1. Kapitel Talianna

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Das Dorf lag in der Biegung des Flusses, ein Stück schwarzer Kohle, das von einem silber-blau-grün gefleckten Band zu zwei Dritteln umschlungen wurde und während der letzten Jahre begonnen hatte, in die einzige Richtung zu wuchern, die ihm blieb.

Das hieß – nicht ganz.

Ein paar Häuser, erbaut von besonders mutigen – oder besonders dummen – Menschen, ragten ein Stück in den Fluß hinein, auf Stelzen stehend wie verschmorte fette Störche mit zu vielen Beinen oder wie steinerne Schwalbennester unter die Biegung der zerborstenen Brücke geklebt. Einstmals hatte es einen Namen gehabt, dieses stolze, reiche, verbrannte Dorf, das heißt, sogar mehrere: Manche hatten es Laybary genannt, ein Wort aus der Sprache der Ureinwohner dieses Teiles der Welt, die hiergewesen waren, ehe die Menschen kamen und dessen Bedeutung niemand kannte. Andere – später – hatten es Grünau getauft: ein Name, der absolut nicht paßte, aber hübsch klang. Beide Namen waren im gleichen Maße verloren gegangen, in dem die Menschen hier am Fluß die Kraft zu entdecken begannen, die der große silberne Strom mit sich brachte, und sie nutzten; im gleichen Maße, in dem die strohgedeckten Hütten schweren, steinernen Häusern mit schwarzen Schieferdächern wichen, Dächern, über denen gewaltige rauchende Schlote die Geheimnisse verrieten, die unter ihnen schlummerten.

Als die Bewohner Lybarys oder Grünaus damit begannen, Eisen zu machen, war die Stadt häßlich geworden, zu häßlich für einen so wohlklingenden Namen wie Lybary oder gar Grünau – grün waren schon bald allenfalls die Abwässer, die aus den neuerdings kanalisierten Häusern in den Fluß strömten; denn ihre Bewohner schmolzen nicht nur Eisen und Stahl und nach und nach andere Legierungen, sondern aßen und tranken und atmeten – freilich ohne es zu wissen – auch ein gut Teil dessen, was eigentlich in ihren Schmelztiegeln sein sollte. Wenn sie es überhaupt wußten, scherten sie sich nicht darum; allenfalls wunderten sie sich vielleicht, daß die Alten im Dorf nicht mehr ganz so alt wurden wie früher, und daß es mehr Krankheiten gab. Aber die Stadt wurde reich, reich und häßlich und immer größer, und bald bekam sie einen neuen Namen: wer immer im Lande von ihr sprach, nannte sie Stahldorf, und irgendwann übernahmen ihre Einwohner diesen Namen, wenn auch nicht für lange.

Er war verbrannt.

Zusammen mit der Stadt.

In einer einzigen Nacht voller schlagender schwarzer Schwingen und gellender Schreie und Feuer, das vom Himmel regnete und tausendmal heißer war als die Glut der Essen unten auf der Erde, war er verkohlt, zu Asche und Staub und heißem Schlamm geworden, den der Fluß forttrug, das Werk von drei Generationen dahin in einer einzigen Nacht. Die großen Quader aus rostrotem Roheisen waren ein letztes Mal geschmolzen, so daß sie jetzt über großen Teilen des Ruinendorfes ein Leichentuch aus poröser Schlacke bildeten. Die Hoffnungen und Träume von Reichtum und Macht waren verdampft wie die Gehirne, die sie geträumt hatten, und das Gold, das überreichlich gegen scharfgeschliffenen Stahl getauscht worden war, war in den Händen seiner Besitzer weich geworden und zu Boden getropft wie schimmernde Tränen.

Zumindest hatte Stahldorf – das früher einmal Grünau und noch früher Lybary geheißen hatte und das man morgen vielleicht Brandstadt nennen würde – ein Ende gefunden, das seinem kurzen Aufblühen angemessen gewesen war.

Die Vernichtung war vollkommen gewesen, eine schwarze Götterfaust, die mit der Nacht gekommen war und deren Finger weißglühende Narben in der Erde hinterließen. Das landeinwärts, dem offenen Teil der Flußschleife zugewandte Drittel der Stadt war vollkommen zerstört. Zertrümmert, verbrannt und pulverisiert – vielleicht auch in umgekehrter Reihenfolge – bot es sich dar wie das flachgewalzte Innere eines Vulkanes. Wo die geschmolzene Eisendecke gerissen und die bloße Erde sichtbar war, da war sie schwarz und schimmerte, zu Glas geworden.

Das zweite Drittel der Stadt bot einen vielleicht noch schlimmeren Anblick, denn die Zerstörung war hier nicht so vollkommen. Wo die Verheerung so total war, daß sie ihre eigenen Spuren verdeckte, war auch nichts mehr, vor dem man erschrecken konnte.

Hier schon. Ein paar Mauern hatten dem Feuersturm standgehalten, hier und da durch die Laune des Zufalls ein Balken, der wie der Finger eines Ertrinkenden aus einem schwarzen Sumpf aufragte, ein Lagerschuppen, dessen Eckpfeiler und Zwischendecken dem Gewicht von Eisenblöcken angemessen gewesen war und die dem Feuersturm standgehalten hatten, der Dach und Wände fortblies. Wie zum bösen Spott sogar ein Dach, auf dem noch die Hälfte eines Kamins stand, dessen Außenseite jetzt so schwarz war wie die innere. Oder ein schwarzes Etwas, das wie ein zusammengekauerter Mensch aussah, die Arme über den Kopf geschlagen, aber gänzlich mit Eisen bedeckt, wie eine schreckliche Skulptur. Im letzten Drittel der Stadt schließlich standen Ruinen, grau überpudert mit Staub und Asche. Hier und da brannte es noch, und hier und da ragte ein Knochen aus der heißen Asche. Die dem Land zugewandten Teile der Stadt hatten die schlimmste Wut des Feuersturms gebrochen, der mit den tief heranrasenden Bestien aus der Nacht gekommen war.

Hier war das Feuer nur noch Feuer gewesen, keine Höllenglut mehr, die Eisen verdampfte und Stahl zum Schmelzen brachte. Die Bewohner dieses Stadtteils – wie durch eine der kleinen Gehässigkeiten, die das Schicksal so gerne und reichlich verteilte, waren es die reichsten und angesehensten Bürger Stahldorfes gewesen – hatten nicht das Glück gehabt, nicht mehr zu spüren. Sie hatten das Rauschen der gewaltigen schwarzen Schwingen gehört und die Flammen gesehen und die Schreie vernommen, die bald darauf zu ihren eigenen geworden waren. Der Damm aus Häusern, der die Springflut aus Feuer und Tod gebrochen hatte, hatte ihnen ein qualvolleres Ende beschert. Sie hatten ihr Sterben miterlebt. Manche hatten sogar noch Zeit gefunden, aus ihren Häusern zu rennen und in den Fluß zu springen, Rettung erhoffend in der kochenden Flut. Ihre Leichen mußten jetzt, als die Sonne aufging, schon Meilen entfernt sein.

Es gab auch Überlebende: in den Kellern, in den toten Winkeln unter schwarz gewordenen Fensteröffnungen hinter mächtigen Blöcken von Roheisen und Stahl. Ein paar von ihnen hatten sogar noch die Kraft, nach jemandem zu schreien, der ein Messer nehmen und sie von ihren Leiden erlösen möge. Aber nicht sehr viele. Das war es, was Talianna sah, als sie an diesem Morgen aus dem Wald trat und auf ihre Heimatstadt herabblickte.

Eine Hand berührte ihre Schulter. Sie blickte auf. Für einen Moment klammerte sie sich an den wahnsinnigen Gedanken, daß es ihre Mutter sein könne, die wie sie ein Versteck im Wald gefunden hatte und nun kam, um ihr zu sagen, daß alles in Ordnung und sie am Leben sei. Aber es war nicht das schmale, vom Alter und Eisenstaub grau gewordene Gesicht ihrer Mutter, in das sie blickte, es waren Gedelfis verhärmte Züge, eingerahmt von weißem Haar, in dem jetzt Schmutz und Tannengrün und ein Rest von dem Morast klebte, in den er gestürzt war, als er hinter ihr aus dem Stollen gekrochen war.

Nur seine Augen – das waren nicht die blinden Augen Gedelfis, die erloschen waren, ehe die Taliannas zum erstenmal einen Sonnenaufgang sahen, sondern die ihrer Mutter, dunkel und groß und von winzigen Fältchen umgeben, die davon kamen, daß sie so gerne lachte. Aber nur für einen Augenblick; dann wurden sie wieder zu den weißen matten Kugeln, die in Gedelfis Gesicht glänzten. Und als Talianna den Kopf wandte und seine Hand anblickte, die schwer und narbig auf ihrer Schulter lag, sah sie, daß auch seine Fingernägel blutig waren.

»Weine ruhig, Kind«, sagte der alte Mann – es klang wie die Stimme ihrer Mutter, aber mit der klaren, fast überpräzisen Aussprache, die sie von Gedelfi kannte.

