SECHSTES KAPITEL Auf Schleichwegen

Die Gäste des Vaters Main hatten keine Ahnung von dem gehabt, was unter ihnen im Flaschenkeller und sodann über ihnen vorgegangen war, bis endlich der Kellnerin Betty auffiel, daß Sally sich nicht sehen ließ und ebenso wenig der Student aus Tours. Auch wußte sie, daß ihr Herr in den Keller gegangen war, um Wein zu holen. Warum kam er nicht mit demselben? Befanden sich etwa alle drei da unten beim Wein?

Sie wurde von Minute zu Minute neugieriger und stieg endlich mit einem Licht die Kellertreppe hinab. Da hörte sie ein leises Stöhnen. Sie erschrak und eilte zurück zu den Gästen.

„Kommt schnell herab in den Keller; da ist etwas passiert!“

Bei dieser Botschaft hörte natürlich die Unterhaltung sofort auf. Es wurden Lichter angebrannt, und dann begab man sich hinab. Da lag der Wirt, halb besinnungslos, hielt die Hand an den hinteren Teil des Kopfes und wimmerte.

„Hier ist etwas geschehen“, sagte der Emissär. „Er hat einen Hieb erhalten. Schafft ihn herauf und reibt ihm die Stelle mit Branntwein ein! Wer mag das gewesen sein?“

„Sally fehlt“, meinte Betty.

„Sally? Die wird ihn doch nicht überfallen haben!“

„Auch der Student ist hinaus und noch nicht wieder zurück!“

„Wer weiß, wo er steckt! Er wird in die Sally verliebt sein. Diese beiden sind es nicht gewesen.“

„Was wird es sein“, meinte einer. „Vater Main ist ganz einfach die Treppe hinabgestürzt.“

„Die Treppe hinab so weit nach hinten? Das ist ganz und gar unmöglich!“

„Er hat sich nach hinten geschleppt.“

„Warten wir, bis er wieder zu sich kommt; dann werden wir es erfahren.“

Die Einreibung auf den Hinterkopf, frisches Wasser in das Gesicht und eine tüchtige Prise Schnupftabak in die Nase brachte den Wirt bald zur Besinnung. Er blickte erst ganz erstaunt um sich und fuhr sich mit der Hand tastend nach der schmerzenden Stelle. Da aber kehrte ihm das Gedächtnis zurück, und sofort stand er auf.

„Donnerwetter, wo ist der Student?“ fragte er.

„Er ist mit der Sally zur Treppe hinauf, wohl in den Hof“, antwortete Betty.

„Dort würde der Hund beide zerreißen. Der Kerl hat mir einen Hieb gegeben. Ich war gerade im Umdrehen, als er zuschlug, und habe ihn erkannt. Suchen wir ihn!“

Sie fanden die Treppentür verschlossen, und erst nun merkte der Wirt, daß ihm die Schlüssel fehlten. Er nahm ein Licht und eilte in den Keller. Als er zurückkehrte, rief er:

„Er hat mir die Schlüssel gestohlen; er hat irgend etwas Schlimmes vor. Schnell, schnell, daß wir ihn noch erwischen.“

Er riß hinter den Fässern eine eiserne Brechstange hervor, mit deren Hilfe er die Treppentür aufsprengte. Draußen auf dem Hof lag der Hund erwürgt; außerdem waren ihm mehrere Rippen zertreten oder mit dem Knie gebrochen worden. Das Hoftor war verschlossen.

Jetzt eilte Main nach oben; aber nur die drei, welche an dem Mädchenraub teilgenommen hatten, durften ihm dorthin folgen. Dort fanden sie die beiden Leichen; die Gefangene war fort.

„Donner und Doria, wie kommt dieser – horcht!“

Auf diese Worte des Wirtes lauschten alle vier nach unten. Da hörte man den Ruf.

„Die Polizei, die Polizei. Hinten hinaus. Über die Mauer!“

„Wir sind verloren!“ stöhnte der Wirt. „Nur die Flucht kann uns retten. Schnell zum Dachfenster hinaus und beim Nachbar wieder hinein!“

Martin nämlich hatte sich dem Gebot seines Herrn zufolge nach der nächstliegenden Polizeistation begeben. Dort war er mit großen Augen empfangen worden. Er hatte sich während des Ringens mit dem Hund im Hofschmutz herumgewälzt und besaß infolgedessen kein sehr empfehlendes Äußeres.

„Was wünschen Sie?“ fragte der Polizeioffizier.

„Sie!“ antwortete er.

„Mich?“

„Ja.“

„Wozu? Sprechen Sie sich deutlicher aus.“

„Das kann geschehen, haben Sie vielleicht bereits gehört, daß die Komtesse von Latreau seit gestern abend verschwunden ist?“

„Närrische Frage. Natürlich wissen wir dies.“

„Die Polizei sucht nach ihr?“

„Natürlich.“

„Haben Sie sie?“

„Nein. Haben Sie etwa eine Spur von ihr?“

„Nein.“

„Nun, warum sprechen Sie dann über diese Angelegenheit?“

„Weil ich mich ungeheuer für sie interessiere. Wir haben nämlich keine Spur, sondern wir haben die Komtesse selbst.“

Der Offizier glaubte, es mit einem geistig gestörten Menschen zu tun zu haben; in dieser naiven Weise hatte noch niemand mit ihm zu sprechen gewagt.

„Wer sind Sie?“

„Monsieur Arthur Belmonte ist mein Herr, und infolgedessen bin ich sein Diener.“

„Können Sie sich legitimieren?“

„Ja, hier.“

Er zog eine Karte hervor und zeigte sie dem Beamten hin.

„Das reicht aus“, meinte dieser. „Aber ich bitte sehr, mir Ihr Anliegen in geordneter Weise vorzutragen.“

„Wie Sie wünschen, Monsieur. Ich werde also mein Anliegen in die beste Ordnung bringen, um es Ihnen vorzulegen. Da ich aber dazu wenigstens drei Tage brauche und jetzt die Zeit drängt, will ich Ihnen in aller Unordnung sagen, daß wir die Komtesse gefunden haben.“

„Gefunden? Ah! Wieso?“

„Gefunden und befreit.“

„Wer sind diese Wir?“

„Mein Herr und ich. Ist Ihnen die Boutique des sogenannten Vater Main bekannt?“

„Natürlich. Dieser Mann wohnt ja in meinem Bezirk.“

„Nun, bei ihm hat die Komtesse sich als Gefangene befunden. Wir haben sie soeben herausgeholt, und mein Herr schickt mich zu Ihnen, die in der Kneipe anwesende Versammlung zu arretieren.“

„Können Sie mir beweisen, daß sich die Baronesse de Latreau wirklich dort befunden hat?“

„Fragen Sie die Dame.“

„Das erfordert so viel Zeit, daß uns bis dahin die Kerls entgehen würden.“

„So lassen Sie sie ausreißen. Ich gehe auch.“

Damit war er zur Tür hinaus. Und als der Beamte ihm nachrief, tat er gar nicht, als ob er es höre.

Der Polizist war sich aber seiner Verantwortlichkeit bewußt. Er telegraphierte sofort an einige der nahe liegenden Büros nach Mannschaft, welche in der Zeit von einer halben Stunde beisammen war. Aber ehe er mit diesen Leuten in den Keller eindrang, fanden die Hauptpersonen Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. Die Festnehmung der anderen konnte zu nichts führen.

Martin hatte die Weisung erhalten, nach Hause zu gehen. Er konnte es sich aber doch nicht versagen, einen kleinen Umweg zu machen, um am Hotel des Generals vorüber zu gehen. Er wollte wenigstens an der Zahl der erleuchteten Fenster sehen, welchen Eindruck die Rückkehr der Geretteten gemacht habe.

Als er den Portier stehen sah, kam ihm der Appetit, sich in dem Ruhm seiner Taten zu sonnen. Er trat daher an ihn heran, grüßte höflich und fragte:

„Sie entschuldigen, Monsieur, gehört dieses Palais dem General, Grafen de Latreau?“

Der Portier war überzeugt, eine untergeordnete Persönlichkeit vor sich zu haben; er warf sich in Aplomb und antwortete in gewichtigem Ton:

„Ja, Monsieur, es gehört uns.“

„Ist dies der General, dessen Tochter gestern abend verführt worden ist?“

„Verf – Sie wollen doch sagen, entführt?“

„Höchstwahrscheinlich. Hat man sie noch nicht wieder?“

„O ja, man hat sie wieder.“

„Das ist sehr hübsch. Ist sie selbst wieder gekommen?“

„Nein. Man hat sie gebracht.“

„Gebracht? Hm! Da muß es ihr auswärts sehr gut gefallen haben!“

„Hören Sie, Monsieur, ich wollte, das wäre bei Ihnen auch der Fall. Machen Sie wenigstens jetzt, daß Sie bald nach auswärts kommen.“

„Oh, das hat noch gute Zeit. Ich stehe nämlich hier infolge meines Amtes.“

„Ah, so. Was sind Sie denn?“

„Reporter.“

„Für welches Blatt?“

„Für eine türkische Zeitung in Konstantinopel. Es wurde mir dorther gemeldet, daß der Sultan die Absicht habe, einige Pariserinnen mausen zu lassen. Als ich nun hörte, daß Ihnen die gnädige Komtesse abhanden gekommen ist, so dachte ich sogleich, der Sultan stäke dahinter. Nun sie aber wieder da ist, werde ich sogleich nach Konstantinopel telegraphieren, daß er nicht dahintersteckt.“

„Nein, der nicht. Es steckt vielmehr ein ganz obskurer Kneipenwirt dahinter. Er hat sie geraubt, um hunderttausend Franken Lösegeld zu erhalten. Das können Sie mit nach Konstantinopel telegraphieren.“

„Schön. Und was noch?“

„Daß die Polizei zu dumm gewesen ist, sie zu finden.“

„Die Polizei? Ist die hier in Paris auch dumm? Ich dachte, bloß in Konstantinopel. Das muß ich hintelegraphieren. Was aber noch?“

„Daß ein Weinhändler die Gnädige errettet hat.“

„Das ist hübsch von ihm! Das ist ein Beweis, daß es doch mitunter einen Weinhändler gibt, der ein Gefühl hat und ein menschliches Gemüt. Hat er es denn allein fertig gebracht?“

„Nein. Er hat seinen Diener mitgebracht. Ohne Domestiken ist so ein Rettungswerk niemals zu vollbringen.“

„Sie meinen, ohne Domestiken und Portiers. Wo stecken denn nun die beiden Retter?“

„Der Diener hat sich verduftet –“

„Sapperlot! Ist er so ätherisch? Das muß ich nach Konstantinopel telegraphieren. Und der Herr?“

„Der Herr liegt oben im Bett.“

„Im Bett? Donnerwetter! Ist er so schläfrig?“

„Krank.“

„Krank? Was fehlt ihm?“

„Ein Hund hat ihm den Arm zerbissen. Er hat viel Blut verloren, ohne es zu bemerken. Es muß ihm eine Ader, eine Arterie oder ein Ven – Ven –“

„Sie meinen, daß ihm eine Krampfader in die unrechte Kehle gekommen ist?“

„Ja, ja, so wird man es wohl nennen. Er ist droben bei uns umgefallen, und man hat nach dem Arzt gesandt, der soeben bei ihm ist.“

„Ist das Wahrheit oder auch so eine Krampfaderfistel?“

„Wahrheit.“

„So muß ich schleunigst hinauf.“

Er wollte fort; aber der Portier faßte ihn und hielt ihn zurück.

„Was wollen Sie oben? Sie gehören nicht hinauf!“ meinte er.

„O doch. Ich bin nämlich der verduftete Diener, ohne den so ein Rettungswerk gar nicht unternommen werden kann.“

Damit riß er sich los und eilte die Treppe empor. Er kam gerade zur rechten Zeit, beim Anlegen des Verbandes mitzuhelfen. Sodann wurde er zu dem General gerufen.

Diesem war es lieb, zu hören, daß der Diener Belmontes da sei. Von Martin konnte er Aufklärung über alles erhalten; besonders auch über Sally, welche mit der Komtesse gekommen war, ohne daß man ihren Anteil an der rettenden Tat genau kannte.

Martin erzählte alles, so daß der General nun ganz genau unterrichtet war; dann begab er sich zu seinem Herrn, den er im tiefen Schlaf fand.

Man bot ihm ein Zimmer an, er aber lehnte es ab. Er wußte seinen Herrn in guter Pflege und beschloß daher, nach Hause zu gehen und bei dieser Gelegenheit einmal bei seinem Schwälbchen vorüber zu gehen.

Er bemerkte von weitem, daß ihre Wohnung erleuchtet sei. Das Fenster stand offen; sie selbst aber war nicht zu sehen. Er machte einen Versuch und klatschte in die Hände. Richtig, er hatte sich nicht verrechnet. Das hübsche Köpfchen erschien oben im Rahmen des Fensters.

„Pst!“ machte er es hinauf.

„Bruder?“ fragte sie hinunter.

„Nein, Martin!“

„Ah! Ich komme.“

Es dauerte nicht lange, so wurde die Haustür geöffnet.

„Endlich! Endlich!“ flüsterte sie ihm entgegen.

„Hast du meine Karte gefunden?“

„Ja. Galt sie denn mir?“

„Freilich. Komm, sage mir guten Abend und laß dich küssen!“

Er wollte sie an sich ziehen, sie aber wehrte ab und sagte:

„Halt! Noch nicht! Erst muß ich wissen, warum du mir nicht Wort gehalten hast! Erst lädst du mich ein, und dann, wenn ich komme, bist du ausgeflogen.“

„Wie es die Schwalben zu machen pflegen.“

„Aber doch nicht ohne Grund!“

„Nein.“

„Welches war der deinige?“

„Die Liebste war uns abhanden gekommen.“

„Die Liebste? Uns? Wer ist denn da gemeint?“

„Wir, nämlich ich und mein Herr.“

„Ihr habt also eine Liebste miteinander?“

„Na, so wörtlich doch nicht; aber mein Herz ist sein Herz und mein Rock ist sein Rock; bei uns ist alles unser. Hast du denn nicht von der Komtesse de Latreau gelesen?“

„O doch! Ich bedaure sie sehr. Man sagt, daß sie ebenso schön wie reich, und ebenso reich wie gut sei.“

„Ja, gut scheint sie zu sein, sehr gut. Sie hat keinen einzigen Mucks getan, als mein Herr sie auf seine Arme nahm.“

„Dein Herr? Auf seine Arme?“

„Nun ja. Das mußte er doch tun, wenn wir sie retten wollten?“

„Ihr habt sie gerettet, ihr?“

„Freilich! Eben darum war ich nicht zu Hause.“

„Dann, o dann bist du entschuldigt. Aber erzähle schnell, wie es gekommen ist, daß gerade ihr sie gerettet habt.“

„Ich werde es dir erzählen, droben auf dem Sofa, weißt du, auf dem wir gestern saßen.“

„Wollen wir uns abermals in Gefahr begeben?“

„Ja. Wenn ich nur bei dir sein darf, so krieche ich ganz gern unter den Tisch.“

„So komm! Wollen es versuchen!“

Droben angekommen, blickte Martin zunächst in das Arbeitszimmer des Sekretärs.

„Hier herein verstecke ich mich nicht wieder“, meinte er. „Ah, dort liegt das Papier, welches er gestern mitbrachte.“

„Nein“, antwortete sie. „Das gestrige war das falsche; er hatte es bereits einmal ins Reine geschrieben. Heute früh merkte er es und hat sich dann am Mittag das Richtige mitgebracht.“

„Darf ich es mir einmal ansehen?“

„Warum nicht? Ganz gern.“

Das Heftchen war lange nicht so voluminös wie das gestrige. Er schlug es auf und las den Titel:

‚Über die Anwendung der französischen Kriegsmarine bei dem Kampf gegen Preußen und Süddeutschland‘.

Er setzte sich mit dem Heft zu der Lampe und überflog den Inhalt. Sie verzog das Gesichtchen zu einem leichten Schmollen und sagte:

„Sprachst du nicht von einem Kuß? Und nun geht dieses Papier vor!“

„Nein, der Kuß geht vor; du gabst mir keinen. Sei mir nicht bös, liebes Kind. Ich finde hier gerade etwas, was für mich von großem Wert ist.“

Da schlang sie die Arme um ihn, legte ihr Köpfchen an die Schulter und fragte:

„Was dürfte für dich von größerem Wert sein als ich?“

„Nichts, gar nichts. Aber gewisse Werte gibt es doch immerhin auch außer dir.“

„Nun, was denn zum Beispiel?“

„Diese Ziffern hier, mein Kind.“

„Ziffern? O weh! Wie können so häßliche Dinge für dich so wertvoll sein!“

„Oh, für dich ebenso wie für mich.“

„Wieso?“

„Hätte ich diese Ziffern, so könntest du mein Weibchen noch viel früher werden als ohne sie.“

„Das begreife ich nicht.“

„Dann muß ich es dir erklären. Die Marineschiffe sollen nämlich nächstens verproviantiert werden. Zum Proviant und auch zu den Medikamenten nun gehört Wein. Unser Chef hat sich bei der ausgeschriebenen Konkurrenz mit gemeldet. Keinem der Konkurrenten ist es gesagt worden, um welche Vorräte, um welches Quantum es sich eigentlich handelt. Dürfte ich mir diese Ziffern abschreiben, so wüßten wir das Quantum, könnten eine billige und genaue Veranschlagung aufstellen und würden ganz gewiß die Lieferung bekommen.“

„Und das wäre auch ein Vorteil speziell für dich?“

„Natürlich. Der Chef kann diese Aufstellung nur durch meine Beihilfe machen. Eine Extragratifikation oder die Stipulation eines Prozentsatzes vom Gewinn würde mir sicher sein.“

„Das wäre schön, sehr schön!“

„Natürlich! Je eher die Schwalben ihr Baumaterial finden desto eher wird ihr Nestchen fertig.“

Sie nickte höchst einsichtsvoll mit dem Köpfchen, fragte aber doch:

„Ist es denn erlaubt, solche Sachen abzuschreiben?“

„Wem könne es etwas schaden?“

„Aber meinem Bruder dürfte ich es dennoch nicht sagen.“

„Warum?“

„Er hat mir streng, sehr streng befohlen, seine Skripturen keinem Menschen zu zeigen.“

„Das ist traurig!“

„Oh, mit dir werde ich doch eine Ausnahme machen, zumal da du so großen Vorteil davon hast. Willst du Papier haben?“

„Ja. Aber wenn er inzwischen kommt?“

„Ich riegle von innen zu. Bis ich ihm dann öffne, haben wir alles in Ordnung gebracht.“

„Gut, mein Herzchen! So werde ich sogleich beginnen. Ist man dann fertig, plaudert es sich desto besser.“ –

Am andern Morgen kam Martin nach dem Palais des Generals, um seinen Herrn einen anderen Anzug zu bringen. Bei dieser Gelegenheit legte er ihm die neugewonnene Abschrift vor. Belmonte warf einen Blick auf dieselbe. Sein Wangen röteten sich noch tiefer, als es gewöhnlich bei freudigen Anlässen bei ihm zu geschehen pflegte.

„Mensch, du bist mir ein Rätsel!“ rief er aus. „Woher hast du nun wieder dieses hochwichtige Stück?“

„Aus meiner Quelle, Monsieur Belmonte.“

„Aus der Quelle, welche Alice heißt?“

„Ja. Ihr Bruder hatte es da liegen.“

„Welche Unvorsichtigkeit! Sie alle sind wert, gehangen zu werden, dieser Sekretär, dieser Graf Rallion und alle, die bei und mit ihnen beschäftigt sind. Schreibe es sofort ins Reine! Du bist ein wahrer Liebling des Glücks. Man wird gar nicht umhin können, seiner Zeit sich deiner zu erinnern.“

Einige Zeit später ließ er anfragen, ob der General geneigt sei, ihn zur Morgenvisite zu empfangen, und erhielt sofort eine zustimmende Antwort. Er warf einen Blick in den Spiegel und durfte mit sich zufrieden sein. Daß er den linken Arm in der Binde trug, konnte ihm in den Augen des Generals doch nur ein gewisses Relief verleihen.

Als er bei demselben eintrat, fand er seine Enkelin bei ihm. Sie war entzückend und schön. Die körperlichen und seelischen Leiden des letzten Tages hatten sie angegriffen. Die Stricke, in denen sie fast ebenso sehr gehangen wie gestanden hatte, mochten ihr zartes Fleisch verletzt haben; aber der lebhafte Glanz ihres Auges bewies, daß sie sich bereits auf dem Weg der Erholung befinde.

Ein dünnes weißes Morgenkleid, von Rosaschleifen vorn zugehalten, umhüllte ihren Körper. Sie lag wie ein Engel in dem bequemen Fauteuil. Arthur hätte vor sie hinknien können, um sie anzubeten.

Der General erhob sich, sobald er ihn erblickte und kam ihm entgegen. Er gab ihm in offener Freundlichkeit die Hand und sagte:

„Willkommen, Monsieur Belmonte. Verzeihen Sie Ella, daß sie sich nicht erhebt! Ich habe sie gebeten, sich zu schonen.“

Arthur machte ihr eine Verbeugung, welche selbst eine Französin tadellos nennen mußte. Als er näher trat, reichte sie ihm ihr Händchen entgegen.

„Mein Retter!“ sagte sie flüsternd.

In diesem Augenblick schien ihr Gesicht nicht Fleisch und Blut, sondern nur ganz Seele, ganz Gemüt zu sein. Und doch lag eine tiefe, tiefe Röte auf demselben, denn bei dem Wort Retter mußte sie natürlich zuerst an den Augenblick denken, in welchem er bei ihr eingetreten war, und an das Derangement, welches ihre Toilette dabei gezeigt hatte.

Er beugte sich tief, sehr tief nieder, als ob sie eine Königin sei, ergriff das dargebotene Händchen, um es ehrfurchtsvoll an seine Lippen zu drücken, und antwortete:

„Den tiefsten, den allertiefsten Dank, Komtesse.“

Sie warf einen schnellen Blick zu ihm empor, als habe sie ihn nicht verstanden; aber sogleich wußte sie auch, was er meinte. Er bedankte sich, daß er hatte ihr Retter sein dürfen. Das war das größte Kompliment, welches er ihr machen konnte.

