroffen und die Unterhaltung mit einem Achtgroschenstück eingeleitet. Der Portier hatte das Geldstück genau angesehen und dann gesagt:

„Hm! Was soll ich damit?“

„Es gehört Ihnen. Ich schenke es Ihnen.“

„Daran liegt mir nicht sehr viel, mein Herr!“

„Was? An einem Achtgroschenstück liegt Ihnen nichts? So ein Portier ist mir doch in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen. Das ist so sicher wie Pudding.“

„Aber mir sind desto mehr solcher Achtgroschenstücke vorgekommen. Sie gelten nichts.“

„Nicht? Das wäre!“

„Hier, sehen Sie es sich an. Das stammt noch von dazumal aus dem Krieg, wo man aus Not mehr Kupfer als Silber zu dem Geld nahm.“

„Zeigen Sie einmal her. Wirklich, Sie haben recht. Na, das ist ein Versehen. Hier haben Sie ein anderes. Ich habe Sie nicht betrügen wollen.“

Aber der Portier war nun doch mißtrauisch geworden. Er betrachtete sich den Dicken genau und fragte dann:

„Danke. Womit also kann ich dienen?“

„Mit einer Auskunft. Nicht wahr, es wohnt eine Generalin von Goldberg bei Ihnen?“

„Ja.“

„Mit ihrer Vorleserin?“

„Vorleserin? Nicht daß ich wüßte.“

„Aber ich weiß es sehr genau. Das Mädchen ist blond und hat eine bedeutende Figur.“

„Hm! Ah! Gut!“ lächelte der Mann. „Also das ist die Vorleserin? Ja, die ist mit hier.“

„Ist noch jemand dabei?“

„Ein Diener.“

„Der war aber heute ja nicht mit in Tharandt.“

„Nein, er blieb zurück. Haben Sie die Damen in Tharandt getroffen?“

„Ja. Ich hatte die Ehre, ihnen in der schmeichelhaftesten Weise vorgestellt zu werden. Wissen Sie vielleicht, wie lange sie noch hier in Dresden bleiben?“

„Sie reisen, so viel ich weiß, bereits morgen Vormittag ab.“

„So, so. Weshalb sind sie nach Dresden gekommen?“

„Wie soll ich das wissen? Glauben Sie, daß ich mir erlauben darf, hochgräfliche Herrschaften nach dem Zweck ihres Hierseins auszufragen?“

„Muß dieser Zweck nicht im Fremdenbuch bemerkt werden?“

„Das Fremdenbuch ist nicht mein Ressort.“

„So sind Sie vielleicht mit der hübschen Vorleserin zu sprechen gekommen?“

„Allerdings, sogar einige Male.“

„Das ist schön, sehr schön. War sie freundlich mit Ihnen? Vielleicht sogar vertraulich?“

Der Portier bekam eine Ahnung dessen, was der Dicke bezweckte.

„Ziemlich vertraulich“, antwortete er.

„Schön, schön! Wissen Sie vielleicht, wo sie her ist?“

„Das weiß ich sogar sehr genau. Ich kenne sie bereits seit mehreren Jahren.“

„Prächtig. Also woher ist sie?“

„Aus Dresden.“

„Donnerwetter. Hat sie einen Liebsten?“

„Gehabt. Sie war verlobt.“

„Hm. Mit wem denn?“

„Mit einem pensionierten Seminardirektor.“

„Alle Teufel! Das muß doch ein sehr alter Kerl gewesen sein.“

„Dreiundsiebzig Jahre.“

„Was? Dreiundsiebzig? Und in den ist sie verliebt gewesen?“

„Warum nicht? Frauen haben ihre Mucken. Die eine will einen jungen und die andere einen alten. Es gibt blutjunge Mädels, welche geradezu dafür schwärmen, einen Mann mit grauem Haar zu bekommen.“

„Ja, ja, das habe ich auch erfahren. Ein volles, rotes, gesundes Gesicht mit grauem Haar ist pikant. Also sie hat ihn nicht mehr?“

„Nein. Er ist ja tot!“

„Nicht schade um den Mann! Pensionierte Seminardirektoren können abkommen, besonders wenn sie rüstigen und unpensionierten Leuten die hübschesten Mädchen vor der Nase wegschnappen wollen. Drum trauert sie.“

„Sie hat auch alle Ursache dazu. Er muß ein sehr guter Kerl gewesen sein und sehr viel auf sie gehalten haben, denn er hat ihr sein ganzes Vermögen vermacht.“

„Das wäre! Sie hat ihn beerbt?“

„Sie ist seine Universalerbin. Er starb an den Masern.“

„Gott hab ihn selig! Er ruhe mit seinen Masern ewig in Frieden. Wie viel hat sie denn geerbt?“

„Sechzigtausend Taler in Gold, Silber und Staatspapieren, ein Haus in der Zahnsgasse, eine Villa in Niederpoyritz und die Hälfte von einer Papierfabrik in der Nähe von Markneukirchen im Gebirge.“

Der Dicke sperrte den Mund vor Erstaunen auf:

„Alle Wetter!“ sagte er. „Ist der Kerl reich gewesen. Seminardirektors sind doch gewöhnlich arme Teufel.“

„Er soll das alles in der Hamburger und Braunschweiger Lotterie gewonnen haben.“

„Ja, dann läßt es sich erklären. Also, das alles, alles hat sie geerbt? Das ist der schönste Pudding, den es gibt.“

„Sie ist ja eben gerade dieser Erbschaft wegen von Berlin hierher gekommen. Die Generalin hat sie begleitet, weil sie viel auf sie hält. Gestern vormittag ist das Geld ausgezahlt worden.“

„Und morgen schleppen sie es wohl nach Berlin?“

„Jedenfalls.“

„Hat sie denn keine Verwandte?“

„Weder Kind noch Kegel.“

„Na, Kinder wollte ich mir verbitten, und Kegel sind auch nicht notwendig. Wenn sie gar niemand hat, so ist sie ja eine Partie, nach der man sich die Finger lecken möchte.“

„Lecken Sie vielleicht auch?“

„An allen zehnen.“

„Das glaube ich. Wer sind Sie denn eigentlich?“

„Sehen Sie mir denn das nicht an?“

„Hm! Sie sehen ganz aus wie ein Schnapsdestillateur.“

„Unsinn! Ich bin fürstlich reußischer Generalsuperintendent jüngerer Linie; derjenige von der älteren Linie ist etwas dünner als ich. Adieu, guter Freund.“

Er ging. Der Portier blickte ihm kopfschüttelnd nach.

„Der? Ein Generalsuperintendent? Der sieht mir ganz und gar nicht nach so etwas aus“, murmelte er. „Aber in dem Ländchen Reuß könnte es schon möglich sein. Vermeiert habe ich ihn ordentlich.“

Und der Dicke dachte bei sich:

„Ob das alles wohl auch wirklich wahr ist? Der Kerl sah ganz so aus, als ob er flunkerte. Na, ich werde wohl Gelegenheit finden, dahinter zu kommen.“

Und als ihn dann Haller nach dem Erfolg seiner Erkundigung fragte, antwortete er:

„Morgen vormittag fahren sie nach Berlin.“

„Und wir auch? Hm, ich möchte es jetzt allerdings vermeiden, mit ihnen zusammen zu treffen. Unsere Schlittenpartie hat uns sehr blamiert. Am besten ist's, wir fahren bereits mit dem Frühzug.“

Da schüttelte der Berliner sehr energisch den Kopf und widersprach:

„Das fällt mir gar nicht ein! Ich bin gewohnt, auszuschlafen. Bei dem zu frühen Aufstehen geht die Gesundheit flöten.“

„Morgenstunde hat Gold im Munde!“

„Was nützt es mir, wenn sie es bloß im Maul hat, und ich bekomme nichts davon in meinen Beutel.“

„Aber wenn wir vormittag fahren, riskieren wir, auf dem Bahnhof und im Coupé mit ihnen zusammen zu treffen.“

„So fahren wir am Nachmittage. Berlin läuft uns nicht fort; das ist so sicher wie Pudding.“

„Das mag sein. Auf einige Stunden kommt es nun wohl auch nicht an. Aber womit vertreiben wir uns die Zeit?“

„Wir gucken zum Fenster hinaus. Da wird auf dem Markt Gemüse und verschiedenes andere verkauft.“

„Danke. Machen wir lieber einen Ausflug.“

„Wohin?“

„Ich kenne die Umgebung Dresdens nicht.“

„Vielleicht nach Blasewitz?“

„Was ist da zu sehen?“

„Da gibt es Käsekäulchen und das Schillerdenkmal.“

„Schön. Teilen wir die Genüsse; Sie die Käulchen und ich das Denkmal.“

„Schön. Mein Anteil ist jedenfalls leichter zu verdauen als der Ihrige. Übrigens brauchen wir ja nicht zu laufen, sondern wir können per Droschke fahren.“

„Das ist kein Vergnügen. Ich möchte am liebsten – hm, das geht nicht, da Sie dabei sind.“

„Was?“

„Ich bin seit einiger Zeit nicht im Sattel gewesen. Ich möchte am liebsten reiten: Sie aber können das nicht.“

Der Dicke fühlte sich durch die letzten Worte stark beleidigt. Dieser Kollege behauptete so ganz ohne weiteres etwas, worüber er noch gar keine Kenntnis haben konnte.

„Ich nicht reiten?“ meinte Schneffke. „Wer hat Ihnen denn das weisgemacht?“

„Sie, bei Ihrer Figur!“

„Oho! Meine Figur ist ganz genau diejenige eines tüchtigen Kavalleristen. Es haben bereits Dickere geritten.“

„Wo haben Sie es denn gelernt?“

„Schon als Kind auf dem Karussell.“

„Unsinn! Auf hölzernen Pferden. Wo denken Sie hin?“

„Und dann war ich sehr oft in Berlin im Hippodrom.“

„Das läßt sich schon eher hören. Sitzen Sie fest im Sattel?“

„Eisenfest wie Pudding.“

„Nun, so wollen wir es probieren. Ich werde dem Hausknecht Befehl geben, für zehn Uhr zwei Pferde zu besorgen.“

„Schön. Das, welches am feurigsten ist, nehme ich. Sie sollen ihre Freude und Bewunderung an mir haben.“

„Darüber läßt sich wohl noch sprechen. Ich liebe es nicht, auf einem Fleischergaul zu sitzen. Ihre kurzen, quatschigen Beinchen scheinen mir nicht gemacht, einen gehörigen Schenkeldruck auszuüben.“

„Das ist auch nicht nötig. Müssen es denn gerade die Schenkel sein? Ich drücke mein Pferd, womit ich will.“

Damit war diese Angelegenheit erledigt. Die Zeit bis zum Theater verging den beiden sehr rasch. Sie hatten Billets zur ersten Rangloge und begaben sich kurz vor Beginn der Vorstellung in den Tempel der Kunst.

Der Kleine betrachtete den Platz, welchen seine Nummer angab unter einem Schütteln des Kopfes.

„Na, na!“ brummte er. „Da soll ich sitzen? Das wird sein, als ob ich in einer Kartoffelquetsche stäke.“

Er zwängte sich so viel wie möglich zusammen und setzte sich nieder.

„Geht's?“ fragte Haller.

„Gut nicht. Es ist mir zumute, als ob man mich in die spanische Jungfrau gesteckt hätte. Ich muß mir von Zeit zu Zeit zu helfen suchen. Ich hoffe, daß wir keine Nachbarn bekommen. Wenn der Platz neben mir besetzt würde, so könnte ich mir gratulieren. Eine kräftige Taille ist unter Umständen ganz hübsch, zuweilen kann sie aber auch unangenehm werden, die Figura zeigt.“

Kaum hatte er das Wort gesprochen, so wurde die Tür der Loge geöffnet, und es traten drei Personen ein: zwei Damen und ein galonierter Diener. Die ersteren waren verschleiert, so daß man ihre Züge nicht sogleich zu erkennen vermochte. Als sie die beiden Männer bemerkten, blieben sie einige Augenblicke lang flüsternd stehen.

„Teufel! Denen scheint es nicht zu passen, daß wir hier sitzen“, raunte Schneffke seinem Nachbarn zu.

Dieser antwortete erst, nachdem er einen scharfen, forschenden Blick auf die Damen geworfen hatte:

„Kennen Sie die beiden?“

„Nein. Glauben Sie, daß ich jede Dresdner Apfelfrau kennen muß, noch dazu, wenn sie verschleiert ist?“

„So erschrecken Sie nachher nur nicht.“

„Worüber denn?“

„Das werden Sie selbst merken. Sie kommen.“

„Hilf, Himmel! Ja, sie kommen her neben mich. Gott sei meiner armen Seele gnädig!“

„Oder vielmehr Ihrem sterblichen Leichnam, der jedenfalls mehr Platz einnimmt, als die Seele samt dem ganzen Geist, den Sie haben, bester Herr Kollege.“

Während der Diener im Hintergrund der Loge Platz nahm, kamen die Damen herbei und setzten sich auf die Plätze, welche zur Linken des Berliners lagen. Zu seiner Rechten saß Haller. Der arme Hieronymus stieß einen qualvollen Seufzer aus und machte sich so schmal wie möglich, dennoch aber quoll er höchst ansehnlich zu den Seitenlehnen heraus, und die linke Seite seines Unterkörpers wurde ganz von der Toilette der Dame, welche neben ihm saß, versteckt.

