DRITTES KAPITEL Verarmt

Der Handel wurde abgeschlossen und unter Hinzuziehung gültiger Zeugen mit gerichtlicher Hilfe rechtskräftig gemacht. Dann zahlte Smirnoff die vollständige Kaufsumme vor allen Anwesenden in barem Geld auf. Der geringste Teil bestand in wohlgezählten Geldrollen, das andere aber in Kassenscheinen. Das Geld wurde geprüft und für richtig erklärt.

Diese hohe Summe hatte sich in dem Köfferchen befunden, welchen Rallion bei sich geführt hatte. Auf die Frage nach der Rückgabe desselben hatte Smirnoff aus Höflichkeit erklärt, da er nun nicht mehr im Besitz des Geldes sei, so habe auch der Koffer keinen Wert mehr für ihn, und ihn dem Verkäufer geschenkt. Er ahnte gar nicht, wie schwer dieser Umstand in die Waagschale fallen werde.

Hugo von Königsau hatte den Koffer eigenhändig in sein Zimmer getragen und dort eingeschlossen. Ganz wie zufällig war ihm dabei auf dem Korridore Henry begegnet und dann nach den beiden Zimmern gegangen, welche ihm zur Wohnung angewiesen worden waren.

Dort öffnete er den großen Reisekoffer, welchen er mitgebracht hatte, räumte einige Wäschesachen zur Seite und zog zwei Gegenstände hervor. Der eine derselben war ein Köfferchen von ganz genau derselben Arbeit und Größe wie dasjenige, welches die Kaufsumme enthielt.

„Steine darin!“ murmelte der Franzose. „Was für Augen wird der Alte machen, wenn er sie anstatt des Geldes findet.“

Dann nahm er den anderen Gegenstand in die Hand. Es war ein Bund mit zahlreichen Nachschlüsseln.

„Ein Dietrich ist doch eine hübsche Erfindung“, flüsterte er leise vor sich hin. „Dieser Schlüssel öffnet die Zimmertür und dieser andere hier den Schrank, in welchen der Alte dem Vermuten nach den Koffer eingeschlossen hat. Jetzt gilt es, zur raschen Tat zu schreiten.“

Er steckte die beiden Schlüssel ein; da hörte er, daß Sand gegen sein Fenster geworfen wurde. Er lauschte. Abermals Sand. Schnell versteckte er den kleinen Koffer wieder in dem großen und verschloß den letzteren. Dann trat er an das Fenster und öffnete es.

„Pst“, hörte er es unten erklingen.

„Wer ist da?“ fragte er so leise wie möglich.

„Sind Sie Herr de Lormelle?“

„Ja.“

„Können Sie einmal herunterkommen?“

„Wozu?“

„Das kann ich nicht so da hinaufrufen. Kommen Sie sogleich nach der großen Kastanie im Garten!“

„Wer sind Sie?“

„Das erfahren Sie nachher!“

„Ist es so sehr notwendig?“

„Ja.“

„Gut, ich komme.“

Er verließ das Zimmer, verschloß es und ging nach dem Garten.

Da der bei einem Kauf gebräuchliche Schmaus gegeben wurde, so hatten sich die Bewohner des Schlosses mit den Gästen im Speisesaal versammelt, und die Diener waren so beschäftigt, daß Henry gar nicht beachtet wurde. Er gelangte ganz gut in den Garten und an die erwähnte Kastanie, unter welcher ihm eine lange, dunkle Gestalt entgegentrat.

„Henry?“ flüsterte dieselbe fragend.

„Ja“, antwortete er. „Wer sind Sie?“

„Ah, die Verkleidung scheint sehr gut zu sein, da du mich nicht erkennst.“

Diese Worte waren mit der natürlichen Stimme gesprochen worden. Der Diener trat bestürzt zurück.

„Wie? Höre ich recht?“

„Jedenfalls!“

„Sie sind es, Herr Kapitän.“

„Ja, ich.“

„Aber was wollen Sie hier? Wenn man Sie erwischt und festhält, so ist alles verraten.“

„Wieso? Erstens wird man mich nicht erwischen, festhalten aber gar nicht. Und selbst, wenn dies geschähe, so wäre doch noch nicht das mindeste verraten. Ich vermute, daß das Geld soeben erst in den Besitz Königsaus gelangt ist?“

„Vor einer Viertelstunde.“

„Du hast es also noch nicht?“

„Nein.“

„Nun, was sollte denn da verraten sein, wenn man mich erwischte! Übrigens hat meine Anwesenheit einen wohlüberlegten Zweck. Ich komme nämlich um deines eigenen Vorteils willen und bin froh, dich getroffen zu haben.“

„Darf ich fragen, inwiefern und weshalb?“

„Natürlich. Es war verabredet, daß du dich mit dem Geld entfernen solltest.“

„Das werde ich auch.“

„Nein; das geht nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil man sofort wissen würde, wer der Täter ist.“

„Das mag man immerhin wissen, wenn wir nur das Geld haben.“

„Nein. So unvorsichtig wollen wir denn doch nicht sein! Man würde dir sofort nachforschen und könnte leicht auf deine Spur kommen. Dann bist du verraten und verloren, und wir sind es mit dir. Nein, du mußt bleiben.“

„Da wird man auch bei mir suchen und das Geld finden. Das ist doch dumm und noch viel schlimmer als das andere.“

„Sei nicht blödsinnig! Das Geld bleibt nicht bei dir liegen, sondern du bringst er mir hierher, und ich schaffe es sofort in Sicherheit.“

„Ah, nicht übel.“

Wäre es Tag gewesen, so hätte der Kapitän über das Gesicht, welches Henry dabei machte, erschrecken können. So aber meinte er:

„Nicht wahr, nicht übel?“

„Ja, allerdings.“

„Man wird den Verlust bemerken und alles durchsuchen, aber nichts finden. Der Diebstahl wird in das tiefste Dunkel gehüllt bleiben, und du reist dann ruhig ab.“

„Das wird mir nicht gut möglich sein.“

„Wieso?“

„Man wird, da ich fremd bin, nach meinen Verhältnissen forschen und entdecken, daß ich gar nicht der Herr de Lormelle bin. Dann bin ich verloren.“

„Wie könnte man das entdecken? Die Papiere, welche dir Graf Rallion gegeben hat, sind gut.“

„Ja, aber wie nun, wenn man an Gebhard von Königsau telegraphiert, ob es wahr ist, daß wir uns in Algier getroffen haben und daß ich sein Freund bin?“

„Das wird man nicht.“

„Man wird es, gerade so wie man an ihn telegraphiert hat, ob er dem Verkauf der Güter seine Beistimmung erteilt.“

„Du besitzt als sein Freund das Vertrauen der Seinigen.“

„Aber nicht das Vertrauen der Polizei, welche jeden Schloßbewohner scharf in das Auge nehmen wird, mich also auch.“

„Ich werde dich benachrichtigen, sobald man telegraphiert.“

Diese beiden Männer durchschauten sich; ein jeder von ihnen wollte den anderen betrügen. Henry war heute der Klügere. Er beschloß, den Kapitän sicher zu machen.

„Werden Sie das erfahren?“ fragte er.

„Ja. Ich werde genau beobachten.“

„Nun, wenn das ist, so denke ich allerdings, daß Ihre Ansicht die richtige ist. Ich lade keinen Verdacht auf mich, brauche nicht zu fliehen und kann jederzeit in mein Vaterland zurück.“

„Gut, daß du das einsiehst. Das sind Vorteile, welche man nicht genug berücksichtigen kann.“

„Wo aber treffe ich Sie dann später?“

„Es ist gar nicht nötig, dir einen Ort dazu anzugeben.“

„Ah! Wieso?“

„Graf Rallion kauft diesem Smirnoff alles ab und tritt sodann als Besitzer auf. Du brauchst also gar nicht nach ihm und mir zu suchen. Verstanden?“

„Das ist nun allerdings zu verstehen.“

„Gut also. Wann bringst du das Geld herunter?“

„Das kann ich jetzt unmöglich wissen. Ich muß den geeigneten Augenblick abwarten.“

„Wo ist der Koffer?“

„Im Zimmer des Alten.“

„Die Nachschlüssel hast du jedenfalls probiert?“

„Ja, sie passen. Aber sehen Sie da oben die beiden erleuchteten Eckfenster?“

„Ich sehe sie. Was ist mit ihnen?“

„Das ist das Zimmer des Alten. Die Kinder sind mit der Gouvernante darin, und ich muß warten, bis sie fort sind.“

Das war eine Lüge. Das Zimmer Hugos lag auf der anderen Seite der Vorderfront.

„Das ist unangenehm“, meinte der Kapitän. „Ich werde wohl lange warten müssen.“

„Hoffentlich nicht so sehr lange. Übrigens wenn es sich um eine solche Summe handelt, so ist es nicht zu viel verlangt, sich ein wenig in Geduld zu fassen.“

„Predige keine Moral, Spitzbube, sondern gehe jetzt. Ich lege mich hier in das Gras und bin bei deiner Geschicklichkeit überzeugt, daß alles gelingen wird. Gib dir Mühe.“

„Das versteht sich von selbst.“

Henry ging. Der Kapitän streckte sich auf den Boden nieder und vertrieb sich die Langeweile, welche allerdings nicht ohne Spannung war, damit, daß er an seinem Schnurrbart herumkaute.

„Ein dummer Kerl, dieser Henry!“ dachte er. „Er ahnt gar nicht, daß er von dem Geld nicht einen Heller erhalten wird. Er muß froh sein, unerwischt davonzukommen. Habe ich erst den Koffer, so hat er auch etwas, nämlich das Nachsehen. Und diese guten Königsaus sind dann ruiniert fürs ganze Leben. Da oben befindet sich meine liebe, gute Schwester Margot, die letzte Liebe Napoleons. Wenn sie wüßte, daß ich hier unten liege und auf ihr Geld lauere! Ihre Verwandten wissen nichts davon, aber ich habe doch erfahren, daß ihr Arzt von einem Leiden gesprochen hat, welches innerlich an ihr zehrt. Kommt der Schreck über den Verlust des ganzen Vermögens hinzu, so ist es leicht möglich, daß sie den Tod davon trägt. Darüber wollte ich mich freuen! Das wäre eine Rache, wie ich sie mir besser und leichter gar nicht wünschen könnte. Ich würde sogar noch fürstlich dafür bezahlt sein!“

Und Henry, welcher betrogen werden sollte, schlich sich vorsichtig nach dem Schloß zurück und lachte:

„Der alte Schlaukopf will mich betrügen; aber das soll ihm nicht gelingen. Wie würde er lachen, wenn er das Geld hätte und mir nichts davon zu geben brauchte. Ich könnte kein Wort dagegen sagen, denn ich bin der Dieb, der Einbrecher, und würde nur mich selbst in Strafe bringen. Dieser alte Kapitän weiß gut zu rechnen; aber dieses Mal soll er sich doch getäuscht haben.“

Er gelangte in sein Zimmer zurück und zog ein Fläschchen hervor, um die beiden Nachschlüssel einzuölen. Dabei schritt er nachdenklich in der Stube auf und ab. Plötzlich flog ein lustiges Lächeln über sein Gesicht.

„Donnerwetter“, murmelte er; „da kommt mir ein famoser Gedanke! Ja, der wird ausgeführt! Alle Teufel! Ich möchte das Gesicht des Alten sehen, wenn er den Koffer öffnet und den Zettel zu sehen bekommt!“

Er setzte sich an den Tisch, nahm ein Stück Papier und schrieb mit Tinte in großer Schrift darauf:

„Seinem lieben Freund und Kollegen Richemonte zum Andenken an den lieben Schatz, nach welchem ihm umsonst der Mund gewässert hat.

Henry de Lormelle.“

Nachdem die Schrift getrocknet war, legte er das Blatt zusammen und steckte es zu sich. Dann begab er sich nach dem Speisesaal, wo man ihn nicht vermißt zu haben schien. Hier blieb er eine ganze Weile, bis er die Überzeugung hegen durfte, daß jetzt niemand den Saal verlassen werde. Dann kehrte er in sein Zimmer zurück und nahm eine sehr lange und feste Schnur und das Köfferchen. Dann steckte er alles zu sich, was beim Auffinden ihm hätte schädlich werden können, und verließ das Zimmer. Er schloß die Tür zu und steckte den Schlüssel ein.

Auf dieser Seite des Korridors war alles still und ruhig. Der Speisesaal lag auf der anderen Seite des Hauses.

Rasch und unhörbar huschte er bis an die Tür, welche in das Zimmer Königsaus führte. Ein leises Klirren, und sie war geöffnet. Er trat ein und riegelte hinter sich zu. Er war auf diese Weise sicher, daß er nicht erwischt werden könne. Selbst wenn jemand kam, konnte er die Flucht durch das offene Fenster ergreifen.

Es brannte kein Licht in dem Raum. Ein Streichholz flackerte in seinen Fingern auf. Beim Schein desselben bemerkte er, daß der gesuchte Koffer nicht zu sehen war und also eingeschlossen sein mußte. Er zog den zweiten Schlüssel hervor und öffnete mit demselben den bewußten Schrank. Richtig, er fühlte den gesuchten Gegenstand mit der Hand und nahm ihn heraus. Er stellte dafür den mitgebrachten kleinen Koffer hinein, welcher von derselben Schwere war. Dann verschloß er den Schrank wieder.

Nun entrollte er die mitgebrachte Leine, band den gestohlenen Koffer daran und ließ ihn zum Fenster hinab. Er hatte sich am Tag genau orientiert und wußte, daß derselbe auf diese Weise hinter ein kleines Nachtschattengesträuch zu liegen komme. Es war so finster, daß selbst jemand, der sich nicht in ganz unmittelbarer Nähe befand, nichts bemerkt hätte.

Jetzt zog er den Türriegel wieder zurück. Ein Blick durch die nur einen Spalt breite Türöffnung belehrte ihn, daß niemand zugegen sei, und so trat er heraus auf den Korridor, schloß zu, steckte den Schlüssel ein und begab sich hinab vor das Fenster.

Der Raub war gelungen. Der Schlüssel steckte im Köfferchen. Er trug denselben nach dem hintersten Teil des Gartens, öffnete ihn, nahm den Inhalt heraus und versteckte ihn sorgfältig in die Ecke der Mauer. Dort lagen mehrere Steine, welche von schadhaften Stellen derselben gefallen waren. Mit diesen und mit herumliegendem Laub füllte er den Koffer, tat den Zettel dazu, welchen er geschrieben hatte, und verschloß ihn dann.

Erst nun trug er ihn nach dem entgegengesetzten Teil des Gartens, wo unter der Kastanie der Kapitän auf ihn wartete. Dieser hörte ihn kommen und zog sich hinter den Stamm des Baums zurück. Der Nahende konnte ja auch ein anderer sein.

„Pst!“ machte Henry.

Der Alte regte sich nicht.

„Pst, Herr Kapitän!“

„Wer ist da?“ fragte dieser leise.

„Ich, Henry!“

„Ah“, atmete Richemonte erleichtert auf. „Nun? Gelungen?“

„Ja.“

„Wo ist das Geld?“

„Hier habe ich es!“

„Zeig her.“

Henry gab ihm den Koffer in die Hände. Als der Kapitän denselben fühlte, mußte er sich Mühe geben, nicht laut aufzujubeln.

„Donner!“ meinte er. „Also wirklich gelungen!“

„Wirklich und vollständig.“

„Hat niemand etwas bemerkt?“

„Kein Mensch. Aber, Herr Kapitän, ich werde das Versprochene doch auch wirklich erhalten?“

„Natürlich! Oder traust du mir etwa nicht?“

„Warum sollte ich Ihnen nicht trauen? Es war nur so ein Gedanke, welcher mir plötzlich kam. Aber ich wünschte doch, ich könnte, da Sie so viel in den Händen haben, wenigstens einen kleinen Abschlag auch in meine Hand bekommen. Mein Geld ist fast alle; wer weiß, was passiert, und es wird immerhin einige Zeit vergehen, ehe ich zu Graf Rallion kommen kann.“

Der Kapitän fühlte ausnahmsweise auch einmal ein leichtes menschliches Rühren. Er wähnte sich im Besitz des Reichtums; es war, als sei eine Art von Rausch über ihn gekommen, und im Eindruck desselben griff er in die Tasche, zog seine Börse hervor, gab sie Henry und sagte:

„Da! Es sind einige Goldstücke drin; ich habe nicht mehr bei mir. Du wirst später desto zufriedener sein. Jetzt aber will ich mich schleunigst aus dem Staub machen. Ich habe sehr weit zu gehen und schwer zu tragen. Gute Nacht, lieber Henry.“

„Gute Nacht, lieber Herr Kapitän.“

Richemonte verschwand im Dunkel der Nacht. Jenseits des Gartens angekommen, blieb er aufatmend stehen.