Die herzlichste Dankbarkeit, welche Großvater und Enkelin beseelte, half gedankenschnell über das Formelle und Steife einer ersten Vorstellung hinweg. Er mußte erzählen, wie er zu der Ahnung gekommen sei, daß die Vermißte sich in der Spelunke befinde, die er nur aus geschäftlichen Rücksichten betreten haben konnte. Er berichtete dann weiter. Er tat, als ob man ihm und Martin nicht den mindesten Dank schulde und suchte nur das, was die Kellnerin getan hatte, in das rechte Licht zu stellen. Sein Vortrag war fließend und von jenen ästhetischen Wellen getragen, welche nur dem Seelenleben eines hochgebildeten Geistes eigen sein können.

Beide hörten ihm mit Spannung zu und blickten, als er geendet hatte, einander an, als wollten sie sich fragen:

„Ist das wirklich ein Weinhändler? Man möchte alles darauf wetten, daß er etwas anderes, Besseres, weit Distinguierteres sei.“

Der Graf nickte sodann leise vor sich nieder und sagte:

„Sie sind nicht nur ein kühner, scharfsinniger und gewandter Mann, sondern, was bei mir noch mehr gilt, auch ein guter Mensch. Ihre Schilderung dieser Sally hat mich tief gerührt. Sie soll einstweilen bei mir bleiben, und dann werde ich reichlich für sie sorgen. Wie aber soll ich Ihnen dankbar sein?“

Da schüttelte Ella das holde Köpfchen und sagte:

„Das ist unmöglich, Papa. Er hat für mich sein Blut vergossen; er ist für mich zum Märtyrer geworden.“

„Und ich habe ihm mit Undank gelohnt; ich habe ihn schwer beleidigt und gekränkt, indem ich ihm kein Vertrauen schenkte. Das ist eine Sünde, welche kaum vergeben werden kann. Ich darf Ihnen nur das Wort, aber nicht die Tat des Dankes anbieten. Und ich erhöhe meine Schuld, indem ich Sie dringend ersuche, sich meines Arztes, und zwar in meinem Haus zu bedienen.“

Arthur verbeugte sich abermals vor ihm und antwortete:

„Exzellenz, dieser Vorschlag ist ein Zeichen großer Herzensgüte und ehrt mich weit über mein geringes Verdienst. Auch würde ich, um nicht undankbar zu erscheinen, denselben akzeptieren, wenn ich nicht gezwungen wäre, bereits morgen Paris zu verlassen.“

„Ah, Sie bleiben nicht hier! Aber macht nicht Ihre Wunde eine Verlängerung Ihres hiesigen Aufenthalts notwendig? Sie sollten sich pflegen und erholen.“

„Die Verwundung ist keineswegs gefährlich. Es war nur der Blutverlust, welcher mir das Bewußtsein raubte.“

„Ich ersuche Sie, diese Sache nicht leicht und meine aufrichtige gemeinte Einladung nicht für eine bloße Höflichkeit zu nehmen.“

„Auch ich schließe meine Bitte Papas Wünschen an“, sagte Ella, indem sie ihr schönes Auge mit freundlicher Sorge auf seinem Angesicht ruhen ließ. „Ich kann unmöglich zugeben, daß mein Retter einer erneuten Gefahr entgegengeht, nur aus dem Grund, weil er vielleicht denkt, daß unsere Einladung bloß ein kaltes Ergebnis der gesellschaftlichen Sitte sei.“

Diese Worte taten ihm wohl, aber dennoch sah er sich gezwungen, abzulehnen. Er war nicht Herr seiner Zeit; er hatte dringende Aufgaben zu lösen und durfte einer nicht gefährlichen Verwundung wegen keine seiner Pflichten versäumen. Darum antwortete er:

„Ich bin überzeugt, daß Ihre Güte ein Ausdruck Ihres aufrichtigen und wohlwollenden Herzens ist; aber ich bin leider nicht imstande, frei über mich und meine Zeit zu verfügen. Ich bin von meinem Prinzipal mit dem Abschluß sehr wichtiger, geschäftlicher Verbindungen beauftragt, an deren Zustandekommen die Versäumung weniger Stunden verhindernd einwirken kann. Meine Abreise war für morgen festgesetzt, und ich sehe mich wirklich leider ganz außerstande, eine Änderung dieser Disposition aus eigenmächtigem Entschluß eintreten zu lassen.“

„Nur, wir haben kein Recht, in Sie zu dringen“, meinte der General; „doch, wenn wir jetzt auf Sie verzichten müssen, so hoffen wir doch, Sie baldigst wiederzusehen.“

„Ich werde bei meiner Rückkehr nach Paris nicht versäumen, mir ihre Befehle einzuholen, gnädiger Herr.“

„Wir werden uns freuen, Sie bei uns zu sehen; doch muß ich Ihnen sagen, daß wir für die Sommermonate einen anderen Aufenthalt gewählt haben. Wir pflegen uns bereits seit Jahren um diese Zeit auf Gut Fleurelle bei Etain zurückzuziehen. Wohin werden Sie von hier aus gehen?“

„Nach Metz.“

„Ah, nach Metz! Sie beabsichtigen dort Verkäufe?“

„Ich hoffe, dort einige größere Bestellungen zu erhalten.“

„Haben Sie bereits Verbindungen dort?“

„Noch nicht.“

„Nun, so kann ich vielleicht, wenn Sie es gestatten, Ihnen behilflich sein. Welche Weine führen Sie?“

„Meist die Sorten von Roussillon.“

„Ich kenne sie nicht. Sind sie gut?“

„Sehr! Besonders der weiße Maccabeo. Die roten Sorten sind gedeckt, dick und von außerordentlich schöner Farbe.“

„Eignen sie sich für medizinische und Verpflegungszwecke?“

„Außerordentlich, Exzellenz. Ich kann zum Beispiel für Rekonvaleszenten den Maccabeo dringend empfehlen.“

„Das freut mich sehr. Ich habe einen Freund, den General Coffiniéres in Metz. Er ist zum Gouverneur dieser Festung ernannt worden. Man scheint Gründe zu haben, die dortigen Magazine zu füllen, und Sie wissen, daß zur Proviantierung eines solchen Platzes auch das Anschaffen der nötigen Weine gehört. Dürfte ich Ihnen eine Empfehlung an den General zur Verfügung stellen?“

Dieses Anerbieten war von außerordentlichem Vorteil für Belmonte. Er verbeugte sich zustimmend und antwortete:

„Wie könnte ich eine solche Güte von mir weisen! Ich bin entzückt, dadurch die Erfüllung meiner geschäftlichen Pflichten so bedeutend erleichtert zu sehen!“

In diesem Augenblick wurde das Gespräch unterbrochen. Ein Diener trat ein und überreichte dem Grafen eine Karte, auf welcher der Name ‚Mr. Nathanael Robinson, Reporter heißt?‘ zu lesen war.

„Ein englischer Reporter, welcher Nathanael Robinson heißt?“ fragte er verwundert. „Ich kenne ihn nicht. Was will er?“

„Ich versuchte, ihn abzuweisen“, erklärte der Diener; „er aber ging nicht von der Stelle. Er sagte, daß er augenblicklich, und zwar sehr Wichtiges mit Ihnen zu sprechen habe.“

„Wie ist seine äußere Erscheinung?“

Der Diener zuckte beide Achseln und antwortete:

„Er scheint durch und durch Engländer zu sein, gnädiger Herr.“

„Ah, das gibt einen kleinen Scherz. Er mag eintreten!“

Da erhob sich Belmonte, um zu gehen, aber der General hielt ihn mit den Worten zurück:

„Bitte, bleiben Sie! Ein englischer Reporter ist nicht der Mann, dem der Retter meiner Enkelin auszuweichen hätte.“

Da wurde die Tür geöffnet, und der Reporter trat ein. Er war lang und außerordentlich hager. Er trug, ganz entgegengesetzt dem englischen Carrée oder Lieblingsgrau, einen feinen schwarzen Salonanzug: Frack, Hose, weiße Weste und gelbe Krawatte; aber die Hosenbeine steckten in riesigen grauen Gamaschen; aus dem Frack hing links der Zipfel eines rotbaumwollenen Taschentuches, und rechts blickte unter dem Schößel eine lange Papierrolle hervor. Über dem Frack trug er an einem Riemen das Futteral irgendeines optischen Instrumentes, vielleicht Fernrohr, Feldstecher oder Opernglas. Der Hals konnte, obgleich lang und dünn, nicht gesehen werden, weil zwei geradezu kolossale Vatermörder ihn bedeckten. Ganz dieselbe Form wie diese Vatermörder hatte auch die Nase, welche wie ein schroffes, gefährliches Vorgebirge aus dem schmalen, scharfen Gesicht sprang. Zwei Bartkoteletten hingen beinahe bis auf die Brust herab, und auf dem jedenfalls ganz kahlen Kopf trug er einen hohen Zylinderhut, so weit nach hinten geschoben, daß man zu befürchten hatte, er werde im nächsten Augenblick herabstürzen. Der sonderbare Mann dachte gar nicht daran, diese balancierende Kopfbedeckung abzunehmen.

Als er jetzt eintrat, trug er in der linken Hand ein Notizbuch, in der rechten einen Bleistift und unter dem Arm eine sehr umfangreiche Maschinerie, welche zunächst das Aussehen eines Regenschirmes, aber auch noch andere Bedeutung zu besitzen schien.

„Good morning – guten Morgen!“ grüßte er mit schnarrender Stimme und in einem höchst vertraulichen Ton.

Es war, als ob er sich nicht bei einem General und Grafen, sondern bei unter ihm stehenden Leuten befinde. Dabei betrachtete er erst den Hausherrn, dann Belmonte und endlich auch die Komtesse in einer Weise, als ob er sich in einer Schaubude befinde, in welcher Menschenfresser zu sehen seien.

„Guten Morgen!“ antwortete der Graf, indem er sich Mühe gab, ein lautes Lachen zu unterdrücken. „Was wollen Sie?“

„Are you the General von Latreau?“

„Ja, der bin ich.“

„I am the Master Nathanael Robinson.“

„Schön! Was weiter, mein Verehrtester?“

„Reporter.“

„Welches Blatt?“

„Of the Lloyds Weekly London Newspaper.“

„Auf Lloyds Wochenzeitung in London? Viel Ehre, Master Robinson. Welche Absicht führt Sie zu mir?“

„I am willing to interview.“

„Ah, Sie wollen mich interviewen? In welcher Angelegenheit?“

„You have a daughter – Sie haben eine Tochter?“

„Ja.“

„Well! Darf ich sie einmal sehen?“

„Hier sitzt sie.“

Bei diesen Worten deutete der Graf auf seine Enkelin. Der Engländer öffnete langsam sein Lederfutteral. Jetzt sah man, daß es ein längeres Fernrohr und einen Feldstecher enthielt. Er nahm diesen letzteren hervor und führte ihn an die Augen, um Ella durch die Gläser zu betrachten.

„Yes!“ sagte er dann. „An immense beautiful and interesting girl – ja, ein ungeheuer schönes und interessantes Mädchen.“

Er nickte zufrieden vor sich hin, steckte den Feldstecher wieder in das Futteral und fragte dann den Grafen weiter:

„Sie ist geraubt worden?“

„Ja.“

„Des Lösegeldes wegen?“

„Ja.“

„Ein junger Mensch aber hat sie wieder befreit?“

„So ist es.“

„War es ein Liebhaber von ihr?“

Eine tiefe Glut bedeckte in diesem Augenblick das Gesicht des reizenden Mädchens. Sie warf ihrem Großvater einen Blick zu, welcher ihm deutlich sagte, daß sie es nicht verstehen können, warum der Engländer die Erlaubnis erhalten habe, hier in dieser Weise seine Erkundungen einzuziehen. Der General fühlte den Vorwurf heraus; aber er war Soldat und als solcher der Freund eines Scherzes, der sich allerdings innerhalb gewisser Grenzen zu halten hatte.

„Hier sitzt der Herr, welcher sie gerettet hat“, antwortete er, auf Belmonte zeigend.

Augenblicklich nahm der Engländer seinen Feldstecher wieder hervor, um sich den ihm Bezeichneten zu betrachten, und wendete sich dann direkt an diesen mit der Frage:

„Well! Was sind Sie?“

„Reporter“, antwortete Belmonte schnell gefaßt.

„Zounds – Donnerwetter. Für welches Blatt?“

„Für den ‚Djeridei Havadis‘.“

„Den kenne ich nicht.“

„In Konstantinopel.“

„Oh, ah! Wie heißen Sie?“

„Mulei-Ben-Hamsa-Spleen-John-Nathanael-Bull.“

Der Engländer horchte auf. Er fixierte den Sprecher scharf, um zu ergründen, ob derselbe ernst geantwortet habe. Dann fragte er:

„Sie werden von dem Raub auch in Ihrem Blatt berichten?“

„Natürlich.“

„Erzählen Sie mir alles. Ich werde schreiben.“

Er sah sich nach einem Stuhl um; da ihm aber keiner angeboten wurde und es ihm als Engländer gar nicht einfiel, einen Sitz zu benutzen, den man ihm nicht höflich angetragen hatte, so zog er die Maschinerie unter dem Arm hervor und sagte:

„This is my umbrella-, music- and smoking-chair!“

Also ein Regenschirm-, Musik- und Rauchstuhl war das Instrument. Er legte es auseinander. Es kamen drei Beine und ein Sitz zum Vorschein, über welchem sich der Schirm ausspannte. Der Stock dieses Schirms war hohl und diente als Pfeifenrohr, während unter dem Sitz sich der Kopf für den Tabak befand. Sobald der Engländer den Sitz berührte, ertönte neben diesem Kopf die englische Nationalhymne unter dem Sitz hervor. Es war da eine Spieldose angebracht.

Master Nathanael Robinson warf einen unendlich stolzen Blick auf die drei anwesenden Personen und bemerkte:

„So etwas ist nur in Old England zu bekommen! Also, ich werde jetzt schreiben. Erzählen Sie!“

Er saß so ungeniert auf seinem Feldstuhl, als ob er sich draußen unter freiem Himmel befinde, hielt Bleistift und Notizbuch in den Händen und wartete auf Belmontes Antwort, die ihm, seiner Ansicht nach, gar nicht vorenthalten werden konnte. Der Gefragte aber zuckte die Achsel und erklärte:

„Sie werden Ihre Erkundigungen wohl an einem anderen Ort einziehen müssen, Master Robinson!“

„An einem anderen Ort? Warum?“ fragte der Engländer, indem er ganz erstaunt aufblickte.

„Weil nicht anzunehmen ist, daß Seine Exzellenz, der Graf von Latreau, in seinem Salon ein Auskunftsbüro unterhält.“

„Wer sagt das! Ich komme nur, um zu interviewen!“

„Wenn alle Zeitungen ihre Reporter schicken wollten, nähme die lästige Störung gar kein Ende!“

„Aber ich komme ja gar nicht im Auftrag aller Zeitungen! Ich schreibe nur für ‚Lloyds Weekly London Newspaper‘!“

„Exzellenz verzichtet darauf, an Reporter Auskunft zu erteilen, und es kann da keine Ausnahme gemacht werden.“

„Herr, ich bin Engländer!“

„Das ändert nichts an der Sache. Begeben Sie sich nach dem Polizeibüro des Bezirkes, in welchem die Täter wohnten. Dort werden Sie alles erfahren.“

„Wo liegt dieses Büro?“

„Ich glaube, in der Rue des Poissonniers.“

„Well! Ich werde gehen. Ich werde aber auch in meinem Blatt die Tatsache veröffentlichen, daß man hier einem Englishman die Auskunft verweigert hat!“

„Tun Sie das immerhin! Diese Bemerkung verlängert Ihren Bericht und vergrößert also das Honorar, welches Sie zu fordern haben werden!“

Der Engländer packte seinen Musikstuhl zusammen, steckte Notizbuch und Bleistift in die Tasche und meinte dann:

„Ich werde doch noch alles erfahren! Good bye – gehabt euch wohl!“

Er wollte gehen, drehte sich aber, als er bereits an der Tür angekommen war, noch einmal um und fragte:

„Könnte ich denn nicht wenigstens die Fotografien der geraubten Dame und ihres Befreiers erhalten? Wir würden danach Holzschnitte anfertigen lassen und die Bilder dann veröffentlichen.“

„Danke, Master!“ lachte der Graf. „Wir verzichten auf diese Ehre, in Old England so bekannt zu werden.“

„Well, ich werde die Porträts doch noch erhalten!“

Er ging. Diese eigentümliche oder vielmehr komische Szene hatte den drei Personen eine ganz andere Stimmung erteilt. Der General lachte herzlich; Belmonte stimmte ein, und Ella mußte auch zugestehen, daß dieses Intermezzo mehr lächerlich als beleidigend zu nehmen sei. Diese englische Nation, welche ihre Angehörigen so prätentiös zu erziehen pflegte, hatte keinen Grund, sich auf diesen Repräsentanten viel einzubilden! Belmonte dachte allerdings nicht, daß er diesen Mann noch öfters, und zwar unter höchst ungewöhnlichen Umständen wiedersehen werde.

Nach einer nur noch kurzen Unterhaltung verabschiedete sich Arthur. Er konnte nicht zurückgehalten werden, mußte aber fest versprechen, daß er vor seiner Abreise noch wiederkommen werde, um sich den Brief an den Gouverneur von Metz einhändigen zu lassen. Er wurde in der Equipage des Grafen nach seiner Wohnung gebracht.

Dort angekommen, fand er seinen Martin noch bei der Arbeit, um die Reinschrift zu beenden. Dieser saß im vorderen Zimmer, er selbst begab sich in das seinige, um einige notwendige Briefe abzufassen, welche noch heute zur Post gelangen sollten. Er war mit dieser Arbeit noch nicht zu Ende, als er einen Wagen unten an der Tür halten hörte; gleich darauf klingelte es draußen an der Vorsaaltür. Nach wenigen Augenblicken trat Martin zu ihm herein und meldete:

„Eine Dame will mit Ihnen sprechen, Monsieur Belmonte.“

„Eine Dame? Ich wüßte keine Dame, welche Veranlassung hätte, mich zu besuchen!“

„Ich auch nicht“, lachte der Diener naiv.

„Ist sie alt oder jung?“

„Weiß ich nicht. Sie geht tief verschleiert.“

„Wie heißt sie?“

„Das hat sie nicht gesagt.“

„Wie ist sie gekleidet?“

„Fein, in Seide. Auch ihre Haltung, ihre Sprache zeigt, daß sie nichts ganz Gewöhnliches ist.“

„Sapperlot, Martin, du scheinst Erfahrung zu besitzen!“

„Ja, man profitiert bei Ihnen viel, sehr viel. Soll ich sie hereinlassen?“

„Natürlich! Eine Dame darf man nicht abweisen.“

Martin öffnete mit einer tiefen Reverenz die Tür, ließ die Erwartete eintreten und entfernte sich dann. Sie machte Belmonte eine kleine, aber höchst elegante Verbeugung. Er erwiderte dieselbe, und zwar unwillkürlich in ehrfurchtsvoller Weise. Er hatte sich erhoben und betrachtete diese wirklich distinguierte, vornehme Erscheinung.

Sie trug ein schwarzes Seidenkleid von einfachem Schnitt; aber der Stoff dieses Kleides war schwer und jedenfalls ungewöhnlich teuer. Sie machte ganz den Eindruck, als ob sie eine Angehörige der höchsten Aristokratie sei.

Er reichte ihr einen Stuhl, ohne aber das Gespräch zu beginnen. Sie nahm Platz, fixierte ihn durch den doppelt gelegten Schleier hindurch, welcher nicht gestattete, ihre Züge deutlich zu erkennen, und fragte dann mit einer Stimme, die einen ganz eigenen, fremdartigen Klang hatte:

„Sie sind von meinem Besuch in Verlegenheit, Monsieur?“

„Nein. Ich stehe überhaupt allein.“

„Also keine Verwandten“, nickte sie befriedigt. „Aber vielleicht sind Sie verheiratet?“

„Ich habe noch nicht dieses beneidenswerte Unglück gehabt.“

„Oder verlobt?“

„Auch nicht.“

„Ist Ihr Herz völlig frei?“

Das war eine eigentümliche Frage. Diese Dame war ihm völlig unbekannt; sie hatte ihm nicht einmal ihren Namen genannt, und er war so rücksichtsvoll gewesen, nicht nach demselben zu fragen. Und nun diese Erkundigung.

Er lehnte sich mit dem Rücken an den Tisch, schlug die Arme über der Brust zusammen, blickte ihr voll und fest entgegen und antwortete:

„Auch mein Herz ist noch nicht in Banden geschlagen. Sind diese sehr privaten Erkundigungen der Zweck Ihrer Gegenwart, Madame?“

„Ja, sonst würde ich sie nicht ausgesprochen haben. Wie ich hörte, sind Sie ein eifriger Besucher der großen Oper.“

„Allerdings.“

„Sie sind dort gesehen worden. Sie sind ein schöner Mann, und man hat Sie bemerkt; man ist aufmerksam auf Sie geworden.“

Jetzt begann er nicht nur zu ahnen, sondern er wußte sogar bestimmt, um was es sich handle. Es galt ein Liebesabenteuer, jedenfalls mit einer verheirateten Frau. Er nahm daher eine etwas reservierte Haltung an und verneigte sich, ohne zu antworten.

„Man hat den Wunsch, Sie kennenzulernen“, fuhr sie fort.

Abermals stumme Verneigung.

„Ja, man hat sogar den Entschluß gefaßt, Sie von diesem Wunsch zu unterrichten.“

Sie hatte die letzte Bemerkung mit etwas erhobener Stimme gemacht, wie um seine ganze Aufmerksamkeit auf dieselbe zu richten. Er hielt jetzt das männlich-schöne Gesicht dem Fenster zugewendet. Er blickte nachdenklich hinaus und hielt die Augen ein ganz klein wenig zusammengekniffen, so wie man es macht, wenn man auf zweifelhafte Gedanken stößt. Sodann wendete er sich schnell um und fragte:

„Wer ist es, der mich bemerkt hat?“

„Eine Dame.“

„Sie sind ihre Botin? Oder sind Sie es selbst?“

Die Gefragte ließ ein leichtes Räuspern hören und antwortete:

„Ich bin nur die Vermittlerin.“

„Was haben Sie mir zu sagen? Was ist die Absicht dieser Dame?“

„Sie wünscht Ihren Besuch. Sie wünscht, Sie einmal bei sich zu sehen.“

„Das ist sehr angenehm und ehrenvoll für mich; darf ich vielleicht den Namen erfahren, Madame?“

„Jetzt allerdings noch nicht“, antwortete sie.