»Weine ruhig«, sagte er noch einmal. »Es wird dir helfen.«

Talianna weinte nicht.

Aber nach einer Weile wandte sie sich gehorsam um, dem sanften Druck seiner alten Hand folgend, und ging neben ihm her den Hang hinab, über die mit Asche bedeckte Wiese und auf die in den Boden eingeschmolzene Grenze der Stadt zu, ein blinder Mann und ein Kind, das ihn führte.

Aber in diesem Moment sah das Kind so wenig von dem Schrecken, der sich vor ihnen ausbreitete, wie er. Sie sah Drachenschwingen, die die Nacht peitschten.

2

Die Asche war noch warm, und der Boden darunter so heiß, daß sie es durch die dünnen Sohlen der Sandalen hindurch spüren konnte. Ihre Schritte ließen kleine graue Staubwölkchen wie winzige Explosionen hochwirbeln, und in der Luft lag ein Geruch, den das Mädchen niemals im Leben wieder vollkommen vergessen sollte. Sie hatte den am schlimmsten zerstörten Teil der Stadt umgangen, nicht aus Furcht oder Pietät, sondern einfach der praktischen Überlegung, daß der alte Mann an ihrer Seite auf dem zu spiegelglattem Glas erstarrten Boden unter der Asche ausgleiten und sich verletzen mochte, und jetzt hatten sie den Fluß erreicht. Sein Wasser war warm. Grauer Dampf stieg von seiner Oberfläche hoch und berührte ihr Gesicht mit der unangenehmen Klebrigkeit von Spinnweben. Hier und da schienen sich kleine Nester von Glut und Hitze unter seiner Oberfläche gehalten zu haben; denn an manchen Stellen kochte es regelrecht. Schwarze Schlieren tanzten auf den Wellen. Und manchmal trug die Strömung formlose, dunkle Brocken heran; ab und zu auch etwas Größeres, das sie nicht erkennen konnte und wollte.

»Wo sind wir?«

Gedelfis Stimme klang brüchig; so morsch wie die dünne Kruste, über die sie gingen, und ebenso in Gefahr, jeden Moment einzubrechen. Die Hand, die auf Taliannas Schulter lag, bewegte sich nicht, aber anders, als sie es gewohnt war, war ihr Griff beinahe schmerzhaft fest, nicht mehr leicht und freundlich.

So lange sie denken und laufen konnte, war es ihre Aufgabe gewesen, den blinden alten Mann zu führen, und die Berührung seiner rissigen Haut war ihr so vertraut, als wäre es ein Stück von ihr selbst. Aber immer war sein Griff sanft und irgendwie dankbar gewesen, weil sie es war, die ihn vor Schaden bewahrte und ihm die Augen ersetzte, die er nicht mehr hatte. Jetzt klammerte er sich an ihr fest; mit der verzweifelten Kraft eines Menschen, der wußte, daß er in einen Abgrund stürzen mußte, wenn er seinen Halt losließ. Es tat weh.

»Wo sind wir, Talianna?« fragte Gedelfi noch einmal, als sie nicht antwortete.

»Am Fluß«, sagte sie hastig. »Am...« Sie stockte, fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen, die plötzlich rissig und heiß waren und schmerzten, und begann von neuem. »An der Stelle, an der das Waschhaus stand.«

»Ist es zerstört?«

Talianna schüttelte den Kopf. Ihr Haar glitt dabei über den Handrücken des Alten, so daß er die Bewegung spürte. »Nein«, sagte sie. »Es ist fort.«

»Fort.« Gedelfi wiederholte das Wort mit dem sonderbaren Schmatzlaut, mit dem alte Menschen manchmal reden. Aber es war eher, als prüfe er seinen Geschmack.

»Fort.«

Talianna nickte. Das Waschhaus, halb auf dürren Stelzbeinen in den Fluß gebaut, so daß sich die Frauen auf seinen durchbrochenen Boden knien und ihre Wäsche waschen konnten, war eines der wenigen nicht aus Stein erbauten Häuser Stahldorfs gewesen, und so waren nicht einmal Ruinen geblieben. In der warmen Asche am Ufer waren noch die Schemen seines Grundrisses zu erkennen, und dicht unter den sprudelnden Fluten standen die abgesenkten Stümpfe seiner Stützen, aber das war alles. Der Feuersturm mußte es pulverisiert haben; vielleicht hatte er es wie ein trockenes Blatt zur Gänze angehoben und in der Luft zerrissen; vielleicht war es auch einfach in den Fluß gestürzt und davongeschwemmt worden. Es blieb sich gleich.

Talianna verstand für einen Moment selbst nicht, warum sie das Schicksal dieser unbedeutenden Bretterbude so interessierte, bis sie begriff, daß da wohl irgend etwas in ihrem Bewußtsein war, was nicht wollte, daß sie darüber nachdachte, was mit dem Rest der Stadt geschehen war. Wäre sie allein gewesen, hätte sie wohl spätestens an dieser Stelle kehrt gemacht und die Stadt verlassen.

Aber sie war nicht allein. Gedelfi, dessen Auge sie war, war bei ihr, und hinter sich hörte sie die Schritte und Stimmen der anderen, die nach und nach den Hügel herabgekommen waren. Den Blinden und sie mitgerechnet, waren sie elf, die sich in dem aufgelassenen Minenschacht verkrochen hatten, als der Feuerregen begann, elf von mehr als dreitausend. Ein jämmerlicher Haufen Verlorener, zu dem nicht einmal mehr das Wort Überlebende gepaßt hätte. Überleben bedeutet Weiterleben, und Weiterleben hieß vielleicht Hoffnung und ein neuer Anfang – oder wenigstens den Versuch dazu. Nichts von alledem war ihnen geblieben. Sie lebten, das war alles.

Erneut wunderte sich Talianna über sich selbst, über die Gedanken, die plötzlich in ihrem Kopf waren und die sie noch vor wenigen Stunden nicht einmal verstanden hätte. Und mit der gleichen sonderbaren Klarheit, mit der sie sie jetzt begriff, begriff sie plötzlich auch, daß sie in der endlosen schwarzen Feuernacht im Bauche der Erde mehr verloren hatte als ihre Heimat und ihre Familie. Der fliegende Tod hatte sie verschont, aber sein Feuer hatte ihr etwas genommen, was sie noch gar nicht gehabt hatte, jedenfalls nicht genug, und was sie nun auch nicht mehr haben würde.

Sie war noch immer zehn Jahre alt und noch immer ein wenig zu dünn und manchmal etwas linkisch in ihren Bewegungen und ihrer Art zu reden – aber sie war kein Kind mehr. Sie dachte an ihren Vater und ihre Mutter und Rosaro, ihren um zehn Jahre älteren Bruder, an ihr Haus, das nicht zu den prachtvollsten der Stadt gehört hatte, aber auch ganz und gar nicht zu den kleinsten, an ihre Freunde und Spielkameraden, und sie empfand – nichts.

Voller Schrecken begriff sie, daß sie ihre Fähigkeit zu trauern verloren hatte. Der Anblick der geschändeten Stadt erfüllte sie mit Entsetzen, aber es war ein Schrecken, der eher dem Erstaunen darüber entsprang, daß eine solch totale Zerstörung überhaupt möglich war. Wind kam auf und trug grauen Staub über den Fluß. Talianna hustete, hob die linke Hand vor das Gesicht und beschirmte damit ihre Augen. Den Staub vermochte sie auf diese Weise abzuwehren, den Brandgeruch und die furchtbare schmierige Wärme nicht. Plötzlich ekelte sie sich.

»Wie... sieht es aus?« sagte Gedelfi stockend. »Sag es mir, Talianna.«

Talianna gehorchte. Langsam, aber ohne zu stocken und mit überraschend klarer, fester Stimme beschrieb sie dem Blinden, was sie sah, jede noch so winzige Einzelheit; angefangen von der knöcheltiefen Staub- und Ascheschicht auf dem Boden über das verbrannte Mauerwerk, in das die Hitze bizarre Muster geätzt hatte, über die leeren Fenster und Türen, die wie ausgebrannte Augenhöhlen auf sie herabstarrten und die Straßen, die mit formlos zusammengeschmolzenen Dingen vollgestopft waren; das Wasser des Flusses, das jetzt schwarz war und brodelte und eine schreckliche Fracht mit sich trug, und die Brücke, die wie ein ausgestreckter Arm über den Fluß führte, erstaunlicherweise kaum beschädigt, bis zu der Stelle, an der sie zersplittert war, die geknickten Tragbalken und Streben gebrochenen Fingern gleich, die ins Leere griffen.

Gedelfi hörte schweigend zu. Nicht einmal sein Atem ging schneller, während Talianna ihm all die unbeschreiblichen Schrecknisse beschrieb, die sie sah, mit der klaren, präzisen Wortwahl einer Erwachsenen und der grausamen Detailfreude einer Zehnjährigen.

