Es dauerte Stunden, bis das Schiff von der Raumstation aus die Nähe der Far Star erreichte — sehr lange Stunden, die Trevize eine nach der anderen durchzustehen hatte.
Wäre die Situation normal gewesen, hätte Trevize versucht, ein Signal zu geben und auf eine Reaktion zu warten. Wäre eine Reaktion ausgeblieben, hätte er ein Ausweichmanöver vollzogen.
Weil sie jedoch unbewaffnet waren und man bisher nicht auf ihre Annäherung reagiert hatte, blieb ihnen nichts anderes übrig, als alles weitere abzuwarten. Der Computer befolgte keinerlei Anweisungen, die irgend etwas außerhalb des Raumschiffs betrafen.
Im Innern dagegen funktionierte alles weiterhin bestens. Die Lebenserhaltungssysteme arbeiteten tadellos, so daß Trevize und Pelorat keine körperlichen Unannehmlichkeiten zu erdulden brauchten. Irgendwie war das jedoch kein besonderer Trost. Das Dasein schleppte sich mehr oder weniger nur noch so dahin, und die Ungewißheit dessen, was bevorstand, zermürbte Trevize. Es irritierte ihn, feststellen zu müssen, daß Pelorat vollkommen ruhig wirkte. Wie um alles noch unerträglicher zu machen, öffnete Pelorat, während Trevize überhaupt keinen Hunger verspürte, eine kleine Büchse mit Hähnchenfleisch in Stücken, das sich nach dem Öffnen automatisch rasch erwärmte. Nun verzehrte Pelorat seine Mahlzeit wie nach Plan.
»Raum und Zeit, Janov!« meinte Trevize gereizt. »Das stinkt.«
Pelorat schaute verblüfft drein und roch an der Büchse. »Für meine Begriffe riecht’s völlig einwandfrei, Golan.«
Trevize schüttelte den Kopf. »Haben Sie Nachsicht. Ich bin bloß unruhig. Aber benutzen Sie eine Gabel, sonst werden Ihre Finger den ganzen Tag lang nach Geflügel riechen.«
Überrascht betrachtete Pelorat seine Finger. »Entschuldigung! Ist mir gar nicht aufgefallen. Ich habe an etwas anderes gedacht.«
»Würden Sie gerne raten, was für eine Art von Nichtmenschen die Geschöpfe auf dem Schiff dort sein könnten?« meinte Trevize sarkastisch. Er schämte sich, weil er weniger gefaßt war als Pelorat. Er war ein Veteran der Raummarine (obwohl er natürlich nie an einer richtigen Schlacht teilgenommen hatte), Pelorat bloß ein Historiker. Trotzdem saß sein Begleiter hier vollkommen gelassen herum.
»Es dürfte unmöglich sein«, sagte Pelorat, »sich einfach auszumalen, welchen Gang die Evolution unter ganz anderen Bedingungen, als sie ursprünglich auf der Erde vorhanden waren, genommen haben könnte. Sicher gibt’s nicht unendlich viele Möglichkeiten, aber es sind so viele denkbar, daß es auf das gleiche hinausläuft. Ich kann allerdings ziemlich sicher voraussagen, daß diese Kreaturen nicht blindwütig gewalttätig sind und uns auf zivilisierte Art und Weise behandeln werden. Andernfalls wären wir längst tot.«
»Sie können wenigstens noch klar denken, Janov, mein alter Freund — Sie sind noch immer ganz ruhig. Meine Nerven dagegen beginnen sich immer mehr gegen die Ruhe durchzusetzen, die man uns anfangs irgendwie eingegeben hat. Ich verspüre einen starken Drang zum Aufstehen und Hinundherlaufen. Warum ist das verdammte Schiff denn noch nicht da?«
»Ich bin ein Mann der Passivität, Golan«, sagte Pelorat.
»Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, über irgendwelchen Aufzeichnungen zu hocken und auf das Eintreffen weiterer Aufzeichnungen zu warten. Ich habe nie was anderes getan als gewartet. Sie sind ein Mann der Tat, und Ihnen wird mies zumute, wenn Sie einmal nicht handeln können.«
Trevize fühlte, wie von seiner Anspannung ein wenig wich. »Ich habe Ihren gesunden Menschenverstand gehörig unterschätzt, Janov«, murmelte er.
»Nein, durchaus nicht«, widersprach Pelorat, »aber selbst ein naiver Akademiker versteht es manchmal, seinem Leben irgendwie einen Sinn abzugewinnen.«
»Und selbst der cleverste Politiker kann manchmal darin scheitern.«
»Das habe ich nicht gesagt, Golan.«
»Nein, aber ich. Na gut, ich muß mich also irgendwie betätigen. Auf jeden Fall bin ich zum Beobachten imstande. Das andere Schiff ist mittlerweile so nah, daß man feststellen kann, es ist anscheinend ziemlich primitiv.«
»Anscheinend?«
»Falls es ein Produkt nichtmenschlichen Denkens und nichtmenschlicher Hände ist«, sagte Trevize, »kann das, was für uns primitiv aussieht, in Wirklichkeit nur nichtmenschlich konzipiert sein.«
»Meinen Sie, es könnte sich um ein nichtmenschliches Artefakt handeln?« fragte Pelorat, indem er leicht errötete.
»Kann ich nicht sagen. Ich vermute, daß Artefakte, wie verschieden sie von Kultur zu Kultur auch sein mögen, ihre Kultur niemals ganz so plastisch widerspiegeln können wie moderne Produkte genetischer Andersartigkeit.«
»Das ist lediglich eine Vermutung Ihrerseits. Wir kennen nur unterschiedliche Kulturen. Wir kennen keine verschiedenen intelligenten Spezies und haben daher keine Möglichkeit, zu beurteilen, wie unterschiedlich entsprechende Artefakte sein müßten.«
»Fische, Delphine, Pinguine, Tintenfische, sogar die Ambiflexen, die nicht irdischer Abstammung sind — einmal vorausgesetzt, die anderen sind’s —, sie alle lösen das Problem der Bewegung durch ein flüssiges Medium durch eine Stromlinienform, so daß ihr Aussehen keineswegs so verschieden ist, wie ihre genetische Herkunft vermuten lassen könnte. Ähnlich ließe es sich mit Artefakten denken.«
»Die Tentakel eines Tintenfisches und die Helivibratoren eines Ambiflexes unterscheiden sich gewaltig voneinander, ebenso von den Flossen, Schwänzen und Gliedmaßen der Wirbeltiere. Ähnlich könnte es sich mit Artefakten verhalten.«
»Jedenfalls fühle ich mich schon besser«, sagte Trevize. »Unsinn mit Ihnen zu reden, beruhigt meine Nerven, Janov. Und ich nehme an, wir werden nun bald wissen, mit wem wir’s zu tun haben. Das Schiff dort kann nicht andocken, und wer auch an Bord ist, er wird über eine altmodische Verbindungsleine zu uns kommen — oder man wird uns irgendwie dazu veranlassen, nach drüben überzusetzen —, denn unsere Normschleuse ist so nutzlos. Es sei denn, irgendwelche Nichtmenschen werden ein ganz anderes System verwenden.«
»Wie groß ist das Schiff?«
»Da ich den Bordcomputer nicht benutzen und deshalb nicht das Radar einsetzen kann, um die Entfernung festzustellen, kann ich die Größe nicht ermitteln.«
Eine Verbindungsleine schoß auf die Far Star zu.
»Entweder sind Menschen an Bord«, sagte Trevize, »oder Nichtmenschen, die eine gleichartige Vorrichtung haben. Vielleicht kann man nichts anderes nehmen.«
»Sie könnten eine Röhre ausfahren«, sagte Pelorat, »oder eine horizontale Leiter, so was wie ein Laufsteg durchs All.«
»Solche Geräte sind für so etwas nicht flexibel genug. Es wäre viel zu kompliziert, damit zwischen zwei Raumschiffen eine Verbindung herzustellen. Man braucht etwas, in dem Stabilität und Flexibilität kombiniert sind.«
Mit einem dumpfen Dröhnen prallte die Verbindungsleine gegen den Rumpf der Far Star und versetzte ihn in Schwingung (und damit auch die darin befindliche Luft). Danach ertönte das übliche Schleifgeräusch, während das andere Schiff die erforderliche Feinkorrektur seiner Geschwindigkeit vornahm, um die Geschwindigkeit beider Raumschiffe einander anzugleichen. Die Verbindungsleine blieb im Verhältnis zu beiden Raumern bewegungslos.
Auf dem Rumpf des anderen Schiffs erschien ein schwarzer Punkt, weitete sich wie die Pupille eines Auges.
Trevize stieß ein Brummen aus. »Ein dehnbares Diaphragma statt einer Schleusenluke.«
»Nichtmenschlich?«
»Nicht zwangsläufig, würde ich sagen. Aber interessant.«
Eine Gestalt kam zum Vorschein.
Pelorat preßte einen Moment lang die Lippen aufeinander. »Wie schade«, meinte er dann mit deutlicher Enttäuschung in der Stimme. »Menschlich.«
»Nicht unbedingt«, erwiderte Trevize sachlich. »Bis jetzt können wir nur erkennen, daß fünf Extremitäten vorhanden sind. Das können ein Kopf, zwei Arme und zwei Beine sein — vielleicht aber auch nicht. Warten Sie mal!«
»Was ist denn?«
»Unser Besucher bewegt sich viel schneller und gleichmäßiger herüber, als ich gedacht habe. Aha!«
»Was denn?«
»Er benutzt irgendeine Art von Antrieb. Keine Raketen, soweit ich das schon sagen kann, aber er hangelt sich auch nicht ausschließlich an den Händen herüber. Aber es muß noch immer keineswegs unbedingt ein Mensch sein.«
Obwohl die Gestalt an der Verbindungsleine entlang zügig näherkam, schien das Warten auf sie sich unglaublich lange hinzuziehen, aber endlich erscholl das Geräusch des Kontakts.
»Was für ein Geschöpf das auch ist, es kommt herein«, konstatierte Trevize. »Ich habe Lust, mich auf es zu stürzen, sobald es sich zeigt.« Er ballte eine Hand zur Faust.
»Ich glaube, wir behalten lieber die Nerven«, riet Pelorat. »Kann sein, es ist stärker als wir. Es kann unseren Geist beherrschen. Außerdem sind drüben im Schiff bestimmt noch mehr von seiner Art. Wir warten besser, bis wir mehr über das wissen, mit dem wir es zu tun haben.«
»Sie werden mit jeder Minute vernünftiger, Janov«, sagte Trevize. »Bei mir ist es umgekehrt.«
Sie hörten die Luftschleuse in Funktion treten, und schließlich betrat die Gestalt das Innere des Raumschiffs.