Sie streifte, wie spielend, den Handschuh ab, und nun erblickte Arthur ein wunderbar schönes, zartes und doch volles Händchen, an dessen Fingern einige Steine im Wert von Hunderttausenden blitzten.

„Also auch die Adresse nicht?“

„Nein.“

„Ist sie verheiratet?“

„Hierüber habe ich ebenso zu schweigen.“

„Aber sie will mich kennenlernen! Auf welche Weise soll das geschehen, wenn ich weder ihren Namen, noch ihre Wohnung zu erfahren vermag. Will etwa sie es sein, die mich besucht?“

„Auch dies ist nicht der Fall. Zunächst habe ich nur zu fragen, ob Sie bereit sein werden, die persönliche Bekanntschaft dieser Dame zu machen?“

„Wohl schwerlich, Madame. Ich muß danken.“

„Ah, wirklich?“ fragte sie im Ton der Überraschung.

„Ja. Ich liebe Aufrichtigkeit und habe meine Bekanntschaften stets bei offenem Visier gemacht.“

„Aber Monsieur, das ist hier in diesem Fall ja gar nicht möglich.“

„Eben darum tut es mir zwar unendlich leid, aber ich sehe mich nicht imstande, auf Ihre Offerte einzugehen.“

„Mein Herr, die Dame ist reich, sehr reich.“

„Das tangiert mich nicht.“

„Sie ist sehr schön.“

„Ist sie so schön wie Sie, Madame?“

Er ergriff, dabei das schöne Händchen und zog es an die Lippen. Sie ließ dies ruhig geschehen und antwortete:

„Viel, viel schöner als ich, Monsieur.“

„Das ist unmöglich.“

„Wie können Sie das wissen? Sie haben mich noch gar nicht gesehen!“

„O doch. Ich sehe dieses wunderbare, alabasterne Händchen; ich höre den Klang Ihrer Stimme; ich erkenne die Liebe atmenden Formen Ihrer reizenden Gestalt – Sie sind schön.“

„Aber dennoch muß ich zugeben, daß die Dame, welche mich sendet, noch schöner ist.“

„Dann ist sie nicht ein Engel allein, sondern ein Seraph. Über den Stand, welchem sie angehört, haben Sie wohl das tiefste Schweigen zu bewahren?“

„So ist es. Ich darf Ihnen nur verraten, daß die Liebe, welche Sie zu erwarten haben, an keinem niedrigen Ort für Sie blüht.“

Er schüttelte abermals nachdenklich den Kopf und sagte:

„Und dennoch widerstrebt es meinem Charakter und aller meiner Lebensanschauung. Man verkehrt nur mit Personen, welche einem offen gegenübertreten.“

„Selbst wenn diese Personen Damen sind?“

„Selbst dann.“

„Fürchten Sie sich etwa? Besorgen Sie irgendeine Hinterlist?“

Ihre Stimme hatte bei diesen Worten die allerdings kaum hörbare Spur eines maliziösen Klanges angenommen.

„Sie irren“, antwortete er ruhig. „Von Furcht ist keine Rede.“

„Und dennoch zögern Sie? Ja, man hat sich nach Ihnen erkundigt. Man hat in Erfahrung gebracht, daß Sie – Weinhändler sind. Das heißt doch, daß Sie Kaufmann sind – ein höchst prosaisches Gewerbe. Es ist da nicht zu verwundern, daß Sie rechnen und kalkulieren, während ein anderer sein Glück schnell ergreifen würde. Wären Sie Offizier, wozu Sie äußerlich das ganze Zeug zu haben scheinen, Sie würden eine schöne, reiche und vornehme Dame, welche Ihre Bekanntschaft machen will, nicht einen Augenblick warten lassen.“

„Sie irren abermals“, antwortete er achselzuckend. „Ich bin Offizier, trotzdem ich jetzt während meines zur Dispositionstehens die mir gehörige Zeit in prosaischer Weise, wie Sie sich auszudrücken belieben, zu verwerten suche.“

„Offizier“, fragte sie rasch. „Ein Weinhändler Offizier?“

„Ja, Madame. Sie denken nicht an den Umstand, daß in Frankreich jeder junge, zwanzigjährige Mann, wenn er gesund ist, in die Armee treten kann, und daß er dann die Offiziersepauletten und den Marschallstab in der Tasche trägt.“

„Ah, wo standen Sie?“

„In Marseille.“

„Bei welcher Truppengattung?“

„Bei der Kavallerie. Ich bin sogar als Lieutenant Mitglied des Conseil de guerre gewesen.“

„Und dennoch zögern Sie, galant gegen eine Dame zu sein?“

„Ich habe für jede Dame die möglichste Aufmerksamkeit; aber kennen und sehen muß ich sie.“ Und unter einem ausdrucksvollen Lächeln fügte er hinzu:

„Wie nun, wenn ich käme und fände sie nicht nach der Beschreibung, welche Sie mir von ihr gemacht haben!“

„Sie brauchen keine Sorge zu haben, Monsieur Belmonte. Ich garantiere Ihnen dafür, daß meine Schilderung zutreffend ist“, versicherte die Fremde.

„Und worin besteht diese Garantie, Madame?“

Ihr Händchen zuckte durch die Perlfransen ihres Kleides, und es währte eine Weile, ehe sie sich näher um die verlangte Garantie erkundigte.

„Wie denken Sie sich dieselbe?“

„Echt kaufmännisch. Was ich nicht finden würde, müßte ich mir von Ihnen fordern.“

„Gut. Darauf gehe ich ein. Hier ist meine Hand.“

Sie reichte ihm die Hand, welche er in der seinigen festhielt. Es war ihm, als ob er einen warmen Druck dieses Händchens verspürte.

„Also, Sie stellen sich mir zur Disposition?“ fragte sie dann.

„Ja. Befehlen Sie über mich. Aber die Zeit?“

„Heute abend neun Uhr.“

„Ich werde bereit sein.“

„Ich selbst werde Sie im Wagen abholen. Von einem gewissen Punkt an aber müssen Sie es sich gefallen lassen, daß ich Ihnen die Augen verbinde.“

„Ganz so, als wenn wir in der Zeit der Inquisition lebten; doch ich liebe die Romantik und gehe die Bedingung ein.“

Sie erhob sich, während er noch immer ihre Hand in der seinigen hielt. Sie machte auch jetzt noch nicht den Versuch, sie ihm zu entziehen. Er stand hart vor ihr und fragte:

„Und was Ihre eigene Person betrifft, Madame, muß auch diese in ein so strenges Dunkel gehüllt sein?“

„Ja, Monsieur. Sie dürfen nicht wissen, wer ich bin.“

„Ich will auch auf dieses eine verzichten, aber auf einem zweiten werde ich desto fester beharren.“

Er sah sie dabei mit einem eigentümlich forschenden Blick an, den sie mit der in halblautem verheißungsvollen Ton ausgesprochene Frage beantwortete:

„Nun, und was ist dieses zweite?“

„Darf ich nicht wissen, wer Sie sind, so will ich wenigstens Ihr Angesicht sehen und dabei erfahren, ob die Garantie, welche Sie mir geboten haben, eine süße und freiwillige ist.“

Er legte den linken Arm um ihre Taille und erhob dabei blitzschnell die rechte Hand, um ihren Schleier zurückzulegen.

„Monsieur, was tun Sie!“ ertönte es aus ihrem allerliebsten, schwellenden Mund.

„Ich bringe der Schönheit den Tribut, welchen ich ihr schuldig bin.“

Dabei drückte er sie an sich und legte seine Lippen auf die ihrigen.

„Nein, nein, das dürfen Sie ja nicht!“ wehrte sie sich.

„Wenn ich das nicht darf, dann glaube ich auch nicht an die Aufrichtigkeit Ihrer Garantie!“

„Sie ist aufrichtig“, beteuerte sie, indem sie sich noch immer bemühte, ihm ihren Mund zu entziehen.

„Nein, so lange Sie mir den Beweis verwehren, glaube ich nicht an die Aufrichtigkeit Ihres Versprechens.“

„Nun, was verlangen Sie denn von mir, Sie kühner, stürmischer Mann?“

„Einen Kuß, einen freiwilligen Kuß.“

Sie drohte ihm mit der Hand und sagte:

„Sie stellen Bedingungen, während Sie froh sein sollten, daß Ihnen von so exquisiter Seite ein Stündchen der Liebe und Erhörung geboten wird? Sie sind höchst anspruchsvoll!“

„Nun gut. Nennen wir es nicht eine Bedingung, welche ich stelle, sondern einen Tribut, welchen ich Ihnen bringe. Also bitte, meine Gnädige, einen Kuß!“

„Ich sehe, daß ich nachgeben muß. Hier, nehmen Sie sich ihn.“

Sie hielt ihm den Mund entgegen; er aber schüttelte den Kopf und antwortete:

„Nein, nicht so. Nicht nehmen, sondern empfangen will ich ihn.“

„Sie fordern fast zu viel. Aber es ist wahr, ich habe Ihnen Garantien versprochen, und nun muß ich Ihnen beweisen, daß ich wirklich gesonnen bin, sie Ihnen zu gewähren. Kommen Sie.“

Sie legte ihm die Arme um den Hals, zog ihn an sich und küßte ihn mit einer Innigkeit, welche man nur dem Geliebten, dem Bräutigam oder Mann gegenüber zu zeigen pflegt. Dann fragte sie:

„So. Sind Sie nun zufriedengestellt?“

„Vollständig. Ich danke Ihnen, Madame.“

„Sie werden also Wort halten und heute abend mitkommen?“

„Ja, gewiß.“

„So sehen wir uns also um neun Uhr wieder. Wird es nötig sein, daß ich Sie hier im Zimmer abhole?“

„Nein. Sobald ich den Wagen halten sehe, werde ich kommen und einsteigen.“

„Das ist mir angenehm. Also adieu, Monsieur.“

„Adieu.“

Sie reichte ihm die Hand, welche er an die Lippen führte. Dann legte sie den Schleier wieder vor das Gesicht und entfernte sich, von ihm bis an den Wagen begleitet. Er bemerkte, daß es nicht eine ihr gehörige, sondern jedenfalls nur eine gemietete Equipage sei. Sie war vorsichtig gewesen.

Als er nach oben zurückkehrte und in das Vorzimmer trat, ließ Martin ein halblautes, ironisches Husten hören.

„Hm! Bist du krank?“ fragte Arthur.

„Sehr.“

„Was fehlt dir?“

„Ein Mittel gegen Husten – etwas Süßes ungefähr.“

„Lauf schnell in die Apotheke.“

„Daß ich dumm wäre! Die Süßigkeit, welche mich retten kann, ist dort nicht zu finden. Oder soll ich etwa von dem Provisor einen – hm – verlangen?“

„Was denn – hm?“

„Na, einen Kuß!“

„Kerl, ich glaube gar, du hast gehorcht.“

„Fällt mir gar nicht ein. Ich brauchte eine Feder. Das Kästchen steht drin im Zimmer. Als ich dort eintrat, hörte ich, was Sie für einen sonderbaren Appetit hatten. Ich an Ihrer Stelle hätte das der Dame etwas weniger laut gesagt!“

„Du bist ein großer Taugenichts. Doch weil es nicht mit Absicht geschehen ist, soll es dir vergeben sein. Hast du denn auch gehört, daß ich den Kuß wirklich erhalten habe?“

„Nein. Als ich hörte, wonach Sie sich so außerordentlich sehnten, wurde es mir so schlimm zumute, daß ich sofort ausgerissen bin. Ich hielt diese Dame für etwas Feines; nun aber sehe ich, daß ich mich geirrt habe. Wer dem ersten besten Weinagenten einen Kuß verabreicht – der – hm!“

„Und doch irrst du! Diese Dame ist – nun rate einmal?“

„Nun, was anders als eine Grisette oder Lorette oder, wenn es sehr hoch kommt, eine Friseuse?“

„Fehl geschossen! Diese Dame ist – eine Hofdame.“

Martin sprang von seinem Stuhl empor und rief:

„Eine Hofdame?“

„Ja.“

„Die sich ohne alle Vorbereitung und Einleitung küssen läßt?“

„Nun, einige Einleitung hat es doch gekostet.“

„Wenn zehnmal! Sie müssen sich irren. Kennen Sie sie?“

„Ja. Ich habe sie in der Hofloge des Opernhauses gesehen.“

„Donnerwetter, welch ein Glück! Ich kann diese Loge beliebäugeln so oft und so lange ich will, es kommt keine zu mir, um sich ihr Mäulchen an meinem Schnurrbart abzuwischen! Das muß doch eine ganz eigene Bewandtnis haben.“

„Allerdings. Es gibt ein Abenteuer, Martin, ein ganz ungewöhnliches Abenteuer. Und da du dabei eine kleine Rolle zu spielen haben wirst, so muß ich dir alles mitteilen.“

„Ein Abenteuer? Und ich eine Rolle dabei? Vielleicht soll ich auch einige Küsse erhalten? Ich brenne vor Neugierde.“

„Erhalten wirst du voraussichtlich nichts –“

„O weh!“

„Also diese Verschleierte kam zu mir, um mir mitzuteilen, daß eine andere Dame ein sehr großes Interesse an mir gewonnen habe.“

„Ein Interesse. Also verliebt. Hm! Ein Wunder ist das allerdings nicht, denn ein verdammt hübscher Kerl sind Sie; das ist wahr.“

„Hübscher als du?“

„Beinahe! Fragen Sie meine Schwalbe; die muß es wissen!“

„Werden sehen! Also diese Dame wünscht, mich heute abend bei sich zu haben, und ich soll punkt neun Uhr per Kutsche abgeholt werden.“

„Alle Teufel! Könnte nicht auch unsereinem einmal so ein marinierter Hering geboten werden!“

„Dein Hering ist deine Schwalbe! Ich soll nicht wissen, wer diese Dame ist – –“

„Jedenfalls auch eine Hofdame!“

„Voraussichtlich! Man will mir, damit sie inkognito bleiben kann, unterwegs die Augen verbinden.“

„Hm! Das gefällt mir nicht!“

„Mir auch nicht.“

„Wer weiß, was man beabsichtigt, mein bester Herr Belmonte. Man kann Sie in irgendeine gefährliche Lage locken wollen.“

„Das sage ich mir auch. Es ist sehr leicht möglich, daß man ahnt, wer oder was ich bin, und daß man mir eine Falle stellen will. Ich werde also vorsichtig sein und dich beauftragen, achtzugeben, daß sich diese Falle nicht hinter mir schließt.“

„Schön! Ich bin bereit. Was habe ich zu tun?“

„Du besorgst dir ein Pferd und bringst es hinunter in den Hof. Sobald ich eingestiegen bin und die Kutsche sich in Bewegung setzt, besteigst du den Gaul und reitest uns nach, um zu sehen, wo ich abgeladen werde. Das übrige ist dann deine Sache.“

„Schön! Ich werde eine volle Stunde warten. Sind Sie dann noch nicht zurück, so stürme ich die Festung, um Sie zu befreien.“

„Eine Stunde ist zu wenig.“

„Hm! Ja! Schäferstunden pflegen länger zu dauern als sechzig Minuten. Also wie lange denn?“

„Diese Frage ist schwierig zu beantworten.“

„Sehr wahr! Am besten wird es sein, Sie geben sich mit der Geschichte gar nicht ab. Wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um. Meinen Sie nicht?“

„Das habe ich mir natürlich bereits selbst gesagt. Eines Liebesabenteuers wegen würde ich ein solches Wagnis gar nicht unternehmen. Aber es ist leicht möglich, für unsere Aufgabe dabei etwas zu profitieren. Eine gewöhnliche Dame ist es auf keinen Fall, zu der man mich bringen will. Es ahnt mir, als ob dieses Abenteuer uns Vorteile bringen werde. Ich will es auf jeden Fall bestehen, lieber Martin.“

„Na, wie Sie wollen. Nehmen Sie wenigstens eine Waffe mit.“

„Ich werde einen Revolver und den Totschläger einstecken. Vielleicht ist es auch geraten, die Laterne mitzunehmen.“

„Tun Sie das. Es ist ja möglich, daß Sie mir mit derselben ein Zeichen geben können.“

„Richtig! Wir können das ja gleich bestimmen. Man wird mich in ein Zimmer bringen, welches jedenfalls ein Fenster hat. Ist es nicht erleuchtet, so gebe ich das Zeichen mit der Laterne, ist es aber erhellt, so gebe ich es mit der Lampe oder der Gasflamme.“

„Und worin soll es bestehen?“

„Ich lasse das Licht dreimal aufblitzen und wieder verschwinden. Das ist das Zeichen, daß du keine Sorge zu haben brauchst.“

„Gut. Wenn ich das Zeichen sehe, brenne ich mir eine Zigarre an. Das ist der Beweis, daß ich Sie richtig verstanden habe und nichts zu befürchten ist.“

„Gut.“

„Aber wenn Sie das Zeichen nicht geben?“

„So wartest du bis zum Morgengrauen und tust dann, was du für das Angemessenste hältst. Doch hoffe ich nicht, daß dieser Fall eintreten wird. Eine Hofdame erwartet ihren Seladon nicht an einem obskuren, gefährlichen Ort.“

„Das sollte ich allerdings denken!“ meinte Martin. Und unter einem verschlagenen Augenzwinkern fügte er hinzu: „Sobald ich bemerke, daß Sie sich in Gefahr befinden, werde ich schleunigst Sukkurs holen.“

„Du meinst, Polizei?“

„Nein; das fällt mir nicht ein!“

„Wen denn?“

„Eine gewisse Dame, welche Sie in der Hofoper kennengelernt haben.“

„Unsinn!“

„Natürlich. Sie muß doch erfahren, daß andere Damen ganz denselben Geschmack besitzen wie sie und daß Sie ein – hm! – ein Freund und Bewunderer von Hofdamen sind. Übrigens war es von Ihnen sehr klug, die Perücke abzunehmen, als wir bei Vater Main den Coup ausführten. Komtesse de Latreau hätte sonst leicht hinter das Geheimnis kommen können, daß Sie mehrere Rollen spielen. Sie fielen in Ohnmacht, und der Arzt, welcher gerufen wurde, hätte bemerken müssen, daß Haar und Bart falsch seien. Haben Sie jetzt noch etwas zu befehlen?“

„Nein. Bist du mit der Reinschrift zu Ende?“

„In einer Viertelstunde.“

„Dann werde ich auch mit meinen Briefen fertig sein. Horch! Man klingelt.“

Martin begab sich in den Vorsaal und kehrte mit einem Polizeisergeanten zurück, welcher bemerkte, daß er vom General Latreau komme, und sich erkundigte, ob hier der Monsieur Belmonte sei. Arthur bejahte diese letztere Frage.

„Sie sind der Herr, welcher die Komtesse befreit hat?“

„Ja.“

„So habe ich Ihnen diesen Zettel zu übergeben.“

Der Zettel enthielt eine Vorladung in das Stadthaus, wo Belmonte nebst Martin nach Verlauf von einer Stunde zu erscheinen hatten, um sich über ihr gestriges Erlebnis vernehmen zu lassen. Nachdem der Sergeant sich entfernt hatte, meinte Martin:

„Das ist unangenehm! Das hätte man uns ersparen sollen.“

„Warum?“

„Weil wir Unannehmlichkeiten haben werden.“

„Pah! Ich habe gute Legitimationen.“

„Das reicht nicht aus. Man wird fragen, was wir in der berüchtigten Taverne zu tun hatten.“

„Ich als Weinhändler muß auch solche Orte besuchen.“

„Man wird uns wiederholt bestellen.“

„Ich werde sagen, daß wir morgen abreisen müssen.“

„Ist das wirklich ernstlich gemeint?“

„Ja. Wir haben hier in Paris mehr erfahren, als wir für möglich hielten. Ein längerer Aufenthalt könnte unserm Inkognito gefährlich werden.“

„Aber noch gestern sagten Sie, daß wir hier noch drei Tage zu arbeiten hätten, um unsere Beute zu Papier zu bringen.“

„Das können wir auch in Metz tun. Ich glaube sehr gern, daß es dir schwer wird, dich von deinem Schwälbchen zu trennen.“

„Pah! Wie lange wird es dauern, so komme ich wieder geflogen. Aber Abschied zu nehmen, werden Sie mir wohl erlauben.“

„Das versteht sich ganz von selbst.“

„Wann?“

„Wann es dir beliebt.“

„Hm! Heut abend paßt es nicht, weil ich da für Ihre Sicherheit zu sorgen habe. Wie wäre es nach dem Verhör?“

„Das wird das beste sein. Sobald du jetzt den Bericht fertig hast, besorge ich ihn zum Kurier; dann treffen wir uns im Stadthaus, und nachher suchst du die Schwalbe auf. Ich wünsche euch angenehme Schnäbelei.“

„Danke. Mit Hofdamen läßt es sich wenigstens ebenso angenehm schnäbeln, obgleich ich nicht glaube, daß Ihre Unbekannte es an Liebeswürdigkeit mit Alice aufnehmen kann.“

„Oho! Ist sie gar so hübsch?“

„Gewiß!“ nickte Martin. „Wollen Sie sich überzeugen?“

„Danke! Ich will nicht stören.“

„Das würde keine Störung sein. Ich bin im Gegenteil überzeugt, daß Alice sich sehr freuen und sich sehr geehrt fühlen würde, wenn ein gewisser Monsieur Belmonte die Güte haben würde, einmal bei ihr vorzusprechen.“

„Meinst du wirklich?“

„Gewiß. Wollen Sie?“

„Gut! Ich werde kommen. Ich will auch gern gestehen, daß ich neugierig bin, den Fisch zu sehen, welcher den Angler in das Wasser hinabgezogen hat. Also arbeiten wir jetzt.“

Nachdem Belmonte seine Briefe und Martin die Reinschrift angefertigt hatten, gingen sie beide fort. Der erstere besorgte die Skripturen zum Kurier und auf die Post, und der letztere trollte langsam durch die Straßen, um nach dem Stadthaus zu gelangen. Er hatte noch Zeit, und so kam ihm der Gedanke, die Taverne des Vater Main aufzusuchen, um einmal zu sehen, welche Veränderung dort eingetreten sei.