Erst, als sie zu Ende gekommen war und schwieg, löste sich die Hand des Blinden von ihrer Schulter, und wie sie es immer tat, wenn sie Gedelfis Berührung nicht mehr spürte, drehte sie sich zu ihm um und blickte ihn an.

Sie erschrak. Gedelfis Gesicht war ausdruckslos, aber es war jene Art von Beherrschtheit, hinter der sich pures Entsetzen verbarg. Seine Hände zitterten ganz leicht. Mit einem Male kam er ihr alt vor, unendlich alt. Niemand hatte ihn jemals gefragt, wie alt er wirklich war – siebzig sicherlich, vielleicht aber auch achtzig Jahre oder mehr, und zum allerersten Male überhaupt begann Talianna zu ahnen, was diese Zahl wirklich bedeutete.

»So schlimm?« murmelte er.

Sie nickte. Dann, als ihr einfiel, daß er die Bewegung nicht spürte, weil seine Hand nicht auf ihrer Schulter lag, sagte sie: »Ja. Es ist nichts mehr übrig. Das Dorf ist ausgelöscht.«

Gedelfi schauderte ein wenig – von ihnen allen hatte er als erster gewußt, wie umfassend die Katastrophe war, die über das Dorf hereingebrochen sein mußte. Denn während sie zitternd und schreiend vor Angst in der Schwärze des Minenschachtes gelegen und nur ein dumpfes Grollen und Beben der Erde gespürt und dann und wann Laute gehört hatten, die zwar entsetzlich, aber ohne wirkliche Bedeutung gewesen waren, hatten ihm die übersensiblen Sinne eines Blinden deutlich gesagt, was wirklich geschah.

Und dann, mit einiger Verspätung, begriff Talianna, daß Gedelfis Schaudern ihr galt.

»Was ist das, Talianna?« fragte er. »Was geschieht mit dir?«

»Ich... verstehe nicht«, antwortete Talianna. »Was meinst du?«

Gedelfi antwortete nicht gleich. Er schwieg sogar eine ganze Weile, aber der Ausdruck von... Furcht?... auf seinen Zügen blieb, als er weitersprach: »Da ist etwas in deiner Stimme, Kind. Etwas, das vor einer Stunde noch nicht da war. Es macht mir Angst.«

»Meine Eltern sind tot«, erinnerte Talianna. »Mein Heim ist verbrannt, meine Stadt ist zerstört, und fast alle, die ich gekannt habe, sind umgebracht worden.« Plötzlich bebte ihre Stimme vor Zorn, aber es war ein kalter, eisiger Zorn, der sie fast selbst ein bißchen schaudern ließ. »Jemand ist hierhergekommen und hat all diese Leute umgebracht, und er hat alles vernichtet, was sie aufgebaut haben, und hat –« Ihre Stimme versagte, nicht vor Schmerz, sondern einfach, weil ihr die Worte fehlten, so schnell, wie sie sie hervorsprudeln wollte. Sie atmete hörbar ein.

Gedelfi schüttelte den Kopf. Seine Augen waren weit und dunkel und genau auf ihr Gesicht gerichtet, fast, als könne er sie sehen. »So spricht kein Kind«, sagte er, sehr leise, aber auch sehr bestimmt.

Und plötzlich begann Talianna zu weinen: laut, krampfhaft und so heftig, daß ihr der Hals weh tat und ihren Beinen plötzlich die Kraft fehlte, sie weiter zu tragen. Sie sank auf die Knie, verbarg das Gesicht in den Händen und schluchzte hemmungslos. Sie wußte nicht warum, denn sie fühlte noch immer keinen Schmerz, nicht einmal Trauer, aber sie konnte die Tränen auch nicht zurückhalten. Und aus dem gleichen, scheinbar nicht vorhandenen Grund, aus dem sie überhaupt weinte, erleichterte es sie jetzt doch. Wenn auch nur ein ganz kleines bißchen.

Gedelfi sank neben ihr in die Hocke, streckte tastend die Hand aus, um nach einem Halt zu suchen, und legte die andere auf ihre Schulter, in der gewohnten, warmen Art, nicht einmal in dem Versuch, sie zu trösten. Irgendwann versiegten ihre Tränen, aber sie blieb weiter so sitzen, und plötzlich, und wieder, ohne daß sie wußte warum, fuhr sie herum, warf sich an die Brust des alten Mannes und klammerte sich mit aller Kraft an ihm fest.

»Warum haben sie das getan?« flüsterte sie.

Gedelfis Hand berührte ihr Haar, streichelte es sanft und fiel wieder auf ihre Schulter herab. »Ich weiß es nicht, mein Kind«, sagte er schließlich. »Manchmal geschehen Dinge aus Gründen, die wir nicht verstehen, und manchmal auch ohne Grund.«

»Aber es war so sinnlos!« protestierte Talianna.

»Nichts ist sinnlos«, widersprach der Alte. Er lächelte, aber es war eigentlich nur ein Verziehen der Lippen, das ebensogut ein Ausdruck von Schmerz sein mochte. Oder Wut.

»Weißt du, Talianna«, fuhr er fort, »wenn ich jetzt zehn Jahre jünger wäre und mich noch für weise und erfahren halten würde, dann würde ich dir eine Menge Dinge sagen, die du nicht verstehen würdest. Ich könnte sagen, daß du nicht verzweifeln sollst oder stark sein mußt, oder daß du schließlich am Leben bist und noch jung und eine gute Chance hast, noch glücklich zu werden.«

Er legte eine kleine Pause ein. Talianna grub den Kopf aus den Falten seines zerschlissenen Gewandes und sah zu ihm auf.

»Ich werde nichts von alledem sagen«, fuhr Gedelfi fort.

»Es wäre nicht wahr, weißt du? Wenn du Trauer verspürst, dann trauere ruhig, und wenn du verzweifelst, dann kämpfe nicht dagegen.«

Talianna wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Ihre Nase lief. Sie zog sie hoch, angelte nach einem Zipfel ihres Kleides und schneuzte sich lautstark.

»Es ist sinnlos, dagegen zu kämpfen«, fuhr Gedelfi fort, nach einer neuerlichen, langen Pause, als hätte er Zeit gebraucht, sich die Worte zurechtzulegen, vielleicht auch neue Kraft zu sammeln. »Es ist das Schicksal, weißt du? Es ist schrecklich und ungerecht und mag dir sinnlos erscheinen, aber es ist hunderttausendmal geschehen, seit es Menschen gibt, und es wird hunderttausend weitere Male geschehen, solange die menschliche Rasse besteht.«

Talianna verstand nicht, was Gedelfi meinte. Einen Moment lang überlegte sie, ob in seinen Worten vielleicht ein Sinn verborgen war, den sie nicht erkannte. Aber vielleicht war er auch einfach nur alt und redete den Unsinn, den alte Menschen manchmal redeten; und mit der Überzeugungskraft, mit der sie es taten. Trotzdem fragte sie: »Warum tut es dann so weh, Gedelfi?«

»Weil es uns zeigt, daß wir verwundbar sind«, antwortete der Blinde. »Weißt du, Kind, es ist so einfach, daß es vielleicht gerade deshalb die meisten niemals erkennen. Die Welt ist voller Unglück, aber weil sie so groß ist und es so viel Leid gibt –« Er lachte schrill. » – stößt der allergrößte Teil dieses Unglückes nun einmal anderen zu. Und das macht uns stark.«

»Stark? Wieso?«

Gedelfi nickte. »Weil es anderen geschieht, und nicht dir. Du fühlst dich sicher, weil du lebst, wenn neben dir ein anderer im Sumpf ertrinkt. Dein Haus kann nicht brennen, weil es das deines Nachbarn war, das der Blitz traf, und du bist auch gegen Verletzungen gefeit, weil nicht du, sondern dein Bruder von Wölfen angefallen und zerrissen worden ist. Natürlich«, fügte er mit einem leisen, nicht sehr humorvollen Lachen hinzu, »weißt du ganz genau, daß das nicht stimmt, denn du hast ja Verstand und kannst dir an deinen zehn Fingern abzählen, daß du irgendwann einmal an der Reihe bist. Und trotzdem glaubst du es nicht. Bis es dich dann trifft.« Er seufzte. »Das ist es, was weh tut, Kind. Es ist nicht Liebe, wenn sie an den Gräbern ihrer erschlagenen Männer weinen. Es ist Angst. Angst und Zorn, weil ihnen etwas weggenommen wurde. Du weinst um diese Stadt und deine Eltern und Freunde, und du denkst, es wäre Trauer, und solange du das denken willst, tu es ruhig. Aber es ist nicht wahr. Du weinst, weil sie dir weggenommen wurden. Weil man dir etwas genommen hat, das dir allein gehört hat, keinem sonst.«

»Ich habe meine Eltern geliebt«, widersprach Talianna heftig. Aber wieder schüttelte Gedelfi nur den Kopf.