»Ungefähr normale Größe«, bemerkte Pelorat gedämpft. »Der Raumanzug könnte durchaus einem Menschen passen.«
»So ein Modell habe ich noch nie gesehen, und ich habe von so was auch noch nicht gehört, aber es fällt sicher nicht außerhalb der Grenzen menschlicher Fabrikation, finde ich. Der Anzug besagt gar nichts.«
Die in den Raumanzug gehüllte Gestalt blieb vor ihnen stehen und hob ein Glied zum Helm, der offenbar nur von innen transparent war, falls er überhaupt aus einer Glassubstanz bestand, denn in seinem Innern ließ sich nichts erkennen.
Das Glied berührte mit einer raschen Bewegung, die Trevize nicht ganz zu beobachten vermochte, irgend etwas, und der Helm löste sich vom Rest des Anzugs. Er klappte zurück…
…und entblößte das Gesicht einer jungen und unbestreitbar schönen Frau.
Pelorats ausdruckslose Miene, so schien es, tat alles, um möglichst entgeistert zu wirken. »Sind Sie ein Mensch?« stammelte er.
Die Frau hob ruckartig die Brauen und spitzte die Lippen. Daraus ließ sich nicht ersehen, ob sie in diesem Augenblick etwas in einer fremden Sprache gehört hatte, die sie nicht verstand, oder ob sie sehr wohl verstand und sich über die Fragestellung wunderte.
Ihre Hand glitt schnell an die linke Seite des Raumanzugs, der sich daraufhin der Länge nach öffnete, als hielten ihn nur lauter winzige Scharniere in einem Stück zusammen. Sie trat heraus, und der Anzug blieb einen Moment lang ohne Inhalt reglos stehen. Dann sank er mit einem Seufzen zusammen, das nahezu menschlich klang.
Ohne den Anzug sah die Frau sogar noch jünger aus. Ihre Kleidung war weit und durchsichtig, und die kaum wahrnehmbare Unterwäsche war nur in Umrissen sichtbar. Die Oberbekleidung reichte bis zu den Knien hinab.
Sie hatte kleine Brüste und eine schmale Taille, aber ihre Hüften waren rund und voll. Ihre Schenkel, die man schattenhaft sah, waren kräftig, aber ihre Beine verschmälerten sich unten zu anmutigen Knöcheln. Ihr Haar war dunkel und schulterlang, die Augen waren groß und braun, die Lippen voll und leicht ungleichmäßig.
Sie blickte an sich hinunter und löste die Frage des Verständigungsproblems, indem sie meinte: »Sehe ich nicht wie ein Mensch aus?«
Sie sprach das Galakto-Standard mit einem ganz geringfügigen Zögern, als müsse sie sich ein wenig um die richtige Aussprache bemühen.
Pelorat nickte. »Ich kann’s nicht leugnen«, sagte er mit ansatzweisem Lächeln. »Sehr menschlich. Wundervoll menschlich.«
Die junge Frau breitete die Arme aus, als fordere sie zu genauerer Untersuchung auf. »Das will ich doch hoffen, Gentlemen. Für diesen Körper sind schon Männer gestorben.«
»Ich würde lieber dafür leben«, erwiderte Pelorat, selber leicht überrascht über diese Anwandlung von Charme.
»Eine gute Entscheidung«, sagte die Frau ernsthaft. »Sobald man diesen Leib berührt, wird alles Stöhnen zum Stöhnen der Ekstase.«
Sie lachte, und Pelorat lachte mit ihr.
»Wie alt sind Sie?« raunzte Trevize, der dem Gespräch mit finster gerunzelter Stirn zugehört hatte, die Frau an.
Sie schrak, hatte es den Anschein, ein bißchen zurück. »Dreiundzwanzig… Gentleman.«
»Warum sind Sie zu uns gekommen? Welche Absichten verfolgen Sie hier?«
»Ich bin gekommen, um Sie nach Gaia zu bringen.« Ihre Beherrschung des Galakto-Standard ließ ein wenig nach, und ihre Vokale neigten zum Diphthongieren. Das ›gekommen‹ klang aus ihrem Mund wie ›gekommemb‹, ›Gaia‹ wie ›Geier‹.
»Ein Mädchen als Eskorte?«
Die Frau straffte ihre Haltung, und plötzlich machte sie den Eindruck einer Person, die alles unter Kontrolle hat. »Ich bin Gaia«, sagte sie, »so gut wie jeder andere. Das ist meine Schicht auf der Station.«
»Ihre Schicht? Waren Sie die einzige Person an Bord?«
»Mehr ist nicht nötig.« Sichtlicher Stolz.
»Und nun ist sie leer?«
»Ich halte mich nicht länger dort auf, Gentlemen, aber sie ist nicht leer. Sie ist da.«
»Sie? Wen meinen Sie?«
»Die Station. Sie ist Gaia. Sie braucht mich nicht. Sie hält Ihr Schiff fest.«
»Wenn sie Sie nicht braucht, was haben Sie dann in der Station gemacht?«
Pelorat hatte Trevize schon einmal am Ärmel gezupft, war jedoch abgeschüttelt worden. Jetzt versuchte er es nochmals. »Golan«, sagte er eindringlich und halb im Flüsterton, »schreien Sie sie nicht an. Sie ist ein Mädchen. Überlassen Sie mir die Sache.«
Trevize schüttelte ärgerlich den Kopf, aber Pelorat ergriff bereits die Initiative. »Junge Frau«, erkundigte er sich, »wie lautet Ihr Name?«
Die Frau lächelte mit plötzlicher sonniger Freundlichkeit, als wüßte sie den höflicheren Ton sehr zu schätzen. »Wonne«, gab sie zur Antwort.
»Wonne?« wiederholte Pelorat. »Ein sehr hübscher Name. Aber das ist doch sicherlich nicht alles?«
»Natürlich nicht. Das wäre was, einen Namen mit bloß zwei Silben zu haben. Er würde in jeder Sektion dupliziert, sodaß wir einer den anderen nicht mehr voneinander unterscheiden könnten, und die Männer würden für den falschen Körper sterben. Mein vollständiger Name lautet Ywonnobiarella.«
»Na, das ist doch was!«
»Was? Sieben Silben? Das ist wenig. Ich habe Bekannte mit Namen von fünfzehn Silben, und sie werden’s nie müde, sich neue Kombinationen für ihre Freunde auszudenken. Seit ich fünfzehn geworden bin, ist es bei mir bei Wonne geblieben. Meine Mutter hat mich früher ›Bibbi‹ genannt, falls Sie sich so was überhaupt vorstellen können.«
»Im Galakto-Standard bedeutet ›Wonne‹ soviel wie ›Ekstase‹ oder ›Glückseligkeit‹«, sagte Pelorat.
»In der gaianischen Sprache auch. Sie ist nicht sehr verschieden vom Standard, und ›Ekstase‹ ist genau die Bedeutung, die mein Name vermitteln soll.«
»Mein Name ist Janov Pelorat.«
»Das weiß ich. Und der andere Gentleman — dieser Schreihals — ist Golan Trevize. Wir haben Nachricht von Sayshell erhalten.«
»Wie haben Sie diese Nachricht erhalten?« fragte Trevize sofort, die Augen mißtrauisch zusammengekniffen.
Wonne wandte sich ihm zu. »Nicht ich habe sie erhalten, sondern Gaia«, erwiderte sie gelassen.
»Miss Wonne«, fragte Pelorat, »dürfen mein Partner und ich uns einen Moment lang allein unterhalten?«
»Ja, freilich, aber Sie wissen, alles muß weitergehen.«
»Es wird nicht lange dauern.« Pelorat zog kraftvoll an Trevizes Ellbogen, und Trevize folgte ihm widerwillig in die benachbarte Kabine.
»Was soll das?« flüsterte Trevize. »Ich bin sicher, sie versteht uns auch hier drin. Wahrscheinlich kann sie unsere Gedanken lesen, diese verdammte Kreatur.«
»Ob sie uns hört oder nicht, wir brauchen im Augenblick aus psychologischen Gründen etwas Absonderung. Hören Sie, mein Bester, lassen Sie sie in Ruhe. Wir können nun einmal nichts unternehmen, und es hat absolut keinen Zweck, sie dafür büßen zu lassen. Wahrscheinlich ist sie ihrerseits auch zu keinen Maßnahmen befugt. Sie ist bloß ein Laufmädchen. Solange sie an Bord ist, sind wir vermutlich sicher, man hätte sie bestimmt nicht zu uns aufs Schiff geschickt, wäre es jemandes Absicht, das Schiff zu vernichten. Aber wenn Sie sich weiter so grob aufführen, wird man es — und damit auch uns — vielleicht vernichten, sobald sie wieder von Bord gegangen ist.«
»Ich kann’s nicht ertragen, derartig hilflos zu sein«, murrte Trevize.
»Wem gefällt so was schon? Aber sich wie ein Grobian zu benehmen, macht einen nicht weniger hilflos. Dadurch wird man nur zu einem hilflosen Grobian. Ach, mein Bester, ich will ja auch keineswegs nun Sie ausschimpfen, Sie müssen entschuldigen, falls ich Sie übertrieben kritisiere, aber dem Mädchen kann man an nichts die Schuld geben.«
»Janov, es ist jung genug, um unsere jüngste Tochter sein zu können.«
Pelorat straffte sich. »Ein Grund mehr, sich anständig zu betragen. Ich weiß auch nicht so recht, was ich von dieser Bemerkung halten soll.«
Trevize überlegte für einen Moment, dann normalisierte sich sein Gesichtsausdruck. »Na schön. Sie haben recht. Ich dagegen nicht. Aber es ist irritierend, daß man ein Mädchen zu uns geschickt hat. Zum Beispiel hätte man uns statt dessen einen Offizier ihres Militärs rüberschicken können, das hätte sozusagen wenigstens gezeigt, daß man uns ernst nimmt. Aber ein Mädchen? Das die Verantwortung ständig auf Gaia schiebt?«
»Wahrscheinlich meint sie einen Herrscher oder so was, der den Namen des Planeten als Ehrentitel trägt, oder sie bezieht sich auf das planetare Parlament. Wir werden’s schon herausfinden, aber möglicherweise nicht durch direktes Ausfragen.«
»Männer sind für ihren Leib gestorben!« sagte Trevize. »Ha! Dabei ist sie breitarschig wie ein… ein…«
»Niemand verlangt von Ihnen, daß Sie dafür sterben, Golan«, meinte Pelorat nachsichtig. »Kommen Sie, erlauben Sie ihr eine gewisse Selbstironie. Ich persönlich finde so was ganz lustig, und es spricht für ein gutmütiges Naturell.«
Wonne stand am Computer, als sie zurückkehrten, beugte sich über ihn und betrachtete seine Bestandteile, wobei sie die Hände auf dem Rücken verschränkte, als fürchte sie sich davor, ihn anzufassen.