Sie hatte seinen Seufzer gehört und antwortete mit einem leichten Räuspern, welches ihm ziemlich schnippisch zu klingen schien.

„Die macht sich gar noch über mein Elend lustig!“ dachte er. „Jetzt geht es noch. Wie aber soll es später werden, wenn die Wärme steigt! Ich wollte, diese Person wäre eine alte Hypotenuse, damit ich nicht viel Federlesens mit ihr zu machen brauchte.“

Aber dieser Wunsch sollte ihm nicht in Erfüllung gehen; ob leider oder ob glücklicherweise, das war noch nicht zu bestimmen. Als sich nämlich der Vorhang hob, zogen die beiden Nachbarinnen ihre Schleier zurück. Schneffkes Augen waren auf die Bühne gerichtet, aber als er den ersten Blick seitwärts warf, erkannte er – die Generalin von Goldberg und ihre schöne Begleiterin. Die letztere saß neben ihm.

Augenblicklich begann es ihm heiß zu werden, was er erst für später erwartet hatte.

„Donnerwetter!“ dachte er. „Ist das Glück oder Unglück? Meine Manschetten sind nicht die allerweißesten und der Kragen – Pfui Teufel, die Rutschpartie hat mich so ziemlich unscheinbar gemacht. Ich sehe aus, als ob ich in einer alten Kiste zwischen Schokoladenmehl und gemahlenem Kaffee gelegen hätte! Aber einen Trost gibt es doch: die Liebe ist blind. Wenn sie mir gut ist, so wird sie von dem allen nicht das mindeste merken. Hätte ich doch wenigstens mich um Glacehandschuhe bekümmert! Oh! Da gibt es Rettung!“

Haller hatte nämlich seine Glacehandschuhe zu unbequem gefunden und einen derselben ausgezogen und auf die Brüstung der Loge gelegt. Schneffke beobachtete seine Nachbarschaft, und als er glaubte, nicht bemerkt zu werden, griff er zu und annektierte den Handschuh. Zwar nahm es die Dauer des ganzen ersten Aktes in Anspruch, ehe es ihm gelang, seine fetten Finger hineinzubringen, aber er brachte es doch fertig. Dann langte er mit einer möglichst graziösen Handbewegung nach dem Theaterzettel, welcher vor ihm lag. In demselben Augenblick ging der Vorhang nieder; das Publikum applaudierte und er hielt es für angezeigt, den Kunstenthusiasten zu spielen und aus Leibeskräften zu klatschen. Da erklang es halblaut neben ihm:

„Pst, Herr Schneffke! Er zerreißt ja! Er ist zu enge!“

Er wendete sich erstaunt zu seiner Nachbarin und fragte:

„Wer denn?“

„Der da!“

Dabei deutete sie auf seine Hand. Der Handschuh war bei dem Klatschen außer Rand und Band gegangen. Er hing fast ganz in Fetzen um die Finger.

„Sapristi!“ sagte er. „Man hat mir eine zu enge Nummer geschickt!“

„Das ist beklagenswert! Was aber wird Ihr Herr Kollege sagen?“

„Warum dieser?“

„Er wird sich ärgern, daß er Ihnen den Handschuh nicht vorher erst gehörig ausgeweitet hat. Er konnte ihn noch einige Minuten länger an der Hand behalten.“

Er fühlte, daß er blutrot im Gesicht wurde. Sie hatte also gesehen, daß er den Handschuh gespitzbubt hatte.

„Fräulein, Sie sind ein kleiner Teufel!“ flüsterte er.

„Wird es Ihnen in meiner höllischen Nähe warm, Herr Tausendfüßlermaler?“

Es war ihm wirklich so warm, als ob sein Körper jetzt aus lauter Wellfleisch bestehe. Er mußte ihre Gedanken von dem ominösen Handschuh ablenken und fragte darum:

„Wie gefällt Ihnen die Jungfrau? Diese Pauline Ullrich spielt doch ausgezeichnet!“

„Fast so ausgezeichnet, wie Sie eskamotieren. Fahren Sie auch mit dieser Handschuhnummer Veloziped?“

„Nein“, antwortete er grimmig, „da ziehe ich Faust- und Pelzhandschuhe an. Aber sagen Sie einmal, Fräulein, ob Sie in Niederboyritz bekannt sind?“

Sie blickte ihn verwundert an und fragte dann:

„Wie kommen Sie zu dieser Erkundigung? Ich war noch nie an diesem Ort.“

„Aber wohl in Markneukirchen im Erzgebirge?“

„Niemals!“

„Haben Sie hier in Dresden einen pensionierten Seminardirektor gekannt, der jetzt gestorben ist?“

„Nein.“

„Dieser Schuft! Dieser Schurke!“

„Wer? Der Seminardirektor?“

„O nein! Der ist jedenfalls ein seelensguter Kerl gewesen. Ich meine den, der ihn heute an den Masern hat sterben lassen.“

„Herr Schneffke, es wird Ihnen wohl immer heißer?“

„So heiß wie einem Pudding!“

Der zweite Akt begann. Der Dicke sah fast gar nichts davon. Er war von dem Portier düpiert worden; das ärgerte ihn. Noch mehr ärgerte ihn die Handschuhgeschichte. Und gerade jetzt bemerkte Haller, daß ihm sein Handschuh fehlte. Er beugte sich über die Brüstung vor, da er dachte, der Glace sei da hinabgefallen. Da machte die Vorleserin eine so auffällige Handbewegung, daß Haller sich zu ihr wenden mußte, und da deutete sie auf Schneffkes Hand, an welcher die Lederfetzen hingen. Der Dicke hätte in den Erdboden sinken mögen. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren; es war ihm, als ob er in einem Dampfbad sei.

Doch endlich, endlich ging auch dieser Akt zu Ende. Haller benutzte das und flüsterte ihm zu:

„Was geht, in aller Welt, Ihnen denn mein Handschuh an?“

„Ein Versehen!“ stammelte er.

„Unsinn! Sie haben glänzen wollen. Diese Vorleserin hat Ihnen den Kopf verdreht, so daß Sie schließlich noch Filzschuhe an die Finger stecken.“

„Halten Sie nur jetzt den Mund! Ich will – ach, Gott sei Dank, sie stehen auf! Sie gehen nach dem Foyer! Ich gehe auch!“

Die Damen hatten sich erhoben und verließen die Loge.

„Sie wollen ihnen nach?“ fragte Haller.

„Fällt mir gar nicht ein!“

„Wohin denn sonst?“

„Ich mache, daß ich fortkomme. Ich verschwinde; ich verdufte mich. Hier ist eine Hitze von sechsundneunzig Grad Reaumur, und das ist für meine jugendliche Konstitution zu viel. Bleiben Sie noch hier?“

„Ja. Ich brauche nicht auszureißen; ich habe ein gutes Gewissen.“

„Wohl Ihnen! Viel Vergnügen!“

Er ging und kehrte in sein Hotel zurück, wo er sich schleunigst zu Bett legte, um Haller bei dessen Heimkehr keine Gelegenheit zu irgendwelchen unangenehmen Folgen und Bemerkungen zu geben.

Dieser letztere hatte, als die Damen vorhin in die Loge getreten waren, sich höflichst verbeugt, dann aber scheinbar gar keine weitere Notiz von ihnen genommen, außer da, als Emma ihn auf den defekten Handschuh aufmerksam machte. Er blieb auch weiterhin scheinbar teilnahmslos gegen sie und beachtete sie erst am Schluß der Vorstellung wieder mit einer Verbeugung.

Als die Generalin mit der Nichte zu Hause angekommen war, sagte sie:

„Weißt du, daß du ein kleiner Kobold bist? Oder denkst du, daß ich die Handschuhaffäre nicht bemerkt habe?“

„Ich interessiere mich ganz außerordentlich für diesen Spinnenmaler, liebe Tante!“

„Der sein Herz an dich verloren hat!“

„So, daß er einen linken Handschuh borgt und ihn an die rechte Hand zieht. Er hält mich wirklich für deine Vorleserin!“

„Ich interessiere mich weit mehr für den anderen. Er hat das Äußere und das ganze Wesen eines Mannes aus vornehmen Kreisen.“

„Auch als er von der Höhe herabrutschte und vor Verlegenheit die Flucht ergriff?“

„Das war ein tückischer Zufall, welcher ihm in meinen Augen gar nichts schadet. Die beiden sind Maler. Sie haben uns bemerkt. Sie haben beschlossen, uns zu skizzieren; das Erdreich, auf welchem sie saßen, hat nachgegeben, und sie sind herabgerutscht. Dabei ist gar nichts Ehrenrühriges zu finden.“

„Aber sehr viel Lächerliches!“

„Dieser Mann hat etwas in seinen Augen, was mich wunderbar berührt. Es ist mir, als ob ich seit Jahren mit ihm bekannt gewesen sei. Er gab sich heute den Anschein, uns gar nicht zu beachten, und doch habe ich bemerkt, daß er uns weit mehr Aufmerksamkeit schenkte als der Bühne.“

„So haben wir beide eine Eroberung gemacht, ich den Hieronymus und du den – ach, wie mag er heißen?“

„Vielleicht erfahren wir es noch.“

„Du willst doch nicht sagen, daß du dich so für ihn interessierst, daß es dich verlangt, seine Verhältnisse kennenzulernen?“

Die Generalin schwieg eine Weile und antwortete dann:

„Ja, gerade das will ich sagen. Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der einen ähnlichen Eindruck auf mich gemacht hätte. Ich weiß nicht, was es ist, wodurch ich bei seinem Anblick so tief ergriffen wurde. Eine innere Stimme sagt mir, daß ich ihn näher kennenlernen werde. Sein Kollege ist ein Berliner; sie gehen nach Berlin; der Zufall wird es fügen, daß ich ihn dort wiedersehe. Er ist mir ein Geheimnis, ein Rätsel, von welchem ich fühle, daß ich es zu lösen haben werde.“

„Ich begreife das nicht!“

„Ich ebensowenig. Begreift die Schwalbe den Drang, der sie zur Herbstzeit nach dem Süden zieht? Begreift der Mensch die Zuneigung, welche er für den einen, und die Abneigung, welche er gegen den anderen hegt, ohne daß diese beiden etwas getan haben, sich diese Sympathie und Antipathie zu verdienen? Ich verlasse morgen Dresden mit der Überzeugung, daß ich diesen Maler nicht zum letzten Mal sehe.“

„Wann reisen wir?“

„Es war für früh bestimmt.“

„Ist nicht ein kurzer Aufschub möglich, liebe Tante?“

„Wozu? Hast du noch etwas zu besorgen?“

„Eigentlich nicht. Ich wünsche nur, einen Spaziergang zu machen.“

„Wegen eines Spazierganges die Abreise verzögern? Jetzt bist du es, die mir unerklärlich wird!“

„Erlaube mir, dir das Rätsel zu lösen. Es gilt dem Andenken meines Bruders.“

„Das klingt nur noch rätselhafter!“

„Weil du nicht weißt, daß Richard eine Liebe hat.“

„Eine Liebe? Kind, das ist mir allerdings im höchsten Grad interessant! Richard, der ernste Offizier, der Frauenfeind, der keine Gesellschaft besuchte und nur seinem Dienst und seinen Büchern zu leben schien? Der Heuchler!“

„Verzeih, liebe Tante. Es hat eine eigentümliche Bewandtnis um diese Liebe. Du weißt doch, daß er einige Zeit in dienstlichen Angelegenheiten in Dresden war?“

„Ja. Er hat ja den Auftrag zu dieser Reise von meinem Mann erhalten.“

„Nun, auf einem Spazierritt nach Blasewitz ist ihm eine Dame begegnet – –“

„In welche er sich augenblicklich verliebt hat?“ fiel die Generalin ein.