„Ich bin doch besser, als ich dachte“, brummte er. „Gegen fünfzig Taler werde ich ihm gegeben haben. ‚Lieber Herr Kapitän‘ sagte er. Was er wohl später sagen wird, wenn er merkt, daß er nichts weiter bekommt? Am liebsten möchte ich alles für mich behalten. Aber das geht nicht. Der Einfluß Rallions ist groß; ich kann durch ihn weit mehr Vorteile ziehen, als die Hälfte dieses Diebstahls beträgt. Gute Nacht, Königsau! Gute Nacht, Madame Margot. Ihr werdet an diesen Abend lebenslang denken.“

Und Henry murmelte, zum Schloß zurückkehrend, bei sich:

„Dummkopf! Gibt mir auch noch eine Handvoll Goldstücke obendrein. Wie ihn das wurmen wird, wenn er die Christbescherung erkennt! Es ist dem alten Spitzbuben recht! Nun aber muß ich machen, daß ich in Sicherheit komme.“

Er kehrte in das Innere des Schlosses zurück und gab einem Diener den Auftrag, sobald nach ihm gefragt werde, zu sagen, daß ihn ein leichtes Unwohlsein befallen habe und er um Entschuldigung bitten lasse. Dann suchte er sein Zimmer auf. Dort warf er seinen Reisemantel und eine lederne Reisetasche, welche er bei seiner Ankunft getragen hatte, durch das Fenster und ließ sich selbst dann an der Leine hinab, welche er, nachdem er den Boden erreicht hatte, hinter sich herzog.

Dann schlich er sich nach der Gartenecke, wo er den Schatz versteckt hatte. Seine Taschen langten zu, alles aufzunehmen, und bald sagte er dem Ort ade, an welchem er so freundlich aufgenommen worden war. –

Das Mahl hatte zu einer so späten Stunde geendet, daß die Teilnehmer es vorgezogen hatten, im Schloß zu übernachten, anstatt noch während der Nacht abzureisen. Aber am frühen Morgen brachen alle auf. Smirnoff und Samuel Cohn waren die ersten, welche anspannen ließen, um nach Drengfurth zu Rallion zu fahren, welcher ganz sicher sehnlichst auf sie wartete. Sie fanden ihn in Reisekleidern, worüber sie sich wunderten.

„Wie?“ fragte der Pole. „Hat dies nicht den Anschein, als ob Sie den Ort verlassen wollten?“

„Das beabsichtige ich allerdings. Ich habe nämlich ein Leiden, welches mich öfters ganz plötzlich überfällt. Gestern in der Dämmerung erlitt ich einen solchen Anfall, daß ich nach einer Wärterin schickte, welche bis zum Morgen bei mir bleiben mußte. Auch der Wirt hat während der Nacht nicht schlafen können. Ich muß schleunigst nach Berlin, um einen besseren Arzt zu sprechen, als ich hier finde.“

Er hatte alles aus Berechnung getan. Die Wärterin und das Hotelpersonal konnten beschwören, daß er sein Zimmer nicht verlassen hatte. Das bezweckte er.

„Und wir?“ fragte Smirnoff.

„Nun, wie ist es gegangen?“

„Nach Wunsch. Ich stelle mich Ihnen als den gerichtlich anerkannten Besitzer Ihres Eigentums vor.“

„Zeigen Sie die Papiere.“

„Hier! Kauf, Quittung, alles vorhanden. Wo es sonst mehrere Wochen bedarf, um mit den Herren vom Amt ins reine zu kommen, sind wir hier schnell fertig geworden. Geld ist eine Macht, und ich wünschte, daß ich mich im Besitz derselben befände.“

„Das wird bald der Fall sein. Wir werden den zweiten Teil unseres Geschäfts in Berlin zum Abschluß bringen; das ist dort ja ebensogut möglich wie hier. Ich halte es überhaupt für besser und klüger, es dort zu tun statt hier. Wir reisen zusammen. Sind wir fertig, erhalten Sie beide Ihr Salär.“

Dieses schnelle Abreisen war auch vorher zwischen ihm und dem Kapitän, welcher schleunigst nachkommen wollte, verabredet. Sie hatten sogar ein Wirtshaus geringeren Ranges als Rendezvous bestimmt, obgleich beide in besseren Hotels absteigen wollten.

Nach diesem Gasthaus begab sich Rallion bereits am zweiten Tag nach seiner Ankunft und erkundigte sich dort nach Richemonte, der hier natürlich einen anderen Namen trug. Er war angekommen. Rallion ließ sich die Nummer des Zimmers nennen und begab sich zu ihm.

„Endlich“, rief der Kapitän. „Mir ist die Zeit bis zu Ihrem Eintreffen unendlich lang geworden.“

„Wieso? Hatten Sie keine Beschäftigung?“

„Ah pah! Was hätte ich tun sollen?“

„Geld zählen!“

„Fällt mir doch ganz und gar nicht ein!“

„Warum nicht?“

„Aus Vorsicht.“

„Ah, so! Ich befürchtete bereits, zu hören, daß Sie kein Geld zählen könnten, weil keins vorhanden sei.“

„Sie glaubten, der Coup sei nicht gelungen?“

„Das war doch immerhin möglich. Also Henry hat seine Schuldigkeit getan?“

„Er hat alles ausgezeichnet gemacht.“

„Gut, aber bekommen wird er nichts. Das soll die Strafe sein für seine früheren Spitzbübereien. Sind Sie mit dem Koffer vorsichtig gewesen?“

„Ja. Ich habe ihn in einen Korb gepackt und diesen als Behälter von Mineralien deklariert.“

„Das ist klug gehandelt. Wo ist er?“

„Hier.“

Er zog den Korb unter dem Bett hervor, zerschnitt die Stricke und öffnete ihn. Er enthielt Steine und das Köfferchen, welches von beiden mit liebevollen Blicken beäugelt wurde.

„Eine Mineralienprobe!“ lachte der Graf. „Köstlicher Gedanke! Jedenfalls wird nach diesem Koffer bereits geforscht. Das Geld nehmen wir, die Mineralien aber füllen wir hinein und senden ihn dann der Polizei. Überhaupt ist der ganze Coup ein wahres Meisterstück Ihrer Spitzfindigkeit, Kapitän. Zwei Rittergüter kaufen und bar bezahlen, das Geld aber sich sofort wieder zurückstehlen, das ist grandios! Aber, öffnen Sie!“

„Der Schlüssel fehlt leider.“

„Warum?“

„Henry hat ihn jedenfalls nicht vorgefunden. Königsau wird ihn zu sich gesteckt haben.“

„So müssen wir uns nach Werkzeugen umsehen.“

„Ich habe bereits Hammer und Meißel besorgt. Ich werde öffnen.“

Das Köfferchen war nicht so außerordentlich stark gebaut, daß es lange Widerstand hätte leisten können. Der Deckel sprang bereits nach einigen Schlägen auf. Die Augen der beiden Männer fielen neugierig auf den Inhalt.

„Was ist das?“ fragte der Graf. „Laub!“

„Und ein Zettel darüber“, fügte der Kapitän hinzu. „Dieser Königsau ist doch ein eigener Kauz, das Geld mit Laub zu bedecken. Diese Deutschen sind überhaupt alle halbverrückte Kerls. Was mag auf dem Zettel stehen?“

„Jedenfalls hat er sich die Nummern der Wertpapiere aufgezeichnet und dieses Verzeichnis mit zum Geld gelegt. Wie unsinnig! Nun ist das Geld mitsamt dem Verzeichnis fort, und es wird ihm unmöglich sein, der Polizei die Nummern anzugeben. Wir brauchen uns mit der Ausgabe dieses Geldes gar nicht zu genieren.“

Der Kapitän hatte den Zettel ergriffen und warf einen Blick darauf. Seine Augen wurden weit, und er ließ ein Schnaufen hören, wie ein Tier, welches in Zorn geraten ist.

„Himmel und Hölle!“ rief er. „Mir scheint allerdings, daß wir uns mit der Ausgabe ganz und gar nicht zu genieren brauchen!“

„Nicht wahr?“

„Ja, und zwar, weil wir es gar nicht ausgeben können!“

„Nicht? Warum? Was haben Sie? Was ist mit Ihnen?“

„Wir können es nicht ausgeben, weil wir es nicht haben.“

Der Graf blickte ihn bestürzt an.

„Wir haben es nicht? Das ist ja der Koffer, in welchem es sich befand“, meinte er.

„Ja.“

„Aber was steht da auf dem Zettel?“

„Da, lesen Sie selbst.“

Der Graf nahm den Zettel und las laut die Worte:

„Seinem lieben Freund und Kollegen Richemonte zum Andenken an den Schatz, nach welchem ihm umsonst der Mund gewässert hat.

Henry de Lormelle.“

Er blickte den Kapitän wie ratlos an. Dieser meinte:

„Das ist sehr deutlich. Oder verstehen Sie es vielleicht nicht?“

„Verstehen? Ah, der Schurke wird uns doch nicht betrogen haben!“

„Was sonst? Was anders? Da, lassen Sie uns einmal nachsehen!“

Sie besahen sich den Inhalt des Koffers; sie durchwühlten den letzteren und warfen alles heraus.

„Alle Teufel! Steine und Laub!“ rief der Graf.

„Laub und Steine!“ wiederholte der Kapitän im grimmigsten Ton.

„Er hat uns betrogen!“

„Betrogen und bestohlen! Aber ich werde den Schurken suchen; ich werde ihn ganz sicher finden und zermalmen!“

Sein Gesicht nahm einen schrecklichen Ausdruck an; sein Schnurrbart ging in die Höhe und ließ die langen gelben Zähne sehen.

„Oder handelt er im Einverständnisse mit Königsau?“ bemerkte Graf Rallion.

Richemonte fühlte sich von diesem Gedanken betroffen.

„Donner!“ meinte er. „Auch das ist möglich.“

„Vielleicht hat er geahnt und erraten, daß er nichts bekommen sollte, und Königsau alles mitgeteilt.“

„Das ist mir doch nicht sehr wahrscheinlich. Er hätte sich ja als Spitzbuben hinstellen müssen.“

„Das ist richtig!“

„Ja, er hat uns betrogen; er hat das Geld an sich genommen und uns diese Steine dafür gegeben.“

„Mineralproben!“ meinte der Graf mit einem bösen Fluch.

„Brechen wir auf! Kehren wir sofort zurück, um ihn zu fangen.“

„Pah! Wir bekommen ihn doch nicht! Er wird schon längst über alle Berge sein.“

„Aber ich suche seine Spur! Ich finde sie und bringe ihn zur Anzeige. Ich werde der Polizei melden, daß er der Dieb ist!“

Der Kapitän ließ sich von seinem Grimm hinreißen. Der Graf zeigte sich besonnener. Er entgegnete:

„Damit würden wir nur uns selbst schaden. Nimmt man ihn gefangen, so wird er alles gestehen, und es geht dann uns ebenso wie ihm an den Kragen!“

„Wir bestreiten alles! Er ist ein Lügner!“

„Man wird ihm dennoch glauben. Das klügste ist, daß wir heimlich nach ihm forschen. Meine Geschäfte hier sind abgemacht. Ich habe den Kauf in den Händen. Vernichten wir den Koffer und stecken ihn hier in den Ofen, um ihn zu verbrennen. Dann brechen wir auf. Die Güter sind mein; die Rache an Königsau ist gelungen; nur das ist verloren, was wir zu viel bezahlt haben. Und wenn wir es klug anfangen, wird es uns vielleicht doch gelingen, dieses Schurken habhaft zu werden und ihm seinen Raub wieder abzujagen.“

Die beiden Männer erkannten, daß sie betrogen worden seien und in dem ehemaligen Diener ihren Meister gefunden hatten. Die Gier nach Rache überstieg noch den Grimm über den Betrug, welcher an ihnen verübt worden war. Sie verbrannten den Koffer und saßen einige Stunden später im Bahnwagen, um den gegen Königsau gerichteten Schlag auszuführen und zugleich nach den Spuren dessen zu suchen, der sie um ihren Raub gebracht hatte. – – –

Was Königsau betrifft, so hatte er am Morgen nach dem Kauf Smirnoff und Samuel Cohn abfahren lassen, ohne eine Ahnung von dem schweren Verlust zu haben, welcher ihn betroffen hatte. Erst als beim Frühstück der Gerichtsamtmann, welcher die aktuelle Handlung geleitet hatte, die Bemerkung machte, daß vorsichtigermaßen ein Verzeichnis der Nummern der Staatspapiere anzulegen sei, öffnete er den Schrank und nahm den Koffer hervor.

Der Schlüssel fehlte. Das fiel ihm auf, denn er wußte ganz genau, daß er denselben stecken gelassen hatte. Da er ihn trotz alles Suchens nicht fand, so wurde ihm ängstlich zumute. Er ließ die noch anwesenden Herren rufen und teilte ihnen die beunruhigende Entdeckung mit, welche er gemacht hatte.

Es wurde beschlossen, gar nicht erst auf die Ankunft eines Schlossers zu warten, sondern den Koffer sofort aufzubrechen. Das geschah. Der Schreck und die Aufregung, welche sich nun aller bemächtigte, ist gar nicht zu beschreiben. Der Amtmann gab den Befehl, daß kein Mensch, welcher sich auf dem Schloß befinde, dasselbe ohne Erlaubnis verlassen dürfe. Ein sicherer Bote wurde nach der Polizei geschickt, und dann begann eine allgemeine Aussuchung. Die gestohlene Summe war so bedeutend, daß an eine Schonung der Gefühle des einzelnen gar nicht gedacht werden konnte. Diesem Schlag folgte ein zweiter, noch größerer.

Frau Margot hatte sich in ihrem Zimmer befunden, als die schlimme Entdeckung gemacht wurde. Sie war schon längere Zeit unfähig, allein zu gehen. Jetzt hörte sie ein Rennen und Rufen, ein Klagen und Fragen. Sie klingelte, sie rief nach Dienerschaft, aber vergeblich. Jetzt bemächtigte sich ihrer eine ungewöhnliche Angst, und diese Angst nahm zu, je lauter der Lärm wurde, und je weniger man sich um sie bekümmerte.

Sie versuchte, sich von ihrem Stuhl zu erheben. Es gelang ihr, aber unter großen Schmerzen. Sie griff sich an der Wand und an den Möbeln hin bis an die Tür, öffnete dieselbe und schob sich hinaus. Einer der Diener kam gerannt und wollte vorüber, ohne sie zu beachten.

„Wilhelm! Wilhelm!“ rief sie. „Was gibt's? Was ist geschehen?“

Erst jetzt bemerkte er sie.

„O Gott, gnädige Frau“, rief er ganz außer sich; „man hat eingebrochen; man hat Sie bestohlen, fürchterlich bestohlen!“

„Eingebrochen? Uns bestohlen? O Gott, was ist es denn, was man gestohlen hat?“

„Alles! Alles! Das ganze Vermögen!“

Es war ihr, als ob sie einen Keulenschlag auf den Kopf erhielte.

„Das ganze Vermögen?“ ächzte sie. „Wieso?“

„Das Kaufgeld, die ganze Kaufsumme, aus dem Koffer, in welchem sie verschlossen war.“

„O – Gott – Gott – Gott – ver – verkauft – ver – verloren – meine – Ah – Ah-Ahn-!“

‚Ahnung!‘ wollte sie sagen, aber sie vermochte nicht, das Wort vollständig auszusprechen; sie brach zusammen.

Der Diener rannte zu Königsau, welcher rat- und fast gedankenlos unter den Seinen stand.

„Gnädiger Herr“, rief er. „Schnell, schnell! Die gnädige Frau ist in Ohnmacht gefallen!“

Alles eilte mit ihm fort; aber Hugo vermochte nicht, ihm zu folgen. Hätten ihn nicht zwei ergriffen und gehalten, so wäre er zu Boden gesunken. Auf diese gestützt, vermochte er erst nach einiger Zeit fortzuwanken, um nach seiner Frau zu sehen. Man hatte sie auf das Ruhebett gebracht; sie schien tot zu sein; ihre Augen waren starr und offen, und vor ihrem Mund stand ein bräunlicher Schaum. Er brach mit einem lauten Aufschrei neben ihr zusammen.