Sie blickte auf, als die beiden wieder eintraten, unter der niedrigen Türöffnung den Kopf einzogen. »Dies ist ein ganz erstaunliches Schiff«, sagte sie. »Ich begreife nicht die Hälfte von allem, was ich hier sehe, aber wenn Sie mir zur Begrüßung ein Geschenk machen möchten, dann nehme ich’s sofort. Es ist wunderbar. Daneben sieht mein Schiff richtig scheußlich aus.« Ihre Miene nahm einen Ausdruck eifriger Neugier an. »Sind Sie wirklich von der Foundation?«
»Woher wissen Sie über die Foundation Bescheid?« wollte Pelorat wissen.
»Wir lernen davon in der Schule. Hauptsächlich wegen des Fuchses.«
»Warum wegen des Fuchses, Wonne?«
»Er war einer von uns, Gentle… Welche Silbe Ihres Namens darf ich benutzen, Gentleman?«
»Entweder Jan«, sagte Pelorat, »oder Pel. Welche ist Ihnen lieber?«
»Er war einer von uns, Pel«, sagte Wonne mit freundschaftlichem Lächeln. »Es weiß zwar niemand genau, wo eigentlich, aber er wurde auf Gaia geboren.«
»Er gilt wohl als gaianischer Held, was, Wonne?« meinte Trevize. Er legte nun eine entschiedene, nahezu aggressive Freundlichkeit an den Tag, warf einen beruhigenden Blick in Pelorats Richtung. »Nennen Sie mich Trev«, fügte er hinzu.
»O nein«, widersprach Wonne unverzüglich. »Er wird als Krimineller betrachtet. Er hat Gaia ohne Erlaubnis verlassen, und so etwas sollte niemand tun. Niemand weiß, warum er das gemacht hat, aber er ist fortgegangen, und das ist vermutlich der Grund, warum es mit ihm ein böses Ende genommen hat. Zum Schluß ist er von der Foundation besiegt worden.«
»Von der Zweiten Foundation?« hakte Trevize nach.
»Gibt’s mehr als eine? Wenn ich nachdenke, fällt’s mir vielleicht ein, aber eigentlich habe ich an Geschichte wenig Interesse. So wie ich es sehe, beschränkt sich mein Interesse auf das, was Gaia für am besten hält. Wenn Geschichte mir irgendwie abgeht, dann wohl deshalb, weil’s genug Historiker gibt, oder es kann sein, sie liegt mir einfach nicht. Ich werde voraussichtlich zur Weltraumtechnikerin ausgebildet. Jedenfalls teilt man mich immerzu für derartige Schichten ein, und anscheinend macht’s mir Spaß, und es ist ja logisch, hätte ich daran keinen Spaß, dann würde ich…«
Sie sprach ziemlich schnell, fast ohne Atem zu holen, und es kostete Trevize einige Mühe, eine Zwischenfrage zu stellen. »Wer ist Gaia?«
Wonne schaute verwundert drein. »Eben Gaia. Pel und Trev, bitte laßt uns weitermachen. Wir müssen auf die Oberfläche hinunter.«
»Wir sind doch schon dorthin unterwegs, oder nicht?«
»Ja, aber langsam. Gaia findet, Sie könnten sich viel schneller fortbewegen, wenn Sie das Potential Ihres Raumschiffs voll nutzen. Möchten Sie das tun?«
»Wir könnten’s«, antwortete Trevize grimmig. »Aber wenn ich die Kontrolle über das Schiff zurückerhalte, ist es nicht wahrscheinlich, daß wir dann sofort in die entgegengesetzte Richtung davonrasen?«
Wonne lachte. »Sie sind vielleicht komisch. Klar können Sie in keine Richtung fliegen, in die Gaia Sie nicht fliegen lassen will. Aber Sie dürfen in der Richtung schneller fliegen, wohin Gaia Sie fliegen zu sehen wünscht. Verstehen Sie?«
»Wir haben’s verstanden«, entgegnete Trevize. »Ich werde mich bemühen, meinen Sinn für Humor zu bändigen. Wo soll ich auf der Oberfläche landen?«
»Das ist gleichgültig. Steuern Sie die Oberfläche an, und Sie werden am richtigen Ort landen. Gaia wird dafür sorgen.«
»Bleiben Sie bei uns, Wonne«, fragte Pelorat nach, »damit wir gut behandelt werden?«
»Ich glaube, das läßt sich machen. Lassen Sie uns mal sehen… die reguläre Gebühr für meine Dienste — ich meine, für diese Art von Dienstleistungen — kann hier auf meiner Kontokarte verbucht werden.«
»Und die andere Art von Diensten?«
Wonne kicherte. »Sie sind ein netter alter Knabe.« Pelorat zuckte zusammen.
Wonne nahm den Abwärtsflug auf Gaias Oberfläche mit naiver Erregung auf. »Man spürt gar keine Beschleunigung«, bemerkte sie.
»Wir verfügen über einen Gravitationsantrieb«, sagte Pelorat. »Alles beschleunigt als Ganzes, uns eingeschlossen, also spüren wir nichts.«
»Aber wie funktioniert so ein Antrieb, Pel?«
Pelorat zuckte die Achseln. »Ich glaube, Trev kennt sich damit aus«, antwortete er, »aber ich bezweifle, daß er gegenwärtig in der Stimmung ist, um sich darüber zu unterhalten.«
Trevize hatte das Schiff nahezu rücksichtslos Gaias Gravitationsquelle entgegengestürzt. Das Schiff reagierte auf seine Richtungsweisung, aber Wonne hatte ihm bestimmte Warnungen erteilt. Ein Überschreiten der Feldlinien der vorhandenen Gravitationskräfte war umständehalber gestattet, wenngleich nur gegen einen gewissen Widerstand. Jeder Versuch jedoch, wieder aufzusteigen, mißlang völlig.
Noch immer gehörte das Raumschiff nicht wieder ihm.
»Gehen Sie nicht ein bißchen schnell hinunter, Golan?« meinte Pelorat in gutartiger Weise.
»Die junge Dame hat gesagt«, erwiderte Trevize mit einer gewissen Ausdruckslosigkeit des Tonfalls, um sich nichts von seinem Ärger anmerken zu lassen (allerdings mehr Pelorat zuliebe als aus irgendeinem anderen Grund), »daß Gaia für alles sorgt.«
»Klar, Pel«, versicherte Wonne. »Gaia wird nichts dulden, wodurch dies Schiff gefährdet werden könnte. Ist was zu essen an Bord?«
»Ja, freilich«, bestätigte Pelorat. »Was hätten Sie denn gerne?«
»Kein Fleisch, Pel«, erwiderte Wonne in geschäftsmäßigem Ton, »aber Fisch oder Ei wäre mir recht, auch jede Sorte Gemüse, die Sie haben.«
»Einige unserer Lebensmittel stammen von Sayshell, Wonne«, sagte Pelorat. »Ich weiß nicht genau, was in den Dosen steckt, aber möglicherweise schmeckt’s Ihnen.«
»Naja, ich werd’s probieren«, sagte Wonne mit merklichen Bedenken.
»Sind die Bewohner Gaias Vegetarier?« wollte Pelorat erfahren.
»Viele.« Wonne nickte nachdrücklich. »Das hängt davon ab, welche Nährstoffe der Körper in besonderen Fällen benötigt. In letzter Zeit war ich nicht hungrig nach Fleisch, deshalb nehme ich an, ich brauche keines. Und auch auf Süßigkeiten hatte ich keinen Appetit. Käse schmeckt mir gut, und Garnele. Wahrscheinlich muß ich abnehmen.« Sie hieb sich rechts aufs Gesäß, daß es nur so klatschte. »Genau da müssen zwei bis drei Kilo verschwinden.«
»Ich sehe nicht ein, warum«, sagte Pelorat. »So können Sie doch viel bequemer sitzen.«
Wonne verdrehte den Hals, um ihre Rückseite zu betrachten, so gut es ging. »Ach, es spielt keine große Rolle. Das Gewicht verändert sich auf- oder abwärts, wie es gerade erforderlich ist. Ich sollte mir deswegen keine Gedanken machen.«
Trevize schwieg, weil er mit der Far Star zu schaffen hatte. Bevor er in einen Orbit einschwenkte, hatte er ein wenig zu lange gezögert, und nun kreisten die unteren Grenzen der planetaren Exosphäre am Raumschiff vorüber. Nach und nach entglitt der Raumer seiner Kontrolle wieder völlig. Es hatte den Anschein, als habe ein Außenstehender die Bedienung des Gravo-Antriebs erlernt. Wie von selbst schwang die Far Star sich ein Stück empor in dünnere Luft und verlangsamte rasch ihre Geschwindigkeit. Danach schlug sie einen neuen Kurs ein und senkte sich in vorsichtiger Abwärtsflugbahn hinab.
Wonne hatte die schrille Geräuschentwicklung des Luftwiderstandes ignoriert und schnupperte nun geziert an dem Dampf, der aus einer erhitzten Konserve aufstieg. »Das muß in Ordnung sein, Pel«, sagte sie, »sonst müßte es ungut riechen, und ich hätte keine Lust, es zu essen.« Sie steckte einen schmalen Finger hinein und leckte ihn ab. »Sie haben richtig geraten, Pel. Das ist Garnele oder so was. Gut!«
Mit einer Gebärde der Unzufriedenheit verließ Trevize den Computer.
»Junge Frau«, sprach er Wonne an, als sähe er sie zum erstenmal.
»Mein Name ist Wonne«, sagte sie mit fester Stimme.
»Schön, also Wonne. Sie haben unsere Namen gekannt.«
»Ja, Trev.«
»Woher wußten Sie sie?«
»Es war für mich wichtig, sie zu wissen, damit ich meine Aufgabe erfüllen kann. Folglich wußte ich sie.«
»Wissen Sie, wer Munn Li Compor ist?«
»Ich wüßte es, wäre es für mich wichtig, zu wissen, wer er ist. Da ich aber nicht weiß, wer er ist, kommt Mr. Compor nicht zu uns.« Einen Augenblick lang überlegte sie. »Genauer gesagt, es kommt niemand außer Ihnen beiden.«
»Wir werden sehen.«
Er spähte hinab. Gaia war ein stark wolkiger Planet. Zwar gab es keine zusammenhängende Wolkendecke, aber es war eine vielfältig durchbrochene, bemerkenswert regelmäßig verteilte Schicht von Wolken vorhanden, die auf keinen Teil der planetaren Oberfläche klare Sicht erlaubte.
Er schaltete auf Mikrowellen um, und der Radarschirm glitzerte auf. Die Oberfläche ähnelte auf dem Schirm beinahe einer Darstellung des Sternenhimmels. Offenbar war Gaia eine Welt vieler Inseln, vergleichbar mit Terminus, aber noch ausgeprägter. Keine der Inseln war sonderlich groß, und keine lag von den anderen isoliert. Man hatte den Eindruck eines planetenweiten Archipels. Der Orbit des Raumschiffs war stark zur Äquatorialebene geneigt, aber man sah keine Anzeichen von Polkappen.