„Allerdings. Es ist kaum glaublich. Sie im Wagen und er zu Pferd, sind sie schnell, gedankenschnell aneinander vorübergeflogen; er hat sie nur mit einem flüchtigen Blick gestreift, und doch ist er seit diesem Moment nicht mehr Herr seines Herzens gewesen.“

„Ja, ja, so ist die Liebe! So ging es auch mir, und so ging es auch Kunz, als wir uns in Paris zum ersten Mal erblickten. So ist es auch meiner Schwester Ida und deinem Vater ergangen. Die Liebe ist eine Macht, welcher niemand zu widerstehen vermag. Sie bedarf nur eines Augenblicks, um zu siegen.“

„Er hat natürlich nicht gewußt, wer sie ist“, fuhr Emma von Königsau fort; „aber sie ist ihm keinen Augenblick aus dem Sinn gekommen.“

„Hat er nicht nach ihr geforscht?“

„Es ist vergeblich gewesen. Aber jetzt, jetzt hat er sie gefunden, ganz plötzlich und unerwartet, wie er mir schreibt.“

„Wo?“

„Ja, liebes Tantchen, weißt du denn eigentlich, wo er sich befindet?“

„Nein.“

„Und der Onkel hat es dir auch nicht mitgeteilt?“

„Er hat mir kein Wort gesagt. Ist Richard in dienstlichen Angelegenheiten abwesend?“

„Ja. Der Ort, an welchem er sich befindet, muß ein tiefes Geheimnis bleiben.“

„So will ich dich auch nicht fragen, denn ich weiß, daß du doch nichts ausplaudern würdest. Aber was hat dieses alles mit deinem Spaziergang nach Blasewitz zu schaffen?“

„Sehr viel. Dieser Spaziergang ist eine Art der Pietät, der schwesterlichen Teilnahme. Ich will einmal den Weg gehen, den er damals geritten ist. Ich will den Ort sehen, an welchem er sein Herz verloren hat.“

„Ah, das ist es? Nun, da darf ich dir nicht widerstreben. Gehen wir also nach Blasewitz; wir erreichen Berlin ja immer noch bei guter Tageszeit.“

Der nächste Morgen war schön, so daß die Damen beschlossen, den Weg zu Fuß zu machen. Einige Zeit darauf brachte ein Reitknecht zwei Pferde geführt, mit denen er bei dem Hotel der beiden Maler anhielt. Schneffke hatte bereits gewartet, und die Tiere infolgedessen sofort bemerkt. Er kam eiligst zu Haller und rief bereits während des Türöffnens:

„Sie sind da, Herr Kollege. Es kann losgehen.“

„Wer ist da?“

„Die Pferde.“

„Ach so! Wie ich sehe, sind Sie bereit! Sapperlot, wo haben Sie denn diese fürchterlichen Sporen her?“

Der Dicke hatte den unteren Teil der Hosen in die Stiefelschäfte gesteckt und ein Paar ungeheure Sporen angeschnallt.

„Von dem Antiquar da drüben in der Frauenstraße. Sie gefielen mir. Natürlich habe ich sie mir bloß geliehen. Zum Kaufen sind sie mir zu teuer. Es sind nämlich echte mexikanische; der Antiquar sagte, daß sie einst dem König Quatemozin gehört hätten.“

„Und das glauben Sie?“

„Unsinn! Sie gefallen mir; das ist genug. Eine Peitsche habe ich auch. Sie liegt drüben in meinem Zimmer. Donnerwetter! Ich werde ihnen etwas vorreiten. Die ganze hohe Schule nehme ich durch. Zuletzt ein waghalsiges Ventre-à-terre. Und damit ich dabei den Hut nicht verliere, habe ich ihn mir mit der Schnur hier fest auf den Kopf gebunden.“

Haller lachte ihm in das Gesicht und sagte:

„Sie sind ein ganz verwegener Kerl, wie es scheint. Tun Sie mir den Gefallen, Ihren Hals und Ihre Beine in acht zu nehmen. Na, so kommen Sie.“

Er hatte hinter dem Rücken des guten Hieronymus Sorge getragen, daß diesem nicht etwa ein arabischer Hengst zur Verfügung gestellt werde. Als sie aus dem Tor traten, sahen sie einen hübschen Braunen und daneben einen Schimmel, dem man die Sanftmut und Geduld eine ganze Weile weit ansehen konnte. Schneffke trat in unternehmender Haltung zu dem Knecht und fragte diesen:

„Welches ist das wildeste von den beiden?“

Der Gefragte deutete auf den Schimmel und antwortete:

„Der da. Er ist oft kaum zu bändigen. Es gehört ein sehr erfahrener und gewandter Reiter dazu, im Sattel zu bleiben.“

„Pah! Mich soll er nicht herunter bekommen. Herr Kollege, ich kann nicht dulden, daß Sie sich in Gefahr begeben; ich nehme also den wilden Schimmel und lasse Ihnen den Braunen.“

„Nicht doch!“ antwortete Haller. „Der Schimmel hat den Teufel im Leib. Der braucht Schenkeldruck.“

Der Dicke stellte sich breitspurig vor ihn hin und sagte:

„Schenkeldruck? Donnerwetter! Betrachten Sie sich einmal diese Schenkel. Sind das etwa Sperlingswaden? Ich bin ja der reine Koloß von Rhodos. Wenn der Schimmel wirklich gedrückt sein will, so kann er es haben. Ich werde ihn quetschen, daß ihm die Seele knacken soll. Aufgestiegen, also.“

Es kostete ihn Mühe, mit dem Fuß den Bügel zu erreichen; aber es gelang ihm doch, hinauf zu klettern, wo er sich dann ordentlich zurecht setzte. Der Schimmel war sehr gut genährt. Diese beiden paßten ungemein füreinander.

Auch Haller war aufgestiegen und sagte:

„Vorwärts jetzt, durch die Rampische Straße!“

Er setzte den Braunen in Bewegung. Der Dicke tat dasselbe, zerrte aber an der verkehrten Seite. So kam es, daß der Schimmel sich erst einmal um seine eigene Achse drehte und dann in ganz entgegengesetzter Richtung forttraben wollte. Haller blickte sich um und bemerkte das. Er rief:

„Herr Kollege, Herr Kollege, wollen Sie etwa durch das Marktgäßchen reiten?“

„Das Marktgäßchen? Fällt mir nicht ein! Ich dachte aber, das hier wäre die Rampische Straße. Komm, Schimmel, dreh dich um. Nach links, immer weiter links. So, und nun gradaus, hinter dem Braunen her.“

Es war ihm gelungen, den Gaul richtig vor den Wind zu bringen; er erreichte Haller und ritt an dessen Seite weiter.

Die Leute blieben stehen, um den beiden nachzublicken. Es war dem Dicken unmöglich, die Beine in die gehörige Lage zu bringen; er streckte sie grad ab. Ein rascher Seitenschritt des Pferdes hätte ihn sofort aus dem Sattel gebracht. Er bemerkte, welche Aufmerksamkeit er erregte, daher sagte er in selbstgefälligem Ton zu Haller:

„Wir müssen doch ein höchst stattliches Reiterpaar bilden, denn alle Leute staunen uns an.“

„Mich weniger als Sie.“

„Das ist auch meine Meinung. Aber sehen Sie nur, was für einen famosen Schenkeldruck ich habe.“

„Ausgezeichnet!“ nickte Haller ironisch.

„Ohne diesen Druck wäre ich aber auch sofort zur Katze. Dieser Schimmel ist ein ganz verfluchtes Vieh. Er will mit mir immer durch, bald rechts oder links, bald rückwärts oder vorwärts. Soeben wollte er hinten ausschlagen, und jetzt, ah, ich ahnte es doch gleich, jetzt wollte er vorn in die Höhe. Aber solche Unbotmäßigkeiten dulde ich absolut nicht. Das Vieh muß einsehen, daß es endlich einmal seinen Reiter gefunden hat.“

So ging es durch die Pillnitzer Straße und quer über die alte Vogelwiese nach Blasewitz zu. Sie hatten die Forthausstraße hinter sich, da deutete Haller nach vorn und sagte:

„Teufel noch einmal. Kennen Sie die beiden, die dort gehen?“

„Die Frauenzimmer?“

„Ja.“

„Die gehen mich nichts an. Ich habe jetzt keine Zeit mit Damen zu liebäugeln. Ich darf den Schimmel nicht aus den Augen lassen.“

„Aber einen Blick werden Sie doch wohl übrig haben, zumal für diese beiden.“

„Sind es denn gar so außerordentliche Personen?“

„So sehen Sie doch nur hin!“

Der Dicke gehorchte und rief dann erfreut:

„Die Generalin und ihre Vorleserin! Kollege, wollen wir ihnen einmal etwas vorreiten?“

Der Gefragte schüttelte scheinbar besorgt den Kopf und antwortete:

„Der Schimmel, der fatale Schimmel!“

„Wieso?“

„Na, wenn der einmal im Zug ist, dann ist es aus.“

„Unsinn! Ich gebe ihm Schenkeldruck. Also vorwärts. Trab oder Galopp?“

„Trab!“

„Schön! Die Gräfin soll einmal sehen, daß ein Spinnen- oder Krebsmaler ebenso elegant zu Pferde sitzen kann, wie ein General.“

Haller ließ sein Pferd in Trab fallen, und der gutwillige Schimmel folgte freiwillig. Der Dicke hopste auf und nieder wie ein Mehlsack. Er rutschte bald vor oder hinter, bald nach rechts oder nach links, doch gelang es ihm noch, Sattel zu behalten.

Jetzt waren sie den Damen nahe gekommen.

„Galopp jetzt, Galopp!“ gebot Schneffke.

„Um Gottes willen, nicht!“

„Pah! Ich fürchte mich vor dem Teufel nicht, viel weniger vor dem Schimmel. Da, da, da!“

Bei den drei letzten Silben holte er mit der Peitsche aus und gab dem Schimmel drei kräftige Hiebe über den Kopf. Grad in diesem Augenblick wurden die Damen auf die Reiter aufmerksam; sie drehten sich um. Der Dicke wollte in eleganter Haltung an ihnen vorüber; aber – war der Schimmel die Schläge nicht gewöhnt, oder hatte einer der Hiebe sein Auge getroffen, kurz und gut, das dicke Pferd riskierte eine Lancade.

„Mordió! Feurio! Hilfio!“ brüllte Hieronymus, indem er die Peitsche fallen, die Zügel fahren ließ und alle viere in die Lüfte streckte. Im nächsten Augenblick beschrieb er einen Bogen vom Pferd herab und kam grad vor Emma auf denjenigen Teil seines Körpers zu sitzen, auf welchem er gestern auch die famose Rutschpartie gemacht hatte.

Das gab zwar einen tüchtigen Plumps, und er fuhr mit den Händen angstvoll nach hinten, obgleich in jener Gegend keine Rippen zu brechen waren, doch fand er schnell die Geistesgegenwart wieder. Er legte die Hand militärisch an die Hutkrempe und grüßte:

„Ergebenster Diener, meine verehrtesten Damen. Der Gaul ist auf den Wink dressiert. Er hat mich zu Ihren Füßen niedergesetzt, damit es mir möglich sei, Ihnen meine Hochachtung zu beweisen. Nehmen Sie dieses reizende Intermezzo gütigst nur als das, was es wirklich ist; ein außergewöhnliches und darum um so wertvolleres Kompliment, aus dem Sie ersehen sollen, wie sehr ich Sie verehre.“

Er wollte als weiteren Beweis seiner Hochachtung den Hut abnehmen, da dieser aber angebunden war, so ließ er es sein und erhob sich, um sich nach dem Schimmel umzublicken. Wahrhaftig! Dieser war durchgegangen, allerdings auf eine nur kurze Strecke. Haller war ihm nachgeritten und hatte ihn beim Zügel ergriffen.

Die beiden Damen hatten so gelacht, daß sie gar nicht antworten konnten. Er nickte ihnen noch einmal freundlich zu und trabte dann in größter Eile dem Kameraden und dem Schimmel nach. Da er den Damen dabei diejenige Stelle zukehrte, mit welcher er auf der Straße gelandet war und die sich voller Staub und Schmutz zeigte, so bot er ihnen einen ergötzlichen Anblick.



„Was fällt Ihnen denn zum Donnerwetter ein, den Gaul über den Kopf zu hauen!“ rief ihm Haller entgegen.

„Was denn sonst? Soll ich etwa, wenn er nicht gehorcht, absteigen und mich mit ihm auf Pistolen schießen oder per Rapier schlagen?“

„Er ging doch ganz gut.“

„Ja, aber ich wollte partout herunter.“

„So, so! Das ist etwas anderes, wenn Sie es gewollt und beabsichtigt haben! Steigen Sie wieder auf?“

„Natürlich! Zwar brummt mir die hintere Hemisphäre so, daß ich gar nicht fühlen werde, ob ich ein Pferd darunter habe, aber dafür will ich dem Gaul desto kräftiger beweisen, daß er einen vorzüglichen Reiter über sich hat.“

Er kletterte wieder in den Sattel; der Ritt wurde fortgesetzt und nahm ein glückliches Ende, da beide alle Vorsicht aufwendeten, daß nicht wieder etwas Regelwidriges geschehen könne. Am Nachmittag dampften sie nach Berlin. Im Zug fanden sie keine Spur von den beiden Damen, da diese den vorhergehenden benutzt hatten. Als sie ausgestiegen waren, fragte Schneffke:

„Was werden Sie beschließen? Ich hoffe, daß Sie mit meiner Bude fürlieb nehmen, bis sich eine Wohnung für Sie gefunden hat.“

„Danke! Ich werde mir sofort eine mieten.“

Er ging in die Restauration und ließ sich das Adreßbuch geben. Dort suchte er zunächst, doch ohne dem Dicken etwas davon merken zu lassen, den Namen Königsau auf, um dessen Wohnung zu erfahren. Dann nahm er die Zeitungen zur Hand, um die Wohnungsangebote zu lesen. Er fand gar bald, was er suchte, nämlich ein möbliertes Logis in der Nähe der Wohnung der Familie Königsau. Die Vermieter konnten nicht ganz gewöhnliche Leute sein, da sie nur an einen feinen Mann vermieten wollten.