Der Amtmann schickte sofort einen reitenden Boten nach dem Arzt. Als dieser kam, untersuchte er die beiden und erklärte, daß Frau Margot vom Schlag getroffen sei und nur noch einige Tage, vielleicht nur Stunden zu leben habe, bei Herrn Hugo aber sei ein hitziges Fieber im Anzug, welches sein Leben in die größte Gefahr bringen könne; nur die sorgsamste Pflege werde ihn zu retten vermögen.

In diesem Jammer zeigte es sich, was ein zartes Frauenherz vermag, wenn die Wolken des Unglücks sich zu entladen beginnen. Ida, die Schwiegertochter der beiden Kranken, hatte von dem Augenblick an, in welchem sie die Kunde von dem Unglück vernommen kaum ein Wort gesprochen. Ihr ganzes Wesen schien in Tränen erstarrt zu sein, und doch war sie die einzige, welche Ruhe und Fassung zeigte und durch entschiedene Winke erklärte, daß sie die Sorge um die Eltern nur allein auf sich nehme und einem jeden anderen verbiete, sich ihnen zu nahen.

In all diesem Jammer und Wehklagen, in diesem Schreck und dieser Angst war es keinem Menschen eingefallen, an den französischen Gast zu denken. Nur einer dachte an ihn, und der war – ein Kind.

Der kleine Richard hatte noch in seinem Bettchen gelegen, als sich das Rennen und Rufen erhob. Er war neugierig aufgestanden, hatte die Tür geöffnet und blickte auf das Durcheinander hin und her rennender Menschen, ohne zu wissen, was er davon halten solle. Da aber kam einer weinend den Seitenkorridor hervor, einer, von welchem er wußte, daß dieser mit ihm sprechen werde. Es war der alte Kutscher Florian, welcher, vom Schreck auch fast gelähmt, herbeigewankt kam in der Haltung eines Menschen, welcher Mühe hat, seine Gedanken in Ordnung zu halten.

„Florian, Florian!“ rief der Knabe. „Komm her, Florian! Warum eilen diese Leute so?“

Der Alte trat herbei, nahm den Kopf des Knaben zwischen seine Hände, beugte sich nieder, küßte ihn auf das weiche Haar und antwortete weinend:

„Richard, lieber Richard, es ist dir ein großes, sehr großes Unglück geschehen! Die Großmama und der Großpapa –“

Er hielt inne; besann sich, ob es denn auch klug und erlaubt sei, dem Kleinen alles zu sagen.

„Der Großpapa und die Großmama?“ fragte Richard. „Was ist mit ihnen, lieber Florian?“

„Nichts, o nichts! Sie schlafen. Aber man hat ihnen Geld gestohlen, viel Geld, alles Geld!“

Da richtet der Kleine die klugen Augen auf den Sprecher und fragte:

„Deshalb weinst du wohl, Florian?“

„Ja.“

„Man wird das viele Geld wieder bringen müssen!“

„O nein; der Dieb wird es behalten.“

„Wer ist der Dieb?“

„Wir wissen es nicht, aber wir suchen ihn.“

„Wo hat sich das Geld befunden?“

„In dem Zimmer deines Großpapas.“

Da schlug der Kleine vor Freude jauchzend die Hände zusammen und rief aus:

„Oh, Florian, dann weiß ich, wer der Dieb ist!“

Der alte Kutscher glaubte, daß es sich hier auch, wie so oft, um einen kindlichen Einfall handle, und antwortete:

„Das wirst du wohl nicht wissen, Richard!“

„Gerade weiß ich es! Ich weiß es sehr genau!“

„Nun, wer ist es?“

„Herr de Lormelle.“

„Um Gottes willen!“ rief Florian. „Laß das ja niemand hören!“

„Warum denn nicht?“

„Weil der Herr de Lormelle ein vornehmer Herr ist und ein Freund deines guten Papas, aber kein Dieb!“

„Er ist ein vornehmer Herr, aber ich habe ihn nicht lieb. Er ist gestern abend ganz allein im Zimmer des Großpapas gewesen.“

Jetzt wurde der Diener aufmerksam.

„Hast du das gesehen?“ fragte er.

„Ja.“

„Wann war es?“

„Als die vielen Herren im Saal speisten und ich schlafen gehen mußte.“

„So ist er mit dem Großpapa im Zimmer gewesen.“

„Nein. Großpapa war mit den Herren im Saal. Ich konnte nicht schlafen; ich war so allein, denn mein Schwesterchen schlief. Ich wollte auch mitspeisen im Saal, und da stand ich auf und wollte dich rufen. Du solltest mich ankleiden. Aber als ich die Tür öffnete, da sah ich Herrn de Lormelle kommen. Er trat so leise auf, als ob er mich fangen wolle, und da zog ich die Tür heran und ließ nur ein ganz, ganz kleines Lückchen.“

Der alte Diener lauschte beinahe atemlos.

„Und was sahst du da?“

„Ich sah, daß er einen Schlüssel aus der Tasche nahm und Großpapas Tür aufschloß; er trat ein und kam erst nach langer, langer Zeit wieder heraus.“

„Hatte er etwas in der Hand.“

„Nein, lieber Florian; ich habe nichts gesehen.“

„Merkwürdig, sehr merkwürdig! Würdest du das auch anderen so erzählen, wie du es mir erzählt hast?“

„Wem denn?“

„Dem Onkel Kunz.“

„Ja, dem werde ich es erzählen.“

„Auch wenn der Herr Gerichtsamtmann dabei ist, lieber Richard?“

„Auch dann.“

„So warte einmal. Ich werde die beiden sogleich holen.“

Er ging und brachte Kunz von Goldberg nebst dem Amtmann herbei, denen der Knabe seine Entdeckung in kindlich stolzer Weise mitteilte. Der Jurist folgte der Erzählung mit aller Aufmerksamkeit und fragte dann Herrn von Goldberg:

„Haben Sie diesen Herrn de Lormelle heute bereits gesehen?“

„Nein. Ich denke erst jetzt an ihn.“

„Ich ebenso. Merkwürdig ist es, daß er sich bei diesem Lärm noch nicht hat sehen lassen. Gehen wir nach seinem Zimmer.“

Dort angekommen, fand man dasselbe verschlossen. Das war im höchsten Grad auffällig. Als auch auf wiederholtes Klopfen nicht geöffnet wurde, befahl der Amtmann, die Tür aufzubrechen. Dies geschah, und als man nun eintrat, fand man das Bett noch unberührt. Der Franzose mußte sich durch das Fenster entfernt haben, denn die Tür war von innen verschlossen gewesen. Das Fenster stand offen, und als man hinabblickte, bemerkte man die Leine, welche unten lag.

Nun wurden zunächst die Habseligkeiten des Verdächtigen untersucht. Sein Koffer stand offen. Er enthielt etwas Wäsche und einige Kleidungsstücke, die aber weiter keinen Anhalt boten. Aber zwischen dem Koffer und der Wand lag – ein Bund falscher Schlüssel. Henry hatte vergessen, gerade die Hauptsache mitzunehmen.

„Er ist der Dieb“, rief der Amtmann. „Diese Nachschlüssel erklären alles. Er hat mit einem derselben das Zimmer Herrn von Königsaus geöffnet und dann auch den Schrank, in welchem sich das Geld befand. Er hat das Köfferchen gerade so gut öffnen können wie der Besitzer, da dieser letztere den Schlüssel stecken ließ. Mit dem Geld in den Taschen hat er sich dann entfernt. Ich werde sofort seine Verfolgung veranlassen.“

Die Kombinationen des Beamten waren nicht vollständig richtig, aber der Schuldige war doch entdeckt. Es wurden schleunigst alle möglichen Maßregeln ergriffen, seiner habhaft zu werden, doch vergeblich. Er war und blieb für jetzt und lange Zeit verschollen.

Die Vorhersage des Arztes ging in Erfüllung; Hugo von Königsau wurde von einem hochgradigen, hitzigen Fieber ergriffen, währenddessen er nur von Gutsverkäufen, Einbrechern und Kriegskassen phantasierte. Bei seinem hohen Alter war wenig Hoffnung vorhanden, ihn genesen zu sehen. Frau Margot starb am vierten Tag, ohne wieder in den Besitz der Sinne gekommen zu sein. Es waren in dem Haus langjährigen Glücks tiefe Trauer und großer Jammer eingekehrt; Armut, Krankheit und Tod hatten jählings ihren Einzug gehalten, und keiner machte sich solche Vorwürfe wie Kunz von Goldberg, welcher sich einbildete, daß aus dem Verkauf nichts geworden wäre, wenn er sich nicht so warm dafür erklärt hätte.

Man hatte natürlich sofort an Gebhard telegraphiert, und die Antwort lautete, daß er schleunigst kommen werde, er kenne keinen Freund namens de Lormelle. Goldberg ließ sich Urlaub geben, um der verwaisten Familie Helfer sein zu können. Auch Hedwig, seine Frau, rief er herbei.

Aber ehe beide eintrafen, nämlich Hedwig und der Urlaub, stellten sich zwei andere ein. Am fünften Tag nach dem Unglücksfall meldete ein Diener Kunz von Goldberg, daß zwei Fremde angekommen seien, welche mit Herrn Hugo von Königsau zu sprechen verlangt hätten.

„Du sagtest doch, daß dieser krank sei und unfähig, jemand zu empfangen?“

„Allerdings. Darum wünschten sie, bei Ihnen eintreten zu dürfen.“

„Ihre Namen?“

„Sie wollten dieselben Ihnen selbst sagen.“

„Eigentümlich! Aber führe sie zu mir.“

Nach einigen Augenblicken traten die Angemeldeten ein. Kaum hatte Kunz einen Blick auf sie geworfen, so sprang er von seinem Stuhl auf. Nicht Rallion rief seine Aufmerksamkeit hervor, sondern Richemonte, dessen Antlitz er mit seinem Blick durchbohren zu wollen schien. Wer dieses Gesicht einmal gesehen hatte, der war nicht imstande, es wieder zu vergessen. Und er hatte es gesehen, drüben in Afrika, kurz nach der Löwenjagd.

Die beiden verbeugten sich, aber auf eine Weise, welche die Absicht erkennen ließ, das gerade Gegenteil von Höflichkeit erkennen zu lassen.

„Sie sind Herr von Goldberg?“ fragte Rallion.

„Wie Sie wissen!“ antwortete Kunz. „Sie kommen jedenfalls, um mir Ihr Verschwinden aus dem Postwagen zu erklären.“

„Oh, ich werde Ihnen noch ganz andere Sachen zu erklären haben.“

„Vielleicht werden Sie mir endlich auch Satisfaktion geben wollen!“ meinte Kunz in verächtlichem Ton.

„Gewiß! Das ist ja gerade der Grund meiner Anwesenheit. Ich komme nämlich, um Ihnen mitzuteilen –“

„O bitte, bitte!“ unterbrach ihn Kunz. „Wollen Sie mir nicht vorher den anderen Herrn vorstellen?“

„Eigentlich wollte ich dies erst später tun, doch kann ich Ihnen den Namen meines Freundes sagen: Herr Kapitän Albin Richemonte.“

Goldberg fühlte sich einen Augenblick lang nicht imstande, sich zu bewegen oder einen Laut von sich zu geben; aber er war ein vollendeter Charakter und beim Militär so gut geschult, daß er seine Züge zu beherrschen verstand. Also das war der Mensch, welcher der Teufel der Familie Königsau genannt werden mußte.

Im Gesicht Goldbergs zuckte keine Miene. Sein Auge ruhte mit einem starren, fast totem Ausdruck auf dem Kapitän; nach einigen Minuten aber meinte er zu Rallion:

„Fahren Sie jetzt fort.“

„Das wird sofort geschehen. Herr von Königsau hat seine bisherigen Besitzungen an den Grafen von Smirnoff verkauft?“

„Ja.“

„Unter der Bedingung, diese Besitzungen mit seinem Privateigentum binnen eines Monats, vom Tag des Kaufabschlusses an gerechnet, zu verlassen?“

„Ja.“

„Nun, so teile ich Ihnen mit, daß ich in alle Rechte des Grafen Smirnoff getreten bin. Ich habe ihm die beiden Güter abgekauft.“

Zwischen Goldbergs Zähnen drang ein zischendes Pfeifen hervor, der einzige Laut, welchen er während einer ganzen Weile hören ließ. Tausend Gedanken und Vermutungen kreuzten sich in seinem Kopf.

„Ich hoffe, daß Sie gehört haben, was ich soeben sagte“, meinte Rallion.

Goldberg nickte leise und antwortete sodann:

„Ich habe Sie sehr wohl verstanden. Ich glaube sogar, daß Sie mir mehr, viel mehr mitgeteilt haben, als was Sie bezweckten. Ich ersuche Sie, mir in das Nebenzimmer zu folgen.“

Er stieß eine Tür auf und ließ die beiden vorangehen. Sie blieben wie gebannt am Eingang stehen. Das Gemach, in welchem sie sich befanden, war mit schwarzem Tuch ausgeschlagen; kein Tisch, kein Stuhl, kein Möbel war vorhanden. In der Mitte des Raums aber erhob sich ein imposantes Castrum doloris, ein mit schwarzem Krepp und Samt drapierter Katafalk, an dessen Seiten auf hohen Leuchten eigenartig duftende Walratskerzen brannten. Die Fenster waren verhangen, und das Licht der Kerzen fiel auf einen Sarg, welcher die Blicke der beiden Eingetretenen magnetisch auf sich zog. In demselben lag Margot, die einstige Liebe eines Kaisers, in helles, schimmerndes Weiß gekleidet. Der schöne Mund war scharf geschlossen, das herrliche Auge gebrochen, die gerundete Wange eingefallen. Auf der einst so elfenbeinernen Stirn spielten gelbgraue Töne, und das Grau des einst so herrlich blauschwarzen Haars hatte seinen Glanz verloren.

Niemand schien bei der Leiche zu sein, aber unten am Katafalk hatte ein vom vielen Weinen bleicher und matter Knabe gesessen und immerfort geschluchzt:

„Großmama, meine liebe, traute Großmama!“ Aber als sich die Tür geöffnet, da hatte er sich in die tiefen Falten des Samts versteckt.

Kunz von Goldberg stieg die Stufen empor und deutete mit der Rechten auf die Tote.

„Kennen Sie diese hier?“ fragte er mit tiefer Stimme, welcher man nicht abnehmen konnte, ob sie vor Rührung oder vor Gram zitterte. „Ich sagte vorhin, daß Sie mir mehr mitgeteilt haben, als Sie eigentlich beabsichtigten. Sie haben mir eingestanden, daß Sie das Eigentum dieser Hingemordeten durch einen Dritten kauften und den Kaufpreis durch einen Vierten rauben ließen, um ein Werk entsetzlicher Rache auszuüben. Die Hingegangene ist ein Opfer dieser Rache geworden, und auch der, mit welchem sie im Leben verbunden war, ringt mit dem Tod. Ich lege meine Hand auf das erstarrte Herz der Toten und schwöre bei Gott und bei allen Mächten seines Himmels, daß ich nicht ruhen und rasten werde, bis eure Taten an das Licht gebracht sind und ihren Lohn gefunden haben. Graf Rallion, feiger Mörder, wagen Sie es, Ihrem Opfer in das Angesicht zu blicken? Kapitän Richemonte, fühlen Sie beim Anblick Ihrer Schwester nicht den Brand einer Hölle in Ihrem Herzen? Nein, Sie sind ein Teufel und haben diesen Brand nicht zu fürchten. Aber es wird der Tag kommen, an welchem wir im Namen der ewigen Gerechtigkeit mit Ihnen abrechnen, und dann wird sich kein Engel finden, der um Erbarmen für Sie bittet. Gehen Sie, gehen Sie! Es ist hier nicht Raum für Sie und die Leiche dieser Reinen, deren Mörder Sie sind.“



Er zeigte mit der Linken nach der Tür. Rallion fühlte ein unendliches Grauen in allen seinen Gliedern und wendete sich zum Gehen. Richemonte aber faßte ihn am Arm.

„Warten Sie!“ sagte er zu ihm.