Auch fehlten die unmißverständlichen Beweise einer ungleichmäßigen Bevölkerungsverteilung, wie sie sich beispielsweise an der Beleuchtung auf der Nachtseite leicht ablesen ließ.
»Werden wir in der Nähe der Hauptstadt landen, Wonne?« erkundigte sich Trevize.
»Gaia wird Sie absetzen, wo es geeignet ist«, entgegnete Wonne gleichgültig.
»Eine Großstadt würde ich vorziehen.«
»Sie meinen eine große Bevölkerungsgruppe?«
»ja.«
»Das liegt allein bei Gaia.«
Das Schiff setzte seinen Abwärtskurs fort, und Trevize versuchte, sich ein wenig damit zu amüsieren, daß er Mutmaßungen darüber anstellte, auf welcher Insel sie wohl niedergehen würden. Welche es auch sein mochte, anscheinend sollte die Landung innerhalb der nächsten Minuten erfolgen.
Das Raumschiff landete ganz ruhig, fast wie federleicht, ohne einen Moment der Reibung, ohne anomale Schwerkrafterscheinungen. Einer nach dem anderen verließen sie es: zuerst Wonne, dann Pelorat, zuletzt Trevize.
Das Wetter ließ sich mit dem Frühsommer in Terminus City vergleichen. Leichter Wind wehte, und die spätmorgendliche Sonne schien von einem getupften Himmel herab. Der Untergrund, auf den sie ihre Füße setzten, war begrünt, und in einer Richtung standen zahlreiche Reihen von Bäumen, offenbar ein Obstgarten, während in einer anderen Richtung in einiger Entfernung die Küste verlief.
Man hörte ein leises Summen, das von Insekten stammen konnte, das Flattern eines Vogels — oder irgendeines kleinen Flugwesens —, und von einer Seite hörte man etwas Klack-klack machen, bei dem es sich möglicherweise um irgendein Farmgerät handelte.
Pelorat war der erste, der den Mund auftat, aber er äußerte sich zu nichts von dem, was man sah oder hörte. »Ah, das riecht gut«, sagte er statt dessen, »ganz wie frisches Apfelmus.«
»Wahrscheinlich ist das, was wir dort sehen, eine Apfelplantage«, sagte Trevize, »und es ist durchaus denkbar, daß man Apfelmus herstellt.«
»Auf Ihrem Schiff dagegen«, sagte Wonne, »hat’s gerochen wie… Na — es hat jedenfalls schrecklich gerochen.«
»Solange Sie an Bord waren, haben Sie sich nicht beschwert«, grollte Trevize.
»An Bord mußte ich höflich sein. Ich war Gast auf Ihrem Schiff.«
»Und was spricht dagegen, auch höflich zu bleiben?«
»Jetzt befinde ich mich auf meiner eigenen Welt. Sie sind hier die Gäste. Nun ist es an ihnen, höflich zu sein.«
»Vermutlich hat sie bezüglich des Schiffs recht, Golan«, meinte Pelorat. »Gibt’s keine Möglichkeit, das Schiff mal so richtig zu lüften?«
»Doch«, antwortete Trevize barsch. »Das ist möglich — falls diese kleine Kreatur uns zusichern kann, daß man das Schiff unangetastet läßt. Wie sie uns bereits gezeigt hat, kann sie das Schiff mit ungewöhnlichen Kräften beeinflussen.«
Wonne richtete sich zu voller Körpergröße auf. »Klein bin ich nicht gerade, und wenn nicht mehr erforderlich ist, als es in Ruhe zu lassen, um es zu säubern, kann ich Ihnen versichern, es wird mir ein Vergnügen sein, davon auf Abstand zu bleiben.«
»Und wann können wir denjenigen aufsuchen, den Sie immer Gaia nennen?« wünschte Trevize zu wissen.
Wonne wirkte erheitert. »Ich weiß, Sie werden’s mir nicht glauben, Trev. Ich bin Gaia.«
Trevize starrte sie an. Schon oft hatte er die Redewendung ›seine Gedanken zusammennehmen‹ in metaphorischem Gebrauch gehört. Nun fühlte er sich zum erstenmal in seinem Leben, als sei er buchstäblich mit einem solchen geistigen Vorgang befaßt. »Sie?« meinte er schließlich.
»Ja. Und der Boden ist Gaia. Und die Bäume dort sind Gaia. Und auch das Kaninchen da hinten im Gras. Und der Mann, den Sie da drüben zwischen den Bäumen sehen. Der gesamte Planet und alles, was sich darauf befindet — das ist Gaia. Wir sind durchaus alle Individuen, allesamt separate Organismen, aber wir besitzen ein gemeinschaftliches Bewußtsein. Der unbelebte Planet am wenigsten davon, die verschiedenen Lebensformen in unterschiedlichen Graden, die Menschen am meisten — aber alles hat daran Teil.«
»Ich glaube, sie will damit sagen, Trevize«, bemerkte Pelorat, »Gaia ist eine Art von Kollektivbewußtsein.«
Trevize nickte. »Soviel habe ich sehr wohl kapiert. In dem Fall, Wonne — wer regiert diese Welt?«
»Sie unterhält sich aus eigener Kraft«, lautete Wonnes Antwort. »Die Bäume dort wachsen von sich aus in Reih und Glied. Sie vermehren sich genau in dem Umfang, wie’s erforderlich ist, um die Exemplare zu ersetzen, die aus irgendwelchen Gründen absterben. Die Menschen ernten Äpfel, soviel sie brauchen, andere Tiere, auch die Insekten, verzehren ihren Anteil — den und nicht mehr.«
»So, die Insekten wissen, wieviel sie fressen dürfen, hm?« brummte Trevize.
»Gewissermaßen, ja. Es regnet, wenn’s nötig ist, und es regnet ab und zu auch einmal stark, wenn das nötig sein sollte — und gelegentlich kommt es zu Perioden der Trockenzeit, falls das sein muß.«
»Und der Regen weiß auch, was er zu tun hat, was?«
»ja, gewiß«, antwortete Wonne völlig ernsthaft. »Wissen in Ihrem Körper all die vielen verschiedenen Zellen denn nicht auch genau, was sie zu tun haben? Wann sie wachsen und wann sie mit dem Wachsen aufhören müssen? Wann sie bestimmte Stoffe zu erzeugen haben und wann nicht, und wenn welche erzeugt werden müssen, wissen sie nicht auch, daß es soundsoviel sein muß, nicht mehr und nicht weniger? In gewissem Maß ist jede Zelle eine selbständige chemische Fabrik, aber alle bedienen sich ein und derselben Quelle von Rohstoffen, die sie durch ein gemeinsames Transportsystem erhalten, und alle tragen sie zu einem gesamtheitlichen Grobbewußtsein bei.«
»Das ist äußerst bemerkenswert«, sagte Pelorat mit einigem Enthusiasmus. »Sie wollen damit sagen, daß der Planet ein Superorganismus ist und daß Sie eine einzelne Zelle dieses Superorganismus sind.«
»Damit beschreibe ich allerdings nicht den tatsächlichen Sachverhalt, sondern gebe Ihnen eine Analogie. Wir sind vergleichbar mit Zellen, aber wir sind keine Zellen — verstehen Sie?«
»In welcher Hinsicht«, hakte Trevize nach, »sind Sie keine Zellen?«
»Wir bestehen selbst aus Zellen und besitzen im Verhältnis zu den Zellen ein Großbewußtsein, das Bewußtsein eines individuellen Organismus — eines Menschen, um meinen Fall zu nehmen.«
»Mit einem Leib, für den Männer sterben.«
»Richtig. Mein Bewußtsein ist dem einer einzelnen Zelle weit überlegen — unglaublich weit voraus. Die Tatsache, daß wir unsererseits Teile eines höheren Kollektivbewußtseins sind, setzt uns jedoch nicht auf die Daseinsebene von Körperzellen herab. Ich bleibe ein menschliches Wesen — aber über uns existiert ein Kollektivbewußtsein, das soweit außerhalb meines Begriffsvermögens liegt, wie mein Bewußtsein sich außerhalb des Verstehens der Muskelzellen meines Bizeps befindet.«
»Aber sicher hat doch irgend jemand die Anordnung erteilt, unser Raumschiff aufzubringen«, sagte Trevize.
»Nein, nicht irgend jemand. Gaia hat es angeordnet. Wir alle haben es angeordnet.«
»Die Bäume und der Erdboden auch, Wonne?«
»Sie leisten nur einen geringen Beitrag, aber sie tragen zu allem bei. Sehen Sie, wenn ein Musiker eine Sinfonie schreibt, fragen Sie dann danach, welche besondere Zelle ihn dazu gedrängt hat, sie zu schreiben, durch welche Einzelzelle seine Arbeit überwacht worden ist?«
»Und das Gruppenbewußtsein, um das Kollektiv einmal so zu nennen«, sagte Pelorat, »ist viel stärker als der individuelle Verstand, nehme ich an, so wie ein Muskel stärker als eine einzelne Zelle ist. Infolgedessen kann Gaia ein Raumschiff aus großer Entfernung aufbringen, indem sie den Computer unter Kontrolle nimmt, während keinem Individuum auf diesem Planeten so etwas allein möglich wäre.«
»Sie verstehen vollkommen, Pel«, sagte Wonne.
»Ich versteh’s auch«, sagte Trevize. »So schwer ist es ja nun wieder nicht zu verstehen. Aber was wollen Sie von uns? Wir sind nicht gekommen, um Sie zu überfallen. Wir sind hier, weil wir Informationen suchen. Warum haben Sie uns zur Landung gezwungen?«
»Um mit Ihnen zu reden.«
»Sie hätten an Bord unseres Raumers mit uns reden können.«
Bedächtig schüttelte Wonne den Kopf. »Ich bin nicht Ihr Gesprächspartner.«
»Sind Sie kein Teil des Kollektivbewußtseins?«
»Doch, aber deswegen kann ich noch längst nicht fliegen wie ein Vogel, summen wie ein Insekt oder so wie ein Baum in die Höhe wachsen. Ich erledige, was ich am besten erledigen kann, und es ist nicht am besten, wenn ich Ihnen Informationen gebe — obwohl die entsprechenden Kenntnisse mir ohne weiteres mitgeteilt werden könnten.«
»Wer hat entschieden, sie Ihnen nicht mitzuteilen?«
»Wir alle.«
»Und wer wird uns die Informationen geben?«
»Dom.«
»Und wer ist Dom?«
»Tja«, sagte Wonne, »sein voller Name lautet Endomandiovizamarondeyaso… und so weiter. Verschiedene Leute rufen ihn zu verschiedenen Zeiten mit unterschiedlichen Silben seines Namens, aber mir ist er als Dom bekannt, und ich glaube, Sie beide werden diese Silbe ebenfalls als Anrede verwenden. Er besitzt wahrscheinlich größeren Anteil an Gaias Gesamtheit als jeder andere auf dem Planeten, und er lebt auf dieser Insel. Er hat darum ersucht, Ihnen begegnen zu dürfen, und es ist ihm gestattet worden.«
»Wer hat’s gestattet?« fragte Trevize, aber er gab sich unverzüglich selber die Antwort. »Ja, ich weiß, alle haben’s gemeinsam getan.«
Wonne nickte.