Jetzt trennten sich die beiden Maler, nachdem Haller sich die Wohnung seines dicken Freundes notiert hatte. Dann begab er sich per Droschke nach der in dem Blatt bezeichneten Wohnung. Sie gehörte der Witwe eines Ministerialbeamten und genügte allen seinen Ansprüchen. Er mietete sich sofort ein und blieb auch sogleich hier. Er hörte, daß die Witwe einen Sohn habe, der bald aus dem Büro nach Hause kommen werde. Als dies geschehen war, wurde das Abendbrot genommen. Als Tischgenossin war ein reizendes, junges Mädchen mit Namen Madelon Köhler zugegen.

Da kam ihm ein plötzlicher Gedanke. Er hatte schon ein Gesicht gesehen, welches dem ihrigen außerordentlich ähnlich war.

„Sie haben eine Schwester, Fräulein?“ fragte er.

„Ja. Sie befindet sich als Freundin bei einer Baronesse von Sainte-Marie.“

„Sie meinen die Baronesse Marion de Sainte-Marie?“

„Ja“, antwortete die junge Dame überrascht. „Ist die Baronesse Ihnen bekannt?“

„Sehr gut. Ich kenne auch Fräulein Nanon Köhler, ihre Schwester.“

„So sind Sie in Schloß Ortry gewesen?“

„Ja, ich hatte ein Portrait des jungen Baron Alexander zu fertigen und war also geschäftlicherweise zu einem Aufenthalt gezwungen.“

„Ah, da werde ich Sie später ersuchen, mir einiges zu erzählen. Wie schön, daß Sie die Schwester kennen. Ich habe heut' einen Brief von ihr erhalten. Ist Ihnen vielleicht ein Doktor Bertrand aus Thionville bekannt?“

„Ich kann mich nicht entsinnen.“

„Dieser Arzt hat einen Kräutersammler –?“

„Auch diesen kenne ich nicht.“

„So, so! Darf ich Sie auf ein wunderbares Spiel der Natur aufmerksam machen, mein Herr! Sie sehen nämlich einem meiner Bekannten so ähnlich, daß man sie auf das leichteste miteinander verwechseln könnte.“

„Wirklich? Wer ist es denn, dessen Konterfei zu sein ich die Ehre habe?“

„Es ist ein Soldat, ein einfacher Diener, nämlich der Busche des Herrn Rittmeister Richard von Königsau.“

Dieser Name elektrisierte ihn sofort.

„Königsau?“ fragte er. „Kennen Sie diese Familie?“

„Sehr gut, und zwar von doppelter Seite. Nämlich, der Sohn meiner gnädigen Dame, Rittmeister Arthur von Hohenthal, von den Husaren, ist ein Freund des Herrn von Königsau, welcher den ersteren sehr oft besucht. Und sodann ist Fräulein Emma von Königsau so freundlich, mich zu ihren näheren Bekannten zu rechnen.“

„Dann können Sie mir wohl auch sagen, ob der Rittmeister von Königsau ein Freund der Geselligkeit ist?“

„Ich bezweifle das. Er ist ein sehr ernster Charakter.“

„So ist es wohl nicht leicht, Anschluß an ihn zu finden?“

„Für einen Fremden halte ich es sehr schwierig. Er gehört zu den Charakteren, welche Lebensbefriedigung mehr nach innen als nach außen suchen.“

„Er befindet sich gegenwärtig in Berlin?“

„Nein; er ist abwesend.“

„Würde es unbescheiden sein, nach dem Ort zu fragen, an welchem er sich befindet? Ich erkundige mich nämlich nicht ganz und gar absichtslos.“

„Wie mir meine Schwester erzählte, hat er sich in letzter Zeit zu sehr angestrengt und einen Urlaub zum Zweck der Erholung erhalten. Er befindet sich auf dem Gut eines Verwandten in Posen oder Litauen.“

„Ich danke! Aber die Glieder seiner Familie befinden sich hier in Berlin?“

„Ja. Zwar ist seine Schwester Emma abwesend, aber sie kehrt bereits heut' zurück.“

„Ist es schwer, Zutritt zu der Familie zu erhalten?“

„Sie öffnet ihre Tür nicht so leicht einem jeden; aber –“, dabei ließ sie ihr dunkles Auge freundlich forschend auf ihm ruhen – „haben Sie irgendein Interesse an dem Namen Königsau?“

„Ja, ein ziemlich bedeutendes, mein Fräulein. Ich darf noch nicht davon sprechen, und darum ersuche ich Sie dringend, gegen Ihre Freundin ja nichts zu verraten. Aber es würde mir unendlich willkommen sein, diese mir rühmlichst geschilderten Personen kennenzulernen.“

Er befand sich als Spion in Berlin, aber sein ganzes Wesen war nicht dasjenige eines solchen. Sein Gesicht zeugte von Edelmut und Biederkeit. Er war gezwungen, dem Befehl seines Vorgesetzten zu gehorchen; er tat dies zwar, aber er tat es mit innerem Widerstreben. Dieses leise, heimliche Schleichen paßte nicht zu seinem Naturell und ebenso wenig zu seinem Charakter.

Madelon nickte ihm freundlich zu und sagte:

„Künstler sind allüberall weniger unwillkommen als andere Menschenkinder. Vielleicht gelingt es mir, Ihnen den Eintritt in das Haus meiner Freundin zu ermöglichen.“

„Wie dankbar würde ich Ihnen sein, mein Fräulein!“

„Ich tue es gern, denn ich bin überzeugt, daß ich nichts zu verantworten haben werde. Vielleicht ist es möglich, Sie bereits morgen mit Emma bekannt zu machen. Sie ist auch in diesem Zimmer hier keine allzu seltene Erscheinung. Kehrt sie heute von der Reise zurück, so macht sie mir morgen ganz sicher ihren Besuch und wird auch nicht versäumen, hier auf eine Minute vorzusprechen. In diesem Fall, und wenn Sie anwesend sind, wird es ja sogar unsere Pflicht sein, Sie ihr vorzustellen.“

„Ich werde auf alle Fälle zugegen sein, mein Fräulein, und wünsche mir baldigst eine Gelegenheit, mich Ihnen dankbar zeigen zu können.“

Damit war der Teil der Abendunterhaltung, welcher ihn interessierte, erschöpft, und Haller zog sich nach kurzem in sein Schlafzimmer zurück. Als er sich dort allein befand, überdachte er die Erlebnisse der letzten Tage, unter denen ihm seine heutige Begegnung mit der jungen, allerliebsten Französin am meisten beschäftigte.

Er sagte sich zwar, daß er für sie nur deshalb ein so reges Interesse hege, weil sie ihm versprochen hatte, seine Bekanntschaft mit der Familie Königsau zu vermitteln; allein er täuschte sich damit nur selbst. Ihre reizende Persönlichkeit nahm sein Denken in noch viel höherem Grad in Anspruch als ihr Versprechen, ihn in dem Haus einzuführen, an welches er von seinem Vorgesetzten adressiert worden war.

Sie hatte einen Eindruck auf ihn gemacht, über welchen er sich noch nicht Rechenschaft geben konnte. Und doch traf er bereits einen Vergleich zwischen ihr und Derjenigen, welche ihm seit langer Zeit zur Gattin bestimmt war.

Es war in seinem Herzen ein Zwiespalt entstanden, welcher einerseits ihn gegen sich selbst erzürnte, andererseits aber ihn freudig erregte, wenn er daran dachte, daß er Gelegenheit habe, die junge Dame öfter zu sehen.

„Warum gefällt mir diese Gesellschafterin doch nur weit besser als Ella von Latreau?“ fragte er sich. „Es gibt Menschen, die man schon beim ersten Zusammentreffen lieb haben muß. Ella ist ein Grafenkind, unendlich reich und eine Schönheit ersten Ranges. Diese kleine, nette Madelon stammt jedenfalls aus einer armen, bürgerlichen Familie und kann eine eigentliche Schönheit nicht genannt werden. Aber doch – aber doch! Als ich diese prächtige Gouvernante im Wald sitzen sah, entzückte sie mich; diese Madelon entzückt mich auch. Und doch wie verschieden ist dieses Entzücken. Die Gouvernante entzückte meine Augen, mein Schönheitsgefühl, da ich Maler bin; die Französin aber macht einen Eindruck, welcher nicht nur auf das Auge wirkt; er geht tiefer hinab. Hm, ich glaube, dieser süße Kolibri könnte einem gefährlich werden. Kolibri? Ja, bei Gott, das ist der richtige Ausdruck, um die Erscheinung dieses reizenden Mädchens zu kennzeichnen.“

Aber mit diesem Selbstgespräch war das Thema noch nicht beendet. Noch als er bereits im Bett lag, dachte er an sie, und als er dann eingeschlafen war, erschien sie ihm im Traum mit goldig schillernden Flügeln, über duftigen Blüten schwebend und von dem Honig nippend, der in den Kelchen lag.

„Wahrhaftig, sie ist mir im Traume erschienen“, sagte er, als er erwachte. „Es gibt Leute, welche dem Traum im neuen Logis eine große Bedeutung beilegen. Wenn sie recht haben, so darf ich vermuten, daß dieser Kolibri mich noch länger umflattern wird.“

Als er seinen Kaffee getrunken hatte, schickte er sich zu einem Morgenspaziergange an. Er mußte, um wirklich als Maler zu erscheinen, sich einige Requisiten beilegen, ohne welche die Künstler der Palette nun einmal nicht sein können. Eben als er die untere Treppe hinabsteigen wollte, kam Madelon die Stufen herauf. Sie hatte ein kleines elegantes Körbchen am Arm und sah so frisch und munter aus wie der junge Morgen selbst. Er zog höflich grüßend den Hut und blieb stehen, um sie an sich vorüber zu lassen; aber sie hemmte ebenso ihre Schritte und sagte:

„Guten Morgen, Herr Haller! Ich denke, wir können schon ein Wörtchen miteinander wechseln. Wir sind uns ja nicht ganz und gar fremd. Haben Sie eine angenehme Ruhe gehabt?“

„Ich danke, ja, mein Fräulein.“

„Das ist schön; das freut mich, denn es ist ein gutes Zeichen. Vielleicht haben Sie sogar geträumt?“

Sie blickte ihm fröhlich in das Gesicht und zeigte ihm dabei ein so kindlich herziges Lächeln, daß er sie gleich auf der Stelle hätte küssen mögen.

„Allerdings habe ich geträumt“, antwortete er.

„Wirklich? Wissen Sie, daß es Leute gibt, welche sagen, daß der erste Traum in einer neuen Wohnung stets in Erfüllung gehe?“

„Ich habe davon gehört.“

„Aber Sie glauben natürlich nicht daran! Die Herren sind ja meistens unverbesserliche Zweifler. War es etwas Angenehmes?“

„Ja. Ich träumte von einem kleinen reizenden Kolibri, der mich immer umschwirrte und gar nicht von mir lassen wollte.“

Ihr liebes Gesichtchen nahm plötzlich einen ernsten Ausdruck an. Ihr dunkles Auge schien größer zu werden, als sie sagte:

„Von einem Kolibri, einem becque-fleur, wie wir Franzosen den Vogel nennen? Dieses Wort hat eine nicht gewöhnliche Bedeutung für mich. Kolibri oder becque-fleur ist der Kosename meiner armen, verstorbenen Mutter gewesen. Mein kleiner, süßer Kolibri hat er sie genannt, wenn sein Auge liebevoll auf sie leuchtete. Sie ist nämlich auch so klein gewesen wie ich.“

Er sah ihr freundlich in das ernste Gesicht und antwortete:

„Vielleicht leuchtet einmal ein Auge ebenso auf Sie. Und vielleicht sagt dann auch eine liebevolle Stimme den Kosenamen becque-fleur zu Ihnen. Wissen Sie, Fräulein, daß der Kolibri, von welchem ich träumte, menschliche Gestalt hatte?“

„Menschliche? Ja, der Gott des Traumes zeichnet mit phantastischen Stiften. Aber, Herr Haller, wollen wir hier vor der Treppe stehenbleiben. Haben Sie es sehr eilig?“

„Nein, gar nicht.“

„Nun, ich möchte gern von meiner Schwester etwas hören. Wenn Sie nichts versäumen, so bitte ich Sie, für einige Augenblicke bei mir einzutreten.“

Sie sagte das so einfach, als sei es gar nicht gegen die Regeln der Gesellschaft, daß ein junges Mädchen einen Herrn, den sie noch dazu erst gestern kennengelernt hat, bei sich empfängt. Dem Reinen ist alles rein. Ihre Herrin war verreist. Madelon befand sich allein, aber dennoch fürchtete sie sich nicht, den Maler zu sich einzuladen. Es kam ihr ganz und gar nicht in den Sinn, dabei an eine Gefahr für ihren guten Ruf zu denken.