Dann ging er langsam näher, stieg die Stufen empor, trat ganz nahe zum Sarge hin und nahm die Leiche mit einem kalt musternden Blicke in Augenschein. Es zeigte sich in seinem Gesicht nicht die mindeste Spur einer Gefühlsregung. Dieser Mensch schien da, wo bei anderen das Herz klopft, welches man ja als Sitz der Empfindungen zu bezeichnen pflegt, eine leere Stelle zu haben. Er hatte die Tote, welche seine Schwester gewesen war, verfolgt, so lange er sie kannte. Und nun sie als Leiche vor ihm lag, war bei ihm von Reue nicht die Rede. Er hatte kein Gewissen.

Nachdem er sie betrachtet hatte, wie man eine Wachsfigur in Augenschein nimmt, wandte er sich ruhig ab, zuckte die Achsel und sagte:

„Sie ist nicht zu bedauern. Sie hat trotz aller Mühe, welche ich mir mit ihr gegeben habe, nie erkannt, was zu ihrem Besten dient. Ich habe es nicht glauben wollen, aber es gibt wirklich Menschen, welche alles wollen, alles, nur ihr eigenes Glück nicht.“

Das war eine Frechheit sondergleichen. Goldberg fühlte sich im tiefsten Inneren darüber empört.

„Schurke!“ stieß er zornig hervor.

Richemonte wendete sich an ihn und fragte:

„Meinen Sie etwa mich, Monsieur?“

„Ja, Sie! Keinen anderen.“

„Sie sind nicht zurechnungsfähig.“

„Und Sie würde ich niederschlagen und dann aus dem Haus werfen lassen, wenn mich nicht ehrfurchtsvolle Scheu vor dieser Toten abhielt, jetzt so etwas zu tun.“

Da ermannte sich auch Rallion wieder.

„Herr von Goldberg“, sagte er, „nehmen Sie sich in acht, daß nicht Sie es sind, welcher hier aus dem Haus geworfen wird!“

„Feigling!“

Dies war das einzige Wort, mit welchem Goldberg antwortete:

„Feigling?“ meinte Rallion. „Es hat ein jeder Mensch seine eigene Manier, zu kämpfen. Während andere im Kugelregen fechten, tut der Minierer seine Pflicht unter der Erde, und er ist nicht weniger mutig als die ersteren. Gebhard von Königsau war einst so toll, mich zu fordern. Ich habe diese Aufforderung angenommen, aber ich verzichtete darauf, mit Waffen zu kämpfen, welche ihm als Offizier geläufiger waren als mir. Die Partie wäre ungleich gewesen, und die Entscheidung würde eine ungerechte geworden sein. Ich habe nach anderen Waffen gegriffen; ich habe mit ihnen nicht um das Leben, sondern um seine Existenz gekämpft, und Sie sehen jetzt, daß ich Sieger bin.“

Da trat Goldberg rasch einen Schritt vor und rief:

„Ah, damit geben Sie zu, daß der Schlag, welcher die Familie Königsau getroffen hat, von Ihnen ausgeführt wurde.“

„Pah! Denken und vermuten Sie, was Sie wollen! Sollten Sie so sinnlos sein, anzunehmen, daß ich bei Ihnen eingestiegen bin und das Geld genommen habe, welches Ihnen abhanden gekommen ist, so habe ich nichts dawider. Ich begnüge mich damit, Herr der Besitzung zu sein, welche meinem Gegner gehörte. Wollen Sie den Kampf noch weiter treiben, so bin ich bereit, ihn wieder aufzunehmen. Ich teile Ihnen mit, daß ich hier nicht wohnen, sondern die Verwaltung der Besitzung einem Beamten anvertrauen werde. Glauben Sie vielleicht, irgendwelchen Rechtstitel geltend machen zu können, so bedienen Sie sich meinetwegen der Ihnen zur Verfügung stehenden gesetzlichen Mittel, aber sorgen Sie dann dafür, daß ein Verwalter bei seinem Anzug niemand von denen vorfindet, welche zu lieben ich keine Veranlassung habe. Ich würde in diesem Fall in unnachsichtlicher und strengster Weise mein Hausrecht in Anwendung bringen. Adieu, Monsieur!“

Er ging und Richemonte folgte ihm.

Der Schlag war gefallen und traf alle Beteiligten schwer. Wie gut, daß Margot von Königsau durch den Tod verhindert worden war, ihn mitzufühlen. Sie wurde begraben. Alle ihre einstigen Untergebenen betrauerten in ihr eine Herrin, welche wie eine Mutter auf das Wohl aller bedacht gewesen war.

Hugo von Königsau hatte seine kräftige Natur bis in sein gegenwärtiges Alter bewahrt. Er war von dem Fieber zwar niedergeworfen worden; es hatte ihn dem Tode nahegebracht, aber er starb nicht, sondern er genas.

Als er das erstemal das Lager verlassen konnte, befand er sich bereits seit langer Zeit nicht mehr auf der verlorenen Besitzung, sondern in Berlin, wo Kunz von Goldberg ihm eine Wohnung gemietet hatte. Seine Schwiegertochter und seine beiden Enkel waren bei ihm, aber er fühlte sich trotz ihrer Gegenwart einsam und fast verlassen. Ihm fehlte das treue Weib, Margot, die seine Seele gewesen war. Man hatte ihm ihren Verlust natürlich erst dann mitteilen können, als die Ärzte es gestatteten; aber dennoch war es, als ob diese Schreckenskunde ihn wieder auf das Lager werfen wollte. Es bedurfte der ganzen Liebe und Anhänglichkeit der Seinigen, seine Gedanken von diesem Verlust wenigstens zeitweilig abzulenken.

Besser wurde dies, als Gebhard endlich eintraf. Er war zwar von allem unterrichtet worden; er wußte, daß seine Mutter tot und sein Vater schwer krank sei; er wußte auch, daß ihr Vermögen verloren sei und daß ihr Feind sich auf ihrem Eigentum eingenistet habe, er hatte darum seine Rückkehr nach Kräften geeilt, aber es war ihm nicht möglich gewesen, eher zu kommen.

Jetzt nahm er das Werk in die Hand, an welchem bereits Goldberg und die Polizei vergeblich gearbeitet hatten, nämlich die Erforschung dessen, was damals geschehen war.

Bei reiflicher Erwägung schien es fast sicher, daß zwischen jenem Diebstahl und dem Ankauf der Güter durch Rallion ein Zusammenhang stattfinde; aber war die Lüftung des darüber ausgebreiteten Schleiers bisher eine Unmöglichkeit gewesen, so blieben auch alle weiteren Nachforschungen ohne Erfolg. Dieser letztere war nur denkbar, wenn der Dieb, der sogenannte Henry de Lormelle, entdeckt und ergriffen wurde, aber es gelang nicht, auch nur die leiseste Spur von ihm aufzufinden.

Inzwischen war zu dem bereits erlebten Unglück auch noch ein weiteres gekommen. Eines Tages nämlich traf ein schwarzgeränderter und ebenso schwarzversiegelter Brief aus Paris bei Gebhard von Königsau ein, welcher folgendermaßen lautete:

„Mein Herr!

Hierdurch wird Ihnen mitgeteilt, daß Ihre entfernte Verwandte, die hochselige Frau Gräfin Juliette de Rallion, infolge eines plötzlichen Schlaganfalles mit dem Tod abgegangen ist und kein Testament hinterlassen hat.

Aus diesem letzteren Grund und ebenso zufolge des Umstandes, daß Ihre Frau Gemahlin und deren Schwester, Frau Hedwig von Goldberg, an Ausländer verheiratet sind und auch über die gesetzlich hier einschlagende Frist im Ausland gewohnt haben, fällt das Ganze der Hinterlassenschaft dem einzigen männlichen Erben der Verstorbenen, dem Herrn Grafen Jules Rallion, zu. Ergebenst

Erneste Vafot,

Öffentlicher Notar und Nachlaßverwalter.“

Die gute Tante Rallion war hochbetagt gewesen, und Gebhard machte kein Hehl daraus, daß er gehofft habe, es werde ihm bei ihrem Ableben ein Teil ihres Nachlasses zufallen. Das wäre in seiner gegenwärtigen Lage eine große Hilfe für ihn gewesen. Nun war selbst diese Hoffnung vernichtet. Ihr Feind, der Graf Jules Rallion, war auch hier vom Glück begünstigt worden.

Nun galt es, zu arbeiten und zu schaffen, damit die nackte Armut nicht ihren Einzug halte.

Zwar hatte Gebhard an seinem Schwager Goldberg einen Freund, dessen ganzes Eigentum ihm zur Verfügung gestanden hätte, aber er zog es vor, sich selbst seinen Unterhalt zu verdanken. Er versuchte, die Erfahrungen und Anschauungen, welche er sich auf seinen Reisen gesammelt hatte, zu verwerten. Er schrieb Bücher, Berichte und Gutachten und hatte die Freude, seine Mühen anerkannt und belohnt zu sehen. Es gelang ihm, sich mit der Feder eine, wenn auch nicht glänzende, so doch zufriedenstellende Existenz zu erobern.

Aber die Zeit rückte vor, und mit ihr stiegen die Ansprüche, welche das Leben und die Sorge für die Seinen an ihn machten. Der kleine Richard hatte das Alter erreicht, in welchem er als Kadett eintreten sollte; dazu waren Mittel erforderlich, welche Gebhard leider nicht besaß. Zwar griff Kunz von Goldberg ein; aber es war vorauszusehen, daß die Ausgaben von Jahr zu Jahr steigen würden. Schwager Goldberg sollte nicht gewohnheitsmäßig in Anspruch genommen werden; man mußte daran denken, sich irgendeine Hilfsquelle zu öffnen.

So saßen Großvater, Vater und Mutter oft sorgend beisammen, um zu beraten und Pläne zu entwerfen, welche sich aber stets als nicht wohl ausführbar erwiesen.

Ein einziger unter diesen Plänen gab, so abenteuerlich er auch auf dem ersten Blick erschien, doch eine kleine Hoffnung des Gelingens. Und stets war es Großvater Hugo, welcher die Rede auf ihn brachte.

„Die Kriegskasse“, meinte er, „könnten wir doch die Kriegskasse finden!“

„Sie gehört nicht uns; sie ist Eigentum Frankreichs“, wendete Gebhard ein.

„Aber Frankreich muß dem Finder eine Gratifikation zahlen.“

„Nun wohl! Aber wo soll man sie suchen?“

„Ich kann mich leider nicht mehr besinnen; aber soweit meine Gedanken reichen, muß ich mir sagen, daß ich sie nicht gar sehr weit und zwar südlich von dem Ort vergraben habe, wo sie erst lag. Die Zeichnung, welche ich damals fertigte, hat zwar Blücher erhalten, aber ich habe eine Kopie genommen, welche wir noch jetzt besitzen.“

Dieses Gespräch wiederholte sich so oft, daß Gebhard von Königsau sich endlich an den Gedanken gewöhnte, der verlorenen Kriegskasse nachzuforschen. Im stillen tat auch Ida alles mögliche, ihn in diesem Beschluß zu bestärken. So saßen sie einstmals in dem kleinen Gärtchen, welches zu ihrer gegenwärtigen Wohnung gehörte, und sprachen über denselben Gegenstand. Da erwärmte sich Großpapa Hugo so sehr für denselben, daß er schließlich ausrief:

„Nun gut, Gebhard! Wenn du nicht gehst, so gehe ich!“

„Du?“ fragte der Angeredete. „Das geht nicht!“

„Warum nicht?“

„Gerade jetzt macht dir deine alte Wunde sehr viel zu schaffen. Du bedarfst der Ruhe und hast für Monate hinaus jede größere Anstrengung zu vermeiden.“

„Die Reise ist keine Anstrengung.“

„Sie kann sogar eine sehr große werden.“

„Wieso?“

„Es ist keine Erholung, dort im Gebirge herumzuklettern und nach einem Ort zu suchen, den man nicht kennt! Dazu kommt, daß es heimlich geschehen muß, so daß niemand etwas davon merkt. Das Wetter darf gar nicht berücksichtigt werden, im Gegenteil, je schlimmer es ist, desto sicherer ist man vor etwaigen Lauschern.“

„Hm! Das mag sein! Also muß ich leider darauf verzichten; aber du, lieber Gebhard, könntest es doch versuchen!“

„Wenn Ihr es denn so dringend wünscht, so will ich Euch den Willen tun. Aber wie es anfangen?“

Da ließ sich hinter ihm eine Stimme vernehmen:

„Das ist nicht schwer!“

Der drehte sich um. Da stand der alte, treue Kutscher Florian Rupprechtsberger, welcher damals mit Hugo nach Deutschland gekommen war und auch dann die Familie nicht verlassen hatte, als sie arm geworden war.

„Nicht schwer? Wieso?“ fragte Gebhard.

„Ich gehe mit!“

„Du? Hm!“

Florian war alt geworden. Gebhard betrachtete seine Gestalt mit prüfendem Blick, wie um zu taxieren, ob der brave Mann den Anstrengungen einer solchen Reise auch noch gewachsen sei.

„Das ist wahr“, sagte der Großvater. „Da ich nicht mit darf, so ist unser Florian der einzige, welcher jene Gegend kennt.“

„Gewiß!“ antwortete Florian. „Ich war ja mit in der Schlucht, wo das Geld erst vergraben war. Das war an dem Tag, an welchem wir verfolgt und angegriffen wurden, und an welchem der Kapitän Richemonte den Baron de Reillac ermordete.“

„Das hast du schon oft erzählt; aber wirst du diese Schlucht auch heute noch wiederfinden?“

„Das versteht sich!“

„Beschreibe den Weg!“ befahl der Großvater.

„Man geht durch Bouillon, an dem Wirtshaus vorüber, in welchem Sie einmal eingekehrt waren, ein Stück am Wasser hin, und dann bei den Bäumen biegt man links ein, um den schmalen Weg zu verfolgen, welcher an der Köhlerhütte vorüberführt. Von da aus hat man nur einige Minuten weiter durch den Wald zu steigen; dann öffnet sich zur rechten Hand die Schlucht.“

„Das ist sehr richtig“, meinte der Großvater. „Aber seit jener Zeit sind viele Jahre vergangen, und es wird manches verändert sein, vielleicht so verändert, daß man das Terrain gar nicht mehr wieder erkennt.“

„Den Berg haben sie doch nicht fortschaffen können, und die Schlucht ist also auch noch da.“

„Wohl wahr! Aber wenn Ihr nun die Schlucht gefunden habt, was dann?“

„Dann nehmen wir den Situationsplan in die Hand, den Sie damals gezeichnet haben, und suchen, indem wir uns von der Schlucht aus immer nach Süden halten.“

„Glaubst du denn, daß du eine solche Reise noch mit unternehmen kannst?“

„Ich?“ fragte der treue Diener in zuversichtlichstem Ton. „Ich laufe mit um die Erde herum, wenn es gilt, etwas zu tun, was Ihnen Freude macht!“

„So habe ich nichts dagegen, daß du mit Gebhard reist. Und da wir einmal den Entschluß gefaßt haben, so wollen wir auch nicht lange zögern, ihn zur Ausführung zu bringen.“

Der gute Florian zeigte eine außerordentliche Freude über die Erlaubnis, welche ihm geworden war.

„Wie schön! Wie herrlich!“ rief er aus. „Bei dieser Gelegenheit kann ich auch einmal meine Verwandten besuchen. Die alten sind freilich gestorben, und die jungen habe ich noch gar nicht gesehen, aber wir schreiben uns zuweilen. Und dann das schöne Geld, welches Sie erhalten werden! Vielleicht werden Sie dadurch wieder grad so reich, wie Sie gewesen sind!“

Das erregte die Wißbegierde Idas. Sie fragte:

„Den wievielten Teil des Ganzen würdet Ihr wohl erhalten?“

Da antwortete Großvater Hugo lächelnd:

„Ich bin mit dieser Frage, natürlich ohne mich zu verraten, hier bei einem Advokaten gewesen. Er hat nachgeschlagen und gesagt, daß eine Kriegskasse, welche so lange Zeit vergraben liege, unter den Begriff des Schatzes falle. Und nun ratet, wieviel in Frankreich da der Finder erhält!“

„Den zwanzigsten oder wohl gar den zehnten Teil?“ riet Frau Ida von Königsau.