Er fand vor der Tür einen Polizisten, welcher Wache stand.

„Was wollen Sie?“ fragte dieser.

„Ein Glas Wein trinken.“

„Hier wird heute nicht geschänkt. Ah, haben wir uns nicht bereits gesehen, Monsieur?“

„Möglich. Wo?“

„Gestern abend. Sie kamen, um die Anzeige zu machen, daß Sie die Komtesse de Latreau gerettet hätten.“

„Richtig; das bin ich gewesen.“

„Ah, so können Sie eintreten. Sie werden vielleicht die Güte haben, uns das Abenteuer zu erzählen. Wir wissen noch nicht das mindeste über dasselbe.“

Er öffnete die Tür, und nun bemerkte Martin, daß sich mehrere Männer in der Kneipe befanden, welche sich als verkleidete Polizisten entpuppten. Er erzählte ihnen den Hergang der Sache nach seiner Weise und erfuhr sodann von ihnen, daß man die beiden Leichen aufgehoben, von denen, welche arretiert werden sollten, aber gar nichts gesehen habe.

Eben wollte er sich wieder entfernen, als die Tür aufgestoßen wurde. Es trat ein Mann ein, welcher in schwarzen Frack, Zylinder und graue Gamaschen gekleidet war und unter dem Arm ein Instrument trug, welches die Gestalt und das Äußere eines riesigen Regenschirmes hatte.

„Good day!“ grüßte er. „Hat hier Vater Main gewohnt?“

„Ja“, antwortete einer der Polizisten. „Was wollen Sie?“

„Das Haus ansehen.“

„Das ist jetzt nicht gestattet. Wer sind Sie?“

„Ich bin Master Nathanael Robinson, Reporter of the ‚Lloyds Weekly London Newspaper‘.“

„Ah, ein Reporter. Sie wollen wohl einen Bericht des hier Gesehenen nach London senden?“

„Yes.“

„Gehen Sie nach dem Stadthaus! Dort erfahren Sie das Nähere, und dort werden Sie auch die schriftliche Erlaubnis erhalten, sich dieses verrufene Haus anzusehen.“

„Well! Habe ich schon.“

„Wo?“

„Hier!“

Er langte in die Tasche und zog ein Papier hervor, welches er dem Polizisten zu lesen gab.

„Es ist in Ordnung“, sagte dieser. „Sie können sich hier bewegen, wie es Ihnen beliebt.“

„Beliebt? Schön! Werde mich setzen und fragen.“

Er machte Miene, sich auf eine der Bänke niederzulassen, zog aber, als er den Schmutz derselben bemerkte, ein erschrockenes Gesicht und rief:

„Heigh-ho, welch ein Dreck! Werde mich nicht darauf setzen.“

Er nahm den Regenschirm unter dem Arm hervor. Martin hatte den sonderbaren Mann mit erstauntem Blick gemustert. Jetzt, als derselbe gar die Absicht zu haben schien, im Zimmer seinen Regenschirm aufzuspannen, fragte er ihn:

„Was ist das für ein Ding?“

„Das ist mein Umbrella-, music- and smoking-chair“, antwortete der Engländer, indem er das komplizierte Ding aufspannte und sich dann auf dem Sitze niederließ. Sofort ließ sich die englische Nationalhymne hören. Master Robinson aber zog sein Notizbuch und den Bleistift hervor, wendete sein Gesicht dem Polizisten zu und sagte das eine Wort:

„Erzählen!“

Der Angeredete schüttelte lächelnd den Kopf und antwortete:

„Sie wünschen zu wissen, was gestern hier geschehen ist?“

„Yes.“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen.“

„Warum?“

„Weil ich nicht dabei gewesen bin. Dieser Monsieur aber hat die Dame gerettet. Er ist imstande, Ihnen alles mitzuteilen.“

Da zog der Engländer seinen Feldstecher aus dem Futteral, hielt ihn an die Augen und betrachtete sich Martin mit der Sorgfalt eines Fleischbeschauers, welcher nach Trichinen sucht.

„Dieser Mann hier?“ fragte er. „Ah. Wunderbar!“

Er nahm das Fernglas von den Augen fort, schüttelte den Kopf und fragte dann Martin:

„Wer seid Ihr, Master?“

Es juckte den Telegraphisten in allen Gliedern. Er kam ganz auf denselben Gedanken, auf welchem auch sein Herr gekommen war.

„Reporter“, antwortete er.

„Reporter? Ah! Für welche Zeitung?“

„Für eine brasilianische.“

„Donnerwetter! Ihr sucht in Paris nach Neuigkeiten?“

„Natürlich!“

„Und Ihr wollt es sein, welcher die Dame gerettet hat?“

„Ja.“

„Das ist nicht wahr, Master.“

„Oho! Wollen Sie mich beleidigen?“

„Ja. Wer mich belügt, dem sage ich meine Meinung. Wollt Ihr Euch etwa mit mir boxen? Ich stehe zur Verfügung!“

Er erhob sich in kampfbereite Stellung und hatte in der Zeit von zwei Augenblicken den Frack ausgezogen.

„Danke“, lachte Martin. „Sie sind nicht der Mann, dem ich den Hals brechen möchte. Sagen Sie lieber, warum Sie mich für einen Lügner halten?“

„Ich habe den Retter bereits gesehen und mit ihm gesprochen.“

„Wo?“

„Beim General Latreau.“

„Heute?“

„Ja, am Vormittage.“

„Das stimmt. Sie meinen doch den Weinagenten Belmonte?“

„Nein. Ich meine den türkischen Reporter.“

Da ging dem guten Martin ein Licht auf. Er ahnte, daß er den gleichen Gedanken mit seinem Herrn gehabt habe und antwortete:

„Richtig. Jetzt weiß ich, daß Sie an der rechten Quelle gewesen sind. Und dennoch habe ich Ihnen keine Lüge gesagt. Ich und der Türke, wir beide haben die Dame gerettet.“

„Ihr und der Türke? Donnerwetter. Ist's wahr?“

„Ja.“

„Dachte es mir! Habe hier bei Euch nur auf den Strauch geschlagen. Der Kerl wollte nicht mit der Sprache heraus; ich bin aber klug genug, das Richtige zu finden. Also, erzählt, Master Brasilianer.“

„Das ist sehr leicht erzählt. Wir hörten, daß die Dame geraubt worden sei, wir wußten, daß sie sich in diesem Haus befand, und wir holten sie, um sie zu ihrem Vater zu bringen.“

Der Engländer sperrte den Mund erstaunt auf und fragte:

„Das ist alles?“

„Ja, alles.“

„Kein Abenteuer dabei?“

„Nein.“

„Kein Mord und Totschlag, kein Kampf?“

„Genug.“

„So erzählet!“

„Habe keine Zeit. Adieu, Master Nathanael Robinson.“

Damit war Martin zur Tür hinaus. Der Engländer starrte diese an und sagte ärgerlich:

„Verdammte Kerle! Keiner sagt ein Wort. Aber ich werde doch noch alles erfahren, alles.“

Er klappte seinen ‚Schirm-, Musik- und Rauchstuhl‘ zusammen und stieg nun die Treppen auf und ab, um sich das Innere des Hauses anzusehen; dann entfernte er sich, nachdem er noch gehört hatte, daß der eigentliche Täter, nämlich der Wirt, noch nicht ergriffen worden sei. – – –

Die Polizei hatte sich die äußerste Mühe gegeben, Vater Mains habhaft zu werden. An allen Bahnhöfen und Stadtausgängen waren Posten aufgestellt; in allen obskuren Wirtschaften und Winkeln wurde gesucht, doch vergeblich. Man hätte nicht in den Höhlen der Armut suchen sollen.

Auf der Rue de Macaire nämlich stand ein hohes, palastähnliches Gebäude, dessen Besitzer Lemartel hieß, aber allgemein unter dem Namen Roi des chiffonniers, der Lumpenkönig, bekannt war. Man erzählte sich von ihm, daß er als Knabe Lumpensammler gewesen sei und es durch Fleiß und Sparsamkeit sowie später durch eine reiche Heirat, zum Besitz von Millionen gebracht habe. Er besaß mehrere große Papierfabriken und hatte in seinem Dienst viele Hunderte von armen Teufeln, welche Tag und Nacht Paris durchwanderten, um nach Lumpen und anderen Abfällen zu suchen.

Hinter dem herrlichen Garten seines Palastes zog sich eine enge, schmutzige Gasse hin. In derselben lagen einige Häuser, welche ihm gehörten und ihm als Lagerräume für die angesammelten Abfälle verschiedener Art dienten.

Seine Lumpensammler kannten ihn persönlich; sonst aber gab es wenige Menschen, welche sich rühmen konnten, mit ihm in nähere Beziehung gekommen zu sein. Zwar fuhr er fast täglich in einer glänzenden Equipage spazieren; aber er hatte sich stets so weit in die Polster zurückgelehnt, daß man sein Gesicht nur schwer zu erkennen vermochte. Dann saß allemal eine junge Dame von außerordentlicher Schönheit an seiner Seite, von welcher man sagte, daß sie seine leibliche Tochter sei. Ihre Mutter, seine Frau, sei gestorben.

In der letztvergangenen Nacht hatte in dem engen Lumpengäßchen, wie alle Nächte, ein reges Leben geherrscht. Der Lumpensammler von Paris arbeitet am liebsten während der Nacht, beim Schein seiner kleinen Laterne. Er ist da keinem Passanten im Weg; die Straßenkehrer haben, sobald die Hauptstadt sich zur Ruhe gelegt hat, ihr Werk begonnen, infolgedessen liegen in gewissen Entfernungen Kehrichthaufen, die nun von den Lumpensammlern mit Gier durchsucht werden.

Wer seinen Korb oder seine Bütte gefüllt hat, der eilt zur Niederlage, um den Vorrat abzugeben und die Arbeit von neuem zu beginnen. Daher kommt es, daß in den abgelegenen Gäßchen, in denen die Lumpensammler zusammentreffen, ein mehr als gewöhnlicher Verkehr herrscht, während in anderen Stadtteilen das Wogen des Tages aufgehört hat.

In einem der angegebenen Häuser saß im hintersten Winkel eines niedrigen und feuchten, gewölbeartigen Raumes, welcher ganz von allerlei Abfällen gefüllt war, an einem alten Pult ein Mann, dessen Gesicht von zahlreichen Blatternarben bedeckt war. Er hatte ein großes aufgeschlagenes Buch vor sich liegen, in welches er lange Zahlenreihen eintrug.

Durch die geöffnete Tür kamen und gingen Leute, welche ihre gefüllten Körbe ausschütteten und sich dann entfernten, ohne von diesem Mann beachtet zu werden oder ein Wort an ihn zu richten. Was sie zu reden hatten, das hatten sie bereits mit einem Beamten besprochen, welcher sich im Vorderraum aufhielt.

Da trat ein Mann ein, welcher weder Korb, noch Bütte auf dem Rücken trug. Er schritt langsam auf den Schreibenden zu und blieb dann in der Nähe desselben stehen, um zu warten, bis er angeredet werde. Er blieb längere Zeit unbemerkt, bis endlich der am Pult Sitzende ein Blatt umzuschlagen hatte und sein Blick dabei auf den Wartenden fiel. Seine Gedanken waren so von Zahlen erfüllt, daß er zwar die Gestalt bemerkte, aber die Züge des Gesichtes nicht unterschied, obgleich der Schein der Lampe auf den Angekommenen fiel.

„Was gibt es?“ fragte er kurz und mürrisch.

„Monsieur Lemartel!“ antwortete der Gefragte.

„Nun ja, Monsieur Lemartel bin ich. Also, was gibt es?“

„Wollen Sie mich wirklich nicht kennen?“

Da richtete der Lumpenkönig seinen Blick auf den andern. Seine Stirn zog sich in Falten.

„Donnerwetter!“ sagte er. „Lermille! Sie? Wie kommen Sie nach Paris?“

„Aus alter Anhänglichkeit, Monsieur.“

„Doch nicht etwa Anhänglichkeit gegen mich.“

„Gewiß.“

„Ich danke. Ich denke, Sie sind bei der Truppe des Zauberers Hassan angestellt.“

„Ich war es, meine Stieftochter starb, und da gefiel es mir nicht länger.“

„Sie ist tot? Schade ist es nicht um sie. Sie war ein höchst liederliches Subjekt. Was aber wollen Sie nun in Paris?“

„Ich befinde mich bloß auf der Durchreise. Ich muß Ihnen sagen, daß mir leider die Mittel zur Weiterreise fehlen, und da dachte ich an unsere frühere Bekanntschaft.“

Der Lumpenkönig räusperte sich:

„Sie war, wie ich mich erinnere, sehr vorübergehend.“

„Aber doch so intim, daß wir uns du nannten, obgleich Sie mich jetzt mit dem ehrenvollen Sie beehren.“

„Schon gut. Sie haben die verdammt üble Angewohnheit, sich stets dann, wenn Sie sich in Geldverlegenheit befinden, meiner zu erinnern. Sie können denken, daß mir das nicht sehr angenehm sein kann. Wenn Sie wünschen, daß ich Ihr Bankier sein möge, so ersuche ich Sie vor allen Dingen, eine Summe bei mir zu deponieren, über die Sie sodann verfügen können.“

„Das habe ich ja getan!“ meinte der Bajazzo spitz.

Der Lumpenmann warf einen erstaunten Blick auf ihn und fragte:

„Wie? Wann denn, und welche Summe denn?“

„Ich habe die Erinnerung bei Ihnen deponiert, und Sie werden zugeben, daß dieselbe nicht ganz wertlos ist.“

„Ihr System ist das System des Raubes, der Bedrohung, der Nötigung. Ich habe keine Lust, länger von Ihren Verlegenheiten gelangweilt zu werden. Wieviel brauchen Sie?“

„Hm! So viel wie möglich!“

„Ja, das glaube ich Ihnen. Ich werde Ihnen zum letzten Mal aushelfen. Ich gebe Ihnen heute zweihundert Franken, und zwar mit der Bedingung, daß Sie nicht wiederkommen.“

Der Bajazzo stieß ein kurzes Lachen aus und sagte dann:

„Zweihundert Franken? Welch eine Lappalie! Geben Sie zweitausend, so verspreche ich Ihnen, daß Sie mich nicht wiedersehen werden.

Der Lumpenkönig drehte sich weiter zu ihm herum, warf ihm einen stechenden Blick zu und antwortete:

„Zweihundert, nicht mehr.“

„Monsieur Lemartel!“

„Schon gut. Es ist das mein letztes Wort.“

„Monsieur – Lormelle!“

Der Bajazzo sprach diesen Namen langsam und mit Nachdruck aus. Der Mann am Pult fuhr erschrocken zusammen.

„Was ist das für ein Name?“ fragte er. „Wie kommen Sie dazu, mir denselben zu geben?“

„Weil Sie ihn einst getragen haben. Sie hießen damals Henry de Lormelle. Ich entsinne mich dessen sehr genau.“

„Unsinn. Was fällt Ihnen ein! Sie phantasieren!“

„Soll ich Ihnen einen Zeugen bringen?“

„Ah pah! Wen denn?“

„Vater Main.“

Der Mann am Pult fuhr abermals erschrocken zusammen.

„Vater Main?“ fragte er. „Wer ist das? Wer trägt diesen Namen? Was wissen Sie von dem Mann?“

Ein triumphierendes Lächeln fuhr über das versoffene Gesicht des Hanswursts. Er näherte sich dem Pult und flüsterte, so daß ja kein etwa unbemerkt Anwesender es hören könne:

„Vater Main ist mein Freund.“

„Wieso?“

„Wir sind alte Freunde und Verbündete. Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Ich war gestern bei ihm. Wollen Sie den Beweis? Hören Sie.“

Er raunte dem Lumpenkönig einige Worte in das Ohr. Lemartel erblaßte. Er fuhr mit dem ganzen Oberkörper zurück, als ob er ein Gespenst vor sich sähe, und zischte:

„Still, still! Der Verräter! Was hat er von dieser Sache zu sprechen! Ich werde ihn zur Rede stellen.“

„Tun Sie das meinetwegen. Was mich betrifft, so genügt es mir, zu erfahren, ob Sie mich wirklich mit nur lumpigen zweihundert Franken abspeisen wollen.“

„Nichts, gar nichts werde ich Ihnen geben.“

„Ah! Wirklich, Monsieur Henry de Lormelle? Wissen Sie, was ich in diesem Fall tun werde?“

„Ihr Tun und Lassen ist mir vollständig gleichgültig.“

„Ah, wirklich? Wie nun, wenn ich zur Polizei gehe, um ihr eine interessante Mitteilung zu machen?“

„Das werden Sie bleiben lassen!“

„Doch wohl nicht. Ich werde vorher mit Vater Main sprechen, und dieser wird, als mein Freund, mich in den Stand –“

Er hielt inne und fuhr erschrocken zurück. Auch der Lumpensammler machte eine Bewegung des Erstaunens, denn gerade neben ihnen tauchte die Gestalt dessen auf, von dem der Bajazzo soeben gesprochen hatte, die Gestalt Vater Mains.

„Guten Abend, Monsieur Lemartel!“ grüßte dieser.

„Vater Main! Wo kommen Sie her?“ fragte der, welchem der Gruß gegolten hatte.

„Dort zur Tür herein. Sie beide waren so sehr in Ihre Unterhaltung vertieft, daß Sie meine Schritte gar nicht gehört haben.“

„Und was wollen Sie?“

„Ihren Schutz, Monsieur.“

„Meinen Schutz? Alle Teufel! Ich will doch nicht etwa hoffen, daß Sie irgend eine Dummheit begangen haben, in welche Sie mich verwickeln wollen.“

„Von einer Dummheit kann keine Rede sein, sondern höchstens von einem Unglück, von einem ganz verfluchten Unglück, welches mir widerfahren ist. Ich hatte einen Streich vor, so klug, wie ich noch niemals einen unternommen habe, und gerade dieser Geniestreich ist mißglückt. Die Polizei drang in mein Haus; ich mußte flüchten und bin gezwungen, mir ein Asyl zu suchen, wo ich für die nächsten Tage sicher bin.“

Lemartel machte eine abwehrende Handbewegung und sagte:

„Ich hoffe, daß Sie ein solches finden werden.“

„Gewiß, Monsieur. Ich bin sogar überzeugt, es bereits gefunden zu haben.“

„Meinen Sie etwa, hier bei mir?“

„Gewiß!“

„Sie irren sich. Lassen Sie mich vor allen Dingen den Geniestreich wissen, welcher Ihnen verunglückt ist.“

„Das ist gar nicht nötig. Sprechen wir nicht darüber.“

Da ergriff der Bajazzo das Wort, indem er den Wirt fragte:

„Du meinst wohl die Geschichte mit der Generalstochter?“

„Ja, freilich!“

„Alle Teufel! Der Coup ist nicht gelungen?“

„Er war gelungen. Wir bekamen sie gestern abend in unsere Gewalt; morgen vormittag wollte ihr Großvater hunderttausend Franken bezahlen; da aber kam heute ein Mensch, welcher im heimlichen Einvernehmen mit der Sally gesteckt hat. Sie lockten mich in den Keller, wo ich einen Schlag gegen den Kopf erhielt, welcher mich besinnungslos machte. Dann befreiten sie die Gefangene und töteten dabei Brecheisen und Dietrich, welche sich bei ihr befanden. Als ich wieder zu mir kam, war die Polizei bereits so nahe, daß mir kaum die Zeit zur Flucht übrig blieb.“

Der Lumpenkrösus hatte diesem Bericht mit allen Zeichen des Schreckens zugehört. Jetzt fragte er:

„Was? Sie sind es gewesen? Sie haben den Raub ausgeführt, von welchem alle Journale erzählten?“

„Ja, ich bin es gewesen“, antwortete Vater Main mit sichtbarem Stolz.

„Um Gottes willen! Dann habe ich keinen Teil an Ihnen.“

„Das heißt, daß Sie mich von sich weisen? Das wäre eine Unvorsichtigkeit, welche ich Ihnen nicht zutraue. Ich brauche ein solches Versteck, und Sie können mir ein solches gewähren. Zeigen Sie mir die Tür, so werde ich gefangen, und dann habe ich auch keine Verpflichtung, länger über das zu schweigen, was ich von Ihnen weiß!“

„Sie haben das Schweigen bereits gebrochen.“

„Ich? Gegen wen?“

„Gegen diesen Menschen hier. Er kam, um mir eine Summe Geld abzupressen und glaubte, dies mit Hilfe des Geheimnisses zu erreichen, welches Sie ihm mitgeteilt haben.“

„Der Bajazzo? Ah, der ist ein Freund von mir. Wir brauchen einander nichts zu verschweigen. Übrigens darf ich in meiner gegenwärtigen Lage durch unnütze Unterhandlungen keine Zeit verlieren. Geben Sie mir ein Asyl oder nicht?“

„Nein.“

„Gut. So wird ein gewisses kleines Kästchen noch heute in die Hände der Polizei gelangen.“

Lemartel entfärbte sich, doch nahm er sich zusammen und sagte im Ton des Unglaubens und der Überlegenheit:

„Drohen Sie mir doch nicht mit Dingen, welche gar nicht geschehen können. Sie haben Hals über Kopf fliehen müssen. Es ist Ihnen doch nicht möglich gewesen, das Kästchen zu retten.“

Da warf der Wirt einen Blick, welcher heimlich sein und als Wink gelten sollte, auf den Bajazzo und sagte:

„Sie befinden sich sehr im Irrtum, wenn Sie glauben, daß das Kästchen sich in meinem Gewahrsam befindet. Ich habe es an einem viel sichereren Ort deponiert. Nicht wahr, Bajazzo?“

„Ja; ich selbst war mit dabei“, antwortete der Gefragte.