„Ich stelle mich sehr gern zur Verfügung“, sagte er, innerlich erfreut über das Vertrauen, welches ihm das liebe Mädchen erwies.

„So kommen Sie?“

Sie öffnete ein Entrée, und bald stand er in einem reich und vornehm ausgestatteten Salon. Sie winkte ihm, sich niederzulassen, und nahm selbst auf einem Diwan Platz.

„Jetzt sind wir einmal recht vornehme Leute“, sagte sie. „Ich empfange Sie in einem gräflichen Salon und gebe Ihnen Audienz, mit dem Gemüsekorb in der Hand. Ich bin jetzt allein und lebe als Garçon; da bin ich gezwungen, selbst für meine Küche zu sorgen. Gefällt Ihnen das Bild?“

Sie bemerkte nämlich, daß er unter einem eigentümlichen Ausdruck seines Gesichts ein Gemälde musterte, welches grad über ihr an der Wand hing. Es stellte einen jungen, bildschönen Mann in der Tracht eines Husarenoffiziers vor.

„Das Bild muß mir seiner meisterhaften Ausführung wegen auffallen, weil ich selbst Maler bin“, antwortete er. „Natürlich ist es nicht Phantasiestück, sondern Portrait?“

„Ja, es wurde vor kaum einem Jahr gefertigt.“

„Wen stellt es dar?“

„Den Herrn Rittmeister, den Sohn meiner Dame. Ah, ich muß ja den Namen sagen: Graf Arthur von Hohenthal.“

„Hm!“ sagte Haller nachdenklich. „Welche Ähnlichkeit.“

„Nicht wahr? Der Herr Rittmeister ist außerordentlich gut getroffen. Aber, Sie finden das Bild ähnlich! Ich muß also annehmen, daß Sie den Grafen kennen?“

„Nein; ich kenne ihn nicht, Fräulein. Ich habe ihn jedenfalls noch nie gesehen.“

„Aber dann ist es ja zu verwundern, daß Sie von einer Ähnlichkeit sprechen.“

„Ich meine eine andere. Ich habe vor kurzer Zeit einen Herrn gesehen, den man für das Original dieses Portraits halten könnte.“

„Wo?“

„In Paris, in der großen Oper. Ich begleitete zuweilen meine Ver – meine Verwandte, nämlich eine Cousine, in die Vorstellung, und da saß regelmäßig in der Nachbarloge ein Herr, welcher eine geradezu frappierende Ähnlichkeit mit diesem Portrait hat.“

Fast hätte er sich versprochen und das Wort ‚Verlobte‘ gesagt. Er zog sich durch das Wort ‚Verwandte‘, welches mit der gleichen Vorsilbe beginnt, noch rechtzeitig aus der Schlinge; aber seine Stimme hatte doch ein klein wenig gestockt, und sein Gesicht war, wenn auch nur für einen einzigen Moment, etwas röter geworden. Das war ihr zwar nicht entgangen, doch fiel es ihr ganz und gar nicht ein, dieser Kleinigkeit eine Bedeutung oder gar ein besonderes Gewicht beizulegen. Sie meinte unbefangen:

„In Paris war es? So ist diese Ähnlichkeit eine ganz zufällige. Es soll ja Menschen geben, welche man verwechseln könnte, und die trotzdem in keiner Beziehung zueinander stehen.“

„Welches ist die Garnison des Herrn Grafen?“

„Potsdam.“

„Dort befindet er sich?“

„Augenblicklich nicht. Er begleitet seine Mama auf einer Erholungsreise.“

„So kann er es doch gewesen sein. Es ist doch leicht möglich, daß ihn diese Reise mit der Gräfin nach Paris geführt hat.“

„Nein. Sie befinden sich gegenwärtig in Wien. Ich habe erst vorgestern von dort her die Befehle meiner Gebieterin erhalten.“

Madelon aber ahnte nicht, daß die Gräfin sich ganz allein in Wien befand. Während der Sohn derselben in geheimer Mission nach Paris gegangen war, mußten selbst seine nächsten Bekannten annehmen, daß er sich bei seiner Mutter befinde.

„Also vor kurzer Zeit waren Sie in Paris?“ fuhr Madelon fort. „Wie beneide ich Sie!“

„Um diesen Aufenthalt in Paris beneiden Sie mich? Fühlen Sie sich hier in Berlin vielleicht unglücklich?“

„O nein, nein!“ antwortete sie rasch. „Die Worte, welche ich sprach, gaben nur dem längst gehegten Wunsch Ausdruck, einmal die Hauptstadt meines Vaterlandes wiederzusehen. Ich befinde mich hier so wohl, wie es unter den gegebenen Verhältnissen nur immer möglich ist.“

„So ist die Frau Gräfin eine freundliche Dame?“

„Sie ist mir viel mehr Mutter als Herrin und hält mich ganz und gar wie ein Glied der gräflichen Familie. Aber auch außerhalb derselben habe ich Freundinnen gefunden, welche es mich fast vergessen lassen, daß ich eine Waise bin.“

„Sie armes Kind, so haben Sie also keine Eltern mehr?“

„Daß ich keine Mutter mehr habe, das weiß ich; möglich aber ist es, daß mein Vater noch lebt. Ich habe ihn nie gesehen.“

„Das läßt ja auf ganz ungewöhnliche Verhältnisse schließen!“

„Allerdings. Ich spreche nicht gern davon, denn es betrübt mich stets, an das Unglück meiner armen Mutter denken zu müssen. Aber Ihr Gesicht ist so offen und ehrlich, so zutrauenerweckend, daß ich schon einmal das Schweigen brechen darf.“

Diese Worte berührten ihn angenehm; sie bewiesen ihm von neuem, daß die Sprecherin ihm ihr Vertrauen schenkte.

„Es ist nämlich einmal ein Herr von altem Adel gewesen“, erzählte sie, „dessen Herz nichts anderes gekannt hat als die Vorrechte seines Standes. Sein Sohn aber ist das Gegenteil des Vaters gewesen. Er hat gewußt, daß alle Menschen als Individuen gleichen Wert besitzen. Er hat sich also durch die Vorurteile seines Standes nicht abhalten lassen, einer Bürgerlichen seine Liebe zu schenken.“

„Ah, ich ahne, diese bürgerliche Dame ist Ihre Mutter.“

„Ja, Sie haben richtig geraten. Vater hat sie geheiratet und ist infolgedessen verstoßen worden. Was nun gefolgt ist, weiß ich nicht. Kurz und gut, Mutter ist eines Tages mit mir und meiner Schwester bei unserem Pflegevater erschienen und hat um Aufnahme gebeten. Leider hat sie nicht lange mehr gelebt, dann ist sie gestorben.“

„War der Pflegevater ein Verwandter von Ihnen?“

„Nein. Sie hat sich als Fremde bei ihm eingemietet. Als sie starb, hinterließ sie uns so viel, daß wir später ein Institut besuchen und uns auf unseren jetzigen Beruf vorbereiten konnten. Ich fand dann Stellung bei der Gräfin von Hohenthal und meine Schwester in der Familie Sainte-Marie. Wir haben keine Veranlassung gehabt, uns zu verändern.“

„Sie wissen aber, wer Ihr Vater war?“

„Nein.“

„Ihre Mutter muß doch seinen Namen getragen und sehr oft von ihm gesprochen haben!“

„Nein. Sie hat unter ihrem Mädchennamen gelebt, unter dem Namen Köhler, den wir auch jetzt noch führen, und niemals ist ein Wink gefallen, aus dem sich hätte vermuten lassen, wer unser Vater ist.“

„Aber sie hat Sie doch als ihre Kinder legitimieren müssen. Und das konnte nur durch Dokumente geschehen, in denen auch der Name ihres Mannes genannt war!“

„Das scheint nicht der Fall gewesen zu sein. Warum sie sich von ihrem Gemahl getrennt hat, das kann ich mir denken, obgleich ich es nicht genau weiß; aber auf welche Weise es ihr gelungen ist, die Vergangenheit in vollständiges Dunkel zu hüllen, das kann ich nicht sagen.“

„Woher aber wissen Sie, daß sowohl Ihr Vater als auch ihr Großvater den Kreisen des Adels angehörten?“

„Der Pflegevater hat es uns erzählt. Er hat es aus Verschiedenem geschlossen. Noch vor ihrem Tod hat die Mutter ihm vieles erzählt; aber wie es scheint, hat er ihr schwören müssen, zu schweigen. Nun wissen wir weiter nichts als das, was ich Ihnen bereits mitgeteilt habe.“

„Das ist interessant, höchst interessant! Da gibt es also keinen einzigen Punkt, welcher Ihnen bei dem Forschen nach Ihrem Vater und Großvater als Anhaltspunkt dienen könnte?“

„Nichts, als daß der Vater mit seinem Rufnamen Gaston geheißen hat. Höchstens könnten wir noch angeben, daß er einen Diener gehabt hat, welcher Flory gerufen wurde.“

„Wenig, außerordentlich wenig! Haben Sie sich nie die Mühe gegeben, in dieses Dunkel einzudringen?“

„Nein.“

„Und Ihr Pflegevater hat Ihnen auch nie Mitteilung gemacht, irgendeine Andeutung gegeben oder Sie wenigstens auf irgendeinen späteren Zeitpunkt vertröstet?“

„Nie.“

„So muß man sich bei ihm erkundigen.“

„Vielleicht ist dies bereits zu spät. Wie Sie ja schon wissen, erhielt ich einen Brief meiner Schwester. Sie schreibt mir, daß der Pflegevater todkrank darnieder liege, und daß die Ärzte keine Hoffnung geben.“

„Er wird diese Hoffnungslosigkeit erkennen und dann vielleicht sein Schweigen brechen. Ein jeder vernünftige Mann bringt, wenn er den Tod nahe fühlt, seine irdischen Angelegenheiten in Ordnung, und zu diesen letzteren gehört betreffs Ihres Pflegevaters doch auch die Ihrige.“

„Allerdings. Aber wenn er wirklich Stillschweigen schwören mußte, so ist es fraglich, ob er die Erlaubnis hat, vor seinem Tod das Schweigen zu brechen. Übrigens werde ich, wenn er sterben sollte, bald erfahren, ob er noch gesprochen hat. Ich habe der Schwester telegrafiert, mich seinen Tod sofort durch eine Depesche wissen zu lassen, da ich ihn zu Grabe geleiten will.“

„Ihre Schwester wird seinen Tod also eher erfahren als sie?“

„Ja; sie wohnt ihm näher.“

„Ah! Sie wohnt in Ortry; so lebt er in Frankreich?“

„Ja. Es wird eine weite Reise sein, die ich dann plötzlich zu machen habe; aber er ist uns ein treuer Versorger gewesen, geradeso, als ob er unser wirklicher Vater wäre. Da ist es Pflicht der Dankbarkeit und Pietät, daß wir an seinem Grab erscheinen. Auch Schwester Nanon wird auf alle Fälle kommen.“

„Ist sein Wohnort in der Nähe von Ortry?“

„Er ist in der Gegend von Etain.“

Haller horchte auf. Er bemerkte rasch:

„Dort bin ich bekannt. Darf ich nach dem Ort fragen?“

„Der Pflegevater ist Verwalter auf Schloß Malineau.“

„Malineau?“ fragte Haller, indem er überrascht aufsprang. „Sein Name ist Berteu?“

„Ja, ja! Kennen Sie ihn denn?“

„Gut, sehr gut sogar. Er steht im Dienst des Generals Graf von Latreau, dem das Schloß gehört.“

„Ja, ja! Das ist richtig! Welch ein Zufall, daß Sie ihn kennen!“

„So kennen Sie wohl auch Ella von Latreau, die Tochter des Generals?“

„Natürlich; sie hat mit uns als Kind gespielt, wenn sie sich zur Sommerzeit mit ihrem Vater auf dem Schloß befand.“

„Das ist allerdings eigentümlich! Ella von Latreau ist nämlich meine –“

‚Verlobte‘, wollte er sagen, aber er bemerkte sofort, welchen Fehler er damit begehen würde, und hielt inne. Sie blickte ihn fragend an, und er erklärte, fast ein wenig verlegen:

„Sie ist meine Schülerin. Ich nahm vor einigen Jahren einen kurzen Aufenthalt in Paris, um die dortigen Kunstschätze zu studieren, und da hatte ich die Ehre, ihr einigen Unterricht im Aquarell zu geben.“

„Das ist sehr interessant. Ich habe sie seit mehreren Jahren nicht gesehen; sie muß eine sehr schöne Dame geworden sein!“

„Sie ist eine Schönheit ersten Ranges, ja, was noch mehr ist, eine ganz und gar eigenartige Schönheit.“

„Verheiratet ist sie noch nicht?“

„Nein.“

„Soviel ich weiß, war sie, was man verlobt nennen könnte. Haben Sie vielleicht in Paris im Hause des Generals einen jungen Grafen Bernard de Lemarch kennengelernt?“

Sein Gesicht nahm eine leichte Röte an; er selbst war ja der, nach dem sie fragte. Doch antwortete er unbefangen:

„Lemarch? Nein. Ich bin ihm nicht vorgestellt worden.“

Damit hatte er nun freilich keine Unwahrheit gesagt, denn er war ja niemals sich selbst vorgestellt worden. Madelon fuhr fort:

„Dieser Offizier ist Ellas bestimmter Bräutigam. Die Väter sollen das bereits seit langer Zeit bestimmt haben.“

„Haben Sie ihn gesehen?“ fragte er gespannt.