»Wann werden wir Dom treffen können, Wonne?« erkundigte sich Pelorat.
»Sofort. Wenn Sie mir folgen, bringe ich Sie zu ihm, Pel. Und Sie natürlich auch, Trev.«
»Und dann werden Sie sich von uns verabschieden?« fragte Pelorat.
»Fänden Sie das unerfreulich, Pel?«
»Um ehrlich zu sein, ja.«
»Da haben wir’s«, sagte Wonne, während sie ihr eine ebenmäßig gepflasterte Straße entlang folgten, die die Obstplantage säumte. »Männer gewöhnen sich sehr schnell an mich. Selbst würdige ältere Männer werden von jungenhaftem Eifer befallen.«
Pelorat lachte. »Ich rechne bei mir nicht gerade mit jungenhaftem Eifer, Wonne, aber sollte mich trotzdem welcher befallen, ich glaube, ich könnte ihn an Schlechteres verschwenden, als wenn ich ihn in der Hingabe an Sie aufwende.«
»Oh, Sie sollten jugendlichen Eifer nicht geringschätzen«, empfahl Wonne. »Ich wirke in dieser Beziehung Wunder.«
»Sobald wir dort sind«, fragte Trevize ungeduldig, »wohin wir jetzt gehen, wie lange werden wir dann auf diesen Dom warten müssen?«
»Er wartet bereits auf Sie. Immerhin hat sich Dom durch Gaia jahrelang darum bemüht, Sie zu uns zu bringen.«
Trevize blieb ruckartig stehen und warf Pelorat einen raschen Blick zu. Sie hatten recht, bekannten Pelorats Lippen stumm.
»Ich weiß, Trev«, sagte Wonne gelassen, die nach vorn schaute, »Sie haben vermutet, daß ich/wir/Gaia an Ihnen interessiert sind.«
»›Ich/wir/Gaia?‹« wiederholte Pelorat leise.
Sie wandte den Kopf und lächelte ihm zu. »Wir verfügen über eine ganze Gruppe von verschiedenen Pronomen, um der Differenziertheit der Individuen Ausdruck zu verleihen, wie sie auf Gaia existiert. Ich könnte versuchen, Sie Ihnen allesamt zu erklären, aber vorerst dürfte ›Ich/wir/Gaia‹ genügen, um mehr oder weniger treffend auszudrücken, was ich meine. Trev, bitte gehen Sie weiter. Dom wartet, und ich möchte Ihre Beine ungern gegen Ihren Willen bewegen. Wenn man nicht daran gewöhnt ist, hat man dabei ein recht unangenehmes Gefühl.«
Trevize ging weiter. Der Blick, den er Wonne widmete, verriet tiefsten Argwohn.
Dom war ein Mann in fortgeschrittenem Alter. Er zählte die zweihundertdreiundfünfzig Silben seines vollständigen Namens in einer melodischen Singsangfolge von Lauten und Betonungen auf.
»In gewisser Weise«, erläuterte er, »ist mein Name eine Kurzbiographie meiner Person. Er gibt dem Hörer — oder Leser oder sonstwie Wahrnehmenden — darüber Aufschluß, wer ich bin, welche Rolle ich in meinem bisherigen Dasein im Ganzen gespielt und was ich geleistet habe. Seit über fünfzig Jahren bin ich allerdings zufrieden, wenn man mich Dom ruft. Falls andere namens Dom anwesend sind, kann man mich Domandio nennen — und im Rahmen meiner diversen professionellen Tätigkeiten sind auch noch andere Varianten gebräuchlich. Einmal in jedem Gaia-Jahr — an meinem Geburtstag — wird auf kollektiv-psychischer Ebene mein Name in ganzer Länge gelobt, so wie ich ihn vorhin für Sie mündlich aufgesagt habe. Sehr effektvoll, aber mir persönlich bereitet das jedesmal Verlegenheit.«
Er war von hochgewachsener, hagerer Gestalt — so mager, daß er ausgezehrt wirkte. Seine in tiefen Höhlen liegenden Augen jedoch funkelten in ungewöhnlicher Jugendlichkeit, wenngleich er sich ziemlich gemächlich bewegte. Seine Nase ragte lang und schmal aus dem Gesicht, und die Nasenflügel blähten sich unablässig. Seine Hände wiesen, obwohl ihre Adern sich stark abhoben, keine Anzeichen von Arthritis auf. Er trug ein langes Gewand, das grau war wie sein Haar. Es reichte ihm bis an die Fußknöchel hinab, und die Sandalen, in denen seine Füße staken, ließen die Zehen frei.
»Wie alt sind Sie, Sir?« forschte Trevize nach.
»Bitte nennen Sie mich doch Dom, Trev. Andere Arten der Anrede bedeuten Förmlichkeit und könnten den freien Gedankenaustausch zwischen Ihnen und mir hemmen. Nach Galaktischer Standardzeit bin ich etwas über dreiundneunzig, aber eine größere Festlichkeit steht in wenigen Monaten bevor, wenn ich nach gaianischer Zeitrechnung meinen neunzigsten Geburtstag begehe.«
»Ich hätte Sie nicht älter als fünfundsiebzig geschätzt, S… Dom«, sagte Trevize.
»Nach gaianischem Durchschnitt bin ich nicht außergewöhnlich, weder an Jahren noch in meinem Aussehen, Trev. So, sind wir fertig mit dem Essen?«
Pelorat betrachtete seinen Teller, auf dem noch größere Reste einer reichlich uninteressanten und gleichgültig zubereiteten Mahlzeit lagen. »Dom«, meinte er in sachlichem Ton, »dürfte ich wohl versuchen, eine möglicherweise etwas peinliche Frage vorzutragen? Sollte sie geschmacklos sein, müssen Sie’s mir natürlich sofort sagen, dann verzichte ich darauf.«
»Nur zu!« sagte Dom; er lächelte. »Ich werde Ihnen alle Fragen bezüglich Gaias, die Sie aufgrund Ihrer Neugier haben, gerne beantworten.«
»Warum?« hakte Trevize augenblicklich ein.
»Weil Sie in Ehren empfangene Gäste sind. Darf ich Ihre Frage hören, Pel?«
»Wenn alle Dinge auf Gaia am gemeinsamen Kollektivbewußtsein Anteil haben«, lautete Pelorats Frage, »wie kommt es dann, daß Sie — eines der Elemente dieser Ganzheit — etwas verzehren können, was eindeutig ein anderes Element desselben Ganzen war?«
»Eine berechtigte Frage, gewiß. Aber alle Dinge unterliegen einem Kreislauf. Wir müssen essen, und alles, was wir essen können — Pflanzen ebenso wie Tiere, selbst leblose Gewürze —, ist Teil Gaias. Sie müssen aber wissen, daß kein Wesen aus Lust oder sogenanntem Sport getötet wird, und es wird ohne Zufügung vermeidbarer Qualen getötet. Und ich muß leider erwähnen, wir unterlassen alles, um das Zubereiten von Mahlzeiten zu verherrlichen, denn kein Gaianer würde essen, müßte es nicht sein. Sie hatten keine Freude an diesem Essen, Pel? Sie auch nicht, Trev? Nun, da sehen Sie’s, für unsere Begriffe sind Mahlzeiten nichts, um sich daran zu vergnügen. Zu guter Letzt bleibt jedoch auch das, was verzehrt wird, Teil des planetaren Bewußtseins. Insofern gewisse Portionen von Speise in meinem Körper aufgenommen werden, können sie an einem größeren Anteil des Totalbewußtseins partizipieren. Wenn ich gestorben bin, werde ich ebenfalls verzehrt — obschon lediglich von Fäulnisbakterien — und kann von da an nur noch an einem weit geringeren Anteil des Ganzen partizipieren. Eines Tages werden jedoch Teile von mir Teile anderer Menschen sein, Teile vieler Menschen.«
»Eine Art von Seelenwanderung«, bemerkte Pelorat.
»Von was, Pel?«
»Ich meine einen alten Mythos, wie er auf manchen Welten noch verbreitet ist.«
»Ah, davon habe ich noch nichts gehört. Sie müssen mir gelegentlich mehr darüber erzählen.«
»Aber Ihr individuelles Bewußtsein — eben das, was Sie zu dem Individuum Dom macht — wird niemals wieder vollständig wiederhergestellt«, sagte Trevize.