Aber Lemartel hatte den Wink recht gut bemerkt; er wußte so ziemlich sicher, daß man ihn täuschen wolle. Er beschloß, den Klugen zu spielen und scheinbar nachzugeben. Darum sagte er:

„Welch eine Unvorsichtigkeit! Sie haben das Kästchen nicht mehr bei sich?“

„Nein“, antwortete der Wirt, indem er dem Bajazzo einen befriedigten Blick zuwarf.

„Wo aber befindet es sich jetzt?“

„Das ist unser Geheimnis. Geben Sie mir für einige Tage ein Versteck, so sollen Sie als Belohnung das Kästchen zurück erhalten.“

„Hm! Darf ich diesem Versprechen glauben?“

„Ich schwöre es Ihnen zu.“

„Gut, so werde ich Sie beherbergen, obgleich ich mich dadurch in die allergrößte Gefahr begebe. Aber, was wollen Sie dann beginnen? In Paris dürfen Sie sich nie wieder sehen lassen.“

Der Wirt dachte einen Augenblick nach und antwortete dann:

„Es ist bereits beschlossen, was ich tun werde; nämlich ich gehe unter die Franctireurs.“

Dieser Gedanke frappierte den Lumpenkönig.

„Unter die Franctireurs?“ fragte er. „Ich habe zwar gehört, was auch andere hören, ich weiß, daß man im stillen Freicorps rüstet, aber ob Sie Annahme finden werden, das ist denn doch wohl zu bezweifeln. Man wird nach der Legitimation fragen.“

„Das fällt dem alten Kapitän sicherlich nicht ein.“

„Dem alten Kapitän? Wer ist dieser Mann?“

„Haben Sie von ihm noch nichts gehört? Er scheint eine Hauptrolle in der Organisation der Franctireurs zu spielen. Er heißt Albin Richemonte, war Kapitän der alten Kaisergarde und wohnt auf Schloß Ortry in der Nähe von Thionville. Zu ihm gehe ich.“

Es war ein eigentümlicher Ausdruck, welcher sich jetzt auf dem blatternarbigen Gesicht des Lumpensammlers zeigte. Er war vorhin von dem Bajazzo Henry de Lormelle genannt worden, und diesen Namen hatte ja jener Diener Richemontes und des Grafen Rallion angenommen gehabt, welcher die Familie Königsau um die Kaufsumme ihrer Besitzung beraubt hatte. Er beherrschte seine innere Aufregung und sagte:

„Der Mann ist mir unbekannt. Wenn er Sie aufnehmen will, so mag es mir recht sein. Haben Sie denn Reisegeld?“

„Leider nein. Ich denke, daß Sie mich mit einer kleinen Summe versehen werden.“

„Gerade so wie mich“, fiel der Bajazzo ein.

Der Lumpenkönig schien mürbe gemacht worden zu sein. Er meinte:

„Gut, ich will einmal Rücksicht nehmen. Ich zahle zweitausend Franken, wenn ich das Kästchen erhalte.“

„Sie erhalten es.“

„Wann?“

„In der Stunde, in welcher ich das Asyl verlasse, welches ich bei Ihnen finden werde, Monsieur Lemartel.“

„Warum nicht eher?“

„Weil ich gern sicher gehe. Ich will mich nicht der Gefahr aussetzen, daß Sie mir das Versteck kündigen, nachdem ich Ihnen das Kästchen zurückgegeben habe.“

„Das ist ein sehr ungerechtfertigtes Mißtrauen. Ich habe noch nie mein Wort gebrochen. Also Sie, Vater Main, werden bei mir bleiben. Was aber tun Sie, Bajazzo?“

„Ich bleibe auch“, antwortete der Gefragte.

„Oho! Bedürfen auch Sie eines Versteckes?“

„Vielleicht! Jedenfalls aber kann ich es mir nicht einfallen, über das Kästchen während meiner Abwesenheit verfügen zu lassen. Ich bleibe bei Vater Main, so lange er sich bei Ihnen befindet.“

Lemartel tat, als ob ihm das höchst unangenehm sei. Er machte eine sehr verdrießliche Miene und bemerkte:

„Sie könnten bleiben, wo Sie waren, aber wenigstens doch jetzt sich wieder dorthin zu begeben, woher Sie gekommen sind. Aber ich will mich nicht noch weiter aufregen. Kommen Sie. Es ist dunkel, und man wird Sie nicht sehen.“

Neben dem Pult befand sich eine Tür, welche nach einem kleinen Hof führte. Sie traten hinaus. Dort öffnete Lemartel eine Pforte, welche sich in der Mauer befand. Durch dieselbe gelangten sie in den Garten, welcher zu seinem Palais gehörte.

Es war hier allerdings so dunkel, daß man kaum drei Schritte weit zu sehen vermochte. Die beiden folgten ihm auf dem Fuß, bis sie die hintere Front des Gebäudes erreichten. Er vermied den Haupteingang und öffnete eine Seitentür. Von hier aus führte eine unerleuchtete Treppe nach oben. Sie stiegen dieselbe empor. Er öffnete die Tür; sie befanden sich in einem Zimmer, vor dessen Fenster er zunächst die Jalousien herabließ, so daß kein Lichtschein nach außen dringen konnte. Dann brannte er eine von der Decke herabhängende Lampe an.

Das Zimmer war sehr hübsch möbliert; es schien dem Wirt zu gefallen, denn er fragte:

„Hm. Ist das etwa mein Asyl?“

„Ja. Ist's gut genug?“

„Ich bin zufrieden?“

„Und wo wohne ich?“ fragte der Bajazzo.

„Auch hier“, lautete die Antwort. „Zwei Zimmer kann ich nicht zur Verfügung stellen; das würde die Aufmerksamkeit der Dienerschaft erregen. Ich muß Sie übrigens ersuchen, sich so still wie möglich zu verhalten. Speise und Trank werde ich jetzt besorgen; um zu schlafen, haben Sie das Bett und das Sofa. Die Tür werde ich natürlich verschließen und den Schlüssel bei mir tragen. Das geschieht zu Ihrer und auch meiner eigenen Sicherheit.“

Er entfernte sich und brachte nach kurzer Zeit einen Vorrat von Lebensmitteln. Dann schloß er sie ein.

Er ging durch den Garten nach dem alten Haus zurück, in welchem er sich vorher befunden hatte. Bei seinem Pult angekommen, stieß er einen Pfiff aus, und sofort eilte der Mann herbei, welcher im vorderen Raum die ein und aus gehenden Lumpensammler zu beaufsichtigen hatte. Er war klein und verwachsen, hatte aber recht treue und ehrliche Gesichtszüge.

„Schläft deine Tochter?“ fragte sein Herr.

„Nein. Sie ist noch wach“, war die Antwort.

„Rufe sie. Ich habe mit ihr zu sprechen.“

Der Mann entfernte sich, und nach einiger Zeit trat ein Mädchen ein, welches sich dem Pult näherte und in wartender Stellung vor demselben stehen blieb. Sie war nicht schön, aber auch nicht häßlich. Ihre üppigen Formen waren von dem Nachtgewand nur notdürftig verhüllt.

„Ich habe dich rufen lassen, um eine Frage an dich zu richten“, sagte Lemartel. „Bist du auf Vater Main noch bös?“

Die Augen des Mädchens blitzten grimmig auf.

„Diesen Menschen vergesse ich im ganzen Leben nicht“, sagte sie. „Wären Sie damals nicht gekommen, so hätte ich ihn ermordet. Ihnen verdanke ich das Leben, denn man hätte mir als Mörderin den Prozeß gemacht.“

„Das mag richtig sein. Er hatte dich gemietet; du dachtest, eine gute Stelle zu bekommen und wurdest verführt. Na, das ist jetzt vorüber. Ich interessierte mich für dich und gab auch deinem Vater Stellung. Ich denke, daß du mir ein wenig dankbar sein kannst.“

„Monsieur Lemartel, ich würde alles mögliche tun, um Ihnen zu zeigen, daß ich Ihnen danken will.“

„Alles mögliche? Und doch hast du mir gerade das, was ich am meisten wünsche, abgeschlagen.“

„Ah, das mit dem Versteck?“

„Ja.“

„Das geht nicht; das darf ich nicht. Er zeigte mir einst, um mich zu blenden, sein Geld und seine Kostbarkeiten; ich mußte ihm schwören, niemals ein Wort davon einem anderen mitzuteilen. Sie sehen ein, daß ich das Heil meiner Seele nicht verscherzen darf.“

„Hm! Das sehe ich ein. Aber höre einmal, du hast geschworen, nie davon zu sprechen?“

„Ja.“

„Hast du auch geschworen, das Versteck nie jemandem zu zeigen?“

„Allerdings nicht. Es war ja nur vom Sprechen die Rede.“

„Nun, so bringst du deine Seligkeit ja gar nicht in Gefahr, wenn du den Ort jemandem zeigst, wenn du nur nicht dabei redest.“

Sie dachte eine kleine Weile nach und sagte dann:

„Das mag richtig sein, Monsieur, aber es nützt dennoch nichts.“

„Warum?“

„Weil ich das Versteck niemandem zeigen kann, ich bin ja nicht dort.“

„Wie nun, wenn ich dich hinführte?“

„Oh, Vater Main wird Sie doch nicht in den Keller lassen.“

„Er muß es dulden, denn er ist heute gar nicht daheim.“

„So sind die Kellnerinnen da, und er hat den hinteren Keller jedenfalls verschlossen.“

„Die Kellnerinnen werden uns gar nicht sehen. Ich kenne einen geheimen Weg, auf dem wir nach dem Keller kommen können. Ich will dem Vater Main nicht etwas stehlen, sondern ich will nur sehen, ob er etwas hat, was mir vor längerer Zeit gestohlen worden ist.“

„Ah, ist es so? Er macht den Hehler. Warum wenden Sie sich nicht an die Polizei?“

„Weiß die Polizei den Ort?“

„Das ist wahr. Und ich darf ja nicht davon sprechen. Meinen Sie, daß es den Vater Main sehr ärgern würde, wenn Sie den Gegenstand finden, der Ihnen abhanden gekommen ist?“

„Natürlich! Er würde sich ungeheuer ärgern, denn er müßte ihn mir natürlich wiedergeben.“

„Dann hätte ich beinahe Lust, Ihnen den Ort zu verraten, vorausgesetzt, daß ich es nicht durch Worte zu tun brauche.“

„Wenn du es tust, so werde ich dich reichlich belohnen.“

„Ist irgendeine Gefahr dabei?“

„Nicht die geringste. Ich gebe dir volle fünfhundert Francs.“

Sie schlug die Hände zusammen und sagte:

„Fünfhundert Francs! Da kann ich ja das Schneidern oder das Putzmachen lernen. Ist das Ihr Ernst, Monsieur?“

„Ich gebe dir mein Wort, daß du die Summe bekommst.“

„Gut, so werde ich Ihnen den Willen tun.“

„Das freut mich, auch um deiner selbst willen. Aber vorher mußt du mir schwören, den Weg, welchen wir gehen werden, keinem Menschen jemals zu verraten, weder durch Worte, noch auf eine andere Weise.“

„Ich schwöre es Ihnen zu, Monsieur.“

„Ich glaube es dir. Du bist ein ehrliches Mädchen, obgleich du bei Vater Main im Dienst gestanden hast. Gehe jetzt hinauf in eure Wohnung und lege einen alten Anzug deines Vaters an.“

„Warum das?“ fragte sie, nicht wenig verwundert.

„Weil der Weg, welchen wir einschlagen werden, in Frauenkleidern nicht gut zu passieren ist. Gehe gleich hier zu dieser Tür hinaus und komme auch da wieder herein, damit dich kein Unberufener sieht.“

Sie ging. Als sie nach einiger Zeit zurückkehrte, war sie als Mann verkleidet. Vater Main hatte gar keinen so üblen Geschmack gehabt, als er das Mädchen zur Bedienung seiner Gäste und vielleicht auch zu seiner eigenen Unterhaltung engagierte. Sie blickte einigermaßen verschämt zu Lemartel auf.

„Hat dich jemand gesehen?“ fragte er.

„Kein Mensch; nicht einmal mein Vater.“

„So komm!“

Er schritt nach einer andern Ecke der Niederlage, wo eine Tür in ein Seitengewölbe führte. Dort war es finster, als er die Tür hinter sich zugezogen hatte; aber er brannte eine Lampe an, welche auf einem Tisch stand.

Auch hier gab es Lumpen, nichts als Lumpen. In einem Winkel erblickte man eine Falltür, welche nach abwärts führte, über ihr war an einer Mauer ein kleines Schränkchen befestigt. Er öffnete es und nahm zwei kleine Laternen und einen mehrfach zusammengefalteten Papierbogen heraus. An der Mauer lehnte ein alter Stockdegen.

„Jetzt muß ich dich zunächst fragen, ob du dich vielleicht vor Ratten fürchtest“, bemerkte er.

„Ja, im Dunkeln und wenn ich allein bin.“

„Nun, wir haben zwei Laternen, und ich bin bei dir.“

„Gibt es denn diese Tiere auf dem Weg, welche wir einschlagen werden, Monsieur Lemartel?“

„Nicht nur wenige, sondern sogar in Masse. Hast du vielleicht einmal davon gehört, daß es unter gewissen Stadteilen von Paris Katakomben gibt?“

„Das weiß ja jedes Kind.“

„Nun, ein solcher Stadtteil ist der unsrige. Diese Falltür führt in das Labyrinth der unterirdischen Gänge hinab. Sie sind so verzweigt und ineinander gewirrt, daß man sich darin verirren kann. Es hat schon mancher nicht wieder heraufgefunden. Später wurde sein Skelett entdeckt. Er war elend verhungert und vielleicht gar bei lebendigem Leib von den Ratten aufgefressen worden.“

„Herrgott“, sagte das Mädchen schaudernd. „Und da hinab wollen wir vielleicht steigen?“

„Ja. Das Haus des Vater Mains ist fünf Querstraßen weit von hier. Sein Keller liegt ebenso wie der meinige über den Katakomben, und ich weiß, daß er auch eine Falltür besitzt.“

„Das stimmt. Ich habe die Tür damals gesehen.“

„Also richtig. Ich will offen sein und dir sagen, daß ich Grund gehabt habe, den Wirt heimlich zu beobachten. Ich bin sehr oft, ohne daß er es ahnte, in seinem Keller gewesen. Nur das Versteck konnte ich nicht entdecken. Heute wirst du es mir zeigen.“

„Das würde ich gern tun, Monsieur, denn ich habe Ihnen ja sehr viel zu verdanken; aber wie nun, wenn wir den Weg nicht zurückfinden und dann auch verhungern.“

„Ich kenne den Weg sehr genau, und übrigens habe ich für unvorhergesehene Fälle dieses Papier. Es ist der Plan der Katakomben, über denen wir wohnen. Willst du dich mir anvertrauen?“

Sie zögerte eine Weile und antwortete dann in entschlossenem Ton:

„Gut, ich gehe mit! Sie werden sich doch nicht selbst in eine Gefahr begeben, die Sie nicht kennen.“

„Sicherlich nicht. Vorher aber noch eins! Ich befand mich nämlich in den Katakomben unter dem Keller, als Vater Main dir sein Versteck zeigte, um dich zu betören. Ich hörte jedes Wort, welches zwischen euch gesprochen wurde; aber es fiel kein einziges, aus dem ich hätte schließen können, welcher Ort das Versteck sei. Von dieser Stunde an war es beschlossen, dich von ihm fortzunehmen, um mit deiner Hilfe das Gesuchte zu finden. Jetzt weißt du nun alles, und wir können den Weg antreten.“

Er kehrte zur Tür zurück und verschloß sie, um nicht beobachtet zu werden. Dann brannte er die beiden Laternen an, von denen das Mädchen eine erhielt. Das Licht wurde verlöscht. Sodann öffnete er die Falltür. Aus der schwarz emporgähnenden Öffnung stieg ein modriger Geruch, und unten hörte man die Stimmen der Ratten, welche durch das Geräusch aufgeschreckt worden waren. Längs der Mauer hin lag eine Leiter. Er nahm dieselbe und ließ sie in das Loch hinab.

„Jetzt werde ich voransteigen, und du folgst mir“, sagte er. „Du brauchst ganz und gar nicht bange zu sein. Es wird dir nichts Böses geschehen.“

Er zog den Degen aus dem Stock, nahm ihn in die Rechte und die Laterne in die Linke und begann hinab zu steigen. Sie zögerte einige Augenblicke und folgte ihm dann vorsichtig.

Unten angekommen, befanden sie sich in einem gewölbten Gang, von dessen Mauern das Wasser sickerte. Es sammelte sich am Boden, wo es durch unsichtbare Ritzen verschwand. Einzelne Ratten huschten an ihnen vorüber. Die Masse dieser Tiere hatte sich vor dem Schein der Laternen geflüchtet.

„Nun, findest du es vielleicht zu grausig hier unten?“ fragte er.

„Nein“, antwortete sie. „Allein möchte ich auf keinen Fall und um keinen Preis hier sein.“

„Weißt du, wozu diese Katakomben früher gedient haben?“

„Man sagt, daß die Toten da aufbewahrt worden sind.“

„Das ist wahr. Wir werden an einigen Stellen vorüberkommen, wo Schädel und Knochen aufgespeichert liegen. Du brauchst dich jedoch nicht zu fürchten. Komm, gib mir deinen Arm!“

Er führte sie. Er fühlte, daß sie bebte. Sie war doch nicht so mutig, wie sie sich den Anschein gab. Und als sie, in mehrere Nebengänge einbiegend, immer ganze Scharen von Ratten fliehen sahen und hörten, stieß sie zuweilen einen lauten Ruf des Schreckens aus.

Nach einer Weile kamen sie durch ein breiteres Gewölbe, an dessen Seiten zahlreiche Überreste von Leichen aufgestapelt waren. Da drängte sie sich furchtsam an ihren Führer und beschleunigte ihre Schritte, so daß er ihr kaum zu folgen vermochte.

Endlich, endlich blieb er halten. Es waren in die Mauer Stufen gehauen und oben in der Decke erblickte man eine Falltür, ganz ähnlich derjenigen, durch welche sie vorher herabgestiegen waren.

„Wir sind am Ziel“, sagte er.



„Über uns ist der Keller des Vater Mains?“ fragte sie.

„Ja. Der Schlaukopf scheint auch zuweilen hier unten seine Entdeckungsfahrten unternommen zu haben, denn diese Stufen sind sicher nur von ihm in den Stein gehauen worden. Er kann da die Leiter entbehren. Ich werde einmal horchen, ob sich jemand im Keller befindet. Hier hast du den Stockdegen, um dich der Ratten zu erwehren, wenn sie dich belästigen sollten.“

Er stieg empor, bis sein Kopf an die Falltür stieß und lauschte eine kurze Zeit. Dann hob er die Tür empor, hielt die Laterne in die Höhe und blickte in den Keller. Er konnte nach dem, was er erfahren hatte, sich denken, daß das Haus von der Polizei besetzt war. Daher war Vorsicht geboten. Glücklicherweise bemerkte er, daß in dieser hinteren Abteilung von einem Menschen keine Spur zu sehen sei.

„Es ist niemand da“, flüsterte er ihr zu. „Komm herauf.“

Er selbst stieg vollends empor, und sie folgte ihm.

„Nun, wo ist das Versteck?“ fragte er. „Du kannst es mir zeigen, ohne ein Wort zu sprechen; dann hast du deinen Schwur gehalten.“

Natürlich sprach er so leise wie möglich. Er war fieberhaft erregt, ließ es sich aber nicht merken. Das Mädchen trat einige Schritte vor, bückte sich dann fast bis zum Boden nieder und deutete auf einen Mauerstein, welcher ganz fest zwischen den anderen zu stecken schien. Ein Eisenring war an ihm angebracht. Lemartel erfaßte den Ring und zog. Der Stein folgte dieser Anstrengung und nach ihm auch die rechts und links von ihm befindlichen. Dadurch wurde eine Öffnung sichtbar, welche eine ziemliche Tiefe besaß. Der Lumpenkönig leuchtete in dieselbe hinein und mußte sich beherrschen, um nicht einen lauten Ruf des Erstaunens auszustoßen.

Er erblickte Geldrollen und Pakete, welche jedenfalls Papiergeld enthielten, Ringe, Ketten, Armbänder und allerlei ähnliche Schmuckgegenstände. Und ganz hinten – ah, er langte hinein und zog ein kleines Kästchen hervor, welches er genau betrachtete. Es war verschlossen und kein Schlüssel steckte im Loch.

„Das ist es!“ sagte er, indem sein Auge aufleuchtete.

„Dieses Kästchen wurde Ihnen gestohlen?“ fragte sie.

„Ja. Ich werde der Polizei Meldung machen.“

„Warum denn, Monsieur?“

„Damit ich es wieder bekomme.“

„Dazu ist ja gar keine Meldung nötig! Wenn es Ihnen gehört, so können Sie es ja behalten. Das ist keine Sünde und auch kein Verbrechen.“

Natürlich hatte er sich nur den Anschein gegeben, als ob er Anzeige machen wollte. Er nahm eine nachdenkliche Miene an und meinte flüsternd:

„Du hast eigentlich ganz recht. Melde ich es der Polizei, so wird das Kästchen konfisziert, obgleich es mein Eigentum ist, und ich kann monatelang warten, ehe ich es erhalte. Also du meinst, daß ich es mitnehmen soll?“

„Ja. Was ist drin?“

„Nichts gerade Wertvolles. Nur Scheine und Zeugnisse, welche ich vielleicht noch einmal brauchen werde. Die Diebe haben das Kästchen jedenfalls nur deshalb mitgenommen, weil die Elfenbeinarbeit daran eine wertvolle ist. Stecken wir die Steine wieder an ihren Platz!“

Er verschloß das Versteck wieder, wie es erst gewesen war, und nahm das kleine Kästchen an sich. Dann stiegen sie wieder hinab, wobei er die Falltür über sich niederließ. Unten im Gewölbe angekommen, sagte das Mädchen:

„Nun sind Sie also vollständig zufriedengestellt, Monsieur?“

„Ja.“

„Das ist uns leichter geworden, als ich es dachte. Ich werde darum die Belohnung, welche Sie mir versprochen haben, wohl gar nicht annehmen können.“

„Du wirst sie erhalten und annehmen, denn du hast sie verdient. Komm, laß uns zurückkehren.“

Sie gelangten auf demselben Weg, den sie gekommen waren, und in ganz derselben Weise in die Lumpenniederlage Lemartels zurück. Dorf öffnete er sein Pult und zahlte ihr die Summe aus. Sie konnte es nicht fassen, plötzlich so reich geworden zu sein, und zog im Übermaße ihres Glücks seine Hand an ihre Lippen. Dann entfernte sie sich.