„Das wären fünf oder zehn Prozent. Nein; er bekommt gerade die Hälfte, während die andere Hälfte dem Besitzer des Grund und Bodens gehört, auf welchem der Schatz gefunden wird.“

Diese Auskunft erweckte geradezu eine Art Begeisterung für das Unternehmen, und es wurde einstimmig beschlossen, die Vorbereitungen zur Abreise sofort zu treffen. – – –

Unterdessen wohnte der Kapitän Richemonte mit dem Baron und der Baronin Liama de Sainte-Marie auf Jeannette. An dem Zustand des Barons hatte sich nichts gebessert; er war vielmehr noch tiefsinniger geworden. Der in der Sahara an den unschuldigen Arabern verübte Massenmord quälte sein Gewissen, und der Gedanke, an jene ruchlose Tat versetzte ihn zeitweilig in einen Zustand finsteren, dumpfen Brütens. Später traten sogar Stunden ein, in denen er die Geister der Ermordeten zu sehen glaubte und mit ihnen kämpfte.

Er durfte gar nicht mehr ohne Aufsicht gelassen werden, und diese mußte der Kapitän selbst übernehmen. Wäre eine andere Person damit betraut worden, so stand ja zu befürchten, daß die ganze Vergangenheit verraten wurde.

Schließlich aber mußte doch ein Arzt zu Rate gezogen werden. Er erhielt so viel mitgeteilt, als möglich war, ohne gefährliche Vermutungen in ihm zu erwecken, und riet nach einiger Beobachtung des Kranken Zerstreuung und eine Ortsveränderung, welche in einer Reise bestehen könne. Diese Reise müsse aber möglichst anstrengend sein, da körperliche Anstrengung und Ermüdung einen heilsamen Einfluß auf den erkrankten Geist üben werde.

Der Kapitän fluchte im stillen über den krankhaften Zustand seines Verwandten und Adoptivsohns. Sich seiner zu entledigen, ihn aus der Welt zu schaffen, wäre nicht sein Gewissen Belästigendes gewesen, da er ja überhaupt gar kein Gewissen besaß; aber er überlegte sich, daß dies nur heiße, einen sehr dummen Streich zu begehen. Starb der Baron de Sainte-Marie, so gab es keine anderen Erben als die Familie Königsau, welcher dann Jeannette wieder zufiel. Darum mußte der Kranke weiter leben.

Richemonte beschloß, mit ihm eine Fußreise zu unternehmen, und zwar in das Gebirge, da eine Gebirgsreise ja anstrengender ist als jede andere. Er wollte nach den Argonnen hinauf und dann in den Argonner Wald.

Die Vorbereitungen machten nicht viel Umstände. Ein junger starker Knecht wurde als Diener mitgenommen, um bei der Bewältigung des Kranken behilflich zu sein, wenn sich bei demselben je ein Anfall von Tobsucht einstellen sollte. Dann ging es fort.

Erst mit der Post nach Chalons und hierauf in den Argonner Wald, welcher von Bar le Duc bis nach Launay durchwandert wurde. Diese anstrengende Fußtour war von ganz ausgezeichneter Wirkung auf den Baron. Einige leichtere Anfälle in den ersten Tagen abgerechnet, war über ihn nicht zu klagen gewesen, und selbst sein Trübsinn, welcher ihn seit Jahren nicht verlassen hatte, schien nach und nach einer anderen Stimmung Platz zu geben. Er wurde von Tag zu Tag heiterer und gesprächiger und begann sich für alles, was er erblickte, immer lebhafter zu interessieren. Nur von der Vergangenheit zu sprechen, mußte Richemonte streng vermeiden. Selbst wenn der Kranke nur an dieselbe dachte, stellte sich sofort die frühere trübe Stimmung wieder ein.

Zwischen Launay und Signy le Grand liegt ein allerliebstes kleines Dörfchen, in welchem lauter gutsituierte Landleute wohnen. Es gab nur eine einzige Familie, welche wirklich arm genannt werden konnte, nämlich diejenige des Hirten, welcher Verdy hieß. Er bewohnte eine kleine Hütte, welche nur einen Raum bildete und Mensch und Vieh zu gleicher Zeit beherbergte. Er besaß nichts, als was er auf dem Leib trug, und da sein Einkommen ein außerordentlich spärliches war, so hätte er wohl Hunger leiden müssen, wenn seine Familie eine zahlreiche gewesen wäre. Glücklicherweise aber bestand dieselbe nur aus drei Personen, aus ihm, seinem Weib und einer Tochter.

Diese letztere war sein Augapfel, machte ihm aber fast mehr zu schaffen als der sämtliche Tierbestand des Dorfes, über welchen er auf der Weide die Aufsicht zu führen hatte.

Die Tochter führte den für ein Hirtenkind nicht ganz passenden Namen Adeline. Sie war als Kind von den Sprößlingen der reichen Bauern verachtet und zurückgesetzt worden; darum hatte sie sich an die Einsamkeit gewöhnt. Aber sie wäre gar so gern auch reich gewesen und hätte sich ebenso gern hübsch gekleidet wie die anderen.

Sie war eitel. Je älter sie wurde, desto mehr wuchs diese Eitelkeit. Sie sah sich im Spiegel; sie verglich sich mit den anderen Mädchen, und sie kam zu der Überzeugung, daß sie unter ihnen allen die Schönste sei.

Nun wollte sie sich putzen. Dazu fehlte ihr nicht mehr als alles, und so sann sie nach, ob sie nicht etwas verdienen könne. Als Magd vermieten wollte sie sich nicht; sie wollte sich nicht von denen befehlen lassen, welche nicht so schön waren wie sie.

Da kam ihr ein anderer Gedanke. Ihr Vater hatte einige Erfahrung in der Behandlung kranker Tiere. Sie hatte oft für ihn hinaus auf das Feld und in den Wald gehen müssen, um heilsame Pflanzen zu holen. Sie wußte, daß die Apotheker solche Kräuter brauchen und von Sammlern kaufen müsse. Darum begann sie, Teepflanzen zu holen und an die Apotheker zu verkaufen. Das war eine leichte, sogar hübsche Arbeit und brachte Geld ein, viel zwar nicht, aber doch immer so viel, wie sie für sich brauchte.

Es dauerte nicht lange, so hatte sie Schuhe und Strümpfe, einen hübschen Rock und eine weiße Schürze. Einige Bänder und Schleifen kamen dazu, und nun begannen auch die Burschen, ihre Blicke auf sie zu richten. Aber sie wollte nichts von denen wissen, von welchen sie zuvor nicht beachtet worden war.

Während ihres einsamen Aufenthalts in Wald und Feld gab sie allerlei Gedanken Audienz, guten und schlimmen, und da sie verachtet worden war und sich darüber verbittert fühlte, so war es kein Wunder, daß sie mehr schlimme, als gute Gedanken hatte. Vor allen Dingen wollte sie sich rächen. Aber wie?

Sie sann lange Zeit darüber nach, bis ihr endlich die Überzeugung kam, daß die eklatanteste Rache darin bestehe, den Mädchen den vornehmsten Burschen des Dorfes wegzuangeln. Dies war natürlich der Sohn des Maire.

Von diesem Augenblick an begann sie, die Angeln nach ihm auszuwerfen. Die anderen merkten dies und verspotteten sie; aber der Bursche sah recht gut, daß sie die Hübscheste von allen sei, und tat sein möglichstes, um gefangen zu werden.

Zuerst trafen sie sich zufällig hier oder da; sodann geschah das Zusammentreffen weniger zufällig, aber stets da, wo sie miteinander nicht gesehen wurden. Und endlich wurden wirkliche Verabredungen getroffen.

Sie war ein Naturkind, besaß aber eine gute Dosis angeborener Schlauheit. Sie erzwang von ihm die Einwilligung, auch einmal beim Tanz erscheinen zu dürfen. Sie hatte sich bisher dort nie sehen lassen, und so war es für sie ein unendlicher Triumph, als der Sohn des Maire sich mit ihr im Kreis drehte und nicht eine einzige andere engagierte.

Der Bursche war ihr wirklich gut. Er hatte ganz ehrliche Absichten, aber mit diesen stimmten nicht diejenigen seiner Eltern überein. Es kam zu Vorwürfen und Erklärungen, deren Resultat und Ende war, daß der Vater dem Sohn verbot, mit diesem Mädchen jemals wieder ein Wort zu sprechen.

Der Befehl wurde zwar angehört, aber nicht befolgt. Die beiden trafen sich nun im stillen hinter dem Rücken der Eltern. Jedermann aber weiß, daß solche verbotene Zusammenkünfte mit bedenklichen Gefahren verknüpft sind, und diesen Gefahren erlag die schöne Hirtentochter.

Es kam die Stunde, in welcher sie weinend dem Geliebten gestand, daß sie sich unglücklich fühle, weil sie etwas verheimlichen müsse, was später an den Tag kommen werde.

Das gab dem Burschen seine Überlegung zurück. Es regte sich der reiche Bauernsohn in ihm. Er begann zu überlegen und kam ganz von selbst zu der Einsicht, daß die Tochter des armen Hirten keine Frau für ihn sei.

Infolge dieser Erkenntnis begann er, sich von ihr zurückzuziehen. Sie bemerkte es und stellte ihn weinend zur Rede. Die Tränen der Geliebten fallen wie glühende Tropfen auf das Herz; es kann durch sie auch ein sonst willenskräftiger Mann besiegt werden. Aber die Tränen einer Person, welche man bereits nicht mehr so gut leiden kann wie früher, haben eine ganz andere Wirkung. Das Weinen ist dann etwas sehr Unschönes, ja Widerwärtiges, und spült den noch vorhandenen Rest der Liebe vollends von dannen.

So ging es auch hier. Die Vorwürfe und Tränen des Mädchens erkälteten den Burschen. Er nahm sich vor, gar nicht wieder mit ihm zu sprechen. Was sich so ein reicher Dorfprinz einmal vorgenommen hat, das pflegt er auch zu halten. Landleute haben einen harten Kopf. Es gab für das verlassene Mädchen fast gar keine Gelegenheit mehr, den Geliebten zu sehen, als den Tanz. Darum ging es hin. Aber es feierte keine Triumphe mehr, sondern es erlitt Niederlagen.

Das kränkte Adeline erst ganz entsetzlich; dann ärgerte sie sich, und endlich fühlte sie anstelle der früheren Liebe nur den Wunsch, sich zu rächen. Aber wie sollte sie sich an ihm rächen, sie, das blutarme Mädchen, an dem reichen Sohne des Dorfschulzen! Ja, wenn einer gekommen wäre, der noch vornehmer wäre als er! Welch eine Rache wäre das gewesen! Mit diesem Gedanken ging sie schlafen, und mit ihm erwachte sie.

Da, eines Sonntagabends, saß sie wieder im Saal. Alle waren lustig; nur sie blieb allein und unbeachtet. Keiner kam, um sie zum Tanz abzuholen.

Da plötzlich richteten sich aller Augen nach der Tür. Es waren zwei Männer eingetreten, zwei fremde Herren, welche dem Tanz zuschauten. Fremd mußten sie sein, denn es kannte sie niemand, und Herren, vornehme Herren waren es, das sah man an der feinen Kleidung, welche sie trugen.

Der eine war ein alter Herr mit grauem Schnurrbart. Er blickte gar grimmig drein, und es ließ sich vermuten, daß mit ihm nicht gut Kirschen essen sei. Der andere war jünger, viel jünger; er konnte wohl der Sohn des ersteren sein. Er war zwar nicht mehr ganz jung, aber er war nicht häßlich, und er hatte einen so eigentümlich leidenden Blick, so etwas Duldendes an sich, was bekanntlich große Anziehungskraft auf Frauen auszuüben pflegt.

Nachdem sie eine Weile zugeschaut hatten, schien der Alte sich zu langweilen. Er ging. Der andere aber blieb neben dem Eingang stehen und setzte seine Beobachtungen fort. Adeline sah, daß sein Blick von einem Mädchen zu dem anderen ging, als ob er ihre Schönheit prüfen wolle, und jetzt, jetzt ruhte sein Auge auch auf ihr.

Sie senkte den Blick und fühlte dabei, daß ihr das Blut in die Wangen stieg. Als sie nach einer Weile die Augen wieder aufschlug, sah er sie noch immer an, und dabei lag ein leises freundliches Lächeln auf seinem Gesicht.

„Ich habe ihm gefallen!“ dachte sie. „Was mag er sein?“

Sie beobachtete ihn heimlich und bemerkte, daß sein Auge wieder und immer wieder zu ihr zurückkehrte. Endlich nickte er ihr gar zu, leise zwar, daß kein anderer es bemerken konnte, aber doch so, daß sie sah, er meine sie. Sie erglühte von neuem. Hatte er bemerkt, daß auch sie ihn beobachtete?

Da, jetzt fühlte sie, daß ihr das Herz laut unter dem Mieder zu klopfen begann. Er hatte seinen Platz verlassen und schritt langsam, wie prominierend, an der Seite des Saales entlang, wo die Mädchen saßen, und die Burschen, welche ihm jetzt während der Pause im Weg standen, machten ihm ehrerbietig Platz.

Er kam näher und näher. Jetzt war er da. Sie senkte die Augen. Sie fühlte eine peinigende Angst. Worüber? Ob er vorüber gehen, oder ob er sie anreden werde? Er war bei ihr stehen geblieben, denn jetzt hörte sie seine Stimme.

„So allein und abgesondert von den andern, Mademoiselle!“

Sollte sie ihm antworten? Jedenfalls. Das Gegenteil wäre ja unhöflich gewesen. Sie war also gezwungen, den Blick zu erheben. Sie sah aller Augen auf sich und ihn gerichtet. Sie sah die freundliche Miene, mit welcher er sie anblickte, und da antwortete sie:

„Ich bin stets allein, Monsieur.“

„Warum, mein Kind?“

„Die andern sind reich, ich aber bin arm.“

„Was tut das! Sind die andern denn so stolz?“

„Ja, sehr stolz!“

„Lächerlich! Worauf kann so ein Bauernknabe oder so eine Bauerndirne denn stolz sein? Auf Bildung und Kenntnisse jedenfalls nicht!“

Wie wohl taten ihr diese Worte! Und wie schade, daß nur sie allein dieselben gehört hatte! Er fuhr fort:

„So tanzen Sie wohl gar nicht?“

„Nein.“

Das war ein Geständnis, welches ihr die Schamröte in das Gesicht trieb. Er aber schien ihr die Zurücksetzung gar nicht entgelten zu lassen, denn er sagte:

„Daran tun Sie recht. Aber Sie tanzen wohl gern?“

„Ich habe noch nicht viel getanzt, aber ich tanze nicht ungern.“

„Dürfen auch Fremde an diesem Vergnügen teilnehmen?“

„Wer wollte es ihnen untersagen, Monsieur?“

„Nun wohl! Werden Sie mir die Erlaubnis erteilen, die nächste Tour mit Ihnen zu versuchen?“

Das Herz wollte ihr vor Freude zerspringen. Sie mußte die Hand auf den vollen Busen legen, damit derselbe nicht so unruhig woge und vielleicht gar das Mieder zersprenge.

„Sie scherzen!“ hauchte sie.

„O nein, ich scherze nicht! Auch ich tanze gern; aber ich war lange Zeit nicht in Frankreich, sondern in einem Land, wo man nicht tanzt. Werden Sie mir die Erlaubnis verweigern?“

„O nein!“

„So bitte, kommen Sie! Die Musik beginnt!“

Es wurde ein Walzer gespielt. Der Fremde legte den Arm um sie, ergriff mit der Linken ihre rechte Hand und begann.

Sie war so glücklich. Sie ließ sich von ihm willenlos dirigieren. Sie hielt die Augen geschlossen, und darum bemerkte sie nicht, daß kein anderes Paar an diesem Tanz teilnahm. Man fürchtete, den fremden Herrn zu verletzen, wenn man ihm in den Weg tanze. Aber als er ruhend mit ihr stehenblieb, ergriffen einige Burschen ihre Mädchen und schwenkten in die Reihe.

Noch zweimal kam an die beiden die Reihenfolge, dann schwieg die Musik. Und während der augenblicklichen Stille, welche da eintrat, kam ein dritter Fremder in den Saal, schritt auf ihren Tänzer zu und sagte laut, daß alle es hörten:

„Herr Baron, der Herr Kapitän läßt fragen, ob Sie jetzt mit zu Abend speisen werden?“

„Nein“, antwortete er. „Sage ihm, daß er nicht auf mich warten möge. Ich esse später.“

Der Bote – es war der Diener, der Knecht aus Jeannette – kehrte nach der Gaststube zurück.