„Ein einziges Mal. Ich war damals noch ein Kind, und er besuchte bereits die Kriegsschule. Er war ein sehr hübscher, kräftiger Knabe. Er müßte sich jetzt eigentlich zu ihrer Gestalt und Größe entwickelt haben. Ja, wenn ich ihnen recht aufmerksam in das Gesicht blicke, so ist es mir, als ob sie sogar einige Ähnlichkeit mit ihm hätten.“

„Wieder einer!“ sagte er lächelnd.

„Wieso?“ fragte sie.

„Gestern war ich dem Diener des Rittmeisters von Königsau ähnlich, und heute, was mir allerdings schmeichelhafter ist, dem Grafen de Lemarch.“

„Das ist wahr, wenigstens ist Ihre Ähnlichkeit mit dem guten Wachtmeister Fritz geradezu eklatant. Aber, entschuldigen Sie, bei welchem Thema haben wir vorhin an der Treppe unser Gespräch unterbrochen?“

„Beim Kolibri.“

„Richtig! Sie hatten von einem Kolibri geträumt.“

„Der mich ruhelos umschwirrte und dabei Honig aus den Blüten trank.“

„Und der eine menschliche Gestalt hatte.“

„Das erwähnte ich bereits. Und jetzt bin ich es, der von einer Ähnlichkeit zu reden hat. Wissen Sie, wem dieser kleine Kolibri so außerordentlich ähnlich sah?“

„Nun?“

„Sein Gesicht war ganz und gar das Ihrige, Fräulein.“

Da errötete sie. Doch schlug sie leise die Hände zusammen und sagte:

„Also von mir, von mir haben Sie geträumt? Wie spaßhaft!“

„Finden Sie das wirklich nur spaßhaft?“

„Ja, wie sonst?“

„Nun, Sie selbst sagten ja vorhin, daß der erste Traum in der neuen Wohnung stets eine Bedeutung für die Zukunft habe!“

Jetzt errötete sie tiefer als vorher; sie wandte ihr hübsches Köpfchen ab und antwortete:

„Das ist ja wirklich nur Scherz gewesen. Ich bin keineswegs abergläubisch. Was kann ein Traum für eine Bedeutung haben?“

„Oh, eine doch!“ sagte er langsam und mit hörbarer Betonung. „Er hat die Bedeutung eines Beweises.“

„Was für eines Beweises?“

„Daß der Träumende, bevor er einschlief, an den Gegenstand gedacht hat, von welchem er träumte.“

„Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß Sie gestern abend noch an mich gedacht haben?“

„Ja, gerade das will ich sagen. Fräulein Madelon, erlauben Sie mir etwa nicht, Ihrer zu gedenken?“

Er stand bei diesen Worten auf, trat zu ihrem Sitz und ergriff ihr kleines, feines Händchen. Sie ließ es ihm und antwortete in völlig unbefangenem Ton:

„Kann ich die Assoziation der Ideen, das heißt, den Gedankengang eines Menschen, der mich gesehen hat und sich folgerichtig meiner erinnert, verhindern oder verbieten?“

„Nein. Aber gleichgültig kann es Ihnen nicht sein, was und wie er von Ihnen denkt.“

„Vielleicht.“

„Und ob er gern an Sie denkt?“

„Ebenso vielleicht.“

Er stand im Begriff, dieses Thema weiter zu verfolgen, als die Klingel ertönte. Sie entfernte sich, indem sie sich entschuldigte. Als sie nach einigen Minuten zurückkehrte, hatte ihr Gesicht einen sehr ernsten, fast traurigen Ausdruck angenommen.

„Wovon haben wir soeben gesprochen?“ fragte sie. „Hier, mein Herr, lesen Sie!“

Sie hielt ihm eine geöffnete Depesche entgegen. Er las:

„Soeben telegrafierte man, daß der Pflegevater gestorben ist. Schnell! Damit du noch zur rechten Zeit eintriffst!“

„Ich kondoliere aus aufrichtigem Herzen, mein Fräulein!“ sagte Haller. „Nun werden Sie schleunigst abreisen?“

„Ja. Ich habe mich, den Todesfall erwartend, bereits nach dem vorteilhaftesten Zug erkundigt. Ich packe sofort.“

„Wird man Sie bald wiedersehen?“

„Ich folge meiner Pflicht, werde dann aber gleich zurückkehren. Ich darf diese Wohnung nicht lange Zeit ohne Aufsicht lassen.“

„Ich wollte, ich dürfte Sie begleiten. Für eine junge Dame ist es ein Wagnis, eine so weite Reise zu unternehmen.“

„Oh“, lächelte sie, „ich fürchte mich nicht. Jetzt adieu, Herr Haller. Bevor ich abreise, sehen wir uns aber wohl noch einmal. Ich muß doch droben Abschied nehmen.“

Er drückte ihr freundschaftlich das kleine Händchen und ging.

„Ein herziges Wesen“, murmelte er, indem er die Treppe hinabstieg. „Geradeso fein, lieblich und zutraulich wie ein Kolibri, von dem man doch auch erzählt, daß er die Nähe der Menschen nicht fürchtet.“

Er machte seine Einkäufe, und da er sich dann in der Nähe der Wohnung seines dicken neuen Bekannten befand, so suchte er diesen auf, um sich dessen ‚Bude‘ anzusehen.

Die Wohnung des guten Hieronymus zeigte das Bild einer echten, richtigen Junggesellenwirtschaft. Die Staffelei stand hinter dem Bett; auf dem Waschtisch lag ein Stiefel und auf dem Ofen eine alte Geige. Es herrschte die schönste Unordnung, welche man sich nur denken kann. Der Kleine saß auf der Diele, hatte eine Menge alter Bilder um sich liegen und machte sich mit ihnen und einem riesigen Schwamm zu schaffen, den er abwechselnd in Wasser und andere Flüssigkeiten tauchte, um dann damit über die Gemälde zu wischen. Er blickte bestürzt auf, als Haller eintrat; sobald er aber diesen erkannte, sagte er:

„Gott sei Dank! Ich dachte, es wäre jemand anders! Ich bin gerade nicht in meinem Paradeanzuge. Donnerwetter, wo sind meine Hosenträger!“

Er war nämlich vom Boden aufgestanden und kam dabei in Gefahr, seine Beinkleider zu verlieren. Haller warf einen raschen Blick umher, deutete dann nach dem Waschbecken und sagte:

„Dort im Waschbecken, im Wasser liegen sie.“

„Dort? Wirklich? Alle Wetter, ja! Wie sind sie nur da hineingekommen! Na, lederne Hosenträger und in Wasser eingeweicht! Tut aber nichts. Und die Weste? Wo in aller Welt mag diese stecken!“

„Guckt sie nicht dort aus dem Stiefelschaft heraus?“

„Ja, richtig! Ich wußte wohl, daß ich sie sehr gut aufgehoben hatte! Na, während ich mich ankleide, lassen Sie sich nieder, mein lieber Herr Kollege! Freut mich, daß Sie mich so bald besuchen. Haben Sie Logis gefunden?“

„Ja, sogleich.“

„Also das, was im Blatt angekündigt war?“

„Dasselbe. Ich wohne bei einer Witwe. Ihr verstorbener Mann war Ministerialbeamter.“

„Äußerer oder innerer?“

„Innerer. Sein Sohn aber ist im äußern angestellt.“

„Das bleibt sich Pudding! Minister ist Minister. Gefällt Ihnen die Wohnung?“

„Ja. Die Leute scheinen anständig zu sein.“

„Gut geschlafen?“

„Ja.“

„Geträumt?“

„Sehr. Von einem hübschen jungen Mädchen, welches ich gestern abend kennengelernt habe.“

Der Dicke hatte unterdessen die Weste und den Rock angezogen. Jetzt stellte er sich vor Haller hin und sagte:

„Wunderbar! Ganz auch mein Fall! Habe auch von einer jungen Dame geträumt. Was ist die Ihrige?“

„Gesellschafterin.“

„Donnerwetter! Die meinige ist Gouvernante.“

„Doch nicht etwa die aus dem Tharandter Wald?“

„Natürlich die! Welche denn sonst! Dieses Weibsen hat mir's angetan. Das Herz hängt mir wie ein gewaltiger Pudding zwischen den Rippen. Es schwillt auf, es wird von Minute zu Minute größer, als wenn ich für zwanzig Taler Hefe verschlungen hätte. Habe gar nicht geglaubt, daß die Liebe gradso wie Hefe wirken kann.“

„Poetischer Vergleich!“ lachte Haller.

„Und zutreffend, außerordentlich zutreffend! Wie gesagt, es treibt und bläst mich auf. Ich muß dieses Mädchen kriegen; es muß Frau Hieronymus Aurelius Schneffke werden, sonst falle ich wieder zusammen wie ein Dudelsack, der ein Loch bekommen hat!“

Haller hatte die Kaffeemühle und das Rasierzeug vom Stuhl gestrichen und sich darauf gesetzt. Er warf jetzt einen forschenden Blick auf die Bilder und bemerkte dabei:

„Vogelstudien? Interessant! Wie es scheint, lauter Kolibris.“

„Ja, lauter Kolibris, Kolibris von allen Arten und in allen Stellungen.“

„Wem gehören die Bilder?“

Schneffke machte ein sehr erstauntes Gesicht und antwortete: „Wem? Überflüssige Frage! Dem Kolibri natürlich!“

„Wer ist denn das?“

„Ah, richtig! Sie sind hier fremd, Sie können das nicht wissen, Sie haben von ihm wohl noch nichts gehört! Ich habe nämlich einen Bekannten, eine Art Kunstmäzen; er ist ein geradezu unbegreiflicher Kerl. Ich kenne ihn bereits seit Jahren, aber ich weiß noch immer nicht, ob er arm ist oder reich, verrückt oder bei Sinnen, ein Dummkopf oder ein gescheiter Kerl, ein Kunstkrösus oder ein armseliger Knicker.“

„Das muß ein interessanter Mensch sein!“

„Ja. Er wohnt auf dieser Straße vier Treppen hoch in einem Hinterhaus, heißt Untersberg und hat die ganze Etage inne. Ich bin bereits viele hundert Mal bei ihm gewesen, habe aber nur drei Zimmer betreten können. Das eine steckt voller alter Bücher, und die beiden anderen sind berühmt wegen der Menge Bilder, welche an den Wänden hängen; aber es sind lauter Kolibris. Darum sein Spitzname. Sobald nämlich ein Anfänger der edlen Farbenkunst auftaucht, taucht auch der Gedanke bei ihm auf, sich einen Kolibri von demselben malen zu lassen.“

„Possierlich! Zu welchem Zweck?“

„Das weiß ich leider nicht. Übrigens ist er im höchsten Grad menschenscheu. Ich bin der einzige, der offene Türe bei ihm hat. Ich weiß wirklich nicht, welchen Narren er an mir frißt.“

„Doch vielleicht Sie selbst!“

„Danke bestens! Übrigens hat er mich während meiner Abwesenheit sehr vermißt. Als ich nach Hause kam, fand ich von ihm die Botschaft vor, ihn sofort zu besuchen. Ich ging hin. Er lag bereits im Bett. Ich mußte mir diese Bilder mitnehmen, um sie zu reinigen. Er gab mir fünf Taler und eine Flasche Wein. Das Geld steckte ich natürlich ein, und den Wein habe ich auch bereits gekostet. Wo steht denn die Flasche? Dunkler portugiesischer Tintio! Feurig und durchdringend wie glühendes Eisen. Ah, dort steht die Pulle. Sie müssen ihn kosten.“

Er langte unter den Tisch und zog eine Flasche hervor.