Kaum war sie fort, so trat er den Gang zum zweiten Mal an. Während er die Katakomben durchschritt, murmelte er vor sich hin:

„Soll ich etwa den Schatz liegen lassen, den dieser Spitzbube da aufgespeichert hat! Ich würde der größte Tor der Erde sein. Habe ich mir kein Gewissen daraus gemacht, damals die Familie Königsau nebst Graf Rallion und den Kapitän um ihr Geld zu betrügen, so brauche ich jetzt erst recht keine Bedenken zu hegen!“

Unter der Falltür angekommen, lauschte er. Er bemerkte, daß jemand im Keller sei. Es wurde geklopft und gehämmert.

„Donnerwetter!“ dachte er. „Sollte man ahnen, daß der Alte hier ein heimliches Versteck hat, und nach demselben suchen? Das wäre fatal! Ich muß warten.“

Er wartete lange Zeit, aber die Bewegung, welche im Keller herrschte, wollte nicht aufhören. Darum kehrte er endlich zurück und beschloß, den Weg am Tag nochmals zu unternehmen.

Er kam erst gegen Mittag zur Ausführung dieses Vorhabens. Jetzt fand er den Keller des Wirtes leer. Er blickte sich um, konnte aber nichts bemerken, was ihm hätte als Fingerzeig dienen können, warum man in der Nacht hier so geklopft und gehämmert habe. Das Geräusch hatte wohl im vorderen Keller stattgefunden. Er zog die Steine heraus und fand den Schatz noch vor.

Er raffte alles in ein Tuch zusammen, welches er mitgebracht hatte, brachte die Steine wieder in ihre Lage und zog sich dann zurück, um eine Summe bereichert, deren Höhe er jetzt noch gar nicht zu bestimmen vermochte.

Er hielt sich gar nicht in seiner Niederlage auf, sondern begab sich nach dem Palais, um den Raub dort in sicheren Gewahrsam zu bringen. Wer ihn jetzt hätte durch den Garten schreiten sehen, dem wäre es ganz gewiß nicht eingefallen, ihn für den Besitzer dieses Palastes zu halten. Er war nicht anders gekleidet als einer seiner Arbeiter.

Nachdem er das gestohlene Gut versteckt hatte, begab er sich zu den beiden Männern, welche glaubten, sich in einem sicheren Asyl bei ihm zu befinden.

„Endlich!“ sagte Vater Main, als er bei ihnen eintrat. „Die Zeit wird einem in dieser Einsamkeit verteufelt lang. Gibt es nichts Neues? Was erfährt man über unsere Affäre?“

„Sehr viel und sehr wenig“, antwortete Lemartel. „Ich bringe euch eine Botschaft, welche für euch von größter Wichtigkeit ist.“

„Erfreulich?“

„Nein. Wenigstens glaube ich, daß sie euch nicht sehr angenehm sein wird.“

Aus dem Umstand, daß er euch anstatt Ihnen sagte, hätten sie sehr leicht auf die Änderung seiner Gesinnung schließen können.

Sie beachteten das nicht. Der Bajazzo fragte:

„Was ist's? Heraus mit der Sprache.“

„Hier nicht. Ich muß euch erst an einen anderen Ort bringen. Kommt und folgt mir!“

„Wohin?“

„Das werdet Ihr sehen!“

Er öffnete die Tür und stieg ihnen voran die Treppe hinab. Sie sahen sich gezwungen, ihm zu folgen, wunderten sich aber nicht wenig, als sie bemerkten, daß er sie durch den Garten nach der Lumpenniederlage hinüberführte. Jenseits der Mauer angekommen, ließ er sie warten.

Zur jetzigen Tageszeit war das Geschäft geschlossen. Er überzeugte sich dennoch, ob jemand anwesend sei, und fühlte sich erst dann sicher, als er annehmen konnte, daß er völlig unbeobachtet sei. Nun brachte er die beiden nach der Niederlage. Dieses Verhalten fiel doch den beiden auf.

„Ist das etwa der Ort, an den Sie uns bringen wollten?“ fragte Vater Main.

„Ja, er ist es.“

„Alle Teufel! Und hier, gerade hier allein können Sie mit uns reden?“

„Nur hier. Hier ist der einzige Ort für das, was ich euch mitzuteilen habe.“

„So bin ich wirklich neugierig, es zu hören.“

„Ihr sollt es sofort erfahren, ich habe nämlich vernommen, daß man euch an allen Ecken und Enden sucht. Findet man euch, so seid Ihr verloren.“

„Das wissen wir, ohne daß man es uns zu sagen braucht!“

„Verloren ist aber auch derjenige, bei dem man euch findet, und darum muß ich euch bitten, euch ein anderes Asyl zu suchen!“

Sie blickten ihn erstaunt und wortlos an. Vater Main fand die Sprache zuerst wieder. Er fragte:

„Monsieur Lemartel, belieben Sie etwas zu scherzen?“

„Nein, ich spreche im Ernst.“

„Alle Teufel! Das kann ich kaum glauben. Gerade dadurch, daß Sie uns die Tür zeigen, würden Sie das Verderben über sich heraufbeschwören.“

„Das klingt sehr unglaublich. Ich kann euch nicht gebrauchen!“

„Aber wir Sie! Ich sage Ihnen, wenn Sie uns wirklich die Tür zeigen, so befindet sich das bewußte Kästchen innerhalb einer Stunde in den Händen der Polizei.“

„Daran glaube ich nicht. Wie wollen Sie in Ihr Haus zurück, um es zu holen? Sie würden der Polizei in die Hände geraten!“

„Ich habe Ihnen ja bereits mitgeteilt, daß ich es an einem anderen Ort deponiert habe.“

„Das ist eine Lüge, das Kästchen befindet sich in Ihrem Keller.“

Der Wirt riß die Augen auf. Er starrte den Sprecher erschrocken an, faßte sich aber rasch wieder und sagte:

„Unsinn! Sie haben kein Geschick, auf den Strauch zu schlagen.“

„Das beabsichtige ich gar nicht. Ich bin meiner Sache so sicher, daß ich Ihnen sogar sagen kann, daß das Kästchen sich in der hinteren Abteilung Ihres Kellers befindet.“

„Vermutung! Nichts weiter!“

„Hinter den drei Steinen, welche locker sind.“

Da fuhr der Wirt zurück, als ob er vor einem Abgrund stehe. Er stieß einen Ruf des Schreckens aus und fragte:

„Hölle und Teufel! Was wissen Sie von drei Steinen? Was bringt Sie zu dieser unbegreiflichen Vermutung?“

„Es hat mir geträumt, das ist die einzige Erklärung, welche ich zu geben vermag. Wollt Ihr das Kästchen der Polizei übergeben, so habe ich ganz und gar nichts dagegen. Die Lust aber, mich wegen Euch in Gefahr zu begeben, ist mir vergangen.“

Er näherte sich der Haustür, welche von innen verschlossen war, und zog den Schlüssel hervor, um sie zu öffnen. Da trat der Bajazzo zu ihm heran und fragte:

„Reden Sie irre, oder sprechen Sie im Ernst?“

„Das letztere ist der Fall, Monsieur Bajazzo.“

„So wollen Sie also wirklich in Ihr Verderben rennen?“

„Versuchen Sie es doch, mich zu verderben.“

„Das Kästchen wird sicher abgegeben.“

„Holt es euch erst.“

„Ich werde erklären, daß Sie der betreffende Henry de Lormelle sind, welcher damals – Sie wissen ja!“

„Nichts weiß ich, gar nichts! Bringt Beweise! Hier steht die Tür offen. Packt euch hinaus!“

Er hatte die Tür aufgestoßen und deutete hinaus auf die Gasse, das steigerte den Grimm des Bajazzo.

„Hund!“ rief er. „Du sollst uns nicht umsonst hinauswerfen! Da, nimm das zum Lohn.“

Er holte zum Schlag aus; aber der Lumpensammler war auf seiner Hut gewesen. Er sprang zurück und riß einen Revolver aus der Tasche, den er dem Bajazzo entgegenhielt:

„Ah, vergreifen wollt ihr euch an mir?“ fragte er. „Noch einen einzigen Schritt, und ich schieße euch nieder. Wenn man euch dann erkennt, wird man mich belohnen, anstatt bestrafen. Ich sage ganz einfach, daß ihr einen Raubanfall gegen mich unternommen habt. Also geht, oder ich schieße.“

Der Bajazzo sah sich machtlos. Er schäumte vor Wut. Vater Main fühlte nicht weniger Grimm, aber er besaß mehr Selbstbeherrschung. Er faßte ihn beim Arm und sagte:

„Komm, Bajazzo; laß ihn! Er hat in diesem Augenblick die Oberhand; aber er soll es büßen; dafür werden wir sorgen.“

Er zog ihn mit sich fort auf die Gasse hinaus. Draußen blickten sie sich vorsichtig um. Sie bemerkten nichts Verdächtiges und schritten weiter.

„Diesem Halunken will ich es gedenken!“ sagte der Bajazzo. „Ich kenne eine Affäre aus seiner Vergangenheit, welche –“

„Still jetzt!“ unterbrach ihn der Vater Main. „Wir haben in diesem Augenblick genug mit uns selbst zu tun. Es ist heller Tag. Man sucht mich jedenfalls in ganz Paris. Ich muß auf meine Sicherheit bedacht sein.“

„Wohin aber wenden wir uns?“

„Zum alten Piccard.“

„Ah, zum Trödler?“

„Ja.“

„Lebt er denn noch?“

„Der stirbt niemals. Er scheint das ewige Leben zu haben. Er ist mir zu Dank verpflichtet, und ich bin überzeugt, daß er mir seine Hilfe nicht versagen wird. Vorwärts also!“

Er begann, rascher als bisher auszuschreiten, und der Bajazzo mußte das gleiche tun. So kamen sie glücklich durch einige Gäßchen, ohne einem Polizisten zu begegnen, und endlich traten sie in den Flur des kleinen, armseligen Häuschens, in welchem allem Anschein nach ein Althändler zu wohnen schien.

Der Wirt hatte das Eintreten der beiden Fremden vernommen, er öffnete die Stubentür. Der Raum war von der Diele bis zur Decke hinauf mit altem Gerümpel angefüllt. Auf einer Bank saß ein alter, grauköpfiger Kerl, welcher noch vor Methusalem gelebt zu haben schien.

Kaum war der Blick dieses Mannes auf Vater Main gefallen, so sprang er mit jugendlicher Beweglichkeit von seinem Sitz auf, riß die beiden in die Stube hinein, verriegelte die Tür und rief im Ton des Schreckens:

„Mein Gott, ist es möglich! Vater Main! Du wagst es, dich am hellen Tag auf der Straße zu zeigen! Weißt du denn nicht, daß tausend Augen nach dir forschen?“

„Ich weiß es, alter Picard. Wirst du mich verraten?“

„Was denkst du? Was fällt dir ein?“

„Ich wußte es. Du wirst mir doch aus der Schlappe helfen.“

„Gern, wenn ich kann. Was verlangst du von mir?“

„Ich mußte fliehen in demselben Anzug, in welchem ich im Keller steckte. Hast du keinen anderen, welcher mich unkenntlich macht?“

„Ich habe einen und werde ihn holen.“

„Aber ich habe kein Geld.“

„Das ist auch nicht nötig. Du wirst mich bezahlen, sobald es dir möglich ist. Und du, Bajazzo, bist auch wieder hier? Sieht man dir vielleicht auch auf die Finger?“

„Hm“, antwortete der Gefragte, „auch ich habe gerade keine Veranlassung, mich viel sehen zu lassen.“

„So macht euch aus der Stadt hinaus. Draußen auf dem Land seid ihr sicherer als hier.“

Er suchte einen Anzug hervor, und bald war der Wirt so ausstaffiert, daß man ihn, wenigstens von weitem, nicht gut erkennen konnte. Der Trödler schob sie zur Tür hinaus. Es war ihm doch Angst, daß man sie bei ihm finden könne.

Die beiden suchten die einsamsten Wege aus und besprachen sich dabei über das, was sie zu tun hatten.

„Hast du Geld, Bajazzo?“ fragte der Wirt.

„Verdammt wenig. Ich bin gestern abend so dumm gewesen, zu spielen und habe da fast alles verloren.“

„Das ist dumm. Ohne Geld können wir nicht fort. Ich habe zwar genug zu Hause und so gut versteckt, daß man es nicht finden kann; aber kann ich es holen? Die Polizei hat jedenfalls das Haus und auch die ganze Umgebung besetzt.“

„Hast du keinen Bekannten, welcher dir vielleicht borgen würde?“

„Genug. Aber es fällt mir gar nicht ein, sie aufzusuchen. Jedem meiner Bekannten hockt ein Polizist auf dem Rücken, das ist sicher.“

„Wie aber zu Geld kommen. Wir müssen welches haben.“

„Du, Bajazzo, sei aufrichtig. Ist die Polizei wirklich auch hinter dir her?“

„Leider, und zwar ganz verteufelt.“

„Weshalb?“

„Ich spreche nicht darüber; aber wenn man mich erwischt, so kann es mir leicht an den Kragen gehen.“

„So müssen wir alles versuchen, um uns salvieren zu können. Geld muß und muß und muß geschafft werden. Weißt du Rat?“

„Nein.“

„Gut, so weiß ich welchen. Werden wir mit zehntausend Franken ausreichen?“

„Zehntausend? Bist du verrückt? Woher sollen wir eine solche ungeheure Summe erhalten?“

„Woher? Von wem anders, als von dem Grafen Rallion.“

„Von Rallion? Ah! Mensch, das ist ein sehr guter Gedanke.“

„Nicht wahr? Er muß Geld schaffen, und zwar genug. Wir haben ihn in unseren Händen.“

„Das ist richtig. Aber – hm.“

„Was? Gibt es ein Bedenken?“

„Ja, ein sehr schweres.“

„In unserer Lage haben wir keine Wahl.“

„Ja, doch haben wir eine Wahl.“

„Welche?“

„Wer mit ihm reden soll, ob du oder ich.“

„Furcht habe ich nun wohl nicht; aber es ist doch wohl nichts Angenehmes, so einem vornehmen Herrn entgegenzutreten.“

„Du hast kein Geschick. Soll ich mit ihm reden?“

„Ja. Ich überlasse es am liebsten dir.“

„Gut. Hast du noch Geld genug für einen Fiaker?“

„Dazu reicht es aus. Du meinst, wir werden nicht so beobachtet, wenn wir fahren?“

„Gewiß. Befinden wir uns erst in dem Stadtteil, wo der Graf wohnt, so sind wir dort nicht so sehr bekannt, wie hier. Also wollen wir unser Glück versuchen.“

Sie nahmen eine Droschke und ließen sich in die Nähe des Hotels Rallion fahren. Dort stiegen sie aus und lohnten den Kutscher ab. Hier in diesem Stadtviertel fühlten sie sich sicherer als vorher.

„Wo soll ich warten?“ fragte der Bajazzo.

„Geh dort in der Seitenstraße auf und ab. Ich denke, daß ich dich nicht lange warten lassen werde.“

Sie trennten sich. Der Bajazzo begab sich nach der Seitengasse, wo er langsam hin und her ging, sorgsam darauf achtend, daß er nicht zu auffällig werde. Bereits nach kaum fünf Minuten sah er den Wirt kommen.

„Schon“, sagte er zu ihm. „Er war wohl nicht zu sprechen?“

„Nein. Er ist verreist.“

„Wohin?“

„Das weiß der Teufel. Ich konnte es nicht erfahren. Dieser verdammte Portier schien mich nicht für voll anzusehen. Aber ich weiß, wo ich ganz genaue Auskunft erhalten werde.“

„Wo?“

„Beim Sekretär des Grafen, welcher gar nicht weit von hier wohnt. Er wird zu Hause sein, denn es ist die Zeit zum Speisen.“

Sie wanderten miteinander weiter, bis sie ihr Ziel erreichten. Hier mußte der Bajazzo abermals warten. Er trat in das Tor des gegenüberliegenden Hauses, von wo aus er alles genau beobachten konnte. Der Wirt aber trat drüben ein und stieg die Treppe empor in der festen Überzeugung, den gegenwärtigen Aufenthalt des Grafen zu erfahren. –

Belmonte war mit seinem Martin im Stadthaus zusammengetroffen, wo man dann die Aussagen beider zu Protokoll genommen hatte. Danach wollte Martin die Geliebte aufsuchen. Er blickte, aus dem Stadthaus tretend, seinen Herrn von der Seite an, und sagte:

„Jetzt also nun Abschied nehmen.“

„Von der Schwalbe“, lächelte Belmonte.

„Wollten Sie nicht mit Monsieur?“

„Gleich mit? Ist es nicht besser, ich lasse euch erst ein Weilchen allein und komme dann nach?“

„Hm! In solchen Angelegenheiten scheinen Sie denn doch nicht sehr bewandert zu sein.“

„Wieso mein Lieber?“

„Beim Abschiednehmen ist jeder dritte überflüssig.“

„Ah, so? Du meinst, ich soll lieber gleich mitkommen und euch dann allein lassen?“

„So denke ich allerdings.“

„Gut; ich gehe mit.“

Alice saß bei einer kleinen Handarbeit und gedachte des Geliebten, als es draußen im Vorsaal klingelte. Sie ging hinaus, um zu öffnen. Sie erblickte einen höchst stattlichen Herrn, welcher den Hut ziehend, sich höflichst verbeugte und dann fragte:

„Entschuldigung! Bin ich hier recht bei Demoiselle Alice?“

„So heiße ich, mein Herr. Treten Sie näher.“

Er trat in den Vorsaal, blieb aber so stehen, daß sie die Tür nicht schließen konnte und fuhr fort:

„Ich suche einen Herrn bei Ihnen, welcher sich Monsieur Martin nennt.“

Eine tiefe Röte überflog ihr Gesicht.

„Monsieur Martin?“ fragte sie verlegen.

„Ja, Mademoiselle. Es ist ganz derselbe Martin, welcher sich vorzugsweise gern unter die Tische versteckt, wenn er beim Damenbesuch gestört wird.“

Sie wurde noch verlegener; dann aber leuchtete es in ihrem Gesichtchen auf.

„Ah, er hat geplaudert!“ lachte sie. „Irre ich nicht, so sind Sie Monsieur Belmonte?“

„Wie kommen Sie zu dieser Vermutung?“

„Weil Martin nur seinen Herrn in solche Staatsgeheimnisse einweihen wird.“

Da ertönte draußen hinter der Tür ein fröhliches Lachen. Der Telegraphist drängte sich herein, nahm das Mädchen bei der Taille und sagte frohlockend:

„Habe ich es nicht gesagt, daß mein Schwälbchen Sie erraten wird, Monsieur Belmonte. Ja, man glaubt gar nicht, was so ein Vöglein für einen Scharfsinn besitzt. Alice, hier ist mein lieber Herr, welcher dich gern einmal sehen wollte. Darf er mit eintreten?“

Sie war überrascht, den Geliebten um diese Zeit bei sich zu sehen, aber sie fand sich rasch in die Lage.

„Es wird mir eine große Ehre sein“, antwortete sie. „Bitte einzutreten, Monsieur.“

Die trauliche, saubere Häuslichkeit heimelte Belmonte sofort an, und als er nun dem braven Mädchen in das liebe, vor Freude gerötete Angesicht blickte, da ging ihm das Herz auf. Er reichte ihr die Hand und sagte:

„Ich werde Sie nicht lange belästigen, Mademoiselle; aber es war mir ein Bedürfnis, die Dame kennenzulernen, welche das Herz meines guten Martin so schnell und so vollständig erobert hat. Ich möchte eifersüchtig auf Sie sein. Er denkt jetzt kaum noch an mich, sondern immer nur an Sie.“

Sie wollte antworten, aber da ertönte die Klingel abermals.

„Gott, das wird mein Bruder sein“, sagte sie.

„Erschrecken Sie darüber nicht“, meinte Belmonte. „Martin hat keine Veranlassung, sich vor Monsieur, Ihrem Bruder, zu verbergen. Gehen Sie getrost, um zu öffnen.“

Sie war doch ein wenig bleich geworden, aber sie folgte der an sie ergangenen Aufforderung. Die beiden hörten, daß die Vorsaaltür aufgeschlossen wurde und dann fragte eine Stimme:

„Wohnt hier der Sekretär des Grafen Rallion?“

„Ja, mein Herr“, antwortete Alice.

„Ist er zu Hause?“

„Nein.“

„Wann wird er kommen?“

„Er wird vielleicht bald zu sprechen sein.“

„So erlauben Sie, daß ich eintrete.“

Man hörte das Geräusch von Schritten, welche aber doch gleich wieder halten blieben. Alice schien sich dem Mann in den Weg gestellt zu haben. Belmonte hatte überrascht aufgehorcht.

„Sapperlot“, flüsterte er. „Diese Stimme sollte ich kennen!“

„Bitte, ziehen Sie es nicht vielleicht vor, in kurzer Zeit wieder zu kommen?“ fragte das Mädchen.

„Nein“, wurde geantwortet. „Ich werde warten, bis er kommt.“

„Er ist's, er ist's!“ sagte Belmonte. „Es ist wahrhaftig Vater Main, oder ich müßte mich außerordentlich täuschen! Rasch hier hinein. Mich kennt er nicht sofort wieder.“

Er öffnete die Nebentür und schob Martin hinein; dann trat er zu der Tür, welche nach dem Vorsaal führte, öffnete sie und sagte zu dem Ankömmling:

„Bitte treten Sie hier ein.“

Der Angeredete folgte dieser Aufforderung. Es war wirklich der von der Polizei gesuchte Tavernenwirt. Er erkannte Belmonte nicht, da dieser anders gekleidet ging und auch nicht die falsche Haartour trug, welche er angelegt hatte, wenn er bei Vater Main erschien.