„Nun?“ fragte Richemonte, welcher bereits an dem einfach gedeckten Tisch saß.

„Der Herr Baron bittet, nicht auf ihn zu warten.“

„Ah! Wie kommt das? Amüsiert er sich denn da oben?“

„Er scheint“, meinte der Diener zögernd, „soeben einen Tanz versucht zu haben.“

„Donnerwetter! Wirklich?“

„Ja. Der Walzer war zu Ende, und der Herr Baron hatte noch sein Mädchen am Arm.“

Das Gesicht Richemontes verzog sich zu einem ironischen Lachen, und dann sagte er:

„Was war es denn für eine Nymphe? Hübsch oder häßlich, lang oder kurz, dick oder dünn?“

„Sie war sehr hübsch.“

„Hm. Wir sind hier nicht bekannt; da mag es gehen. Er mag also in seinem Spaß ungestört bleiben. Ich gehe nach dem Essen sofort schlafen; du aber magst ihn dann bedienen!“

Droben hatten die Worte des Dieners eine ungeheure Wirkung hervorgebracht. Ein Kapitän und ein Baron waren da, und der letztere hatte mit der Tochter des Schäfers getanzt!

Adeline schwamm in einem Meer von Wonne. Sie hätte die ganze Welt umarmen mögen. Ein Baron war er, ein Baron. Das war die Rache für den untreuen Geliebten, der jetzt dort in der Ecke stand und ein Gesicht machte, als ob er nicht genau wisse, ob er sich ärgern solle oder nicht.

Der Baron hatte sie nicht wieder nach der Bank geführt, auf welcher sie gesessen hatte, sondern an einen Tisch. Das war viel feiner und anständiger.

„Werden Sie mir erlauben, mich zu Ihnen zu setzen, Mademoiselle?“ fragte er, und zwar mit einer Verbeugung.

Das war ihr noch nie geschehen. Aber sie hatte sich bereits in das Ereignis gefunden und ihre Verlegenheit überwunden. Sie antwortete:

„Ich bin solche Ehre nicht gewöhnt, Monsieur.“

„Aber wert sind Sie derselben. Wissen Sie, daß Sie schön sind, sogar sehr schön, mein Kind?“

Sie errötete bis in den Nacken hinab und schwieg. Er fuhr fort:

„Ich wünschte, ich wäre der Sohn eines Bauern, wie diese hier.“

Und als sie ihm abermals nicht antwortete, fügte er hinzu:

„Können Sie sich nicht denken, weshalb ich diesen Wunsch hege?“

Sie konnte es sich gar wohl denken, durfte es ihm aber nicht sagen. Er bog sich deshalb ein wenig weiter zu ihr herüber und meinte:

„So werde ich es Ihnen sagen. Wenn ich ein Bauernsohn wäre, so könnten Sie öfters meine Tänzerin sein!“

„Oh, Monsieur, Sie würden sein wie die anderen und eine Reiche vorziehen.“

„Nein. Ich würde die vorziehen, welche mir gefällt, und das sind Sie. Haben Sie noch Eltern?“

„Ja. Beide leben noch.“

„Und was ist Ihr Vater?“

„Er ist nur der Hirte des Dorfes.“

„Nur! Warum gebrauchen Sie dieses Wort? Ein jeder Mann ist ein ganzer Mann, wenn er seinen Platz ausfüllt. Sie werden mich neugierig schelten und mir zornig werden. Aber ich möchte so gern erfahren, ob Sie einen Geliebten haben. Wollen Sie mir das sagen?“

„Ich habe keinen“, antwortete sie errötend.

„Sagen Sie die Wahrheit?“

„Gewiß, Monsieur!“

„Aber einen, den Sie lieb hatten, hat es bereits gegeben?“

Sie blickte verlegen vor sich nieder und zögerte, zu antworten; darum sagte er nach einem Weilchen:

„Ich sehe Sie heute zum ersten Mal und bin Ihnen fremd; daher ist es unrecht von mir, Ihnen solche Fragen zu stellen.“

Da blickte sie voll zu ihm auf und antwortete:

„Und doch will ich Ihnen antworten, Monsieur. Ja, ich habe einen Geliebten gehabt, aber wir sprechen nicht mehr miteinander.“

„Ah! Wirklich? Befindet er sich heut abend hier?“

„Ja, er ist hier.“

„Wollen Sie mir ihn zeigen?“

„Er steht jetzt ganz allein am Büffet und läßt sich Wein geben.“

„Dieser ist es? Er hat keinen Geschmack, Mademoiselle, keinen Geschmack und kein Herz, und darum wären Sie nicht glücklich mit ihm gewesen. Sie haben mir auf meine so zudringliche Frage geantwortet; das gibt mir den Mut, noch zwei weitere Erkundigungen einzuziehen. Darf ich?“

„Gewiß. Ich werde Ihnen antworten.“

„Verstößt es gegen den Gebrauch dieser Gegend, wenn ich Sie einlade, heute abend mit mir zu speisen?“

„Nein. Aber es würde auffallen, wenn wir dies an einem andern Ort täten, wo wir allein wären.“

„Also müßte es hier geschehen?“

„Ja, hier, wo man uns offen beobachten kann.“

„Gut! So sagen Sie mir nur noch, ob es auffällig sein würde, wenn ich Sie nachher nach Hause begleitete.“

„Ja; man würde sehr darüber sprechen, und ich dürfte mich nicht wieder sehen lassen.“

„Und doch wäre ich so glücklich gewesen, wenn Sie mir die Erlaubnis dazu hätten erteilen können!“

Sie befand sich in einer großen Verlegenheit. Sie hatte geträumt von einem, der vornehmer sein müsse, als der Sohn des Maire; dieser Traum war so wunderbar in Erfüllung gegangen. Sollte sie sich die Gunst des Schicksals dadurch verscherzen, daß sie diesem Baron seine Bitte versagte? Und doch wußte sie, daß sie sich einem bösen Gerede aussetze, wenn sie auf seinen Wunsch einging.

Er sah, daß sie mit sich kämpfte, daß sie wohl nicht ganz abgeneigt war, ihm die erbetene Erlaubnis zu erteilen. Daher fügte er weiter hinzu:

„Können wir es nicht so einrichten, daß man es nicht bemerkt?“

„Was würden Sie da von mir denken, Monsieur?“

„Ich würde nur denken, daß Sie ein sehr verständiges Mädchen sind, Mademoiselle.“

„Was veranlaßt Sie aber zu dem Wunsch, mich zu begleiten?“

„Wenn Sie sich das nicht selbst sagen wollen, kann ich es Ihnen auch nicht erklären. Eine schöne Musik hört man gern so lange wie möglich, und ein schönes Gemälde betrachtet man, bis man seine Schönheiten alle aufgefunden und genossen hat. Das Glück, bei einer jungen, hübschen Dame sein zu dürfen, dehnt man aus demselben Grund soweit wie möglich aus. Es wäre ja ganz leicht, daß ich vor Ihnen den Saal verlasse und Sie dann erwarte. Der Abend ist so schön. Wir könnten noch ein wenig promenieren gehen.“

„Dann würde es klüger sein, daß ich eher gehe und Sie erwarte.“

„Warum?“

„Weil es ungebräuchlich ist, daß die Dame den Herrn erwartet. Man wird also nicht so leicht auf den Gedanken kommen, daß ich dies tue, sondern glauben, daß ich nach Hause gegangen bin.“

„Ah, Sie sind nicht bloß schön, sondern auch klug! Also werde ich Sie begleiten dürfen?“

„Ich weiß noch nicht. Um dies sagen zu können, müßte auch ich Ihnen eine Frage vorlegen dürfen.“

„So fragen Sie.“

„Aber diese Frage wird Sie vielleicht verletzen.“

„Aus Ihrem Mund verletzt sie mich nicht.“

„Nun wohlan! Sie sind verheiratet?“

Er hatte gewußt, daß es diese Frage sei, und doch wußte er nicht sofort, was er antworten solle; erst nach einer kleinen Pause erklärte er ihr:

„Nein. Ich war es, aber meine Frau ist gestorben.“

„So sind Sie Witwer?“

„Ja.“

„In diesem Fall ist es mir erlaubt, Ihre Begleitung anzunehmen. Wenn Sie nach mir den Saal verlassen, so gehen Sie rechter Hand aus dem Dorf hinaus. Es sind nur zwei Minuten bis zum letzten Haus, dort werde ich Sie erwarten.“

Er nickte ihr dankbar zu. Er hätte ihr gern die Hand dafür gedrückt, oder ihr einen Kuß dafür gegeben; aber das erstere wäre aufgefallen, und das letztere war ganz unmöglich.

Sie blieben für den Abend miteinander an dem Tisch beisammen. Er tanzte noch öfters mit ihr, und so fiel es gar nicht auf, daß sie an seinem Mahl teilnehmen durfte. Höchstens fühlte man Mißgunst anstatt Mißtrauen. Und als sie endlich Abschied nahm und von ihm höflich entlassen wurde, war allen Hintergedanken die Möglichkeit abgeschnitten.

Er wartete noch einige Minuten und ging dann auch. Er suchte seinen Diener auf und befahl ihm, da er noch ein wenig frische Luft schöpfen wolle, dafür zu sorgen, daß er bei seiner Rückkehr die Tür noch offen finde. Dann verließ er das Haus.

Rallion fand die reizende Adeline an dem angegebenen Ort seiner wartend. Sie weigerte sich nicht, ihm ihren Arm zu geben, und dann spazierten sie miteinander unter den Bäumen dahin, welche die nach Mézières führende Landstraße zu beiden Seiten einfaßte.

Sie sprachen über nichts und vieles. Bei einem solchen Beisammensein gewinnt ja das Nichtssagendste eine Bedeutung. Er hatte bald den Arm um ihre Taille gelegt, was sie ihm nicht verwehrte, und als er endlich versuchte, ihr einen Kuß zu geben, fand er nur einen Widerstand, der nicht schwer zu besiegen war.

Doch machte Adeline ganz und gar nicht den Eindruck auf ihn, als ob sie gegen einen jeden anderen in gleicher Weise sich verhalten hätte.

Auf dem Rückweg war ihre Umschlingung schon weit inniger geworden, und sie blieben von Zeit zu Zeit stehen, um ihre Lippen zu einem Kuß zu vereinigen. Als dann das Dorf wieder vor ihnen lag, sagte er im Ton des Bedauerns:

„Wie schnell ist diese Stunde vergangen! Ich wünsche sehr, Sie näher kennenzulernen.“

„Ist das etwas so Schweres?“ fragte sie.

„Gut. Ich werde morgen noch hier bleiben.“

„Werden Sie die Zustimmung Ihres Gefährten erlangen?“

„Er wird zustimmen müssen. Aber wird es uns auch möglich sein, uns zu treffen und zu sprechen?“

„Ja, wenn Sie es wünschen.“

„Ich wünsche es sogar sehr. Bitte, geben Sie Zeit und Ort an.“

Sie blieb stehen und deutete nach rechts hinüber.

„Sehen Sie im Mondenschein dort die Waldecke?“ fragte sie.

„Ja.“

„Am Tag werden Sie eine hohe Eiche bemerken, welche dort steht. An dieser Eiche treffen Sie mich Mittag Punkt ein Uhr. Ich gehe Pflanzen sammeln.“

„Ah! Köstlicher Gedanke! Ich werde Ihnen helfen!“

„Wir werden fleißig sein. Jetzt gute Nacht, Monsieur.“

„Gute Nacht.“ – – –

Während seiner Abwesenheit hatte sich etwas nicht Unwichtiges ereignet oder vielmehr schon, während er sich noch in dem Saal befand.

Gerade als der Kapitän sein Abendbrot verzehrte, waren zwei neue Gäste angekommen, ein älterer und ein jüngerer Mann. Sie nahmen an einem nahen Tisch Platz. Es war Richemonte ganz so, als ob er den älteren bereits gesehen habe, doch konnte er sich nicht besinnen.

Beide bestellten sich Trank und Speise. Während dieses letztere aufgetragen wurde, fragte der ältere:

„Logiert nicht ein fremder Herr bei Ihnen, welcher seinen Namen Laroche eingetragen hat?“

„Ja, Monsieur“, antwortete der Wirt.

„Haben Sie noch Platz für uns beide?“

„Sind Sie die zwei Herren, welche Monsieur Laroche erwartet?“

„Ja. Hat er von uns zu Ihnen gesprochen?“

„Er hat mir gesagt, daß Sie sich hier treffen wollen. Er wird nicht schlafen gehen, sondern Sie auf seinem Zimmer erwarten.“

„Welches Zimmer ist es?“

„Nummer drei.“

„Gut. Geben Sie auch uns ein Zimmer!“ Und zu seinem Gefährten gewendet, fragte er: „Wir brauchen doch nicht verschiedene Stuben?“

„Nein, wir bleiben beieinander, Onkel Florian.“

Bei dieser Antwort des Jüngeren ging es wie ein helles Licht durch Richemontes Gedächtnis. ‚Onkel Florian!‘ Ja, jetzt besann er sich. Diesen Menschen hatte er nicht nur irgendwo gesehen, nein, den kannte er sogar sehr genau. Es war Florian Rupprechtsberger, der einstige Kutscher von Jeannette. Was wollte dieser Mensch hier? Er wohnte in Berlin bei der Familie von Königsau! Wer war dieser sogenannte Herr Laroche, welcher ihn erwartete?

Diese Fragen legte er sich vor. Er hatte Zimmer Nummer Zwei und lag also neben diesem Laroche. Er stand, kurz entschlossen, auf und begab sich nach oben; gar unhörbar schritt er auf die Tür seines Zimmers zu und öffnete ebenso leise mit dem Schlüssel. Sodann stellte er einen Sessel hart an die von seiner Seite aus verriegelte Verbindungstür der beiden Zimmer, und nahm Platz darauf, um schweigend das Kommende abzuwarten. Er war überzeugt, sich äußerlich so verändert zu haben, daß Florian ihn nicht erkannt haben könne.

Endlich, nach längerer Zeit, hörte er Schritte. Man klopfte drüben.

„Wer ist da?“ fragte eine Stimme von innen.

„Ich, Florian.“

Es wurde geöffnet, und der Genannte trat ein.

„Welche Unvorsichtigkeit, deinen Namen draußen auf dem Korridor zu nennen!“ hörte Richemonte. „Wir gehen hier unter fremden Namen und müssen dieselben beibehalten! Du kommst sehr spät. Ich dachte, daß es sich bei Nacht im Wald sehr schlecht suchen läßt.“

„Ich denke, daß ich Ihre Verzeihung schon erlangen werde. Wie gut, daß wir uns trennten! Man bestreicht da in der gleichen Zeit eine größere Fläche.“

„Wie?“ fragte der andere schnell und freudig. „Bist du vielleicht glücklich gewesen?“

„Oder Sie, gnädiger Herr?“

„Ich wurde nicht vom Glück begünstigt.“

„Und ich denke, den Ort gefunden zu haben. Sie hatten zwar den Situationsplan bei sich, aber ich habe mir alles ganz genau gemerkt. Die Bäume, welche auf dem Plan stehen, sind natürlich größer und stärker geworden, zwischen ihnen kann Gebüsch entstanden sein, aber es stimmte alles: die Erhöhungen und Vertiefungen, die Bäume, nur der Baumstumpf fehlte, welcher mit angegeben ist.“

„Er kann währenddessen ausgefault sein. Hast du nicht den Boden untersucht?“

„Wir hatten keine Werkzeuge mit als unsere Stöcke und Messer, und eine Kriegskasse vergräbt man doch tiefer, als daß man sie mit dem Messer erreichen kann. Wir müssen uns morgen einen Spaten verschaffen und den Ort gemeinschaftlich untersuchen.“

„Natürlich! Für morgen genügt es nur, zu wissen, ob wir den richtigen Ort gefunden haben, und dann –“

Da begann drüben die Tanzmusik wieder aufzuspielen, und Richemonte konnte kein Wort mehr verstehen.