»So etwas wie Liebe gibt es nicht«, sagte er leise. »Es gibt nur Eigennutz. Du kannst dich für einen Menschen, den du liebst, opfern, und viele haben es getan. Aber in Wahrheit tust du es doch nur, um dein Eigentum zu schützen.«

Gedelfi sprach nicht weiter, sondern wandte den Kopf und starrte aus seinen erloschenen Augen zum Fluß hinab, und Talianna dachte sehr lange über das nach, was er ihr gesagt hatte. Sie maßte sich nicht an, zu urteilen, ob er nun weise oder einfach nur zu alt war – aber seine Worte hatten irgend etwas in ihr berührt, und vielleicht hatte sie plötzlich Angst vor ihm. Sie war verwirrt. Und so hilflos und allein, wie es ein zehnjähriges Mädchen nur sein konnte, dessen Welt vor wenigen Stunden in Feuer und Rauch aufgegangen war, im wortwörtlichen Sinne. Und sie fragte sich, ob es sich lohnte, so alt wie Gedelfi zu werden, wenn dies die Erkenntnis war, die man aus einem achtzig Jahre währenden Leben zog. Trotzdem kuschelte sie sich noch enger an Gedelfis Brust, denn trotz allem war sie noch immer ein zehnjähriges Mädchen, dem nichts so viel Trost zu spenden vermochte wie die Nähe eines Erwachsenen.

»Hast du gesehen, aus welcher Richtung sie kamen?« fragte Gedelfi plötzlich.

Talianna nickte. »Von Norden«, antwortete sie.

»Norden.« Gedelfi wiederholte das Wort, als wäre es die Bestätigung von etwas, das er längst gewußt hatte.

»Waren es viele?«

Talianna schüttelte den Kopf. »Nein. Zehn... vielleicht zwölf. Ich weiß es nicht. Es war zu dunkel. Ich... konnte nicht viel erkennen. Nur Schatten und dann das Feuer.«

Ihre Stimme versagte. Gedelfis Frage und ihre Antwort ließen die Bilder vom vergangenen Abend wieder vor ihren Augen erscheinen wie bizarre Impressionen eines Geschehens, von dem sie nur einen Bruchteil erkannt hatte: die fliegenden Kolosse, die mit absurder Leichtigkeit tief über die Hügelkette herangesegelt gekommen waren, die Schwingen weit gespreizt und reglos wie die aberwitzig großer Mauersegler, dann ein ungeheuerliches Schlagen und Rauschen und schließlich Feuer, Feuer, Feuer überall. Ein sengender Blitz, der auch nach ihr gestochen hatte, in irrsinnigem Zickzack auf sie zurasend und eine Spur weiß geschmolzener Erde vor dem Waldrand hinterlassend, ehe er abbrach, zehn Schritte vor ihr und schon so heiß, daß ihr sein Gluthauch Wimpern und Brauen versenkt hatte.

»Sonst hast du nichts gesehen?« fragte Gedelfi. Sie hatte etwas gesehen, und obwohl ihr die Erinnerung all den Schrecken und das Entsetzen brachten, die beim Anblick der verstümmelten Stadt fehlten, zwang sie das Bild noch einmal mit Gewalt vor ihre Augen. Es wäre nicht nötig gewesen, um Gedelfis Frage zu beantworten, und es tat nur weh. Aber es gehörte einfach dazu.

»Es waren... Reiter auf den Drachen«, antwortete sie.

»Reiter«, wiederholte Gedelfi. In seiner Stimme war keine Spur von Überraschung oder Unglauben. »Bist du sicher?«

»Ganz sicher«, sagte Talianna.

»Also doch«, murmelte Gedelfi. Talianna verstand nicht, was er damit sagen wollte, aber es war etwas in seiner Stimme, was sie frösteln ließ. Er atmete hörbar ein.

»Sag es niemandem, Talianna«, fuhr er dann leise fort.

»Hörst du? Niemandem. Ganz gleich, was geschieht. Das Beste wird sein, du vergißt es. Nicht nur für dich.« Das Nicken, mit dem Talianna auf seinen Rat antwortete, war zum Teil eine Lüge. Die Hälfte seiner Bitte würde sie erfüllen. Die andere nicht. Niemals.

3

Natürlich kam der Schmerz doch, später. Mit jeder Sekunde, die verging, wurde er ein ganz kleines bißchen heftiger, aber gleichzeitig – und ohne daß das eine das andere irgendwie beeinträchtigt hätte – nahm auch die betäubende Leere in ihrem Inneren zu. Der Tag verging, ohne daß sie hinterher genau zu sagen gewußt hätte, wie: Stunden, in denen sie reglos am Fluß saß und mit starrem Blick ins Leere sah, wechselten mit solchen voller hemmungslos fließender Tränen und qualvollem Schluchzen und Weinen ab. Gedelfi saß die ganze Zeit bei ihr, und obwohl ihr eine dünne boshafte Stimme zuflüsterte, daß der Blinde, hilflos wie er war, ja gar keine andere Wahl hatte, redete sie sich ein, daß er geblieben war, um sie zu trösten.

Irgendwann wurde es dunkel, und kurz darauf glomm nicht sehr weit hinter ihr ein Feuer auf. Seltsamerweise war es das Prasseln der Flammen, das sie aus ihrer dumpfen Trauer riß. Obwohl es ein Laut war, der sie mit Schrecken und neuer Panik hätte erfüllen müssen, erzeugte er nur Gedanken an Wärme und Geborgenheit und Schutz in ihr.

Sie stand auf, nahm Gedelfi behutsam an der Hand und half dem alten Mann beim Aufstehen; ein Unterfangen, das gar nicht so einfach war, denn Gedelfis alte Knochen waren steif geworden vom stundenlangen Sitzen. Talianna war sicher, daß ihm die Bewegung große Schmerzen bereitete, aber er erhob sich klaglos und folgte ihr, als sie auf das Feuer zuging, und die wenigen Schatten, die sich davor abzeichneten.

Es war sehr still; das Knacken und Bersten der brennenden Scheite klang sonderbar unwirklich, als wäre es der einzige Laut in einer Welt aus Stille. Niemand sprach, auch nicht, als Talianna und Gedelfi näherkamen und sich schweigend in dem Kreis erschöpfter Gestalten niederließen. Während des Tages hatten sie alle auf ihre Weise auf das Unvorstellbare reagiert, das sie gesehen hatten: die einen mit Weinen und Wehklagen, andere mit Flüchen und Verwünschungen oder beidem, und eine Frau, deren Namen Talianna nicht kannte, war stundenlang durch die verkohlten Trümmer gestolpert und hatte den Namen ihres Mannes geschrien, bis einer der anderen sie mit einem Schlag ins Gesicht zum Verstummen gebracht hatte. Jetzt aber waren sie alle in brütendes Schweigen verfallen. Talianna registrierte mit einer Art teilnahmslosem Entsetzen, daß sie noch immer nur elf waren, und mit einem Male war sie vollkommen sicher, daß sie auch nicht mehr werden würden. Die anderen, die in blindem Entsetzen aus der Stadt und in die Minen jenseits des Flusses geflohen waren, würden nicht mehr kommen. Der Tod mußte sie auch in ihrem hundert Meter tief unter der Erde liegenden Versteck erreicht haben. Mußte? Beim Schlund – sie hatte die Feuersäule gesehen, die aus dem Berg gebrochen war wie aus dem Herzen eines lavaspeienden Vulkans!

Mit dem Abend stieg ein kühler Hauch vom Fluß auf, und Talianna rutschte ein wenig näher ans Feuer heran. Absurderweise mußte sie daran denken, daß heute ein Feiertag gewesen war, der höchste Feiertag Stahldorfs überhaupt, und daß sie auch wenn es anders gekommen wäre jetzt um ein Feuer gesessen hätten, nur nicht elf, sondern dreitausend, und nicht verstummt vor Entsetzen und Schmerz, sondern lachend und fröhlich und viele von den Erwachsenen betrunken und ausgelassen.

Einen Moment lang fragte sie sich, ob es vielleicht eine besondere Ironie des Schicksals gewesen war, daß ihr dieser Tag das Leben gerettet hatte, ihr und den anderen. Wären sie und Gedelfi und die neun anderen Männer und Frauen nicht kurz vor Dunkelwerden noch einmal in den Wald hinaufgegangen, um Dämmerpilze für das große Festessen am nächsten Tag zu sammeln, wären auch sie jetzt tot. Und ganz plötzlich wußte sie, daß es kein Zufall gewesen war.

Stahldorf war eine gewaltige Stadt gewesen – wenigstens für die Begriffe eines zehnjährigen Kindes wie Talianna – und es gab im ganzen Jahr wohl nur einen einzigen Abend, an dem alle ihre Einwohner in den Häusern waren, in dem sie ihre Arbeit in den Minen oder am Fluß, ihre Felder und Kohlemeiler im Wald verließen und gemeinsam das Mitsommerfest vorbereiteten.

Oh ja, dachte sie bitter. Sie hatten genau gewußt, warum sie ausgerechnet an diesem Abend gekommen waren, diese großen finsteren Gestalten auf ihren gewaltigen Tieren.