„Ah“, sagte der Wirt, „man hat Sie verleugnen wollen?“

„Wieso?“

„Sie sind Monsieur, der Sekretär?“

„Nein, der bin ich allerdings nicht. Aber bitte, wollen Sie nicht Platz nehmen, mein Herr?“

Vater Main setzte sich auf einen Stuhl und Belmonte stellte sich so, daß er zwischen ihm und der Tür stand. Alice war mit eingetreten. Die Anwesenheit dieses Fremden war ihr im höchsten Grad fatal. Er bemerkte das an dem Blick, den sie mißbilligend auf ihm ruhen ließ, und suchte sich zu entschuldigen:

„Ich bin fremd in Paris, Mademoiselle, und wußte nicht, wo ich bis zur Ankunft des Herrn Sekretär besser warten sollte als hier.“

„Sie haben sehr recht“, bemerkte Belmonte. „Auch mir ist es lieber, daß Sie hier eingetreten sind. Darf ich fragen, welcher Angelegenheit wir Ihre Anwesenheit verdanken?“

„Ich wollte eine Erkundigung aussprechen.“

„Nach wem oder was? Vielleicht bin auch ich imstande, Ihnen Auskunft zu erteilen.“

„Ich möchte gern erfahren, wo sich gegenwärtig Graf Rallion befindet. Ist Ihnen der Ort bekannt?“

„Ja. Was wünschen Sie von ihm?“

„Ich habe in einer wichtigen Privatangelegenheit um eine Audienz zu ersuchen.“

„Vielleicht in Damenangelegenheiten?“

„Wieso? Woher diese Vermutung?“

„Weil Sie ein Herr zu sein scheinen, der sich vorzugsweise gern mit Damen beschäftigt.“

„Sie scherzen. In meinen Jahren, Monsieur – hm.“

„Oh, auch in Ihren Jahren kann man sich noch sehr für junge Damen interessieren, wenn auch weniger aus Gefühls-, als vielmehr aus pekuniären Rücksichten.“

„Ich verstehe Sie nicht.“

„Das begreife ich nicht. Man hat Beispiele, daß sich ein Herr Ihres Alters für eine Dame interessierte, um zu einem Gewinn von hunderttausend Franken zu kommen.“

Der Wirt wurde leichenblaß. Er fragte stockend: „Er hat sich des Vermögens wegen mit ihr verlobt?“

„Nein, er hat sie dieser Summe wegen geraubt.“

„Ah, Sie sprechen von dem Fall, welcher die ganze Hauptstadt in Aufregung gebracht hat. Es steht sehr zu wünschen, daß der Täter ergriffen werde. Ich aber werde doch vorziehen, wieder zu kommen, da der Herr Sekretär vielleicht erst später eintrifft.“

Er hatte sich erhoben; er fühlte sich von einer plötzlichen Unruhe ergriffen. Der Mann, welcher da vor ihm stand, kam ihm so eigentümlich, so inquisitorisch vor. Er machte eine Verbeugung und wollte an Belmonte vorüber. Dieser aber wich nicht von seinem Platz, sondern sagte sehr höflich:

„Bitte, zu bleiben, Monsieur. Warum wollen Sie sich entfernen, da Sie doch soeben gewünscht haben, daß der Täter ergriffen werde.“

„Ich verstehe Sie wahrhaftig nicht“, stotterte der Wirt.

„Wie? Sie verstehen mich nicht? Sie kennen mich wohl auch nicht, mein Lieber?“

„Nein, Monsieur.“

„Und doch sind wir so gut miteinander bekannt.“

„Ich kann mich wirklich nicht erinnern –“

„So muß ich Ihr Gedächtnis unterstützen.“

Er griff in die Tasche seines Rocks, zog die Haartour hervor und legte sie an. Der Wirt wich zurück. Seine Augen schienen aus ihren Höhlen treten zu wollen.

„Tausend Teufel! Der Changeur!“ rief er.

„Ja, der Changeur! Und hier noch einer!“ ertönte es da durch die sich öffnende Seitentür.

Der Wirt wendete sich um und machte eine abermalige Gebärde des heftigen Schreckens.

„Der Student! Verdammt! Der Teufel hole alle beide.“

Er holte zum Sprung aus, um Belmonte niederzurennen und dann zu entkommen, aber Martin, welcher ihm jetzt am nächsten stand, ergriff ihn von hinten und schleuderte ihn auf das Sofa zurück. Zugleich zog Belmonte den Revolver und drohte:

„Bleib ruhig sitzen, Kerl, sonst jage ich dir eine Kugel durch den Kopf.“

Die Brust des Wirtes arbeitete unter einem Entschluß, welchen er fassen wollte, aber er kam nicht dazu: er sah ein, daß Widerstand hier vergeblich sein würde.

„Ich bin verloren“, sagte er. „Hund von Changeur, so hatte ich also doch recht, du bist Polizeispion. Der Satan brate dich dafür in alle Ewigkeit.“

Er schien sich in sein Schicksal ergeben zu wollen: aber im nächsten Moment ermannte er sich wieder.

„Aber noch habe ihr mich nicht!“ rief er. „Macht Platz!“

Er schnellte sich auf die Tür zu, hatte sich aber in Belmonte verrechnet. Dieser packte ihn und schleuderte ihn zurück. Mit einem lauten Wutschrei warf er sich zwar nieder auf den Changeur, aber da wurde er auch schon von Martin gefaßt, und die beiden Männer rangen ihn zu Boden nieder.

„Mein Gott, mein Gott! Wer ist dieser Mensch?“ rief Alice.

„Es ist der Wirt, welche die Comtesse de Latreau geraubt hat“, antwortete Martin. „Hast du keine Stricke oder starke Schnüre da, ihn zu binden?“

„Gleich, gleich“, antwortete sie.

Sie wußte jetzt, wer jener war. Dieser Mensch durfte nicht entkommen. Sie eilte in die Nebenstube und kehrte schnell mit dem gewünschten Materiale zurück. Der Wirt wurde gefesselt.

„Jetzt zur nächsten Polizei, Martin“, gebot Belmonte, „damit der Kerl in Sicherheit kommt.“

Martin gehorchte dieser Aufforderung, und bald kamen mehrere Polizeisergeanten, um den Gefangenen in Empfang zu nehmen. Er wurde fortgeschafft.

Was hatte dieser Mensch von Alices Bruder gewollt? Keiner von den dreien wußte es zu sagen. Hatte er wirklich nur die Absicht gehabt, den Aufenthaltsort des Grafen Rallion zu erfahren? Stand er mit diesem letzteren in irgendeiner Beziehung?

Belmonte gab sich keine Mühe, darüber nachzudenken. Er beschloß aber, sich nach der Polizei zu begeben, um seine Aussage in die Feder zu diktieren. Er verabschiedete sich von Alice, welche er mit dem Geliebten allein ließ.

Als er unten aus der Tür trat, sah er gerade gegenüber einen Mann in sehr gedrückter Haltung unter dem Torweg hervor kommen und davon gehen.

„Ah, der Bajazzo!“ murmelte er. „Ist er mit dem Wirt zusammen gewesen? Hat er den Aufpasser gemacht? Ah, pah! Was geht es mich an? Der Bajazzo ist bei dem Raub nicht beteiligt gewesen; ich will ihn laufen lassen!“

Er ahnte jetzt nicht, daß er in ganz kurzem es sehr bereuen werde, den Bajazzo jetzt nicht festgehalten zu haben.

Droben hatte Martin der Geliebten vieles zu erklären. Sie zitterte bei dem Gedanken, daß sie sehr leicht mit diesem gefährlichen Menschen hätte allein sein können. Und doch war sie auch stolz darauf, daß er von ihrem Geliebten und sogar in ihrer eigenen Wohnung festgenommen worden war. Das alles aber war sofort vergessen, als sie dann hörte, daß Martin eigentlich gekommen sei, um Abschied von ihr zu nehmen. Sie fuhr bei dieser Eröffnung erschrocken zusammen, und in demselben Augenblick standen ihre Augen bereits voller Tränen.

„Mein Gott. Ist's möglich? Fort willst du?“ fragte sie, indem sie ihre Arme um ihn schlang.

„Ja, mein gutes, liebes Mädchen. Es ist so gekommen, wie ich es dir vorher gesagt habe: plötzlich, schnell und unerwartet. Noch gestern wußte ich gar nichts davon.“

„So soll ich dich von mir lassen, dich verlieren!“ klagte sie.

Er zog sie an sich, strich ihr liebkosend mit der Hand über das weiche Haar und antwortete in beruhigendem Ton:

„Von dir lassen, ja, aber verlieren doch nicht! Vielleicht komme ich bald, sehr bald zurück.“

„Wohin gehst du von hier?“

„Nach Metz. Darf ich dir schreiben, meine Seele?“

„Ja, ja. Schreibe alle Tage, mein lieber Martin!“

„Und du antwortest mir?“

„So oft und so viel ich kann! Oh, was für eine Sorge macht mir dein Scheiden. Vielleicht werde ich bald ganz einsam und allein hier wohnen!“

„Wieso? Du hast doch deinen Bruder hier.“

„Es ist möglich, daß er mich verlassen muß. Er sprach heute morgen davon, daß wir ganz gewiß bald Krieg haben werden. Dann muß er fort; du bist auch nicht da, und ich bin ganz allein.“

Sie weinte leise vor sich hin. Er wußte am besten, wie recht sie habe; er wollte sie trösten, und da kam ihm ein plötzlicher Gedanke, dem er sogleich in Worte Ausdruck gab:

„Du wirst nicht allein sein, liebe Alice. Ich kenne eine junge Dame, welche sich sehr gern deiner annehmen wird.“

„Eine junge Dame? Wer könnte das sein?“

„Komtesse Ella von Latreau.“

„Die Komtesse?“ fragte Alice, beinahe erschrocken. „Die Tochter eines Grafen und ich?“

„Was wäre daran zu verwundern? Ist sie nicht von deinem Bräutigam gerettet worden? Ist der Kerl, der sie geraubt hatte, nicht bei dir und in deiner Gegenwart ergriffen worden? Noch ist der Krieg nicht da; aber selbst, wenn er ausbricht, sollst du doch nicht verlassen sein!“ –

Als Martin nach einiger Zeit nach Hause kam, befand auch Belmonte sich bereits daheim. Dieser nickte ihm lächelnd zu und fragte:

„Zu Ende mit dem Abschied?“

„Gott sei Dank, ja! Das ist ein saures Stück Arbeit. Wer es nicht kennt, der glaubt es gar nicht.“

„Sapperlot! Ist das dein Ernst? Das klingt ja gerade, als ob du ein Familienvater seist, der von Frau und zehn Kindern Abschied genommen hat.“

„Es ist mir allerdings ganz und gar familienväterlich zumute. Ich habe für Alice zu sorgen. Auf ihren Bruder kann sie sich nicht verlassen. Der Krieg bricht aus: Die Deutschen belagern Paris. Donnerwetter, was soll da aus meiner Schwalbe werden.“

Belmonte nickte leise vor sich hin.

„Recht hast du“, sagte er. „Alice ist ein Prachtmädchen. Ich verdenke es dir nicht, daß du dein Herz bei ihr gelassen hast. Der Krieg wird hier in diesem Babylon gar manches und vieles verändern. Die Franzosen sind ein unruhiges, unzuverlässiges Volk. Siegen sie, dann wehe uns. Siegen wir, dann doppelt Wehe. Aufruhr und Empörung sind die sicheren Folgen. Kein braver Kerl hat aber die Braut gern mitten im Herd der Revolution. Hm. Ich habe eine Idee, Martin.“

„Die möchte ich erfahren.“

„Die Komtesse de Latreau geht von Paris fort.“

„Alle Wetter! Heute sterben zwei Schneidergesellen!“

„Wieso?“

„Weil wir zweimal ganz den gleichen Gedanken gehabt haben, zuerst mit dem famosen englischen Reporter und sodann mit der Komtesse.“

„Mit dem Reporter? Wieso?“

„Nun, haben Sie sich nicht ihm gegenüber für einen türkischen Berichterstatter ausgegeben?“

„Ja. Kennst du ihn denn?“

„Ich traf ihn bei Vater Main. Er wollte das Abenteuer erzählt haben, und ich sagte ihm da, daß ich ein Reporter aus Brasilien sei. Das ist der eine Schneidergeselle, welcher stirbt. Vorhin nun, als mir meine Schwalbe klagte, daß sie ganz einsam und verlassen sein werde, dachte ich an die Komtesse. Sie hat uns immerhin einiges zu verdanken. Sie könnte sich uns zuliebe meiner kleinen Verlassenen ein wenig annehmen. So kalkulierte ich. Und jetzt bringen Sie ganz denselben Gedanken. Das ist der zweite Schneidergeselle, welcher sterben muß.“

„Hm! Ja! Ich glaube, daß sich bei der Komtesse nicht schwer ein Plätzchen für Alice finden ließe.“

„Aber wer soll es ihr vorstellen? Ich etwa?“

„Nein, ich. Überlaß mir das. Ich werde morgen beim General erwartet und werde da Gelegenheit nehmen, eine Bemerkung zu machen, lieber Martin.“

„Aber eine kräftige, wenn ich bitten darf.“

„Das versteht sich.“

„Das könnte eine ganz allerliebste Kommandit- oder vielleicht Rekommanditgesellschaft werden.“

„Wieso?“

„Nun, wir zwei und diese zwei. Ich rekommandiere Ihnen die Komtesse. Auf diese Weise kann es am Schluß des Krieges eine Doppelhochzeit geben, an welcher die Engel im Himmel ihre Freude haben, wir beide aber noch mehr.“

„Hm! So übel wäre das nun gerade nicht. Aber spielen wir jetzt nicht mit Seifenblasen, sondern denken wir an die Gegenwart. Hast du dich nach einem Pferd umgesehen?“

„Wegen heute abend? Dazu ist noch Zeit genug. Mich verlangt zu wissen, wie diese Geschichte enden wird. Gott gibt dem Unverständigen Verstand und dem Verständigen Unverstand!“ –

Abends, kurz vor neun Uhr, ritt Martin ein Pferd in den Hof, und Belmonte stand am Fenster seines Zimmers, um die Equipage nicht auf sich warten zu lassen. Er hatte wirklich den Revolver, den Totschläger und sein Laternchen zu sich gesteckt.

Pünktlich zur angegebenen Stunde kam der Wagen herangerollt und hielt vor der Tür. Belmonte eilte hinab und stieg ein. Kaum hatten sich die Pferde in Bewegung gesetzt, so kam Martin aus dem Tor geritten, um der Equipage zu folgen.

Als Belmonte den Schlag geöffnet hatte, um einzusteigen, war ihm die bekannte Stimme der verschleierten Dame entgegengeklungen:

„Ah, Monsieur, das sind Sie! Guten Abend!“

„Guten Abend, Madame“, antwortete er. „Befehlen Sie?“

„Ich befehle nicht, sondern ich bitte, einzusteigen!“

Sie saß im Fond des Wagens. Er wollte auf dem Rücksitz Platz nehmen; da aber meinte sie:

„Nein, nicht so. Setzen Sie sich an meine Seite!“

Er gehorchte. Sie hätte sich noch etwas mehr nach der Ecke zurückziehen können; aber sie tat es nicht. Infolgedessen saß er so eng an ihr, daß er ihren Atem, über seine Wange streichen fühlte. Der Wagen hatte sich natürlich in Bewegung gesetzt. Er schaukelte in den Federn, so daß die beiden von Augenblick zu Augenblick leise aneinanderstießen. Sie schien dies mit großem Behagen zu empfinden, da sie diese Berührung länger auskostete, als es unbedingt nötig war.

„Ihre Gedanken werden heute mit wißbegierigen Fragen beschäftigt gewesen sein?“ begann sie nach einer kurzen Weile.

„Allerdings, Madame“, antwortete er.

„Sie werden zu erraten gesucht haben, wohin ich Sie bringen werde?“

„Ich kann es nicht in Abrede stellen.“

„Da muß ich Sie sehr ersuchen, so diskret wie möglich zu sein. Es liegt ja nicht im Bereich der Unmöglichkeit, daß Ihnen irgendein kleiner, von uns unbeachteter Umstand ahnen läßt, bei wem Sie sich befinden. In diesem Fall rechnet man auf die strengste Verschwiegenheit!“

„Ich bin nicht sehr plauderhaft!“

„Ich hoffe es. Jetzt aber muß ich Sie ersuchen, sich gefälligst die Augen verbinden zu lassen.“

Sie zog ihr Taschentuch hervor.

„Kann mir das nicht erlassen werde, Madame?“ fragte er.

„Auf keinen Fall.“

„Und wenn ich mich weigere?“

„So sehe ich mich leider gezwungen, Sie aussteigen zu lassen. Doch hoffe ich, daß Sie nicht gegen unsere heutige Vereinbarung handeln werden.“

„Gut; ich werde mich fügen. Also bitte!“

Er hielt ihr das Gesicht entgegen, und sie band ihm das Tuch so um die Augen, daß er gar nichts zu sehen vermochte. Und dann, ha, da fühlte er ihre Hände an seinen Schultern; sie zog ihn näher und küßte ihn auf den Mund.

„So“, sagte sie. „Das soll die einstweilige Belohnung Ihrer Folgsamkeit sein. Ich verlange aber, daß Sie das Tuch nicht eigenmächtig entfernen!“

„Ich werde gehorsam sein.“

„Geben Sie mir Ihr Wort.“

„Sie haben es, Madame.“

Jetzt war der Wortaustausch zu Ende. Die Fahrt wurde noch eine kurze Weile fortgesetzt; dann hielt der Wagen.

„Ich steige zuerst aus“, sagte sie. „Sie geben mir Ihre Hand; ich werde Sie führen.“

Der Schlag wurde geöffnet, und sie stieg aus. Er folgte ihr, von ihrer Hand geleitet. Er hörte, daß eine Tür geöffnet wurde. Die Schritte erklangen, als ob man auf Steinfließen gehe. Dann kam eine Treppe. Als diese erstiegen war, blieb sie stehen.

„So, jetzt werde ich das Tuch entfernen“, sagte sie, „und sprechen Sie von jetzt an nur leise.“

Das Tuch wurde entfernt, und er sah nun, daß er sich auf einem schmalen Korridor befand, welcher mit weichen Teppichen belegt war, so daß man die Schritte kaum mehr zu vernehmen vermochte. Ein einziges Licht brannte in einer grünen Glaskugel, so daß der Schein gedämpft wurde. Rechts und links gab es mehrere Türen. Die Dame, welche noch immer verschleiert ging, öffnete eine derselben und verschloß sie, nachdem sie miteinander eingetreten waren, von innen. Sie führte ihn durch einige sehr reich ausgestattete Zimmer in ein Kabinett, welches jedenfalls das Boudoir einer vornehmen Dame sein mußte. Die Vorhänge und Portieren waren von schwerer Seide, ebenso die Überzüge der Möbel. Einige kostbare, doch üppige Gemälde schmückten die Wände, und überall waren Nippes zerstreut, welche einen nicht gewöhnlichen Wert besaßen. Die Dame deutete auf ein Fauteuil und sagte:

„Nehmen Sie Platz! Ich werde gehen, Sie anzumelden.“

Sie verschwand durch eine entgegengesetzte Tür. Er warf einen forschenden Blick über seine Umgebung.

„Hm!“ flüsterte er. „Eine mehr als fürstliche Einrichtung! Jedenfalls befinde ich mich bei dem jungen Weibchen eines alten Millionärs oder Aristokraten. Nun, man muß es abwarten!“

Er nahm in dem weichen Polster Platz und atmete den süßen Duft ein, welcher das reizende Gemach erfüllte.

„Was ist das für ein Parfüm?“ fragte er sich. „Das ist nicht Eau de milles fleurs, auch nicht cœur de Rose, oder sonst etwas mir bekanntes. Pikant, außerordentlich pikant!“

Da kehrte die Dame zurück. Sie sagte:

„Monsieur, Sie werden einige Zeit Geduld haben müssen. Man hat ganz unerwarteten Besuch empfangen.“

„Aber Sie werden mich nicht verlassen?“ fragte er.

„Meine Gegenwart ist allerdings noch anderwärts nötig. Hier liegen Journale, welche Ihnen Unterhaltung bieten werden, bis man kommt. Ich ziehe mich zurück, und bitte Sie, hinter mir den Innenriegel vorzuschieben, damit nicht etwa zufälligerweise ein Unberufener Zutritt nimmt. Kehre ich zurück, so werde ich leise klopfen, erst ein-, dann zwei- und dann dreimal. Das ist das Zeichen, daß ich es bin.“

„Ich werde gehorchen, Madame! Aber, kann man mich nicht durch die andere Tür überraschen?“

„Nein. Da kann nur die Dame eintreten, welche Sie erwartet. Ich hoffe, daß Sie hierbleiben und nicht etwa aus Neugierde vorwärts dringen.“

Sie drohte ihm mit dem Finger, und verließ dann das Kabinett durch die Tür, durch welche sie eingetreten waren. Er schob den Riegel vor, setzte sich wieder nieder, und langte nach den Journalen, welche auf dem Tisch lagen.

„La Mode universelle“, sagte er, den Titel des einen lesend. „Weiter: La Toilette de Paris, und hier, la Mode française. Ich befinde mich bei einer Dame, welche in diesem Fach gern au fait zu sein scheint. Wer mag sie sein? Ich bin wirklich außerordentlich gespannt! Wird sie mit verhülltem Gesicht erscheinen? Jedenfalls.“

Er begann, mehr aus Aufregung als aus Langeweile, in einem der Journale zu blättern. Im Umwenden fiel ihm ein großer, dichtbeschriebener Briefbogen in die Augen.

„Ein Brief!“ dachte er. „Ah, vielleicht bringt er mich auf die Spur. Man sollte zwar eigentlich diskret sein, aber in meiner Lage gibt es kein solches Bedenken. Sehen wir zu!“

Der Bogen hatte keine Überschrift; er enthielt die Fortsetzung eines vorhergehenden Volumens; aber kaum hatte Belmonte einen Blick auf die Unterschrift geworfen, so fuhr er ganz erstaunt von seinem Sitz empor.

„Oberst Stoffel!“ sagte er. „Ist das denn auch wahr?“

Er las noch einmal und überzeugte sich, daß er sich nicht geirrt habe.