„Donnerwetter!“ flüsterte er erregt. „Da taucht die Kriegskasse wieder auf. Sie suchen sie; sie haben sie vielleicht schon gefunden, wenigstens den Ort, an welchem sie vergraben liegt. Dieser Laroche ist ganz sicher ein Königsau! Welch ein Glück, daß wir hier eingekehrt sind! Aber dieses Mal sollen sie mir nicht entkommen. Die Kasse wird mein, oder der Teufel ist mit ihnen im Bunde!“

Noch während die Musik spielte, hörte Richemonte drüben die Tür gehen. Florian entfernte sich. Jetzt gab es nichts mehr zu erlauschen; darum entkleidete Richemonte sich leise und legte sich zu Bett. Aber der Schlaf floh seinen Augen; die Gestalten der Vergangenheit wurden lebendig und traten vor seine Seele, all sein Zorn, sein Grimm, sein Haß wurden wieder wachgerufen. Er wälzte sich auf dem Lager hin und her und zog, als der Tag anbrach, es vor, auf den Schlaf zu verzichten.

Er durfte sich jetzt unten nicht sehen lassen; aber er verließ leise sein Zimmer, um dem Diener einzuschärfen, wie er sich zu verhalten habe. Als er dann zurückgekehrt war, schloß er sich ein und zog sich leise an. Er mußte, wenn die Kriegskassensucher das Gasthaus verließen, bereit sein, ihnen zu folgen.

Als dann das Leben sich im Haus zu regen begann, huschte er einmal hinab, um zu gebieten, daß keinem, der etwa nach ihm und seinem Gefährten fragen würde, Auskunft erteilt werden solle. Ein Baron und ein Kapitän, das waren hier so seltene und so vornehme Leute, daß er überzeugt war, man werde genug Respekt haben, sein Gebot zu befolgen.

Nun stellte er sich auf die Lauer. Er bedauerte, daß er keine Waffen bei sich trug; doch hatte er ein Einschlagemesser bei sich, dessen eine Klinge so lang, scharf und spitz war, daß es sich immerhin als Verteidigungswaffe, unter Umständen sogar zum Angriff, gebrauchen ließ.

Endlich regte es sich in dem Zimmer neben ihm. Der Bewohner desselben hatte ausgeschlafen und begab sich nach kurzer Zeit hinab in die Gaststube. Eine halbe Stunde verging, und dann sah Richemonte, daß drei Personen aus dem Haus traten und sich langsam entfernten. Zwei waren frühere Kutscher, Florian und sein Verwandter, und das Gesicht des dritten zeigte eine solche Familienähnlichkeit, daß der Kapitän in ihm sofort einen Königsau erkannte.

Jetzt verließ auch er sein Zimmer und begab sich eiligst zu dem Baron, den er noch im Bett fand.

„Schon wach?“ sagte Sainte-Marie. „Wir wollen doch nicht etwa schon aufbrechen?“

„Nein“, antwortete er. „Du kannst ruhig liegen bleiben. Wir werden heute noch nicht abreisen.“

„Nicht?“ rief der Baron, ebenso erfreut wie verwundert. „Aus welchem Grund?“

„Ich habe keine Zeit, dir das jetzt auseinanderzusetzen. Ich muß schleunigst ausgehen und komme wohl erst am Abend nach Hause. Dann wirst du erfahren, um was es sich handelt. Ich hoffe, daß du dir die Zeit nicht lang werden läßt.“

Er hatte keine Ahnung von der Freude, welche er mit dieser Mitteilung seinem Verwandten machte, und verließ nun das Gasthaus mit dem festen Vorsatz, Königsau und seine beiden Begleiter nicht aus dem Auge zu lassen.

Draußen vor dem Dorf bekam er sie zu Gesicht. Sie waren von der Straße abgewichen und machten sich an einem Feld zu schaffen. Bei demselben stand nämlich ein Pflug, neben welchem eine Hacke und eine Schaufel lagen. Die beiden letzteren Instrumente waren ihnen ein sehr willkommener Fund. Sie nahmen dieselben auf und entfernten sich rasch, um nicht etwa mit dem Eigentümer in Kollision zu kommen.

Richemonte folgte ihnen von weitem. Das Terrain war ein sehr kupiertes, und so wurde es ihm nicht schwer, sie im Auge zu behalten, ohne von ihnen gesehen zu werden. Erst als sie den Wald erreichten, mußte er sich näher an sie heranmachen, um sie sich nicht entgehen zu lassen. – – –

Was den Baron betrifft, so dachte er mit Wohlgefallen an sein gestriges Abenteuer. Er befahl dem Diener, ihn im Gasthof zu erwarten, und begab sich zu der verabredeten Zeit zu dem Rendezvous. Der betreffende Baum war sehr leicht zu finden, da er weit über seine Umgebung emporragte.

Adeline hatte bereits auf ihn gewartet und duldete es ohne Widerstreben, daß er sie mit einem Kuß begrüßte.

„Beinahe wäre es mir unmöglich gewesen, Wort zu halten“, sagte sie.

„Warum?“

„Weil mein Vater heute selbst geht, um Kräuter zu suchen, die ich noch nicht kenne. Er hat einige Patienten in seiner Herde, für welche er die Pflanzensäfte braucht. Nun sollte ich mit der Mutter bei den Tieren bleiben, habe aber einen alten Gevatter zu ihnen gestellt.“

„Das hast du recht gemacht, mein liebes Kind. Wir werden nun miteinander durch Busch und Wald streifen und einige sehr schöne und glückliche Stunden genießen.“

Das geschah. Sein Kopf war geschwächt; er dachte nicht an die Folgen, welche seine Begegnung mit der reizenden Adeline haben könne; er sagte ihr seinen Namen, nannte ihr seinen Wohnort und gab ihr schließlich in seiner Gedankenlosigkeit das Versprechen, sie zu heiraten.

Was Adeline betrifft, so fühlte sie keine Leidenschaft für ihn. Seine Person war keine unangenehme; sie konnte ihn gut leiden. Die Hauptsache für sie bestand in seinem vornehmen Rang. Und als er ihr endlich gar das erwähnte Versprechen gab, da war für sie kein anderer Gedanke und keine andere Rücksicht vorhanden, als ihn bei diesem Versprechen festzuhalten. Baronin von Saint-Marie zu werden, welch ein Gedanke! Um ihn zu verwirklichen, wäre sie zu allem fähig gewesen, vielleicht selbst zu einem Verbrechen.

So streiften sie durch den Wald, zuweilen sich zu einer kurzen Ruhe niedersetzend, um die Süßigkeiten der Liebe gegenseitig auszutauschen. Sie achteten dabei nicht auf die Richtung und den Weg; die Liebe war der einzige Gedanke, den sie hatten.

Sie saßen jetzt abermals im duftenden Moos, sich liebkosend und von der glänzenden Zukunft sprechend, welche dem armen Hirtenmädchen bevorstand, als plötzlich, gar nicht weit von ihnen, ein lauter Schrei erschallte.

Sie horchten auf, und Adeline sagte:

„Mein Gott, das war kein gewöhnlicher Schrei! Es ist –“

Sie hielt inne und fuhr erschrocken zusammen, denn es erscholl ein Hilferuf, laut und gräßlich, wie ihn nur einer, welcher sich in Todesgefahr befindet, ausstoßen kann.

„Was geschieht da!“ stieß er hervor. „Mein Vater ist im Wald! Komm!“

Sie faßte den Baron bei der Hand, um ihn fortzuziehen.

„Ja“, sagte er. „Es befindet sich jemand in Todesgefahr. Komm! Wir müssen helfen!“

Er rannte voran, und sie folgte ihm. Die beiden Rufe hatten ihnen die Richtung angegeben. Sie gelangten an eine Stelle, wo der Boden des Waldes sich zu einer Art Schlucht niedersenkte. Da unten war der Schauplatz eines erbitterten Kampfes.

Zwei Männer hatten einen dritten gepackt; sie strengten sich an, denselben niederzuringen, während er sich mit einem Messer gegen sie wehrte. Nicht weit von ihnen lag ein vierter auf der Erde; er schien tot zu sein. In kurzer Entfernung von der ringenden Gruppe sah man ein breites, frisch gegrabenes Loch, aus welchem die Stiele einer Hacke und einer Schaufel emporragten.

Die beiden ersteren waren Florian und sein Neffe; der dritte mit dem Messer war Richemonte, und der, welcher mit einer Stichwunde in der Brust an der Erde lag, war kein anderer als Gebhard von Königsau.

Der Baron sah seinen Verwandten in offenbarer Lebensgefahr. Er wußte zwar nicht, um was es sich handele, aber er fühlte den Drang, Richemonte beizustehen. Er sprang die steile Böschung hinab, ohne von den Ringenden, welche nur mit sich selbst beschäftigt waren, bemerkt zu werden, ergriff die Hacke, holte aus und schlug mit solcher Gewalt auf Florian ein, daß der arme, treue Mensch mit vollständig zerschmettertem Kopf zusammenbrach. Ein zweiter Hieb traf den Verwandten des einstigen Kutschers. Richemonte hielt ihn mit den Armen fest umschlossen.

„Ah! Du!“ rief er. „Welch ein Glück! Komm, schlage auch den nieder! Ich halte ihn fest!“

Der junge Mensch konnte sich nicht bewegen. Er sah die Hacke hoch erhoben, stieß einen fürchterlichen Angstschrei aus und lag im nächsten Moment neben seinem ermordeten Oheim.



Richemonte schnaufte noch vor Anstrengung. Er hatte es mit kräftigen Gegnern zu tun gehabt. Fast atemlos fragte er:

„Aber wie kommst du hierher?“

Der Baron stand wie eine Bildsäule vor ihm. Mit noch erhobener Hacke starrte er nach den Leichen der beiden Männer, welche er getötet hatte.

„Nun?“ drängte Richemonte ungeduldig.

Da sah ihn der Baron wie abwesend an und antwortete:

„Was sagtest du?“

„Ich will wissen, wie du an diesen Ort gekommen bist.“

„Ich ging spazieren. Aber, mein Gott! Die Hacke ist voller Blut und dein Messer auch.“

Richemonte blickte es an, verzog den Mund zu einem grimmigen Lächeln und antwortete:

„Natürlich ist es blutig! Ich habe ja diesen Menschen damit niedergestochen!“

„Wer ist er? Warum griffen sie dich an?“

„Sie mich? Pah! Ich war es, welcher angriff!“

„Du? Warum?“

Seine Augen zeigten einen eigentümlichen, irren Flimmer, und der Ton seiner Stimme war nicht mehr derjenige eines Menschen, welcher vollständig selbstbewußt redet und handelt. Der Anblick des Blutes hatte die alten Erinnerungen wachgerufen.

„Du kennst diesen Menschen nicht“, antwortete Richemonte, auf Gebhard deutend. „Er hat mit den beiden anderen hier dieses Loch gegraben. Kannst du dir denken, warum er von Deutschland hierhergekommen ist, um die Hacke in diesen Boden einzuschlagen?“

„Nein.“

„So will ich dir sagen, daß hier die Kriegskasse vergraben liegt, welche wir so lange gesucht haben.“

Da kehrte das Bewußtsein in den Blick des Barons zurück. Seine Augen leuchteten auf, und er rief:

„Die Kriegskasse? Donnerwetter! Wir werden reicher!“

„Ja, wir werden Millionen besitzen. Dieser Mensch ist Gebhard von Königsau, welchen wir bereits in Algerien verfolgten! Er ist uns damals entgangen; jetzt aber habe ich meine Rechnung vollständig mit ihm abgeschlossen. Der andere hier ist der Kutscher Florian, und der dritte sein Verwandter, wie ich gestern erlauschte.“

Der Baron war an den Rand des Lochs getreten. Er blickte hinab, die Hacke noch immer in der Hand. Sein Gesicht hatte jenen Ausdruck wieder angenommen, welcher ein Vorbote eines jener Anfälle war, unter denen der geistig Gestörte zu leiden hatte.

„Das Geld ist da unten! Der Schatz! Die Kriegskasse! Da muß man hacken, hacken! Heraus mit dem vielen Geld, und hinein mit den Erschlagenen!“

Während er diese Worte sprach, sprang er in das Loch hinab und begann zu hacken, ohne sich weiter um den alten Kapitän zu bekümmern.

Dieser hatte antworten und in seiner Erklärung fortfahren wollen, kam aber nicht dazu. Seine Augen waren erschrocken nach dem Rand der Schlucht gerichtet, von welchem zwei Personen langsam herabgestiegen waren.

Während nämlich der Baron dem Kapitän zu Hilfe gesprungen war, hatte Adeline vor Schreck über den Anblick der Kämpfenden, ihre Schritte gehemmt. Sie war kein furchtsames Wesen, der erste Eindruck war rasch bekämpft, und schon wollte sie dem Geliebten folgen, als sie hinter sich das Geräusch von schnellen Schritten hörte.

Sie drehte sich um und erblickte – ihren Vater, welcher, als er sie erkannte, erstaunt stehen blieb. Er hatte ein Messer mit sehr langer Klinge in der Hand. Es diente ihm zum Ausgraben der Wurzeln.

„Du hier, Mädchen?“ fragte er. „Ich denke, du bist daheim! Wer hat gerufen? Wer befindet sich in Gefahr?“

„Da, sieh!“ antwortete sie, nach unten deutend.

Er blickte hinab, gerade in dem Augenblick, in welchem der Baron den zweiten niederschlug.

„Ah! Mörder!“ meinte er. „Ich muß hinab!“

Sie faßte ihn am Arme und hielt ihn zurück.

„Halt, halt!“ raunte sie ihm zu. „Der eine ist mein Geliebter, ein Baron. Wenn du willst, daß ich Baronin werden soll, so sei still und menge dich nicht eher in diese Sache, als bis ich es will!“

Er machte ein höchst verblüfftes Gesicht.

„Du, eine Baronin?“ fragte er.

„Ja; komm mit hinab! Richte dich nur ganz genau nach meinem Verhalten!“

Richemonte sah sie kommen. Der Schreck verzerrte für einen Augenblick seine Züge. Er nahm den Griff seines Messers fester in die Hand. Der Schäfer hielt aber das seinige auch noch gefaßt. Zwei Zeugen des Mordes! Sollte es nochmals zum Kampf kommen?

„Herr Kapitän, befürchten Sie nichts!“ rief ihm Adeline entgegen. „Wir kommen als Freunde!“

„Wie! Sie kennen mich?“ fragte er.

„Ja. Ich habe dem Herrn Baron im Wald Gesellschaft geleistet, und da wurde natürlich auch von Ihnen gesprochen.“

„Wer sind Sie?“ fragte er finster.

„Ich heiße Adeline Verdy. Mein Vater ist Schäfer in dem Ort, wo Sie heute übernachteten.“

„Ah! So sind Sie wohl eine Tänzerin von gestern abend und hatten ein Stelldichein im Wald verabredet?“

„So ist es“, antwortete sie offen, obgleich seine Miene eine höchst verächtliche war.

„So sind Sie eine Kurtisane?“

„Ich weiß nicht, was dieses Wort bedeutet. Was ich bin, das werden Sie wohl noch erfahren.“

„Schön, schön, meine Verehrteste! Sie haben gesehen, was hier geschehen ist?“

„Natürlich!“

„Auch gehört, was wir gesprochen haben?“

„Jedes Wort.“

„Hole Sie der Teufel! Wie können Sie meinen Gefährten verführen, mit Ihnen im Wald herumzuschleichen! Wie können Sie sich mit Angelegenheiten befassen, welche nicht die Ihrigen sind?“

„Diese Angelegenheit ist gerade so gut die meinige wie die Ihrige; auch das werde ich Ihnen zu beweisen wissen. Hier ist ein Schatz vergraben, eine Kriegskasse. Diese drei Männer wollten sie holen und wurden dabei von Ihnen und dem Baron ermordet. Lassen Sie uns sehen, ob hier in Wirklichkeit etwas vergraben liegt. Du aber, Vater, halte dein Messer bereit. Dem Herrn Kapitän ist nicht zu trauen!“

Sie trat an das Loch, um den Bemühungen des Barons zuzuschauen. Der Schäfer bog sich zu den Toten nieder, um sie genauer zu betrachten. Richemonte wußte gar nicht, wie er sich verhalten solle. Dieses Mädchen hatte ihm gegenüber eine Sicherheit entwickelt, welche ihn in Bestürzung versetzte. Sie mußte sich im Besitz einer Tatsache befinden, welche ihr Grund gab, sich nicht vor ihm zu fürchten. Er trat zu ihrem Vater und fragte!