Die Frau rechts neben Talianna bewegte sich. Sie sah auf, blickte Talianna und Gedelfi an und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Sie sah aus wie jemand, der unvermittelt aus einem sehr tiefen Schlaf erwacht war. »Sie sind alle tot«, murmelte sie. Dann lächelte sie, und ihre Augen funkelten wie die einer Wahnsinnigen. »Niemand lebt mehr. Sie sind alle tot.« Talianna erkannte sie jetzt – es war die Frau, die geschlagen worden war, weil sie stundenlang den Namen ihres Mannes geschrieen hatte. Jetzt waren ihre Tränen versiegt. Ihre Stimme klang überrascht und milde verärgert. »Sie sind selbst Schuld, nicht wahr? Sie haben es doch gewußt, oder nicht?« Die Frage war an niemanden gerichtet, und niemand antwortete; trotzdem richtete sie sich plötzlich stocksteif auf, sah sich mit kleinen hektischen Bewegungen um und fragte noch einmal: »Sie wußten es doch, oder?«

»Halt endlich das Maul, Weib«, murmelte der Mann, der sie schon einmal zum Schweigen gebracht hatte. Talianna wußte seinen Namen nicht, aber sie kannte ihn: in einer Stadt von dreitausend Seelen gab es kaum jemanden, den sie nicht gekannt hätte. Er war Händler gewesen und hatte ein prachtvolles Haus am unteren Ende der Straße gehabt, dort, wo jetzt nur der poröse schwarze Ozean aus Eisen die Erde bedeckte. Talianna erinnerte sich, daß er immer sehr freundlich zu ihr gewesen war, und daß sie ihn gemocht hatte, wie man einen Fremden mögen kann, den man nur vom Sehen kennt. Er war sehr groß: ein Mann von fast zwei Metern, mit den Händen eines Schmiedes und der sanften Stimme eines Priesters. Jetzt klang seine Stimme rauh, seine Hände waren schwarz und blutig vom Graben in den Trümmern, und irgendeine düstere Magie hatte ihn zur Statur eines großen, buckeligen Zwerges schrumpfen lassen.

»Aber sie hat recht«, sagte Gedelfi leise. »Und du weißt es. Wir alle haben es gewußt.«

Der Mann ballte zornig die Fäuste und warf Gedelfi einen drohenden Blick zu, den der Alte natürlich nicht sehen konnte. »Du sollst schweigen!« sagte er drohend.

»Ich kann euer Gewinsel nicht mehr hören!«

Gedelfi verstummte tatsächlich, denn wenn er auch die drohende Gebärde des Riesen nicht sehen konnte, hörte er um so deutlicher den hysterischen Unterton in seinen Worten. Die Frau jedoch verstummte nicht, sondern begann im Gegenteil leise und sehr schrill zu kichern. »Wir haben es alle gewußt, Aru«, sagte sie, und Talianna erinnerte sich jetzt, daß dies auch der Name war, den sie geschrieen hatte. Sie antwortete nicht auf die Worte des Riesen, sondern sprach mit ihrem toten Mann. »Es ist die Strafe der Götter. Unsere Eltern haben es uns gesagt, so wie ihre Eltern es ihnen gesagt haben. Die Alten haben gewußt, daß es geschehen würde.«

»Gewußt!« Der Riese spie in die Flammen. »Dummes Geschwätz. Die Götter! Ha! Das waren –«

»Sie haben es gewußt«, beharrte die Frau. »Und auch wir. Sie haben gewartet, weil ihre Geduld groß ist, aber jetzt sind sie gekommen und haben uns bestraft.«

»Wenn du nicht gleich das Maul hältst, werde ich dich bestrafen, blödes Weib«, sagte der Riese. Aber sein Zorn war aufgebraucht. Er sagte es in einer Art, die deutlich machte, daß er seine Drohung nicht wahrmachen würde. Talianna hörte der bizarren Unterhaltung mit einer Mischung aus Neugier und Verwirrung zu. Irgendwie glaubte sie zu spüren, daß die Worte der Frau nicht nur das Gestammel einer Wahnsinnigen waren, sondern eine Wahrheit enthielt, von der sie bisher nichts gewußt hatte.

Die Götter? dachte sie. Von welchen Göttern sprach die Frau? Es gab Dutzende von Göttern allein hier im Dorf, Tausende auf der ganzen Welt, und vielleicht hatte jeder Mensch, der überhaupt lebte, seinen ganz persönlichen Gott.

Aber Götter ritten nicht auf flammenden Drachen durch den Himmel.

4

Der nächste Morgen fand sie auf einer Ebene aus erstarrtem Eisen stehend, die Augen rot vor Müdigkeit, zitternd vor Schwäche, mit klopfendem Herzen und den Reitern entgegenblickend, die über den Hügel kamen. Im blassen Licht der Sonne, die erst zu einem Drittel über den Horizont gestiegen war, wirkten sie wie schwarze Scherenschnitte, zwei, drei Dutzend oder mehr, die sich den Hügel hinabbewegten und dabei auf breiter Front ausschwärmten.

Sie war nicht allein, denn bis auf Gedelfi und die verrückt gewordene Frau waren ihr alle gefolgt, die ihren Schrei gehört hatten, um den Männern entgegenzueilen. Talianna hatte Angst. Es war ihr unmöglich, still zu stehen, denn der Boden unter ihren Füßen war so heiß, daß ihre Sohlen schmerzten. Unter der Decke aus erstarrtem Eisen mußte noch immer Glut sein, als wäre die Erde so tief verwundet, daß sie Feuer blutete. Etwas an diesen Reitern erschreckte sie, und ein Blick in die Gesichter der anderen zeigte ihr, daß sie mit diesem Gefühl nicht allein war.

Natürlich hatten sie auf sie – oder jedenfalls Männer wie sie – gewartet. Das ungeheure Feuer mußte gesehen worden sein, und die Menschen würden von überallher heibeiströmen, um zu helfen. Tatsächlich hatte sich mehr als einer während der Nacht schon gewundert, daß es so lange dauerte, bis Hilfe oder wenigstens die ersten Neugierigen eintrafen; denn die nächstgelegene Stadt lag nur einen halben Tagesritt entfernt, und tatsächlich war der Weg von dort nach Stahldorf in dieser Nacht bereits mit den Leichen derer gepflastert, die sich aufgemacht hatten, um ihnen zu helfen. Aber das ahnten weder Talianna noch einer der anderen. Nein – sie spürten nur, daß irgend etwas an diesen Reitern nicht so war, wie es sein sollte.

Es waren sehr viele, und als sie näher kamen, erkannte Talianna, daß nicht alle von ihnen menschliche Wesen waren, und längst nicht alle auf Pferden ritten. Und auch ihre Art, sich der Stadt zu nähern – auf breiter Front und langsamer, als es beim Anblick einer zerstörten Stadt und einer Handvoll Überlebender zu erwarten wäre – erinnerte Talianna auf bedrückende Weise viel eher an den Anblick einer heranrückenden Armee als eines Hilfstrupps.

Keiner von ihnen rührte sich, während die Reiter näherkamen. Etwa ein Dutzend von ihnen näherte sich der kleinen Gruppe verängstigter Menschen bis auf wenige Schritte und hielt an, während die übrigen in einer weit ausholenden Zangenbewegung die Stadt einzuschließen begannen. Die Pferde bewegten sich unruhig auf dem heißen Boden. Ihre Reiter hatten Mühe, sie im Zaum zu halten. Es roch ganz leicht nach heiß gewordenem Horn.

Talianna blickte mit klopfendem Herzen zu den Reitern empor. Die Männer waren ausnahmslos groß und von kräftiger Statur, und sie zweifelte nun nicht mehr daran, daß es eine Armee war, der sie gegenüberstanden; denn Kleidung und Waffen der Reiter waren nicht die einfacher Reisender, sondern die von Kriegern. Die meisten trugen lange Schwerter aus Bronze oder messerscharf geschnittenem Obsidian im Gürtel, andere Äxte oder Keulen und so mancher eine Waffe, die sie nie zuvor gesehen hatte. Obwohl sie keine Uniformen trugen und ihre Kleider ein bunt zusammengewürfeltes Sammelsurium aus Fellen und Leder und Stoff darstellte, ähnelten sie sich auf schwer in Worte zu fassende Weise. Irgend etwas war in ihren Gesichtern – selbst in denen der drei nicht-Menschen, die bei dem Dutzend Reiter war – das sie verband.

Talianna fröstelte. Die Männer machten ihr Angst. Und sie war nicht allein mit diesem Gefühl, denn die acht Erwachsenen, die mit ihr hergekommen waren, um die Reiter zu begrüßen, schwiegen so verbissen wie sie. Niemand sprach ein Wort der Erleichterung, niemand begann zu weinen oder eilte den Männern entgegen, um sie zu umarmen – nichts von dem, was Talianna erwartet hatte, geschah. Der Anblick des Dutzends waffenstarrender Reiter allein reichte aus, ihnen allen zu sagen, daß sie Feinden gegenüberstanden.