„Gläser habe ich leider nicht“, fuhr er fort, „aber eine Obertasse. Es ist die einzige, welche mir die eheliche Treue bewahrt hat. Doch, für zwei Künstler reicht sie aus. Prosit!“

Er goß die Tasse voll und setzte an, um den Kollegen zuzutrinken. Er nahm einen tüchtigen Schluck; kaum aber war dieser hinab, so zog er ein Gesicht, als ob er die Hölle verschlungen hätte.

„Pfui Teufel!“ rief er. „Der schmeckt schlecht. Ich glaube, er verdirbt schnell. Die Flasche muß rasch geleert werden, wenn sie einmal angerissen ist. Hier, versuchen Sie es!“

Er hielt Haller die Tasse hin. Dieser warf einen vorsichtigen Blick in dieselbe und fragte:

„Was ist denn das, Kollege?“

„Portugiesischer Tintio! Ich sagte es bereits.“

„Hm! Den Tintio kenne ich; ich habe ihn oft getrunken; er verdirbt nicht so leicht. Das, was sie hier in der Tasse haben, muß etwas ganz anderes sein.“

„Was soll es denn sein? Tintio ist es. Hier die Etikette an der Flasche wird Ihnen beweisen, daß –“

Er hielt mitten im Satze inne. Er hatte die Flasche emporgehalten, damit Haller den Namen des Weines lesen solle. Auf der Flasche aber stand: Feinste tief schwarze Kanzleitinte.

„Heiliges Pech!“ rief er nach einer Pause sprachlosen Entsetzens. „Da habe ich ja wirklich und wörtlich Tinte gesoffen. Das ist so klar wie Pudding. Drum also zog es mir den Schlund zusammen wie einen alten Tabaksbeutel. Na, Magen, ich gratuliere dir!“

„Prosit Appetit!“ lachte Haller.

„Ja, lachen Sie nur!“ zankte der Dicke. „Aber ich weiß ganz genau, daß ich die Weinflasche unter den Tisch gestellt habe. Ich glaube gar, meine Wirtin hat sich den Spaß gemacht, sie umzutauschen. Na, da soll sie der Kuckuck reiten.“

„Was guckt denn dort aus dem Muff hervor?“ fragte Haller, indem er auf das Bett deutete, unter dessen halb zurückgeschlagener Decke der erwähnte Gegenstand zu erkennen war.

„Aus dem Muff? Den habe ich mir von meiner Wirtin geborgt; ich hatte ein Bisamtier zu malen und wollte die Farbe des Felles studieren. Sapperlot! Ja, in diesem Muff steckt die Flasche. Da hat also der portugiesische Tintio in seinem Pelzfutteral die ganze Nacht mit mir im Bett gelegen. Na, das schadet nichts. Getrunken wird er doch.“

„Danke, Herr Kollege! Trinken Sie Ihren Schlafkameraden selbst. Ich trinke nur frisch aus dem Keller, nicht aber frisch aus dem Bett.“

„Schön! Ist mir desto lieber. Da komme ich um nichts.“

Er zog die Flasche aus dem Muff hervor, öffnete sie und tat einen kräftigen Zug.

„Oh!“ rief er dann. „Zwischen Tintio und Tinte ist denn doch ein großer Unterschied. Ich wollte, ich könnte es Ihnen beweisen.“

„Ich verbitte mir diesen Beweis. Übrigens sind wir von unserem interessanten Thema abgekommen, nämlich vom Kolibri.“

„Richtig! Also gestern habe ich mir diese Bilder, diese Trochilusabbildungen mitnehmen müssen, weil – hm, Herr Kollege, sind Sie Ornithologe, Vogelkenner?“

„Ein wenig.“

„Kennen Sie die lateinischen Namen der Vögel? Heißt Kolibri nicht Trochilus?“

„Ja.“

„Nun also, der Alte lag im Bett und sagte mir, ich solle mir die sechs eingerahmten Trochilus minimus mitnehmen. Oder sagte er Trochili minimus oder Trochilus minimi? Ich weiß es nicht, ich habe von der Wand genommen, was mir in die Hände kam. Sind es die richtigen?“

„Nein. Was ich da sehe, ist der Kragenkolibri, der Trochilus selasphorus.“

„So, so! Na, schadet nichts. Wird auch abgewaschen. Also ich erzählte Ihnen bereits, daß der Alte, den wir Kolibri nennen, mir ein Rätsel ist. Warum er es einzig auf Kolibris abgesehen hat, kann ich mir nicht erklären.“

„Haben Sie ihn nicht gefragt?“

„Ein einziges Mal, aber ich habe es nicht wieder getan. Er wurde toll; er schäumte fast vor Wut. Er warf mich hinaus wie Pudding, und ich durfte mich lange Zeit nicht wieder sehen lassen. Jetzt aber sind wir ausgesöhnt; er scheint es vollständig vergessen zu haben. Außer dieser Marotte hat er noch zwei. Er zeichnet nämlich Köpfe.“

„Das nennen Sie eine Marotte?“

„Ja, wie er es tut, ist es eine, vielleicht gar eine Manomanie. Er ist nämlich kein Zeichner; er hat nicht das mindeste Geschick, den Stift oder die Kreide zu führen, und dennoch zeichnet er ohne Unterlaß.“

„Zu welchem Zweck denn?“

„Das will er jedenfalls nicht wissen lassen; aber er hat es mir einmal doch selbst verraten. Während er nämlich zeichnet, spricht er mit sich selbst. Einst war ich bei ihm, um in den alten Büchern herumzustöbern. Er zeichnete und schien dabei vergessen zu haben, daß ich anwesend war. Ich belauschte sein Selbstgespräch. Er hat einen Sohn, der ihm abhanden gekommen ist, oder der ihn verlassen hat. Nun will er einen Aufruf erlassen, um ihn wiederzufinden, und diesem Aufruf soll das Porträt des Verschollenen beigefügt werden.“

„Er selbst will dieses Porträt fertig bringen?“

„Ja. Er zeichnet einen Kopf nach dem anderen, bis er einen fertig bringt, der dem Sohn ähnlich ist.“

„Diese Mühe wird vergeblich sein, wenn er nicht selbst ein Künstler ist.“

„Natürlich! Ich halte es für Manomanie, für Verrücktheit. Und die dritte Marotte, welche er hat, ist ebenso eigentümlich. Er sucht nämlich ohne Unterlaß in seinen Büchern nach einer Schrift, welche er in einem Buch aufbewahrt haben will. Ich habe tagelang mit ihm in den alten Büchern herumgeblättert, aber nichts gefunden.“

„Was für eine Schrift ist es?“

„Er nennt es ein Dokument du divorce, also ein Ehescheidungsdokument.“

„Was? Sie sprechen französisch?“

„Sogar ziemlich gut, wie ich Ihnen bald beweisen könnte. Aber da stehe ich und faulenze, während der Alte die Bilder bereits am Mittage wieder haben will. Sie erlauben, daß ich weiter wasche, während wir uns unterhalten.“

Er setzte sich wieder auf die Diele nieder, spreizte die Beine auseinander und begann von neuem, mit dem Schwamm zu hantieren.

„Hier, dieser Kragenkolibri ist verteufelt schmutzig geworden“, sagte er. „Ich reibe beinahe die Farbe ab, und – ah, was ist das? Die Leinwand ist ja doppelt! Und dazwischen scheint etwas zu stecken.“

Er untersuchte das Bild und sagte dann:

„Es ist wirklich so. Doppelte Leinwand. Sollte –? Hm! Ich werde diesen schmutzigen Kragenkolibri einmal aus dem Rahmen nehmen.“

Er bog die an der hinteren Seite des Bildes angebrachten Stifte zurück und nahm das Bild aus dem Rahmen. Beide, er sowohl wie auch Haller, stießen einen Ruf der Überraschung aus. Der Rahmen enthielt zwei Bilder. Unter dem Kolibri steckte ein zweites Gemälde, und zwischen beiden hatten sich einige Papiere eingefunden. Der Dicke warf den Kolibri beiseite und hielt das andere Bild gegen das Licht.

„Ein Porträt“, sagte er. „Das Porträt einer Dame, jedenfalls einer jungen Frau.“

Haller war hinzugetreten und betrachtete den feinen Kopf mit den wunderlieblichen Gesichtszügen.

„Ein Meisterstück“, bemerkte er.

„Ja, ein Meisterstück des Malers, aber auch ein Meisterstück der Schöpfung. Das Original muß geradezu bezaubernd gewesen sein. Nicht?“

„Gewiß! Aber geradezu auffallend ist diese Ähnlichkeit.“

„Eine Ähnlichkeit? Mit wem?“

„Mit der – ja, richtig; es ist kein Irrtum möglich. Mit der Gesellschafterin, die ich kenne.“

„Von der Sie geträumt haben?“

„Ja, Fräulein Madelon.“

„So! Hm! Madelon heißt sie also? Sie Glücklicher! Sie wissen den Namen. Von meiner Gouvernante weiß ich kein Sterbenswörtchen. Aber ich muß erfahren, wer sie ist, und sollte ich Stralsund vom Himmel herunterreißen wie einen Pudding vom Präsentierteller.“

„Und was sind das hier für Papiere, welche zwischen den Bildern gesteckt haben?“

„Wollen sehen.“

Er schlug die zusammengefalteten Blätter auseinander und begann den Inhalt zu mustern.

„Französisch!“ sagte er. „Zwei Briefe und ein Dokument.“

„Wirklich? Sollte es vielleicht gar das viel gesuchte Dokument du divorce sein?“

Schneffke las es durch und sagte dann:

„Wirklich! In diesen Zeilen willigt eine Baronin Amély de Bas-Montagne in aller Form in die Scheidung von ihrem Mann. Es ist das Gesuchte.“

„Und die Briefe?“

„Ich werde sie einmal vorlesen.“

Er las die in französischer Sprache abgefaßten Zeilen laut vor. Deutsch würden sie gelautet haben:

„Mein bester, mein teuerster Gaston!

Wenn Du von der Reise zurückkehrst, findest Du wohl diesen Brief, nicht aber Deine Amély, Deinen süßen Kolibri, vor. Mein Herz bricht, indem ich dieses schreibe; aber ich kann, ich darf nicht anders. Du hast mich geliebt, und ich fand den Himmel in Deinen Armen. Deine Liebe zu mir hat Dich von dem Vater getrennt, welcher unserer Verbindung fluchte. Du hast mir alles, alles geopfert, mir, dem armen, fremden, bürgerlichen Mädchen. Jetzt ist die Leidenschaft verschwunden, und Du beginnst zu denken und zu rechnen. Ich beobachte Dich im stillen und sehe, daß ich Dir nicht mehr alles bin.

Gott ist mein Zeuge, daß mein Leben nur Dir allein gehört! Indem ich von Dir scheide, gebe ich mir den Tod, denn ich kann ohne Dich nicht sein. Aber ich gebe Dich frei; ich gebe Dich Deinem Stand, Deinem Beruf, Deiner Ehre und Deinem Vater zurück. Ich lege meine, von dem Notar kontrasignierte Einwilligung zur Scheidung bei.

Meine Hand zittert, mein Herz erbebt und meine Augen stehen voller Tränen. Ich nehme nichts, gar nichts mit, als meine Kinder, meine süße Nanon und meine herzige Madelon. Du hast sie mir geschenkt, und sie sind mein Eigentum. Forsche nicht nach uns, denn Du würdest uns doch nicht finden.

Dein Kolibri entweicht. Sein Gefieder wird den Glanz verlieren und sein Flug wird sich bald zum Grab senken. Aber noch im Sterben werde ich dem heißen Wunsch meinen letzten Atem widmen: Sei glücklich, glücklich, glücklich.

Dein Weib, Deine Amély, Dein armer, unschuldiger Kolibri.“

Es war gar nicht zu beschreiben, welchen Eindruck dieser Brief auf Haller machte. Seine Augen waren weit geöffnet, als wollte er den Vorleser mit ihren Blicken verschlingen.

„Das steht da, wirklich da?“ fragte er.

„Natürlich!“

„Die Schreiberin heißt wirklich Amély?“

„Hm! Warum sollte sie einen anderen Namen nennen? Ich kann natürlich nicht garantieren, ob sie ein Pseudonym gewählt hat oder nicht.“

„Und der, an den sie schreibt, also ihr Mann, heißt Gaston?“

„Ja. So wenigstens steht es hier.“

„Zeigen Sie her! Ich muß völlige Gewißheit haben!“

Er riß dem Dicken den Brief aus der Hand, um ihn selbst zu lesen. Als er zu Ende war, rief er:

„Seltsam, seltsam! Ja geradezu wunderbar!“

„Was denn?“ fragte Schneffke, indem er verwundert zu ihm aufblickte.