»Nein, natürlich nicht. Aber ist das von Bedeutung? Ich werde weiterhin ein Teil Gaias sein, und das ist es, worauf es ankommt. Es gibt unter uns Mystiker, die Überlegungen anstellen, ob wir versuchen sollten, kollektive Erinnerungen an vergangene Existenzen zu entwickeln, aber nach gesamtgaianischer Auffassung ist so etwas auf keine richtig praktikable Weise durchführbar und könnte auch keinem sinnvollen Zweck dienen. Es würde lediglich zu Verschwommenheiten im gegenwärtigen Bewußtseinszustand führen. Naturgemäß kann sich, indem die Bedingungen sich verändern, auch die gesamtgaianische Haltung in dieser Frage ändern, aber ich sehe in überschaubarer Zukunft keinen solchen Wandel voraus.«
»Warum sollten Sie sterben müssen, Dom?« meinte Trevize. »Schauen Sie doch, in was für einer prächtigen Verfassung Sie mit Ihren über neunzig Jahren sind. Könnte das Kollektivbewußtsein nicht…«
Erstmals schnitt Dom eine düstere Miene. »Niemals«, unterbrach er Trevize. »Ich kann zum Ganzen nur soundsoviel beitragen. Jedes neue Individuum ist eine Umverteilung von Molekülen und Genen zu einer neuen Einheit. Das heißt, es ergeben sich neue Talente, neue Fähigkeiten, also neue Beiträge zur Gesamtheit Gaias. Wir brauchen sie — und der einzige Weg, an sie zu gelangen, besteht darin, daß die Alten Platz machen. Ich habe mehr geleistet als die meisten, aber auch mir ist eine Grenze gesetzt. Es ist nicht erstrebenswerter, über seine Zeit hinaus zu leben, als das Leben verfrüht zu beenden.«
Urplötzlich, als sei ihm aufgefallen, daß er der Unterhaltung eine trübsinnige Note verliehen hatte, erhob er sich und streckte seinen beiden Besuchern die Hände entgegen. »Trev, Pel, kommen Sie — lassen Sie uns in mein Arbeitszimmer gehen, dort kann ich Ihnen einige meiner eigenen Kunstgegenstände zeigen. Ich hoffe, Sie werden einem alten Mann seine kleinen Eitelkeiten nicht verübeln.«
Er ging voraus in einen anderen Raum, wo auf einem kleinen, runden Tisch eine Anzahl rauchiger Linsen lag, paarweise miteinander verbunden. »Das sind von mir entworfene Partizipationen«, sagte Dom. »Ich bin keiner der wahren Meister, aber ich habe mich auf Inanimalitäten spezialisiert, mit denen nur wenige der wirklichen Meister sich beschäftigen.«
»Darf ich so was anfassen?« fragte Pelorat. »Oder sind die Gläser sehr zerbrechlich?«
»Nein, nein. Sie können sie auf den Boden werfen, wenn Sie wollen. Oder vielleicht doch lieber nicht. Erschütterungen könnten die Schärfe der Visualität beeinträchtigen.«
»Wie benutzt man sie, Dom?«
»Man legt sie sich über die Augen. Sie haften selbsttätig. Sie lassen kein Licht durch. Ganz im Gegenteil. Sie halten das Licht fern, weil es nur ablenken würde — trotzdem erreicht die Wahrnehmung Ihr Gehirn über den Sehnerv. Das Prinzip ist im wesentlichen, daß Ihr Bewußtsein sensibilisiert wird und infolgedessen an anderen Facetten Gaias teilhaben darf. Mit anderen Worten, wenn Sie durch die Linsen diese Wand da anschauen, werden Sie die Wand so wahrnehmen, wie sie selbst sich wahrnimmt.«
»Faszinierend«, kommentierte Pelorat unterdrückt. »Darf ich’s mal versuchen?«
»Sicherlich, Pel. Nehmen Sie irgendein Paar. Jedes ist eine andere Konstruktion, die die Wand — und jedes sonstige unbelebte Objekt, das Sie dadurch anschauen — unter einem andersartigen Aspekt des Bewußtseins dieses jeweiligen Objekts zeigt.«
Pelorat hob ein Paar Linsen an seine Augen, und tatsächlich hafteten sie sofort. Bei der Berührung fuhr er zusammen, dann stand er für eine längere Weile reglos da.
»Wenn Sie genug haben«, sagte Dom, »legen Sie die Hände an die Seiten der Partizipationsbrille und drücken Sie die Linsen gegeneinander. Dann lösen sie sich ohne Umstände.«
Pelorat tat es, zwinkerte heftig, rieb sich die Augen. »Was für eine Erfahrung haben Sie gemacht?« fragte Dom nach.
»Schwer zu beschreiben«, antwortete Pelorat. »Die Wand schien zu glitzern und zu schillern, und manchmal schien es, als wolle sie sich verflüssigen. Sie schien Rippen und eine veränderliche Symmetrie zu haben. Ich… ich bedaure, Dom, aber ich fand es nicht sonderlich attraktiv.«
Dom seufzte. »Da Sie keinen Anteil an Gaia haben, können Sie nicht erkennen, was wir sehen. Das habe ich schon mit ziemlicher Sicherheit befürchtet. Wie schade! Ich versichere Ihnen, man schätzt diese Partizipationsbrillen hauptsächlich wegen ihres ästhetischen Werts, aber sie haben durchaus auch praktischen Nutzen. Eine zufriedene Wand ist eine langlebige Wand, eine praktische, eine nützliche Wand.«
»Eine zufriedene Wand?« wiederholte Trevize und lächelte andeutungsweise.
»Es gibt sehr wohl eine schwache Wahrnehmung, die besagt, daß eine Wand etwas empfinden kann, was bei uns Menschen ›Zufriedenheit‹ heißt«, erklärte Dom. »Eine Wand ist zufrieden, wenn sie gut gebaut ist, fest auf ihrem Fundament ruht, wenn ihre Komponenten sich in ausgeglichenem Gleichgewicht befinden und keine unschönen Spannungen entstehen. Schon mit den mathematischen Grundlagen der Mechanik kann man eine gute Mauer bauen, aber dank der Verwendung einer geeigneten Partizipationsbrille ist Feinarbeit bis in buchstäblich atomare Dimensionen möglich. Hier auf Gaia kann kein Bildhauer ein erstklassiges Kunstwerk ohne eine gutgefertigte Partizipationsbrille schaffen, und die Modelle, die ich herstelle, gelten als von hervorragender Qualität — falls ich das selbst dazu bemerken darf.« Dom sprach nun in der Art von angeregter Lebhaftigkeit weiter, wie man sie bei Leuten erleben kann, die ganz für ihr Hobby leben. »Animatisierte Partizipationen, die nicht mein Fachgebiet sind, gewährleisten uns — analog zu dem hier — direkte Wahrnehmungen im Bereich des ökologischen Gleichgewichts. Auf Gaia ist das ökologische Gleichgewicht ziemlich simpel, wie eigentlich auf der Mehrzahl aller Welten, aber wir hier haben die Hoffnung, es komplexer gestalten und damit das ganze Kollektivbewußtsein enorm bereichern zu können.«
Trevize hob die Hand, um Pelorat zuvorzukommen, und veranlaßte ihn mit einem Wink zum Schweigen. »Woher wollen Sie wissen«, fragte er, »ob ein Planet ein komplexeres ökologisches Gleichgewicht verkraften kann, wenn so gut wie alle Welten eine simple Ökologie aufweisen?«
»Aha, Sie möchten mich altes Haus auf die Probe stellen«, meinte Dom mit schlauem Funkeln in den Augen. »Sie wissen so gut wie ich darüber Bescheid, daß die Ursprungswelt der Menschheit, die Erde, ein ungeheuer komplexes ökologisches Gleichgewicht besessen hat. Die Sekundärplaneten — die Welten, die später besiedelt worden sind — zeichnen sich durch eine eher bescheidene Ökologie aus.«
»Das ist genau das Problem, in dem ich meine Lebensaufgabe sehe«, sagte Pelorat. »Warum hat nur die Erde eine so vielschichtig differenzierte Ökologie gehabt? Worin war sie von anderen Welten verschieden? Weshalb haben Millionen und Abermillionen von Welten überall in der Galaxis — lauter Welten, die sich zum Tragen von Leben eignen — nur obskure Vegetation und kleine, unintelligente Formen animalischen Lebens entwickelt?«
»Wir kennen darüber eine Geschichte«, entgegnete Dom. »Vielleicht handelt es sich bloß um eine Fabel. Ich kann nicht für die Authentizität bürgen. Bei oberflächlicher Betrachtung klingt sie tatsächlich ganz nach reiner Fiktion.«
In diesem Moment trat Wonne ein, die an dem Essen nicht teilgenommen hatte, und lächelte Pelorat an. Sie trug eine silbrige, äußerst hauchdünne Bluse.
Sofort sprang Pelorat auf. »Ich dachte, Sie hätten uns Adieu gesagt.«
»Keineswegs. Ich hatte einen Bericht zu machen und sonstige Arbeiten zu erledigen. Darf ich mich nun dazugesellen, Dom?«
Dom hatte sich ebenfalls erhoben (Trevize dagegen blieb sitzen). »Du bist absolut willkommen, und du entzückst meine gealterten Augen.«
»Diese Bluse habe ich zu keinem anderen als deinem Entzücken angezogen. Pel steht über solchen Dingen, und Trev mißfallen sie grundsätzlich.«
»Wenn Sie glauben, ich stünde über derartigen Dingen, Wonne«, sagte Pelorat, »könnte es sein, daß ich Sie eines Tages gehörig überrasche.«
»Das dürfte eine wundervolle Überraschung werden«, sagte Wonne und nahm Platz. Die beiden Männer setzten sich gleichfalls wieder hin. »Ich bitte darum, sich durch mich nicht stören zu lassen.«
»Ich war gerade drauf und dran«, sagte Dom, »unseren Gästen die Geschichte von der Ewigkeit zu erzählen. Um sie begreifen zu können, muß man erst einmal verstehen, daß die Existenz von vielen verschiedenen Universen vorstellbar ist — von einer buchstäblich unendlichen Zahl, jeder einzelne Vorfall, der sich ereignen kann, mag sich ereignen oder ausbleiben, oder er kann sich auf diese oder auch auf jene Weise ergeben, und jede einzelne einer gewaltigen Menge von Alternativen muß in einen künftigen Ablauf von Vorkommnissen münden, die zumindest in gewissem Umfang voraussehbar sind. Wonne hätte vielleicht nicht in diesem Moment kommen müssen, sie hätte etwas früher oder viel früher kommen können, und sie könnte eine andere Bluse tragen. Möglicherweise könnte sie die Bluse tragen, aber nicht älteren Männern schelmisch zulächeln, wie’s ihre gutmütige Angewohnheit ist. Bei jeder dieser Alternativen — oder bei jeder einer großen Anzahl möglicher alternativer Abläufe dieses einen Vorgangs — hätte das Universum danach einen anderen Lauf genommen, und so verhält es sich mit jeder einzelnen Abwandlung jedes anderen Geschehens, egal wie geringfügig.«
Trevize vollführte Regungen, die von innerer Unruhe zeugten. »Ich glaube, das ist eine in der Quantenmechanik geläufige Spekulation… — und auch schon seit uralten Zeiten bekannt.«
»Aha, Sie haben also davon gehört. Aber weiter. Denken Sie sich einmal, es sei Menschen möglich, die unendliche Menge vorstellbarer Universen gewissermaßen zu sabotieren, von einem alternativen Universum nach Belieben in ein anderes überzuwechseln, zu entscheiden, welches ›real‹ werden soll — was immer das in diesem Zusammenhang heißen kann.«
»Ich höre, was Sie sagen«, meinte Trevize, »und ich kann mir sogar ausmalen, was Sie da schildern, aber ich kann mich nicht dazu durchringen, Ihnen zu glauben, daß so etwas tatsächlich machbar sein könnte.«
»Im großen und ganzen kann ich es ebensowenig glauben«, entgegnete Dom, »und das ist der Grund, warum ich es vorziehe, von einer Fabel zu sprechen. Dennoch, die Fabel jedenfalls behauptet, es habe einmal Menschen gegeben, die aus dem Strom der Zeit treten und die endlos verzweigten Stränge potentieller Realität untersuchen konnten. Man nannte diese Leute ›Ewige‹, und wenn sie sich außerhalb der Zeit aufhielten, hieß es von ihnen, sie befänden sich in der Ewigkeit. Ihre Aufgabe war es, eine Realität auszuwählen, wie sie für die Menschheit optimal wäre. Sie nahmen unbegrenzt Modifikationen vor — und in dieser Hinsicht geht die Geschichte sehr ins Detail, und ich muß erwähnen, sie ist in epischer Breite und in ungewöhnlicher Länge niedergeschrieben worden. Schließlich fanden sie — so heißt es — ein Universum, in dem die Erde in der ganzen Galaxis als einziger Planet ein komplexes ökologisches System und eine entwickelte intelligente Spezies mit der Fähigkeit zur Konzipierung von Hochtechnologie aufwies. Das sei eine Situation, entschieden sie, die der Menschheit die größte Sicherheit biete. Sie sorgten dafür, daß dieser Strang von potentieller Realität zur wirklichen Realität gedieh, dann stellten sie ihre Operationen ein. Daher leben wir nun in einer Galaxis, die ausschließlich von Menschen besiedelt ist, und im wesentlichen von den Pflanzen und Tieren und dem mikroskopischen Leben, das Menschen eben so mitzuführen pflegen — absichtlich oder unwissentlich —, von Planet zu Planet, wo es dann normalerweise das heimische Leben verdrängt. Irgendwo in den undurchschaubaren Nebeln der Probabilität gibt es andere Realitätsebenen, in denen die Galaxis die Heimat vieler Intelligenzen ist, aber für uns sind sie unerreichbar. Wir sind in unserer Realität allein. Von jedem Geschehen und jeder Handlung in unserer Realität zweigen nun neue potentielle Entwicklungsstränge ab, wovon jeweils nur einer eine Fortsetzung der Realität bedeutet, so daß sich nach wie vor eine große Zahl potentieller Universen denken läßt — vielleicht nach wie vor eine unendliche Zahl —, die von unserem realen Universum abzweigen, aber vermutlich sind sich nunmehr alle in dem Punkt ähnlich, daß die Galaxis darin nur eine Intelligenz kennt, nämlich uns. Oder vielleicht sollte ich sagen, daß nur ein verschwindend geringer Prozentsatz von dieser Übereinstimmung abweichen dürfte, denn wo die Possibilitäten dem Unendlichen gleichkommen, da ist es riskant, irgend etwas für völlig ausgeschlossen zu erklären.«
Er verstummte, hob ein wenig die Schultern. »So lautet auf jeden Fall diese Geschichte«, ergänzte er dann. »Sie datiert bereits vor der Gründerzeit Gaias. Ihren Wahrheitsgehalt würde ich natürlich nicht beschwören.«
Die drei übrigen Anwesenden hatten mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört. Wonne nickte dann und wann, als sei ihr die Geschichte schon längst bekannt, und als ob sie nur auf die Korrektheit von Doms Wiedergabe achte.