Schließlich war es einer der Fremden, der das Schweigen brach. »Was ist hier geschehen?« fragte er, mit einer Stimme, die in krassem Widerspruch zu seinem vernarbten Gesicht und seinen schwieligen Fäusten stand. Sie klang sehr sanft, trotz des fordernden Tones, den er in seine Worte gelegt hatte.

Niemand antwortete. Der Reiter runzelte die Stirn, schwang sich mit einer überraschend geschmeidigen Bewegung vom Rücken seines Pferdes und maß das kümmerliche Häufchen angstzitternder Überlebender mit einem langen Blick.

Talianna sah jetzt, daß er nicht so groß war, wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte; was ihn so massig erscheinen ließ, war wohl eher der fellbesetzte Lederpanzer und der wuchtige Helm, den er trug. Aber er war sehr kräftig, und seine Bewegungen waren eindeutig die eines Mannes, der es gewohnt war, zu befehlen.

»Was hier geschehen ist, habe ich gefragt!« wiederholte er streng.

»Wir... sind überfallen worden«, antwortete einer der Männer. »Sie haben die Stadt niedergebrannt und alle getötet.«

»Sie?« Eine schmale Falte kroch unter dem Rand des Helmes hervor und grub sich zwischen die Augen des Kriegers. »Wer? Wie ist dein Name, Bursche, und wo sind die anderen?«

»Mein... mein Name ist Joffrey, Herr«, stammelte der Mann. Er war blaß vor Furcht.

Der Krieger machte eine wegwerfende Handbewegung. »Spar dir den Herren«, sagte er grob. »Mein Name ist Hraban. Meine Männer und ich –« Er machte eine Bewegung zu seinen Begleitern. » – sind Söldner, auf dem Weg nach Osten. Wir haben gehört, daß es dort Arbeit für uns gibt. Aber dieser Teil des Landes liegt mit niemandem im Krieg. Ich muß das wissen, oder?« Er schürzte die Lippen, als warte er auf eine Bestätigung, aber Joffrey schwieg weiter. »Wer also hat euch überfallen, und wo sind die anderen?«

»Wir wissen es nicht, He... Hraban«, antwortete Joffrey stockend. »Sie kamen in der Nacht, und es... es ging alles so schnell. Wir hatten uns verborgen.« Der letzte Satz klang wie eine Entschuldigung.

Hraban starrte ihn an. »Was ist mit dir los, Kerl?« fragte er scharf. »Wir haben das Feuer gesehen und sind geritten wie die Teufel, um euch zu helfen, und ihr belügt uns?« Seine Hand klatschte auf den Gürtel herab. Er war der einzige unter den Männern, der keine Waffe trug, aber die Geste allein war eindeutig genug. Und zumindest in Taliannas Augen war es gerade seine Waffenlosigkeit, die ihn viel bedrohlicher erscheinen ließ als die anderen.

»Ich lüge nicht, Herr!« sagte Joffrey hastig, aber Hraban schnitt ihm mit einer zornigen Handbewegung das Wort ab.

»Du willst mir erzählen, irgend jemand hätte das hier angerichtet, ohne daß ihr gesehen hättet, wer?« meinte er mit einer Geste auf die zerstörte Stadt. Joffrey senkte angstvoll den Blick, und Hraban fuhr mit einem zornigen Laut herum und wandte sich an die Frau rechts neben Talianna.

»Und du?« schnappte er. »Hast du auch dein Gedächtnis verloren?«

»Nein, Herr«, antwortete die Frau flüsternd. »Es ist nur, daß...«

»Es waren die Drachen«, sagte Talianna ruhig.

Hraban blinzelte, legte den Kopf auf die Seite, lächelte flüchtig und wurde sofort wieder ernst. »Wie hast du gesagt, Kind?«

Eine Hand legte sich auf Taliannas Schulter, und eine Stimme sagte: »Hört nicht auf sie, Hraban. Sie ist ein dummes Kind. Der Schrecken hat ihr den Verstand verwirrt.«

»Mir scheint eher, sie ist die einzige von euch, die bei klarem Verstand geblieben ist«, grollte Hraban. »Laßt sie reden.«

Er trat auf Talianna zu, ließ sich vor ihr in die Hocke sinken und legte die Hand auf ihre Schulter, eine Berührung, die an die Gedelfis vom vergangenen Abend erinnerte. Obgleich Hrabans Finger nur ganz leicht auf ihr ruhten, spürte sie die gewaltige Kraft, die darin schlummerte. Sie suchte vergeblich in ihrem Inneren nach einem Anzeichen von Angst.

»Es waren die Drachen, Herr«, sagte sie noch einmal.

»Ich... ich habe sie gesehen, ganz deutlich. Sie kamen von Norden und... und sie haben Feuer gespuckt und alles zerstört.«

»Nun, alles nicht«, sagte Hraban lächelnd. »Immerhin lebt ihr ja noch, und sicher auch noch andere.« Er lächelte abermals, verlagerte sein Körpergewicht ein wenig und richtete sich schließlich wieder auf. Mit einer abrupten Bewegung wandte er sich um und deutete auf einen seiner Begleiter. »Denon! Gib diesem undankbaren Gesindel zu essen und zu trinken und laß den Wundheiler kommen. Die Männer sollen ihr Lager am Fluß aufschlagen. Ein Stück stromaufwärts, verstehst du? Ich will nicht, daß die Tiere womöglich vergiftetes Wasser saufen.«

Der Angesprochene nickte, wendete sein Pferd und sprengte davon, während zwei, drei der anderen Krieger umständlich von ihren Tieren stiegen und ihre Wasserschläuche von den Sattelriemen lösten, Auch Talianna überwand den kleinen Rest von Angst, den sie noch vor diesen furchterregenden Gestalten verspürte, und griff gierig zu, als ihr ein Wasserschlauch hingehalten wurde. Sie trank sehr viel, denn ihre Kehle war vom stundenlangen Weinen ausgedörrt, und kaum hatte sie den schlimmsten Durst gelöscht, da spürte sie, wie hungrig sie war. Aber sie wagte es nicht, nach Essen zu fragen, und schließlich hatte Hraban ja gesagt, daß Denon ihnen Nahrung bringen sollte.

»Komm her zu mir, Kind«, sagte Hraban, als sie ihren Durst gelöscht und den Wasserschlauch zurückgegeben hatte. Er lächelte bei diesen Worten, aber Talianna zögerte. Nervös blickte sie zu den anderen hinüber, die gleich ihr das Wasser angenommen hatten und gierig tranken. Aber die Nervosität – nein, verbesserte sie sich in Gedanken: die Angst – auf ihren Zügen war geblieben.

»Ich... weiß nicht«, sagte sie.

Für einen ganz kurzen Moment sah Hrabans Gesicht aus, als wolle er wütend lospoltern, aber dann seufzte er nur, schüttelte den Kopf und drehte sich mit einem knappen Winken um. »Komm mit«, sagte er.

Talianna gehorchte, wenn auch erst nach einem abermaligen, sehr langen Zögern. Sie entfernten sich ein gutes Stück von den Reitern und den anderen, ehe Hraban stehenblieb und sich zu ihr umwandte. Wie zuvor ließ er sich in die Hocke gleiten, so daß ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren. Ein Sonnenstrahl ließ etwas an seinem Hals aufblitzen, und als Talianna genauer hinsah, erkannte sie, daß es ein roter Stein war, geformt wie eine blutige Träne und von einem feinen Filigran aus Gold und Jade eingefaßt.

Hraban bemerkte ihren Blick. Mit spitzen Fingern hielt er den Stein hoch, soweit es das goldene Kettchen zuließ, an dem er befestigt war. »Gefällt er dir?« fragte er.

Talianna nickte. »Ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen«, bekannte sie.