„Diese Namen! Der Kosename Kolibri!“

„Ich will doch nicht befürchten, daß auch Sie in diese verteufelte Kolibrimanie verfallen!“

„Nein. Ganz gewiß nicht.“

„Na, es will mir aber ganz so vorkommen. Was haben denn gerade Sie mit diesem Gaston, dieser Amély und dem Kosenamen, wie Sie es nennen, zu tun?“

„Das werde ich Ihnen schon noch mitteilen. Jetzt aber bitte ich, auch den zweiten Brief zu lesen.“

„Hm! Jetzt eben fällt mir ein: Sind wir nicht im Begriff, eine ganz unverzeihliche Indiskretion zu begehen?“

„Ach was, Indiskretion! Wo es sich um so viel handelt, gibt es keine Rücksicht!“

„So? Und um was handelt es sich denn?“

„Um – nun, um etwas, wofür sich meine Gesellschafterin im höchsten Grad interessieren wird.“

„Träumen Sie etwa fort? Ihre Gesellschafterin mag sich für Sie interessieren! Alles andere ist überflüssig. Ich habe zwar vorhin Tinte gesoffen, aber von einem Kolibri lasse ich mich trotzdem nicht aus der Fassung bringen.“

„Ich habe meine Fassung vollständig; aber Sie werden sie mir rauben, wenn Sie sich noch länger weigern, auch den anderen Brief zu lesen!“

Der Dicke warf einen besorgten Blick auf den Kollegen, schüttelte den Kopf und sagte dann:

„Eigentlich sollte ich es wohl nicht tun, aber wir sind ja Kameraden und Leidensgefährten. Wir haben in Tharandts ‚Heiligen Hallen‘ zusammen die berühmte Rutschpartie unternommen, so wollen wir auch hier Hand in Hand gehen. Also hören Sie!“

Er las folgende Zeilen vor:

„Dem Herrn Baron de Bas-Montagne.

Herr Baron.

Ihr Unterhändler ist bei mir gewesen. Sie sind ein harter, ein grausamer Mann. Ihre Forderungen zerreißen mit das Leben. Aber ich bin ein Weib; ich habe ein Herz; ich habe zwei Kinder. Ich fühle, was es heißen mag, ein Kind verlieren, einen Sohn aufgeben zu müssen. Es war nie meine Absicht, Ihnen Gastons Herz zu rauben; Sie haben es von sich gestoßen. Aber Sie haben ein älteres, vielleicht auch ein heiligeres Recht an Ihren Sohn, ich trete zurück. Ich willige in die Scheidung unserer Ehe, obgleich ich weiß, daß ich damit mein Todesurteil unterzeichne.

Gott allein mag Richter sein, zwischen Ihnen und Amély de Bas-Montagne, geb. Renard.“

Auch diesen Brief nahm Haller dem Leser aus der Hand, um die Zeilen mit eigenen Augen zu überfliegen.

„Es ist so; es ist richtig; ich kann mich kaum irren!“ sagte er dann, indem er eifrig vor sich hin nickte.

„Was ist denn richtig?“ fragte der Dicke. „Ihr Kopf etwa? Daran zweifle ich gegenwärtig sehr.“

„Ich kann Ihnen nicht alles sagen; ich weiß nicht, ob ich überhaupt zu Ihnen, oder einem anderen davon sprechen darf. Aber eine Andeutung will ich Ihnen geben. Nämlich die Gesellschafterin, von der ich sprach –“

„Nein, von der Sie träumten!“ fiel Hieronymus ein.

„Meinetwegen! Dieses Mädchen nämlich ist eins von den beiden Kindern, von denen hier die Rede ist.“

„Sapperment! Ist es die süße Nanon, oder die herzige Madelon, verehrtester Herr Kollege?“

„Die Madelon.“

„Also nicht süß, sondern herzig! Himmelsapperment, und von meiner Gouvernante weiß ich nicht einmal, ob sie sauer oder bitter ist! Na, vielleicht erfahre ich es noch! Aber wie kommt denn diese herzige Gesellschafterin hier in den Rahmen?“

„Vielleicht erkläre ich Ihnen das einmal. Jetzt habe ich keine Zeit. Jetzt sind nämlich die Augenblicke gezählt. Madelon wird in einigen Stunden, vielleicht gar bereits in einigen Minuten verreisen!“

„Wohin denn?“

„Nach Frankreich.“

„Futsch also; die herzige Madelon geht futsch! Kommt sie denn nicht wieder?“

„Auf alle Fälle.“

„Nun, so ist sie ja gar nicht verloren, und wir haben also Zeit. Weiß Gott, diese Madelon hat es Ihnen gewaltig angetan. Sie sind verliebt bis hinter die Ohren! Sie stecken in der Liebe, wie die Fliege im Quark! Arbeiten Sie sich wieder heraus, Kollege! Die Liebe bringt den stärksten Menschen um, und Sie sind noch nicht einmal der stärkste!“

„Larifari! Fällt Ihnen denn bei der Überschrift des letzten Briefes gar nichts auf?“

„An der Interpunktion oder der Orthographie?“

„Unsinn! Lassen Sie Ihre unzeitigen Witze! Wie heißt Ihr Sonderling, dem diese Bilder gehören?“

„Herr Untersberg.“

„Und wie heißt der Baron, an den dieser Brief gerichtet ist?“

„Monsieur de Bas-Montagne.“

„Übersetzen Sie den Namen in das Deutsche.“

„Hm! Niederberg oder Unter – alle Teufel, Untersberg. Das ist ja höchst auffällig! Das stimmt ja ganz und gar! Fast möchte man annehmen, daß dieser Untersberg mit diesem französischen Baron identisch sei!“

„Natürlich nehme ich das an!“

„So wäre er ja der Schwiegervater des Kolibri?“

„Ja.“

„Und der Großvater Ihrer Gesellschafterin?“

„Auch das meine ich!“

„Donnerwetter! Und von meiner Gouvernante, kenne ich weder den Groß-, noch den Schwiegervater! Das nenne ich Pech! Aber ich werde mir Klarheit verschaffen! Ich laufe so lange in der Welt umher, bis ich auf die Gouvernante stoße, und da soll sie mir beichten, das Dienstbuch, den Meldeschein, das Geburts- und das Taufzeugnis; sogar den Impfschein! Hieronymus Aurelius Schneffke läßt sich die Maus, wenn sie nochmals in die Falle geraten sollte, sicherlich nicht wieder entgehen!“

„Lieber riskieren Sie abermals eine Rutschpartie, oder einen Salto mortale vom Pferd herab; nicht wahr?“

„Ja. Alles riskiere ich; aber heiraten will ich sie. Das ist so gewiß und fest wie Pudding!“

„Schön! Meinen Segen und meine Hilfe sollen Sie dabei haben; nun aber hoffe ich, daß ich jetzt auch auf Ihre Unterstützung rechnen darf!“

„Herzlich gern! Einen Kollegen, der sich in Not befindet, unterstütze ich gern! Wieviel wollen Sie gepumpt haben?“

Er griff in die Tasche und zog den Beutel hervor.

„Lassen Sie die schlechten Witze. Ich bin sehr ernsthaft gestimmt. Beantworten Sie mir lieber meine Fragen!“

Hieronymus steckte den Beutel wieder ein und sagte:

„Schön! Das ist ganz nach meinem Geschmack. Antworten gebe ich immer noch lieber als Geld. Also fragen Sie.“

„Hat Ihr Bekannter, der sich also Untersberg nennt, das Äußere und das Benehmen eines Aristokraten?“

„Er hat das Benehmen eines Barons, der alle zwei Jahre drei lichte Augenblicke hat, oder das Betragen eines Verrückten, der alle zwei Jahre dreimal Baron ist.“

„Besitzt er Vermögen?“

„Wahrscheinlich ist er wohlhabender als ich.“

„Spricht er besser französisch als deutsch?“

„Er brummt beides gleich gut.“

„Wie alt ist er?“

„Einige sechzig Jahre, wie ich ihn schätze.“

„Ich muß ihn sehen; ich muß mit ihm sprechen! Können Sie mich ihm vorstellen?“

„Ja; aber er wird Sie hinauswerfen!“

„Das sollte ihm schwer werden!“

„Pah! Er hat einen Hund, eine riesige Dogge, mit der Sie es gewiß nicht aufnehmen.“

„Er wird doch nicht den Hund auf mich hetzen!“

„Er wird dies ganz sicher tun, falls Sie sich nicht sofort entfernen, wenn er Sie nicht bei sich sehen will.“

„Es muß dennoch versucht werden.“

„Meinetwegen! Ich werde mit ihm sprechen und Sie dann benachrichtigen, wann Sie mitkommen dürfen.“

„Meinen Sie? Wirklich? Ihn erst sprechen? Mich dann benachrichtigen? Denken Sie denn, daß ich soviel Zeit übrig habe? Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß die Gesellschafterin in kürzester Zeit abreisen wird? Bis dahin muß ich mit dem Verrückten gesprochen haben!“

„Wo denken Sie hin! Das ist unmöglich!“

„Es ist möglich. Sie stellen mich als Maler vor!“

„Ich habe jetzt nichts bei ihm zu suchen!“

„Sie haben ja seine Gemälde hier.“

„Die müssen erst gereinigt werden.“

„Gut, ich helfe Ihnen, sie zu reinigen! Vorwärts!“

Er griff zu dem Schwamm und machte sich sehr eifrig über die Bilder her; aber die Sache war ganz und gar nicht nach dem Geschmack des Dicken. Dieser kratzte sich sehr nachdenklich hinter den Ohren und sagte:

„Bei dieser Geschichte werde ich abermals sein Wohlwollen verlieren. Ich werde ihm nie wieder die Bude betreten dürfen.“

„Das tut nichts. Ich entschädige Sie!“

„Sapperment! Ist Ihre Kasse denn gar so voll und groß?“

„Für Sie reicht es zu. Kommen Sie! Arbeiten wir!“

„Na, denn meinetwegen. So will ich in des Himmels Namen mit beiden Beinen ins Verderben springen. Trage ich meine Haut zu Markte, so wird's Ihnen nicht besser ergehen.“

Die beiden wischten und polierten, putzten und pinselten jetzt an den Bildern herum, als ob jede Minute eine Million wert sei. In kurzer Zeit waren sie fertig.

„Also vorwärts jetzt!“ sagte Haller. „Ist's weit?“

„Ein Stück die Straße hin, in Nummer sechzehn, Hinterhaus vier Treppen.“

„Geben Sie das Frauenporträt und die Briefe her.“

Er wollte bereits zulangen, aber der Dicke klopfte ihm auf die Hand und sagte:

„Oho! Langsam. Diese Gegenstände gehören zunächst mir. Der Alte ist nicht immer zurechnungsfähig. Man darf nicht zu jeder Zeit und über alles mit ihm sprechen. Ich muß erst sehen, ob er in der Stimmung ist, meine Mitteilung ohne Schaden entgegenzunehmen!“

„Er wird aber doch das Porträt und die Briefe sehen!“

„Nein. Ich werde das Doppelbild geradeso wieder herstellen, wie es vorher war.“

„Das ist unnötig, da ich mit ihm gerade über das Bild zu sprechen habe!“

„Das werden Sie bleiben lassen, Verehrtester. Ein geistig Kranker muß mit größter Vorsicht behandelt werden. Ich sehne mich nicht nach einer Wiederholung dessen, was ich damals erlebte, als ich zudringlich war. Ich will Ihnen zwar den Willen tun, und Sie zu ihm führen; das weitere aber haben Sie mir zu überlassen.“

„Aber meine Zeit ist sehr kostbar“, erwiderte Haller.

„Unsinn. Die Gesellschafterin kommt ja wieder zurück. Dann können Sie ihr auch noch mitteilen, was Sie ihr zu sagen haben. So! Das Bild ist fertig. Kommen Sie! Ah, wo ist mein Hut?“

Er sah sich in der Stube um, ohne die gesuchte Kopfbedeckung zu erblicken. Haller kam ihm zu Hilfe, indem er fragte:

„Steht nicht dort in der Ecke der Spucknapf drauf?“

„Wetter noch einmal! Das ist ja wahr. Jetzt besinne ich mich, daß ich gestern abend den Spucknapf auf den Hut gestellt habe, damit ihn der Luftzug nicht etwa fortführen soll, wenn zufällig Tür und Fenster zugleich geöffnet werden sollten. Praktisch muß der Mensch stets sein; das ist so wahr wie Pudding.“

Er zog den Hut unter dem Napf hervor, stülpte ihn auf den Kopf und belud sich dann mit den Bildern.

„Also gehen wir nun“, sagte er. „Gern tue ich es aber nicht. Es liegt mir in allen Gliedern, daß dieser Gang mir nicht ganz Angenehmes bringen wird.“

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