Pelorat reagierte darauf mit wortlosem Ernst, den er nahezu eine Minute lang bewahrte; schließlich ballte er eine Hand zur Faust und schlug auf die Armlehne.
»Nein, das führt zu nichts«, meinte er mit erstickter Stimme. »Es gibt keine Möglichkeit, um den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte durch empirische Beobachtungen oder durch logisches Nachdenken zu überprüfen, deshalb kann sie nie etwas anderes sein als ein Stück Spekulation, aber sehen wir mal davon ab… nehmen wir einmal an, sie stimmt! Trotz allem ist das Universum, in dem wir leben, eines mit nur einer intelligenten Lebensform, folglich muß es in diesem Universum — ob es nun das eine wahre und reale ist oder nur eines von zahllosen alternativen Universen — in der Natur des Planeten Erde irgendeine besondere Einzigartigkeit gegeben haben. Wir müssen noch immer daran interessiert sein, endlich herauszufinden, was für eine Einmaligkeit das ist.«
Zum Schluß des Schweigens, das nach seinen Worten herrschte, war es Trevize, der sich schließlich rührte und den Kopf schüttelte.
»Nein, Janov«, widersprach er, »so geht’s keineswegs. Lassen Sie uns mal sagen, die Wahrscheinlichkeit, daß von der Milliarde bewohnbarer Planeten in der Galaxis — durch die blinde Wahl des Zufalls — nur die Erde eine reichhaltige Ökologie und schließlich Intelligenz entwickeln würde, betrug eins zu einer Milliarde Billionen, also 1021 — und damit zugleich annehmen, daß eine unter 1021 verschiedenen Strängen potentieller Realitäten eine solche Galaxis mit so einer Erde repräsentiert und daß die Zeitingenieure sie ausgewählt haben. Wir leben daher nicht im Universum, in dem nur die Erde eine komplexe Ökologie, eine intelligente Spezies und eine fortgeschrittene Technik entwickelt hat, weil sie irgendeine Besonderheit aufwiese — sondern ganz einfach, weil diese Dinge eben zufällig auf der Erde und sonst nirgendwo entstanden sind. Ich vermute sogar, es gibt potentielle Realitätsstränge…« — Trevize sprach nachdenklich weiter — »in denen Gaia der einzige Planet mit einer intelligenten Spezies ist, oder nur Sayshell, oder Terminus allein, oder irgendein Planet, der in dieser Realität überhaupt kein Leben trägt. Und alle diese ganz besonderen Fälle dürften von der Gesamtzahl denkbarer Realitäten den unbedeutend kleinen Prozentsatz der Möglichkeiten ausmachen, worin sich in der Galaxis nur eine intelligente Spezies entwickelt hat. Ich wage zu behaupten, hätten die Ewigen bloß lange genug gesucht, sie hätten sogar eine potentielle Realitätsebene entdeckt, auf der es auf jedem bewohnbaren Planeten eine intelligente Lebensform gibt.«
»Kann man nicht genauso gut unterstellen«, meinte Pelorat, »daß man eine Realitätsebene gefunden hat, auf der die Erde aus irgendeinem Grund anders war als in anderen Realitätssträngen, eben besonders zur Entwicklung intelligenten Lebens geeignet? Man kann sogar weiter gehen und sagen, womöglich ist eine Realitätsebene gefunden worden, wo die gesamte Galaxis anders als auf sonstigen Ebenen war, sich irgendwie in einem solchen Stadium der Entwicklung befand, das es nur der Erde allein ermöglichte, intelligentes Leben hervorzubringen.«
»Sicherlich können Sie diese Ansicht vertreten«, sagte Trevize, »aber ich finde, meine Version klingt einleuchtender.«
»Das ist natürlich ein rein subjektiver Standpunkt…«, begann Pelorat mit einer gewissen Hitzigkeit, aber Dom unterbrach ihn.
»Das sind nur logische Haarspaltereien«, sagte er. »Kommen Sie, wir wollen nicht verderben, was — wenigstens für mich — ein angenehmer und behaglicher Abend ist.«
Es gelang Pelorat, sich zu mäßigen und seine Erregung zu meistern, und schließlich lächelte er. »Wie Sie meinen, Dom.«
Trevize, der unterdessen mehrfach Wonne gemustert hatte, die in einer Parodie auf alle Züchtigkeit an ihrem Platz saß, ihre Hände im Schoß, wandte sich nun an Dom. »Und wie ist diese Welt entstanden, Dom? Gaia mit ihrem Kollektivbewußtsein?«
Dom legte das greise Haupt zurück und stieß ein leicht schrilles Lachen aus. »Als Antwort kann ich Ihnen auch diesmal nichts als Fabeln bieten«, erwiderte er, während sich sein Gesicht in vielfältige Runzeln legte. »Manchmal mache ich mir darüber so meine Gedanken, wenn ich sehe, was für Aufzeichnungen über die Geschichte der Menschheit vorhanden sind. Ganz gleich, wie sorgfältig man Aufzeichnungen verwahrt, ordnet und in Computern speichert, im Laufe der Zeit werden sie immer verschwommener. Darstellungen von Ereignissen werden durch häufige Bestätigung des Hergangs jedesmal nur länger. Anekdoten sammeln sich an… geradeso wie Staub. Je ausgedehnter der erfaßte historische Zeitraum ist, um so verstaubter wird Geschichte, bis sie zu Fabeln herunterkommt.«
»Wir Historiker sind mit diesem Prozeß vertraut«, sagte Pelorat. »Unsereins hat sogar eine gewisse Vorliebe für Fabeln, Dom. ›Falsche Dramatik vertreibt das wahre Langweilige‹, hat vor ungefähr fünfzehnhundert Jahren Liebel Gennerat gesagt. Gennerat-Regel nennt man’s heute.«
»Wahrhaftig?« meinte Dom. »Und ich dachte, diese Haltung sei bei mir eine persönliche zynische Anwandlung. Nun ja, jedenfalls erfüllt die Gennerat-Regel die historische Vergangenheit mit Glanz und Ungewißheit. Wissen Sie, was ein Robot ist?«
»Wir haben’s auf Sayshell erfahren«, sagte Trevize mit trockenem Humor.
»Haben Sie einen gesehen?«
»Nein. Man hat uns dort die gleiche Frage gestellt, und als wir verneint haben, ist es uns erklärt worden.«
»Aha, verstehe. Die Menschheit hat einmal mit Robotern gelebt, müssen Sie wissen, aber das hat sich nicht allzu gut bewährt.«
»Das haben wir auch gehört.«
»Die Roboter waren gründlich mit etwas indoktriniert worden, was man die drei Regeln der Robotik nannte, die bis in prähistorische Zeiten zurückgehen. Es gibt mehrere Versionen, wie diese drei Regeln beschaffen gewesen sein sollen. Nach orthodoxer Auffassung haben sie folgendermaßen gelautet: ›Erstens: Ein Robot darf keinen Menschen verletzen oder durch Untätigkeit zu Schaden kommen lassen. Zweitens: Ein Robot muß den Befehlen der Menschen gehorchen — es sei denn, solche Befehle stehen im Widerspruch zur Ersten Regel. Drittens: Ein Robot muß seine eigene Existenz schützen, solange dieser Schutz nicht der Ersten oder Zweiten Regel widerspricht.‹ Während die Roboter an Intelligenz und Vielseitigkeit zunahmen, gingen sie allerdings dazu über, diese drei Regeln, vor allem die erste und wichtigste, immer großzügiger auszulegen und maßten sich in ständig wachsendem Umfang die Rolle von Beschützern der Menschheit an. Diese Art von Schutz lähmte das Leben der Menschen und erwies sich als immer unerträglicher. Natürlich waren die Roboter vollkommen gutartig. Was sie taten, war von eindeutig menschenfreundlichem Charakter und zum Nutzen aller bestimmt — aber das machte alles irgendwie bloß noch unerträglicher. Jeder robotische Fortschritt verschlimmerte die Situation. Roboter mit telepathischen Kapazitäten gelangten zur Entwicklung, und das hieß, Roboter konnten von da an auch die Gedanken der Menschen lesen, und infolgedessen mußte das menschliche Verhalten in noch größere Abhängigkeit von der Oberaufsicht der Roboter geraten. Auch in ihrer äußeren Erscheinung brachten die Roboter es zu einer immer stärkeren Ähnlichkeit mit den Menschen, aber weil sie in ihrem Benehmen unmißverständlich Roboter blieben und trotzdem humanoid aussahen, waren sie für die Menschen in zunehmendem Maße noch abstoßender. So mußte das alles natürlich ein Ende finden.«
»Wieso ›natürlich‹?« fragte Pelorat, der sehr aufmerksam gelauscht hatte.