„Oberst Stoffel, der französische Militärbevollmächtigte am Berliner Hof! Oberst Stoffel, welcher das deutsche Heerwesen genau studiert hat, und infolgedessen ganz und gar gegen einen Krieg Frankreichs mit uns ist? Was schreibt er?“

Belmonte las. Seine Züge nahmen, je länger desto mehr, den Ausdruck einer ungeheuren Spannung an. Als er geendet hatte, steckte er den Bogen wieder in das Journal, strich sich mit der Hand über das Gesicht, holte tief Atem und flüsterte:

„Welch ein Zufall! Ja, Frankreich will den Krieg, und der Oberst warnt aus allen Kräften vor demselben. Die Gründe, welche er angibt, sind eigentlich unwiderlegbar; aber man wird verblendet genug sein, sie nicht gelten zu lassen. Hier treffe ich abermals auf eine Entdeckung, welche von ungeheurem Vorteile für mich ist. Aber, wo befinde ich mich? Wer kann es sein, an den der Oberst solche Berichte sendet?“

Er schlich sich leise zur gegenüberliegenden Portiere und horchte eine Weile.

„Alles still!“ nickte er. „Da drinnen ist niemand. Schauen wir!“

Er schob die Vorhänge auseinander und erblickte ein Zimmer, welches fast noch luxuriöser ausgestattet war, als das Kabinett, in welchem er sich befand.

„Wirklich kein Mensch! Schleichen wir also weiter.“

Er trat ein, und glitt mit unhörbaren Schritten über den weichen persischen Teppich nach dem anderen Ausgang. Als er hier horchte, war es ihm, als ob er Stimmen vernehme.

„Das muß im übernächsten Zimmer sein“, dachte er. „Wage ich es, oder nicht? Ah, pah! Wenn man mich bemerkt, so bin ich nicht schuld daran! Hätte man mich nicht kommen lassen!“

Auch das nächste Zimmer war leer; aber in dem nun folgenden wurde gesprochen. Es war nicht nur durch eine Portiere, sondern auch durch eine Tür von demjenigen getrennt, in welchem Belmonte jetzt stand.

„Jetzt stehe ich vielleicht vor der Lösung des Rätsels“, flüsterte er. „Soll ich horchen oder nicht? Frisch voran! Aber zur Sicherheit den Riegel vor, daß man mich nicht überraschen kann.“

Er schlich zur Tür und schob den Riegel, welcher nicht das mindeste Geräusch machte, vor. Dann legte er das Ohr daran und hörte nun zwei Stimmen, welche sich sehr eifrig unterhielten.

Es war eine männliche und eine weibliche. Die erstere sprach in geradezu untertänigem Ton; die letztere hatte einen scharfen, pikierten, ärgerlichen Klang.

„Sie sind höchst ungenau unterrichtet, Graf!“ hörte Belmonte sagen. „Es wäre Ihre Pflicht gewesen, sich besser zu informieren!“

„Ich wage es, mich für vollständig informiert zu halten. Der Deutsche ist uns überlegen.“

„Das sagt auch dieser Oberst Stoffel. Aber er hat einen deutschen Namen, und es fehlt ihm an Scharfsinn, der Kriegsminister kennt unsere Schlagbereitschaft.“

„Die Deutschen sind ebenso schlagbereit.“

„Sie wollen vielleicht sagen, die Preußen.“

„Ich schließe keineswegs die Süd- und Mitteldeutschen aus.“

„Pah, man fürchtet sie doch nicht. Der Sachse pflegt die Traditionen, welche ihn mit dem Neffen des großen Kaisers verbinden. Man hofft, daß er neutral bleiben werde.“

„Ich befürchte das Gegenteil.“

„Bayern, Württemberg und Baden trauen einander selbst nicht. Man trennt sie und besiegt sie.“

„Sie werden aufstehen wie ein Mann.“

„Graf, Sie sind ein Unglücksvogel! Übrigens werden wir so schnell über die Gegner herfallen, daß sie vollständig verblüfft sein werden. Sie haben keine Ahnung davon, daß wir sie zu engagieren gedenken.“

Belmonte hörte ein leichtes Räuspern, und dann antwortete der Graf:

„Ich bin überzeugt, daß man in Deutschland ahnt oder vielleicht gar weiß, was wir beabsichtigen.“

„Wie sollten Sie es vermuten?“

„Dieser Bismarck ist –“

„Bismarck?“ fragte die weibliche Stimme schnell. „Dieser preußische Landjunker ist ein Bär, welcher wohl einmal vermöge seiner rohen Kraft, niemals aber infolge eines Finesse Verlegenheit bereiten kann. Ich weiß genau, daß er sich mit den Süddeutschen verfeindet hat. Er ist im eigenen Land so sehr beschäftigt, daß er gar keine Zeit hat, uns zu beobachten.“

In diesem Augenblick hörte man das Öffnen einer Tür, und eine Stimme meldete:

„Der Herzog Gramont und der Kriegsminister.“

„Eintreten!“

Es erklangen Schritte; eine wortlose Pause trat ein, welche jedenfalls von stummen Komplimenten ausgefüllt war. Dann ließ sich die weibliche Stimme vernehmen:

„Messieurs, der Graf Daru hat ganz unerwartet um eine Audienz gebeten. Er bringt mir Nachrichten, welche er für höchst wichtig hält, und ich habe Sie rufen lassen, damit Sie ihm das Gegenteil beweisen. Exzellenz, sagen Sie, ob wir kriegsbereit sind oder nicht.“

Diese Frage war jedenfalls an Leboeuf gerichtet. Er antwortete augenblicklich:

„Wir können in jedem Augenblick losschlagen.“

„Graf Daru behauptet, die Deutschen seien uns überlegen.“

„Dem muß ich entschieden widersprechen. Die tiefgehende Reform unserer Heeresverfassung hat uns ungemein gestärkt. Wir haben keinen Feind zu fürchten. Erklären wir heute den Krieg, so haben wir morgen die Rheinpfalz überschwemmt, sind übermorgen im Besitz Süddeutschlands und spazieren am nächsten Tag auf Berlin los.“

„Hören Sie es, Graf. Und Sie, Herzog, sind Sie ebenso bereit und siegesgewiß?“

„Unsere Diplomatie hat mit der Entwicklung des Heereswesens wenigstens gleichen Schritt gehalten. Schlagen wir schleunigst los, ehe es Preußen gelingt, sich der Süddeutschen zu versichern. Sachsen brauchen wir nicht zu fürchten.“

Jetzt hörte Belmonte abermals das Öffnen einer Tür.

„Ah, mein Gemahl“, rief die weibliche Stimme.

Zugleich aber war es dem Lauscher, als ob man auf die Klinke gedrückt habe. Er befand sich in einer leicht denkbaren Aufregung, sah aber auch zugleich ein, welche große Gefahr ihm drohte. Darum zog er den Riegel leise zurück und huschte, während drüben neue Stimmen erklangen, dahin zurück, woher er gekommen war.

Dort hielt er an und holte Atem, als ob er eine ganz ungewöhnliche Anstrengung hinter sich habe.

„Träume ich denn?“ fragte er sich. „Das war Graf Daru, der gestürzte Minister, der Friedensmann. Das war ferner der Herzog von Gramont, sein Nachfolger, der den Krieg wünscht, und das war endlich Leboeuf, der Kriegsminister. Wer aber war die Dame? Und wer ist dieser ‚Gemahl‘, welcher bei ihr eintrat?“

Er schüttelte den Kopf und begann, in dem Kabinett hin und her zu schreiten, ganz so, als ob er sich bei sich befand. Dann aber blieb er plötzlich stehen, schlug sich mit der Hand vor den Kopf und sagte:

„Sapperlot. Das Zeichen, welches ich Martin geben soll. Ich habe es ganz vergessen.“

Er trat an das Fenster, zog die dasselbe verhüllende Gardinen weg und blickte hinaus. Er sah einen viereckigen Hof unter sich, welcher von Gasflammen erleuchtet war.

„Das ist unangenehm. Hier im Hof hat der Wagen nicht gehalten; hier kann auch Martin sich nicht befinden. Es ist mir also unmöglich, ihm das Zeichen zu geben, außer ich wage es nach rückwärts –“

Er hielt inne. Es klopfte leise, ein-, zwei-, dann dreimal. Das war das verabredete Zeichen. Er öffnete. Die Dame trat ein. Sie war verschleiert.

„Sie haben sich gelangweilt, Monsieur?“ fragte sie.

„Die Hoffnung, Sie wiederzusehen, hat mir nicht Zeit dazu gelassen, Madame“, antwortete er.

„Mich? Ich meine, daß Sie eine andere erwartet haben.“

„Allerdings. Doch wußte ich ja, daß auch Sie kommen würden.“

„Nun, das ist eher geschehen, als ich dachte. Ich habe Sie um Verzeihung zu bitten, Monsieur. Die Dame, welche Sie zu sehen wünschte, ist plötzlich anderweitig in Anspruch genommen worden –“

„Jedenfalls von einem Herrn, welcher liebenswürdiger ist als ich“, scherzte er.

„Davon ist keine Rede. Aber das beabsichtigte Rendezvous kann heute leider nicht stattfinden. Ich habe den Auftrag erhalten, Sie zurückzubringen.“

„Und wenn ich nun zu bleiben wünschte?“

„Das wird Ihr Wunsch nicht sein. Sie werden als Kavalier den Befehl einer Dame respektieren.“

„Das werde ich allerdings. Aber ich werde auch ein zweites.“

„Was?“

„Sie an die Garantie erinnern, welche Sie mir geboten haben.“

„Wie grausam. Ich bin nicht imstande, Ihnen die Dame zu ersetzen, auf deren Anblick Sie nun für heute leider zu verzichten haben.“

„Ich bin überzeugt, daß diese Dame die Verdienste nicht besitzt, welche ich an Ihnen bemerke. Wir haben von einem Schadenersatze gesprochen, und ich muß sehr darauf dringen, auf ihn nicht verzichten zu müssen.“

Sie ergriff seine Hand, drückte dieselbe in der ihrigen und antwortete:

„Ich will Ihnen gestehen, daß ich nicht ungern Wort halten würde, muß Sie aber doch abschlägig bescheiden. Auch ich bin plötzlich in einer Weise in Anspruch genommen, daß ich keine Minute für die Erfüllung meines Versprechens übrig habe. Es bleibt mir kaum Zeit, Sie zurückzubringen.“

„Nach meiner Wohnung?“

„Nicht ganz so weit. Sie werden bereits vorher meinen Wagen verlassen. Aber sagen Sie, ob vielleicht der morgige Abend Ihnen gehört?“

„Natürlich. Er ist mein Eigentum.“

„Darf ich Sie da abholen?“

„Ja.“

„Sie werden also mit mir kommen?“

„Mit dem allergrößten Vergnügen, Madame.“

„Nun gut; so folgen Sie mir jetzt!“

Sie führte ihn nach dem engen Korridor zurück, wo sie ihm die Augen wieder verband. Einige Augenblicke später saß er neben ihr im Wagen, welcher sich sogleich in Bewegung setzte. Sie lehnte sich an ihn, sie schien wohl eine Liebkosung von ihm zu erwarten, doch verhielt er sich vollständig teilnahmslos gegen sie. Da nahm sie ihm das Tuch wieder von den Augen, indem sie sagte:

„Jetzt dürfen Sie wieder sehend werden. Sagen Sie, ob Sie den Ort, an welchem sie sich befunden haben, wiederfinden würden?“

„Vielleicht, Madame.“

„Ah! Sie ahnen, wo Sie gewesen sind?“

„Ja.“

„Nun, wo?“

„Erlauben Sie, Ihre Frage unbeantwortet zu lassen. Dieses Schweigen wird Ihnen beweisen, daß ich würdig bin, morgen dahin zurückkehren zu dürfen, wo heut vergeblich die Erfüllung einer süßen Hoffnung erwartete.“

„Sie haben recht. Ich bin überzeugt, daß Sie nicht ahnen, wo Sie gewesen sind, aber es ist für alle Fälle besser, gar nicht davon zu sprechen. Also auf Wiedersehen für morgen abend! Bitte, steigen Sie hier aus.“

Sie waren an einer Straßenecke angelangt. Sie zog an der Schnur; der Kutscher hielt, und Belmonte verließ den Wagen, nachdem er mit einem Handkuß von ihr Abschied genommen hatte. Er stand noch da und blickte der davonrollenden Equipage nach, als ihn jemand auf die Schulter klopfte. Er drehte sich rasch um.



„Ah, Martin!“ rief er. „Du hier? Wie kommst du an diese Straßenecke?“

„Grad so wie Sie, Herr Weinagent.“

„Wie denn?“

„Nun, per Equipage.“

„Du hast einen Wagen genommen?“

„Sogar den Ihrigen.“

„Komm. Man beginnt hier, aufmerksam auf uns zu werden.“ Und vorwärtsschreitend, erkundigte er sich weiter:

„Ich glaube gar, du hast hinten aufgesessen.“

„So ist es allerdings. Lieber freilich wäre es mir gewesen, ich hätte darin gesteckt. Ich bin verteufelt geschüttelt worden.“

„Aber wo hast du das Pferd?“

„Das Pferd? Hm. Denken Sie denn, daß ich so dumm sein werde, zu Pferd Wache zu halten? Als Sie mit der Dame hinter der Tür verschwanden, habe ich das Viehzeug durch einen Dienstmann zu seinem rechtmäßigen Eigentümer bringen lassen. Das macht zwar eine Geldausgabe, aber ich denke, daß Sie mir wenigstens die Hälfte zurückerstatten werden.“

„Unsinn; aber weißt du nun, wohin man mich geschafft hat?“

„Natürlich!“

„Nun?“

„Ahnen Sie selbst es nicht?“

„Ja. Aus verschiedenen Anzeichen schließe ich, daß ich in den Tuilerien gewesen bin.“

„Richtig! Der Wagen hielt an einer schmalen Nebentür. Man schien mit Absicht dort einige Gasflammen verlöscht zu haben.“

„Es gelang dir also, mir zu folgen?“

„Natürlich. Das Pferd gab ich fort; ich selbst aber blieb zurück, trotzdem ich mir sagte, daß ich Ihnen wohl von keinem Nutzen sein könne. Die Tuilerien sind nicht der Ort, an dem ich Ihnen Rettung bringen könnte, wenn man es übel mit Ihnen meinte.“

„Das ist wahr. Dann bist du hinten aufgestiegen?“

„Ja. Ich habe es gemacht wie ein echter Berliner Schusterjunge. Sie sehen, was ich für Sie unternehme. Nutzen freilich habe ich nicht davon. Die Küsse haben Sie erhalten.“

„Da täuschest du dich gewaltig.“

„Täuschen? Ist's nichts gewesen?“

„Nein. Es gab eine unerwartete Abhaltung, und ich mußte gehen, wie ich gekommen war.“

„Das ist hübsch! Das kann mir gefallen. Da bin ich doch ein anderer Kerl. Ich bin anders gegangen als ich gekommen bin. Ich kam zu Pferd und ging per Equipage. So haben Sie Ihre Dame wohl gar nicht zu sehen bekommen?“

„Nein. Aber das Versäumte soll morgen nachgeholt werden.“

„Sapperment! Ich denke, morgen sind wir über alle Berge.“

„Das sind wir auch. Ich habe keine Zeit und auch keine Lust, dieses Abenteuer fortzusetzen.“

„Schön. So retten wir unsere Haut. Aber, haben Sie denn nicht wenigstens eine Ahnung, wer die Dame sein mag?“

„Hm! Davon will ich jetzt nicht sprechen, am allerwenigsten aber hier auf der Straße. Laß uns eilen. Ich habe zu schreiben und neues zu berichten. Hast du von deinem Schwälbchen vollständigen Abschied genommen?“

„Was nennen Sie Abschied? Ich möchte am liebsten gleich in diesem Augenblick wieder hin zu ihr; aber was nicht sein muß, das braucht nicht zu sein. Sie schreiben, und ich packe ein. Dann sind wir mit dem Morgen fertig.“ –

Am Vormittag begab sich Belmonte zum General Latreau. Er wurde von diesem allein empfangen und erhielt den versprochenen Brief an den Kommandanten von Metz. Latreau teilte ihm mit, daß seine Tochter sich heute nicht wohl fühle und daher das Zimmer hüte, doch erwarte sie, daß er sich zu ihr verfügen möge, damit es ihr möglich sei, ihm nochmals Dank zu sagen.

Belmonte verabschiedete sich also von dem Grafen und begab sich nach Ellas Zimmer, wo er sofort angemeldet wurde.

Er hatte erwartet, sie als Patientin zu sehen. Aber sie stand, als er eintrat, vollständig angekleidet am Fenster, und ihr Aussehen war ein so gutes, als ob sie die letzten Tage vollständig überwunden habe.

Ihre Augen glänzten ihm warm entgegen. Sie reichte ihm das Händchen, welches er an seine Lippen zog und sagte:

„Sie kommen, um zu gehen, Monsieur; aber ich hoffe, daß wir uns nicht für immer adieu sagen!“

„Ich würde glücklich sein, wenn das Geschick mir erlaubte, mich Ihnen noch einmal vorstellen zu können“, antwortete er in möglichst gleichgültigem Ton.

„Hoffen wir, daß uns diese Erlaubnis zuteil werde. Und sollte es nicht sein, ich meine, nicht persönlich, so bitte ich doch wenigstens um die Erlaubnis, Ihnen diese andere Gelegenheit zu geben, mich zu sehen. Werden Sie die Güte haben, dies kleine Zeichen der Erinnerung von mir anzunehmen?“

Sie löste eine Kette von ihrem Hals. An derselben hing ein kostbares, mit Diamanten besetztes Medaillon. Sie öffnete es und hielt es ihm entgegen. Er erblickte ihr Bild, wunderbar dem Original ähnlich, auf Elfenbein gemalt.

Diese Gabe überraschte ihn so, daß er im ersten Augenblick kein Wort fand, seinem Gefühl den rechten Ausdruck zu geben.

„Gnädige Komtesse“, sagte er dann, indem er einen Schritt zurücktrat. „Einer solchen Gnade bin ich nicht wert!“

„Nicht? Sie, der Retter meines Lebens?“

Sie hatte ihre Augen groß zu ihm aufgeschlagen. Sie stand vor ihm, nicht, als ob sie ihm die Gabe biete, sondern als Bittende. Er sah, daß seine Worte ihr weh taten.

„Wollen Sie mir wirklich meine Bitte nicht erfüllen?“ fragte sie, ihm Kette und Medaillon entgegenhaltend.

„Das ist zu kostbar, viel zu kostbar.“

„Dieser Steine wegen, Monsieur Belmonte? Pah! Doch, wie Sie wollen. Sprechen wir nicht mehr davon.“

Wie gern hätte er ihr gesagt, daß die Diamanten ihm nichts, gar nichts wert seien gegen das Miniaturporträt! Sie hatte sich, halb betrübt und halb schmollend abgewendet. Es lag in diesem Augenblick etwas in ihrem schönen Angesicht, was mehr, vielmehr als eine bloße Enttäuschung bedeutete. Es überkam ihn so wunderbar; er wußte nicht, woher er den Mut nahm, aber er griff in die Tasche, zog ein kleines, zierliches Portefeuille hervor und sagte:

„Gnädige Komtesse, ich darf Sie nicht beleidigen; ich will Ihnen gehorchen; aber haben Sie die Gnade, mir die Bedingung zu gewähren, daß auch mein Bild bei Ihnen bleiben darf.“

Da zuckte es hell über ihr Gesicht. Sie wendete sich ihm schnell wieder zu und sagte:

„Sie haben auch Ihr Bild? Eine Fotografie? Gut, Monsieur, tauschen wir.“

Sie nahm die Fotografie aus seiner und er das Medaillon aus ihrer Hand. Er steckte das letztere zu sich und sagte:

„Ich wage es nur, weil Sie es befehlen, Mademoiselle. Macht diese reiche Gabe es mir doch fast unmöglich, eine Bitte vorzutragen, welche ich Ihnen zu Füßen legen wollte.“

„Sie haben einen Wunsch? Schnell, lassen Sie mich denselben wissen.“

„Er betrifft die Braut meines Dieners –“

„Ah, dieser brave Mann hat eine Braut? Ist sie hier in Paris?“

„Ja. Hier auf dieser Karte ist ihre Wohnung angegeben. Sie ist ein liebes, braves Mädchen und hat auf der Welt bisher niemanden gehabt als einen Bruder, auf welchen sie sich nicht verlassen kann. Man spricht von Krieg; es ist ihr Angst. Gnädige Komtesse, ich wage viel, aber ich möchte für Alice Ihren Schutz erflehen.“

Sie nickte ihm freundlich zu und antwortete:

„Gern, sehr gern! Sie soll ihn haben. Ich werde so bald wie möglich versuchen, mit ihr zu sprechen. Und bei dieser Gelegenheit will ich nicht versäumen, Ihnen eine Mitteilung zu machen, welche sich auf die Kellnerin Sally bezieht. Nicht wahr, sie war eine Art von Schützling Ihrerseits?“

„Fast möchte man es so nennen. Ich bat sie um ihre Hilfe, als es galt, Sie den Händen des Wirtes zu entreißen, und versprach ihr –“

„Ich weiß, ich weiß! Papa hat dafür gesorgt, daß sie ihren Bruder aufsuchen kann, um ihm Gelegenheit zu einer Verbesserung seiner Existenz zu bieten.“

„Ich danke von ganzem Herzen, gnädige Komtesse! So sind mir zwei Wünsche erfüllt anstatt des einen. Gott segne Sie! Gott segne Sie!“

Er ergriff ihr kleines, wunderbar schönes Händchen und drückte dasselbe an seine Lippen. Sie entzog ihm dasselbe nicht, obgleich der Kuß etwas längere Zeit in Anspruch nahm, als gewöhnlich gewährt zu werden pflegt. Dann ging er. Sie blickte ihm nach, als er über die Straße ging, und ein tiefer, tiefer Seufzer hob ihren Busen. Sie wußte selbst nicht, warum sie die Hand, in welcher sie seine Fotografie noch hielt, so fest und beschwichtigend auf ihr Herz drückte.

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