„Sie waren auch mit dem Baron im Wald?“

„Das geht Sie nichts an!“ brummte der Schäfer, welcher nicht wußte, ob er mit Ja oder Nein antworten solle. „Wir haben gesehen, daß Sie diese drei Männer ermordeten. Das Weitere wird sich finden.“

„Ah! Sie wollen den Inhalt der Kasse wohl mit uns teilen?“

„Was wir wollen, geht Sie jetzt noch nichts an! Sehen Sie zunächst zu, ob die Kasse wirklich zu finden ist.“

Der Kapitän zog die Lippe empor und entblößte seine langen, gelben Zähne. Er hätte den Schäfer und dessen Tochter am liebsten erstochen, fürchtete sich aber vor dem Messer des ersteren und wollte auch erst abwarten, was die beiden Personen gegen ihn unternehmen würden. Darum beschloß er, ihre Gegenwart zunächst zu ignorieren und den Baron bei seiner Arbeit zu unterstützen. Er stieg in die Grube und nahm die Schaufel in die Hand.

Der Baron arbeitete, ohne sich um irgendwen zu kümmern, wie ein Wahnsinniger, der er in diesem Augenblick auch wirklich war. Das Loch wurde zusehends breiter und tiefer, aber es zeigte sich keine Spur eines Kastens oder sonstigen Gefäßes.

Der Schäfer stand mit seiner Tochter am Rand der Grube. Es war ihm, als ob er träume. Seine Tochter wollte eine Baronin werden; man wollte hier eine Kriegskasse ausgraben. Beides war ja unglaublich! So verging eine halbe Stunde nach der anderen, ohne daß man etwas fand. Da sprang der Kapitän aus der Grube und rief:

„Nichts liegt da, gar nichts! Dieser Kerl, dieser Königsau, muß sich geirrt haben! Er hatte einen Zettel, einen Plan, nach dem er sich richtete. Wo muß er ihn haben? Wo ist dieses Papier hingekommen?“

Er suchte überall, ohne das Gesuchte zu finden. Da meinte die Schäferstochter, welche eine Sicherheit entwickelte, als ob sie in alle Verhältnisse eingeweiht sei:

„Hat er ihn vielleicht eingesteckt? Vater, suche den Toten dort einmal aus!“

Der Zettel war allerdings jetzt unmöglich zu finden. Er war, als Königsau von dem Kapitän rücklings überfallen wurde, und den Messerstich erhielt, zur Erde gefallen. Während des nachfolgenden Ringens hatten die drei Männer ihn in das aus der Grube aufgeworfene Land so tief hineingetreten, daß er nicht mehr zu sehen war, und Richemonte hatte dann so viel Erde darauf geschaufelt, daß alles Nachsuchen vergeblich sein mußte.

Während der alte Schäfer in die Taschen Gebhards griff und denselben hin und her wendete, begann aus der Wunde, welche nicht mehr geblutet hatte, das Blut von neuem zu fließen. Zu gleicher Zeit bewegte der Totscheinende die Arme.

„Herrgott! Er lebt noch!“ rief der Schäfer.

„Wirklich? Ist es wahr?“ fragte Richemonte, indem er schnell hinzutrat.

„Ja, er bewegt die Arme. Ich werde ihn untersuchen.“

Der Mann mochte einige chirurgische Kenntnisse besitzen. Er unterwarf den Deutschen einer eingehenden, möglichst genauen Untersuchung und meinte dann:

„Er lebt wirklich! Er ist nicht tot.“

„Wird er wieder zum Bewußtsein kommen?“ fragte Richemonte.

„Gleich wohl nicht. Die Verwundung ist eine schwere, eine lebensgefährliche. Er könnte bei guter Pflege wohl noch gerettet werden. Aber ehe er zum Bewußtsein gelangen könnte, wird ihn das Wundfieber gepackt haben.“

„Verdammt! Wir haben ihn in unserer Gewalt. Wir könnten ihn zwingen, uns das Geheimnis mitzuteilen. Wenn er stirbt, geht es verloren; wenn er aber leben bleibt, so wird er uns gefährlich!“

Er strich sich nachdenklich die Spitzen seines Bartes; dann wendete er sich mit einer raschen Bewegung an das Mädchen!

„Mademoiselle, haben Sie gelernt, zu schweigen?“

„Ja“, antwortete sie.

„Kann man sich auch auf Ihren Vater verlassen?“

„Geradeso, wie auf mich selbst.“

„Und würden Sie beide schweigen, wenn ich Ihnen verspreche, daß, falls wir die Kasse noch finden, Sie einen Teil der darin befindlichen Summe erhalten sollen?“

„Ja“, antwortete sie nachdenklich. „Ich setze aber voraus, daß dieser Teil ein nicht zu armseliger ist. Wieviel geben Sie?“

„Den zehnten Teil.“

„Das ist genug. Wir werden also schweigen.“

Es war eigentümlich, die Gesichter der beiden jetzt zu beobachten. Der Kapitän machte das Gesicht eines Fuchses, welcher mit der Henne einen ewigen Frieden schließt, um sie desto eher verspeisen zu können. Das Mädchen aber ließ ein Lächeln sehen, hinter welchem viel mehr verborgen lag, als der Alte ahnte. Der letztere fuhr fort:

„So sind wir also einig. Der Zufall hat uns zusammengeführt, und so wollen wir auch Verbündete bleiben. Es gilt, diesen Verwundeten heimlich so lange zu pflegen, bis er sprechen und uns sein Geheimnis mitteilen kann. Könnten Sie ihn nicht in Ihrer Wohnung aufnehmen?“

„Es würde sich vielleicht ermöglichen lassen, Monsieur.“

„Aber es dürfte kein Mensch etwas merken.“

„Das versteht sich ganz von selbst. Vorsicht und Verschwiegenheit liegen ja in unserem eigenen Interesse.“

„Nun gut. So wollen wir ihn verbinden, damit er nicht verblutet. Sie halten mich für den Mörder dieser Leute?“

„Ja“, antwortete sie, ihn furchtlos anblickend.

„Sie irren sich. Ich werde Sie von den Verhältnissen unterrichten, und dann sollen Sie sehen, daß Ihre gegenwärtige Meinung eine falsche ist.“

Sie nickte ihm freundlich zu und antwortete:

„Und Sie sollen auch meine Verhältnisse kennenlernen. Dann werden Sie überzeugt sein, daß ich alle Ursache habe, nichts zu tun, was zu Ihrem Schaden ist.“

„Ah! Wieso?“

„Davon später! Jetzt haben wir mehr zu tun.“

„Sie haben recht. Den Verwundeten können wir erst dann, wenn es dunkel ist, nach Ihrer Wohnung bringen. Bis dahin haben wir zu tun. Das Loch muß wieder zugeschüttet werden.“

„Und die Leichen?“

„Legen wir mit hinein. Vorwärts! Komm heraus!“

Diese letzten Worte galten dem Baron, welcher noch immer im Schweiße seines Angesichtes an der Vergrößerung des Loches arbeitete. Der Kapitän mußte ihn am Arm ergreifen und herausziehen. Er war von einem Anfall seiner Krankheit ergriffen worden. Sein Blick fiel auf die zerschmetterten Köpfe der beiden Leichen. Sie sahen gräßlich aus. Seine Augen wurden noch stierer, als sie vorher gewesen waren; er fuhr sich mit beiden Händen in die sich sträubenden Haare und rief in jammerndem Ton:

„Gott, ich habe sie gemordet! Ich bin ein Mörder! Wo ist die Kriegskasse? Wo ist sie?“

„Still!“ raunte ihm der Kapitän zu. „Soll man uns etwa hören und erwischen!“

„Erwischen? Nein, nein! Seid still, still! Sprecht leise, ganz leise! Aber der Mörder bin ich doch!“

„Es gibt Stunden, in denen sein Geist krank ist“, erklärte Richemonte den beiden anderen.

„Ich werde ihn gesund machen“, meinte Adeline.

Sie trat zu dem Baron, legte den Arm um ihn, drückte ihn zärtlich an sich und sagte:

„Sei ruhig! Sei still! Du bist doch kein Mörder!“

Er blickte ihr forschend in das Angesicht, und dabei schien es in seinem Geist ein wenig heller zu werden.

„Kein Mörder?“ fragte er. „Wer aber bist denn du? Ah, du bist meine Tänzerin, Adeline, die schöne Hirtentochter! Ja, ich bin kein Mörder. Du aber bist meine Braut, meine Geliebte. Komm, laß dich küssen!“

Er zog sie an sich und küßte sie auf den Mund. Sie litt es geduldig, als ob sich das von selbst verstehe.

„Adeline!“ meinte ihr Vater verwundert.

„Donnerwetter!“ bemerkte der Kapitän. „Eure Bekanntschaft scheint eine sehr innige zu sein!“

„Aber eine heilsame für den Kranken, wie Sie sehen“, antwortete Adeline.

Sie führte den Baron, der sich willenlos von ihr leiten ließ, nach einer kleinen Bodenerhöhung, wo sie mit ihm wie auf einem Felsen Platz nahm. Ihr Vater sah ihr verwundert zu. Sie schien ihm ein ganz anderes Wesen geworden zu sein. Der Kapitän aber brummte in den Bart:

„Alle Teufel! Da kommt mir eine Person in den Weg, welche mir sehr bequem, aber auch sehr unbequem werden kann. Welches von beiden das richtige ist, das wird sich ja wohl zeigen, und danach habe ich mich dann zu richten.“

Er forderte den Schäfer auf, ihm bei der Zuwerfung der Grube behilflich zu sein. Der Mann gehorchte. Er war, so lange er lebte, ein armer, aber ehrlicher Kerl gewesen. Jetzt war er auf einmal Zeuge eines mehrfachen Mordes geworden; er fühlte sich betäubt, er arbeitete, ohne zu wissen, was er eigentlich tat; er half, die beiden Leichen in das Loch legen, er schüttete die Erde in dasselbe, er stampfte sie fest und streute Laub und Reisignadeln auf die Stelle, welche nun bedeutend höher geworden war als vorher. Er tat das fast ganz ohne Willen und Absicht, so ungefähr, wie ein Nachtwandler es getan haben würde.

Unterdessen hatten der Baron und Adeline sich leise flüsternd unterhalten. Der erstere hatte unter fortwährender Liebkosungen ihr Mitteilungen gemacht, welche von ungeheurer Wichtigkeit für sie waren, wie ihre verstohlenen Blicke zeigten, welche sie von Zeit zu Zeit triumphierend auf Kapitän Richemonte richtete.

Endlich brach der Abend herein, und nun wurde der Verwundete auf eine bis dahin improvisierte Tragbahre gelegt und von Richemonte und dem Schäfer nach dem Häuschen des letzteren getragen. Der Baron und Adeline folgten Arm in Arm, als ob es sich ganz von selbst verstehe, daß sie so innig zusammen gehörten.

Was an diesem Abend in der Hütte des Schäfers noch geschah und verhandelt wurde, das deckte der Schleier des Geheimnisses. Der Knecht aus Jeannette wunderte sich nicht wenig, daß seine beiden Herren so spät nach dem Gasthof zurückkehrten. Geradezu bestürzt aber war er über den aufgeregten Zustand des Barons, welcher fast an Raserei grenzte.

Das, was Saint-Marie laut schrie und erzählte, war geradezu gefährlich. Der Kapitän mußte ihn mit Hilfe des Dieners binden und knebeln. Unter diesen Umständen war von einem Hierbleiben keine Rede. Es wurde ein Wagen zur Stelle geschafft; man lud den Baron auf und verließ noch während der Nacht den so verhängnisvollen Ort.

Das Ende der Reise, deren Erfolg erst ein so vorteilhafter gewesen war, zeigte sich als dem gerade entgegengesetzt. Der Baron war kaum zu bändigen. Er sah nur die Geister erschlagener Menschen und tief geöffnete Gruben mit Kriegskassen. Er bildete sich ein, während jeder Schlacht, bei Austerlitz, Magenta, Solferino und vielen anderen, Kriegskassen gestohlen zu haben. Er schrie einmal nach Liama und das andere Mal nach Adeline, um bei ihnen Rettung zu suchen vor den Gestalten, welche ihn verfolgten.

Die Ärzte, welche zu Rate gezogen wurden, rieten zu einer dauernden Ortsveränderung, und da sich gerade Gelegenheit bot, Jeannette mit einer anderen Besitzung zu vertauschen, so ging der Kapitän auf diesen Handel ein. Er war im Grunde genommen ganz froh, von Jeannette fortzukommen, denn mit diesem Ort waren zu unangenehme Erinnerungen für ihn verknüpft, und außerdem hatte er die Erfahrung gemacht, daß die Bewohner desselben mehr von seinen Verhältnissen erfahren hatten, als ihm lieb und angenehm sein konnte.

Der Ort, nach welchem er übersiedelte, war Ortry. Er hatte nur erst kurze Zeit da gewohnt, als ihm gemeldet wurde, daß eine junge Dame angekommen sei, welche ihn zu sprechen wünsche. Er staunte nicht wenig, in dieser Dame Adeline, die Schäferstochter zu erkennen. Sie war ganz wie eine Dame von Stand gekleidet. Jedenfalls hatte sie dazu einen Teil der Summe verwendet, welche der Kapitän ihrem Vater zurückgelassen hatte, um die zur Pflege Gebhards nötigen Ausgaben zu bestreiten.

„Bringen Sie mir gute Nachricht?“ fragte er sie.

„Ja“, lautete die Antwort. „Der Verwundete ist soweit hergestellt, daß für sein Leben nichts mehr zu befürchten ist.“

„Haben Sie über die Kriegskasse mit ihm gesprochen?“

„Ja. Er verweigert jede Auskunft.“

„Mir wird er sie nicht verweigern. Ich werde ihn zum Reden zu zwingen wissen! Noch heute fahren wir ab. Ich werde sogleich meine Reisevorkehrungen treffen.“

„Sie meinen, daß ich mit Ihnen fahren soll?“

„Natürlich!“

„Kann ich nicht vorher den Herrn Baron sehen?“

„Wozu?“

„Nun, es versteht sich ja ganz von selbst, daß ich gern sehen möchte, wie er sich befindet.“

„Das muß Ihnen gleichgültig sein. Sie scheinen zu vergessen, daß er sich nur in einem Anfall seiner Krankheit auf einige Augenblicke mit Ihnen beschäftigt hat. Zwischen einem Baron und einer Schäferstochter aber ist eine so große Kluft, daß Sie sich um das Befinden meines Sohnes gar nicht zu kümmern haben.“

Da stand sie von dem Stuhl auf, auf welchem sie Platz genommen hatte. Indem ihre Augen zornig aufblitzten, antwortete sie:

„Sie irren sich, Herr Kapitän! Der Unterschied zwischen einer ehrlichen Schäferstochter und Mördern, Dieben und gewesenen Spionen ist nicht so groß, wie Sie ihn hinstellen.“

Er machte eine Bewegung des zornigsten Erstaunens und rief:

„Wie meinen Sie das? Was wollen Sie damit sagen?“

„Ich will damit sagen, daß der Herr Baron mir alles erzählt hat. Während Sie die Grube zuwarfen, habe ich Ihre ganze Biographie von ihm erhalten. Ich weiß alles, alles, was Sie getan und verbrochen haben; ich stehe Ihnen mehr als ebenbürtig gegenüber und werde Ihnen beweisen, daß es ein großer Fehler ist, mich zu verachten, weil ich die Tochter eines ehrlichen Hirten bin.“

Da blitzte es heimtückisch in Richemontes Augen auf.

„Ah!“ sagte er. „Was mein Sohn gesprochen hat, ist ein Erzeugnis des Wahnsinns gewesen. Kommen Sie sofort mit zu ihm. Er wird alles, alles widerrufen.“

„Ich danke!“ antwortete sie, überlegen lächelnd. „Ich habe gehört, daß es in diesem Schloß viele verborgene Winkel gibt, in denen ich nicht gern verschwinden möchte. Ich gehe. Am Bett des Deutschen, den Sie töten wollten wie seine beiden Begleiter, werde ich mit Ihnen meinen Vertrag abschließen. Gehen Sie nicht auf denselben ein, so wird mein Vater sofort Anzeige des Geschehenen erstatten. Der, welcher verwundet in unserer Hütte liegt, ist der rechtmäßige Besitzer Ihres Eigentums, denn der einzige Saint-Marie, welchen es nach dem Tod des Marabut noch gab, ist von euch ermordet worden. Ich rate Ihnen: Machen Sie Ihren Frieden mit mir, sonst sind Sie verloren!“

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