»Insofern natürlich, als es hier darum geht, die Logik bis zum bitteren Ende zu verfolgen«, sagte Dom. »Zuletzt nämlich waren die Roboter so fortgeschritten und von ausreichend menschenähnlicher Natur, um zu begreifen, warum es Menschen zuwider sein mußte, selbst zum eigenen Wohlergehen um alles Menschliche gebracht zu werden, und auf lange Sicht sahen sich die Roboter zu der Erkenntnis gezwungen, daß es für die Menschheit besser wäre, selber für sich zu sorgen, egal wie achtlos und ineffizient. Ferner heißt es, daß es die Roboter gewesen seien, die infolge dieser Einsicht die Organisation namens Ewigkeit gründeten und eine Realitätsebene ausfindig machten, wo die Menschen unter möglichst sicheren Bedingungen ihr weiteres Schicksal in eigene Hände nehmen konnte — nämlich ganz allein in der Galaxis. Und dann, nachdem sie getan hatten, was sie nur konnten, um uns zu schützen — in wortgetreuester Erfüllung der Ersten Regel der Robotik —, hörten die Roboter aus eigenem Entschluß zu funktionieren auf, und seitdem haben wir Menschen… uns allein weiterentwickelt, so gut wir eben dazu imstande sind.«
Dom schwieg einen Moment lang. Dann ließ er seinen Blick zwischen Trevize und Pelorat hin- und herwandern. »Nun, neigen Sie dazu«, erkundigte er sich, »das alles zu glauben?«
Trevize schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kenne keine historischen Aufzeichnungen, in denen Hinweise auf so was enthalten wären. — Sie, Janov?«
»Es gibt einige Mythen«, konstatierte Pelorat, »die gewisse Ähnlichkeiten aufweisen.«
»Kommen Sie, Janov, es gibt genug Mythen, die in dieser oder jener Hinsicht allem ähneln dürften, was jemand von uns überhaupt aushecken kann, wenn man sich nur um eine genügend erfinderische Interpretation bemüht. Ich rede von Historie — von zuverlässigen Aufzeichnungen.«
»Nun gut. Soviel ich weiß, gibt’s nichts dergleichen.«
»Das überrascht mich keineswegs«, sagte Dom. »Ehe sich die Roboter zurückzogen, verließen zahlreiche Gruppierungen von Menschen ihre Welten und besiedelten in entfernteren Bereichen des Alls roboterlose Welten, um sich eigene Maßstäbe ihrer Freiheit zu schaffen. Sie kamen vor allem von der überbevölkerten Erde mit ihrer langen Geschichte des Widerstands gegen die Roboter. Auf den neuen Welten erfolgten regelrechte Neugründungen, weil man sich an die Zeiten der Erniedrigung als Unmündige unter Robot-Aufpassern nicht einmal noch zu erinnern wünschte. Man zeichnete darüber nichts auf, und folglich geriet es in Vergessenheit.«
»Das finde ich unwahrscheinlich«, bemerkte Trevize.
»Nein, Golan«, erhob Pelorat Widerspruch, »das ist keineswegs unwahrscheinlich. Jede Gesellschaft schreibt ihre eigene Geschichte und hat dabei eine Tendenz, primitive Anfänge zu verschweigen, entweder durch allgemeines Vergessen oder durch das Erfinden irgendwelcher völlig aus der Luft gegriffener heroischer Anfänge. Auch die Herrscher des Galaktischen Imperiums haben Versuche unternommen, jedes Wissen um eine präimperiale Vergangenheit restlos auszumerzen, um ihre mystische Aura ewiger Herrschaft zu verstärken. Zudem existieren so gut wie keine historischen Unterlagen aus der Ära vor dem Beginn der Hyperraumfahrt — und Sie wissen, heute ist den allermeisten Menschen nicht einmal noch bekannt, daß es einmal so etwas wie die Erde gegeben hat.«
»Wenn die Galaxis die Roboter vergessen hat«, wandte Trevize ein, »wie ist es dann möglich, daß Gaia sich noch an sie entsinnt? Man kann schwerlich beides annehmen, Janov.«
Ein plötzliches Gelächter entfuhr Wonne. »Wir sind anders.«
»So?« meinte Trevize. »In welcher Weise?«
»Laß mich antworten, Wonne«, sagte Dom. »Ja, wir sind anders, Menschen von Terminus. Von allen Flüchtlingsgruppen, die sich der Bevormundung durch die Roboter entzogen, haben nur wir, die wir uns auf Gaia niederließen — im Gefolge anderer, die Sayshell besiedelten —, von den Robotern die Gabe der Telepathie zu beherrschen gelernt. Es ist eine Gabe, müssen Sie wissen. Die Veranlagung dazu ist dem menschlichen Verstand inhärent, aber die entsprechende Fähigkeit muß auf sehr subtile und diffizile Art und Weise herausgebildet werden. Es braucht viele Generationen, um das Potential voll zu entwickeln, aber sobald man erst einmal einen guten Anfang gemacht hat, vollzieht sich die Fortentwicklung beinahe im Selbstlauf. Wir praktizieren die Telepathie seit zwanzigtausend Jahren, und trotzdem ist Gaias Kollektivbewußtsein der Überzeugung, daß wir noch immer nicht die volle Nutzung des Potentials erreicht haben. Es ist schon lange her, daß die telepathische Praxis uns die Möglichkeit zur Schaffung eines Kollektivbewußtseins gewiesen hat — zuerst hatten nur Menschen daran teil, dann auch Tiere, danach Pflanzen, und schließlich, vor noch nicht allzu vielen Jahrhunderten, war der Weg geebnet, um auch dem leblosen Gefüge des Planeten selbst eine Teilhabe zu ermöglichen. Weil wir diese Entwicklung auf die Roboter zurückzuführen haben, konnten sie bei uns nicht dem Vergessen verfallen. Wir haben in ihnen weniger unsere Aufpasser als unsere Lehrer gesehen. Wir hatten das Gefühl, daß uns von ihnen die Sinne für etwas geöffnet worden waren, dem wir sie nie wieder, nicht einmal für einen Moment, verschließen wollten. Deshalb erinnern wir uns mit einer gewissen Dankbarkeit an die Roboter.«
»Aber so wie Sie früher einmal Unmündige unter der Obhut von Robotern gewesen sind«, sagte Trevize, »sind Sie heute Unmündige unter der Vormundschaft des Kollektivbewußtseins. Haben Sie nicht heute, genau wie damals, wieder die Menschlichkeit verloren?«
»Dieser Fall ist anders gelagert, Trev. Was wir heutzutage tun, beruht auf unseren eigenen Entscheidungen — auf nichts als unserem eigenen Willen. Das ist es, was zählt. Es wird uns nicht von außen aufgezwungen, sondern es ergibt sich von innen her. Diesen Unterschied übersehen wir niemals. Und wir sind auch noch in anderer Hinsicht anders. Wir sind einzigartig in der Galaxis. Es gibt keine zweite Welt wie Gaia.«
»Wie können Sie sicher sein?«
»Etwas anderes würden wir bemerken, Trev. Ein planetenweites Bewußtsein in der Art, wie unseres beschaffen ist, könnten wir sogar am anderen Ende der Galaxis feststellen. Wir beobachten zum Beispiel erste Ansätze zu einem vergleichbaren Kollektivbewußtsein bei der Zweiten Foundation, allerdings erst seit zwei Jahrhunderten.«
»Zur Zeit des Fuchses?«
»Ja. Er war einer von uns.« Dom machte eine grimmige Miene. »Ein verkommenes Subjekt, das sich von uns losgesagt hatte. Wir waren so naiv und glaubten, so etwas sei unmöglich, deshalb konnten wir nicht mehr früh genug eingreifen, um ihn aufzuhalten. Und dann, als wir unsere Beachtung den extragaianischen Welten schenkten, sind wir auf diese Menschen aufmerksam geworden, die Sie die Zweite Foundation nennen, und ihr haben wir’s überlassen, ihn zu Fall zu bringen.«
Trevize starrte einige Sekunden lang fassungslos geradeaus. »Soviel taugen also unsere Geschichtsbücher!« murmelte er dann und schüttelte erneut den Kopf. »Das war ziemlich feige von Gaia, meinen Sie nicht auch?« fügte er hinzu. »Die Verantwortung lag bei Ihnen.«
»Sie haben recht. Aber sobald wir unsere Aufmerksamkeit endlich wieder einmal den Ereignissen in der Galaxis gewidmet hatten, erkannten wir etwas, für das wir vorher völlig blind gewesen waren, und deshalb ist die Tragödie des Fuchses für uns zur Chance unserer Rettung geworden. Zu dem Zeitpunkt nämlich haben wir bemerkt, daß eine gefährliche Krise bevorsteht. Und sie ist gekommen — doch dank des Zwischenspiels mit dem Fuchs ist es uns gelungen, zuvor geeignete Maßnahmen in die Wege zu leiten.«
»Was für eine Art von Krise soll das sein?«
»Eine Krise des drohenden Untergangs.«
»Das kann ich nicht glauben. Sie haben sich das Imperium, den Fuchs und Sayshell vom Halse gehalten. Sie besitzen ein Kollektivbewußtsein, das sich über Millionen von Kilometer hinweg eines Raumschiffs bemächtigen kann. Was sollten Sie denn zu fürchten haben? Schauen Sie Wonne an! Sie macht auf mich nicht im geringsten einen beunruhigenden Eindruck. Sie meint nicht, daß eine Krise besteht.«
Wonne hatte ein wohlgeformtes Bein über die Armlehne ihres Sessels geschwungen und wippte mit den Zehen in Trevizes Richtung. »Natürlich bin ich nicht beunruhigt, Trev. Sie werden schon damit fertig.«
»Ich?« schnob Trevize mit nachdrücklicher Betonung.
»Durch hundert und mehr behutsame Manipulationen hat Gaia Sie zu uns gebracht«, sagte Dom. »Sie sind es, der unsere Krise bereinigen muß.«
Trevize starrte ihn an, und währenddessen verwandelte sich sein Gesichtsausdruck von Verblüffung in eine Miene wachsenden Zorns. »Ich? Raum und Zeit, wieso ich? Ich habe mit all dem nichts zu schaffen.«
»Trotzdem, Trev«, sagte Dom mit nahezu hypnotischer Ruhe. »Sie. Nur Sie. Im ganzen All nur Sie allein.«