»Er ist sehr wertvoll«, sagte Hraban leise. Dann ließ er den Stein wieder sinken und sah sie mit plötzlichem Ernst an. »Aber jetzt erzähle. Und nur keine Angst – wir sind nicht eure Feinde, sondern wollen euch helfen.« Er bemerkte den flehenden Blick, den Talianna zu den anderen zurückwarf, und runzelte die Stirn, jetzt doch sichtlich verärgert. »Glaube bloß nicht, daß ich euch nicht verstehe«, sagte er. »Deine Leute haben alles verloren und sind fast umgebracht worden. Es wäre ja unnormal, wenn sie keine Angst hätten, sich plötzlich einer Armee von Fremden gegenüber zu sehen. Aber ich muß wissen, was passiert ist. Wir sind nicht sehr viele, und die, die eure Stadt vernichtet haben, könnten zurückkommen. Das verstehst du doch, oder?«

Talianna nickte. »Es... es waren wirklich die Drachen«, sagte sie stockend. »Ich habe die Wahrheit gesagt, Herr.«

»Drachen.« Hraban schwieg einen Moment. »Ich habe davon gehört. Aber... die meisten sagen, daß es sie gar nicht gibt. Ich bin viel herumgekommen in der Welt, aber ich habe niemals einen gesehen. Und auch keiner meiner Männer.«

»Aber es war so!« sagte Talianna ärgerlich. Sie fühlte sich angegriffen, weil Hraban ihr so ganz offensichtlich nicht glaubte. »Ich sage die Wahrheit.«

»Drachen...« murmelte Hraban noch einmal, diesmal aber mit gänzlich anderer Betonung. Der Blick seiner dunklen Augen glitt über die Ebene aus geschmolzenem Eisen und das, was von der Stadt übrig geblieben war. Schließlich nickte er. »Es ist schwer zu glauben. Aber ich habe niemals eine Zerstörung wie diese hier gesehen. Keine Waffe, die ich kenne, könnte so etwas tun.« Einen Moment lang blickte er zu Boden, dann sah er Talianna wieder in die Augen. »Wie habt ihr überlebt, wenn alles so schnell ging, wie dieser Joffrey sagt? Sind noch andere geflohen?«

»Niemand, Herr«, antwortete Talianna, die plötzlich wieder den Tränen nahe war. »Wir waren nicht hier, als es geschah, sondern oben im Wald.« Sie deutete auf die struppige Mauer aus schwarzen Tannen, eine halbe Meile über der Stadt. »Morgen... gestern war Mittsommerfest. Wir wollten Dämmerpilze sammeln, für das Essen, und der alte Gedelfi weiß die besten Stellen, um sie zu finden.«

»Und dann habt ihr euch im Wald versteckt?«

Talianna schüttelte heftig den Kopf. »Nicht im Wald. Ein paar haben es versucht, aber die Drachen haben sie gefunden.« Erneut deutete sie auf die grüne Mauer über der Stadt. Auch der Wald hatte Wunden. Wenn die Sonne vollends aufgegangen war, würde man sie sehen.

»Es gibt einen alten Bergwerksschacht.«

»Und der hat euch geschützt?«

Talianna nickte.

»Dann gibt es doch sicher noch mehr von diesen Schächten.«

»Drüben, auf der anderen Seite des Flusses.« Talianna nickte. »Viele. Manche sind sehr tief.«

»Kannst du sie mir zeigen?« fragte Hraban, und fügte hinzu: »Später. Wenn du gegessen und dich ausgeruht hast.«

»Warum wollt ihr das alles wissen, Herr?« fragte Talianna.

Hraban lächelte. »Nun, wenn ihr überlebt habt, warum dann nicht auch andere? Wäre dir wohl bei dem Gedanken, daß sie jetzt vielleicht dort eingesperrt sind, möglicherweise so verschüttet, daß sie aus eigener Kraft nicht mehr herauskämen?« Er beantwortete seine eigene Frage mit einem Kopfschütteln und seufzte. »Na, das wird sich alles ergeben«, fuhr er fort. »Keine Angst mehr, Kleine. Meine Männer und ich sind hier, und wir werden nach den Überlebenden suchen.« Er stand auf. »Aber jetzt sorgen wir erst einmal dafür, daß du etwas Warmes zu Essen bekommst. Und der Wundscher wird sich deine Hände ansehen. Komm jetzt.« Damit wandte er sich um und ging zu den anderen zurück, und nach einer Weile folgte ihm Talianna.

5

Etwas später brachte Hraban sie zu Gedelfi zurück, und ganz wie er versprochen hatte, brachten einige seiner Männer zu Essen: trockenes Fladenbrot und gedörrtes Fleisch, das so zäh war, daß man es nur schneiden und in kleinen Stückchen kauen und dann ganz herunterschlucken konnte. Trotzdem kam es Talianna vor wie das Köstlichste, was sie jemals gegessen hatte; denn ihre letzte Mahlzeit lag einen Tag und zwei Nächte zurück. Auch die anderen machten sich gierig über die dargebotenen Lebensmittel her und tranken sogar von dem Wein, den ihnen Hrabans Männer reichten. Überhaupt legte sich das Mißtrauen Hrabans Leuten gegenüber merklich, vor allem, als die Söldner eine halbe Meile stromaufwärts ihr Lager aufzuschlagen begannen und kurz darauf ein kleiner, weißhaariger Mann zu ihnen kam, um nach ihren Wunden zu sehen und ihnen Medizin zu reichen. Mit Ausnahme Gedelfis war keiner unter ihnen, der nicht auf die eine oder andere Weise verletzt war, wenn auch nicht schwer. Aber auch ein abgebrochener Fingernagel konnte sich entzünden und zum Verlust der Hand oder gleich des daranhängenden Körpers führen, wenn er nicht behandelt wurde, wie der Wundscher lächelnd erklärte.

Während er und zwei schweigende Krieger aus Hrabans Begleitung sich um die Überlebenden kümmerten, waren die anderen nicht untätig. Talianna sah, wie sie in kleinen Gruppen ausschwärmten, um die Ruinen zu durchsuchen oder in den Wald eindrangen, den sie Hraban gezeigt hatte. Eine weitere, etwas größere Gruppe versuchte gar, über die Brücke zu gehen, gab das Vorhaben aber rasch auf, als die ausgeglühte Konstruktion schon unter dem Gewicht des ersten Mannes bedrohlich zu ächzen begann. Sie gingen zurück und verschwanden wieder in ihrem Lager, und kurze Zeit später hörte Talianna das dumpfe, regelmäßige Dröhnen von Hammerschlägen.

»Was ist das?« fragte Gedelfi. Er sah auf, legte den Kopf auf die Seite und lauschte einen Moment. Seit Talianna zurückgekommen und ihm berichtet hatte, was geschehen war, hatte er kein Wort gesagt. Hätte er sich nicht ab und zu schweigend bewegt oder beim Essen geschmatzt, hätte sie glatt vergessen, daß es ihn überhaupt noch gab.

Talianna blickte konzentriert zum Lager der Söldner hinüber, preßte die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und strengte die Augen an. Sie war sich nicht ganz sicher. »Sie bauen etwas«, murmelte sie. »Ein Floß – glaube ich.«

»Ein Floß? Wozu?«

»Um über den Fluß zu kommen, alter Mann.«

Talianna fuhr erschrocken zusammen und herum, als sie Hrabans Stimme hörte. Der Krieger war so lautlos nähergekommen, daß sie ihn bis jetzt nicht einmal bemerkt hatte. »Die Brücke ist zerstört. Siehst du das denn nicht?«

Gedelfi – der anders als Talianna nicht die geringste Spur von Schrecken oder auch nur Überraschung zeigte – wandte betont langsam den Kopf und blickte zu Hraban hoch. Auf dem Gesicht des Söldners erschien ein betroffener Ausdruck, als er die matt gewordenen Augen Gedelfis sah.

»Du bist blind«, murmelte er. »Das wußte ich nicht. Ich habe meinen Leuten Befehl gegeben, über den Fluß zu setzen und drüben in den Wäldern nach Überlebenden zu suchen. Vielleicht gibt es Verletzte, unten in den Minen, von denen das Mädchen erzählte.« Er setzte sich zu ihnen, beugte sich vor und schnitt einen schmalen Streifen Dörrfleisch ab, um darauf herumzukauen, aber sicher nicht aus Hunger.

»Wie geht es dir, Kind?« fragte er, wieder an Talianna gewandt. »Besser?«

Talianna nickte. »Danke. Das... Essen war sehr gut. Ich hatte Hunger.«

Hraban lachte, als hätte sie einen Scherz gemacht, hob die Hand und zerstrubbelte ihr das Haar. »Du kannst noch mehr bekommen, wenn du willst«, sagte er. »Es schmeckt vielleicht nicht so gut wie das, was ihr gekocht habt, aber es macht satt und stark.«

Gedelfi blickte Hraban aus seinen erloschenen Augen an. Seine Hände begannen mit einer Falte seines Gewandes zu spielen. »Ist das der Mann, von dem du erzählt hast, Talianna?« fragte er.

»Das bin ich«, antwortete Hraban an Taliannas Stelle.

»Was hat sie denn erzählt?«

»Daß Männer gekommen sind, die uns helfen wollen«, antwortete Gedelfi. »Aber ich weiß, wer ihr wirklich seid.«

»So?« Hraban lächelte noch immer, aber es war ein anderes Lächeln. Irgend etwas darin war erloschen, und dafür war etwas Anderes, Lauerndes, hinzugekommen.

»Weißt du das, alter Mann? Wer glaubst du, wer wir sind?«

»Ihr bringt den Tod«, sagte Gedelfi ernst. »Das weiß ich.«

Hraban lächelte noch immer, aber jetzt sah es wirklich gequält aus. Er widersprach dem Blinden nicht, aber er warf Talianna einen raschen Blick zu, der nimm-es-ihmnicht-übel-was-geschehen-ist-war-zuviel-für-ihn sagte. Laut antwortete er: »Im Moment bringen wir euch nur Essen und unseren Wundscher, Alter. Und später bringen wir euch von hier fort.«

»Wohin?« fragte Talianna. Der Gedanke, von hier fortgehen zu sollen, erschreckte sie. Andererseits – was sollte sie noch hier? All ihre Leute waren tot, und es gab nichts mehr, was sie wieder aufbauen konnten, schon gar nicht für ein zehnjähriges Mädchen und einen blinden Mann.

Hraban zuckte mit den Achseln und warf das angelutschte Stück Fleisch in die Flammen. »Wir werden sehen«, sagte er. »Mit uns kommen könnt ihr nicht, aber irgendwo bringen wir euch schon unter. In einer anderen Stadt.« Abermals zuckte er mit den Achseln, dann stand er auf, wischte die Hände an einem Zipfel seines schwarzen Bärenfell-Umhanges sauber und sah Talianna erwartungsvoll an. »Willst du unser Lager sehen?«

Talianna wollte ganz eindeutig. Nachdem sie ihre Furcht verloren hatte, hatten die zum Teil bizarren Gestalten in Hrabans Begleitung rasch ihre Neugier erweckt. Aber sie zögerte trotzdem, zu nicken.

»Geh ruhig, Talianna«, sagte Gedelfi, der ihr Schweigen richtig deutete. »Ich bin sicher hier. Und die anderen sind ja auch noch da.«

Talianna sprang auf und eilte an Hrabans Seite. Sie ließ es sogar zu, daß er sie bei der Hand nahm und neben sich herführte, obgleich ihr eine solche Behandlung unter normalen Umständen als viel zu kindlich vorgekommen wäre.

»Wer ist dieser alte Mann?« erkundigte sich Hraban, während sie am Ufer entlang auf das Lager zugingen.

»Dein Großvater?«

Talianna verneinte. »Er ist kein Verwandter«, sagte sie.

»Wir sind...« Sie suchte einen Moment nach dem richtigen Wort und fand es nicht. »Er ist blind, wißt Ihr?« setzte sie schließlich von neuem an. »Und ich führe ihn. Ich sage ihm, was ich sehe, und er erzählt mir dafür Geschichten. Manchmal«, fügte sie hinzu.

Tatsächlich war es sicherlich ein Jahr her, wenn nicht länger, daß Gedelfi ihr das letzte Mal eine Geschichte erzählt hatte. Sie mochte seine Geschichten, auch wenn sie meistens düster waren und keinen guten Ausgang hatten. Früher einmal war Gedelfi bei allen Kindern und auch so manchen Erwachsenen – seiner Geschichten wegen sehr beliebt gewesen. Aber seit einer Weile erzählte er nichts mehr, und wenn Talianna es recht bedachte, war das nicht alles. Gedelfi war sonderbar geworden, in den letzten Monaten. Vielleicht, dachte sie, begann er allmählich wirklich alt zu werden.

»Was mag er damit gemeint haben – wir bringen den Tod?« fragte Hraban.

Talianna zuckte nur hilflos die Achseln. »Ich weiß nicht. Vielleicht ist er einfach alt.«

Hraban lachte. »Oh ja«, sagte er. »Und alte Leute reden oft Unsinn, wie? Aber manche behaupten, daß gerade die Alten die Wahrheit sagen.« Er lachte noch einmal, blieb plötzlich stehen und deutete auf das schwarz gewordene Skelett eines Hauses, das so schräg dastand, daß es eigentlich längst hätte umkippen und in den Fluß stürzen müssen. Die ihnen zugewandte Seite des Hauses war zusammengebrochen, so daß man in sein Inneres sehen konnte. Unter den Trümmern waren deutlich die gewaltige Esse und ein ganzes Sammelsurium von Ambossen, Schmiedehämmern und anderen Werkzeugen zu erkennen. »Ihr habt Eisen und Stahl gemacht, nicht wahr?«

Talianna nickte. »Und andere Dinge aus Metall.«

»Ihr auch?« Hraban sah ihr verwirrtes Stirnrunzeln und konkretisierte seine Frage: »Deine Leute, meine ich. Deine Familie.«

»Wir nicht.« Talianna schüttelte heftig den Kopf.

»Mein Vater hat... er war Händler. Wir haben Obst verkauft, Gemüse, auch ein paar Stoffe – alles was man so braucht, eben.« Sonderbar – warum hatte sie das Gefühl, sich verteidigen zu müssen? Hrabans Frage war sicherlich nicht sehr taktvoll, bedachte man, daß sie ihre Familie vor nicht einmal zwei Tagen verloren hatte. Aber es fiel ihr schwer zu glauben, daß dieser zwar sehr finstere, aber freundliche Mann irgend etwas Böses von ihr wollte.

Aber sie hatten das Lager jetzt erreicht, und was Talianna sah, ließ sie Gedelfis düstere Worte auf der Stelle vergessen. Die Söldner hatten einen langgezogenen Halbkreis aus Zelten am Flußufer errichtet, dahinter einen kleinen Pferch, in dem ihre Pferde angebunden waren. Und die gut dreißig Krieger, die noch im Lager zurückgeblieben waren, stellten das bunteste Sammelsurium der verschiedensten Völker und Wesen dar, das sich Talianna nur vorstellen konnte.

Die meisten – nicht alle – von ihnen waren menschlich, aber ihre zum Teil bizarren Kleider und Waffen schlugen Talianna fast sofort in ihren Bann. Für die nächste halbe Stunde war sie einfach nur ein zehnjähriges Kind, das alles ganz genau wissen wollte und Tausende von Fragen hatte, die sie gar nicht alle auf einmal aussprechen konnte. Hraban erwies sich jedoch als geduldiger Führer – er zeigte ihr dieses und jenes, beantwortete ihr alle ihre Fragen und zeigte sich äußerst verständnisvoll, wenn sie etwas nicht gleich begriff. Talianna vergaß sogar das entsetzliche Unglück, das ihnen zugestoßen war, denn das Lager war für sie nicht mehr als ein großer, bunter Jahrmarkt, wenn auch hundertfach interessanter als der, der jedes Frühjahr in Stahldorf stattgefunden hatte.

Nicht alle Reittiere waren innerhalb des Pferches – ein gutes Stück vom Lager entfernt hockten zwei riesige stachelige Kolosse, braun und schwarz und so groß, daß Talianna im allerersten Moment einfach nicht glaubte, daß es lebende Wesen von dieser Größe – und vor allem Masse – überhaupt gäbe. Hraban lächelte, als er sah, wie sie die beiden gepanzerten Giganten mit offenem Mund und runden Augen anstarrte, sagte aber nichts, bis sie ihn schließlich fragte, was um alles in der Welt das sei.

»Hornbestien«, antwortete der Söldnerführer. »Du hast noch nie davon gehört?«

Talianna brachte das Kunststück fertig, gleichzeitig zu nicken und den Kopf zu schütteln. Sie hatte von diesen Tieren gehört, so wie sie von vielen Dingen und Wesen gehört hatte, die es gab; irgendwo. Sie hatte auch gehört, daß sie sehr groß und unglaublich stark sein sollten, aber – das??

»Willst du sie genauer sehen?« fragte Hraban freundlich. »Komm mit. Und keine Angst. Sie sind vollkommen harmlos. Für uns«, fügte er geheimnisvoll hinzu. Talianna hatte ganz entschieden Angst vor den beiden viereinhalb Meter hohen Kolossen, aber sie wagte es nicht, das in Hrabans Gegenwart zuzugeben. Trotzdem begann ihr Herz wie ein Hammerwerk zu rasen, als sie die Pferdekoppel umgingen und sich den beiden Giganten näherten.

Ein scharfer Geruch, von dem Talianna noch nicht wußte, ob er nun unangenehm war oder nicht, schlug ihnen entgegen, und als sie die beiden Tiere fast erreicht hatten, löste sich ein schwarzgrüner Umriß aus dem Schatten der Giganten und wurde zu etwas, das Talianna fatal an eine aufrecht gehende, menschengroße Kröte erinnerte. Abrupt blieb sie stehen und ließ Hrabans Hand los. Diesmal gelang es ihr nicht mehr ganz, ihr Erschrecken zu verbergen.

Hraban lachte. »Keine Angst, Talianna«, sagte er. »Das ist nur Hrhon. Er und seine Gefährtin reiten diese kleinen Schmusetierchen.«

Talianna musterte Hrhon aufmerksam, trat aber vorsichtshalber einen halben Schritt hinter Hraban zurück. Das Wesen war nicht ganz so groß wie ein normal gewachsener Mensch, dafür aber so breit wie hoch. Der größte Teil seines Körpers wurde von einem eng anliegenden, schimmernden Geflecht aus Bronzeschuppen bedeckt, und auf seinem flachen Schädel saß die lächerliche Karikatur eines Helmes. Seine Hände, die nur drei Finger und einen sonderbar deformierten Daumen hatten, waren ein gutes Stück größer als Taliannas Kopf. Auf seinem Rücken hing ein gewaltiger braunschwarzer Schild, von dem Talianna beim besten Willen nicht sagen konnte, ob er nun zu seinem Körper oder zu seiner Bewaffnung gehörte, und sein Gesicht war eindeutig das einer Schildkröte – flach und ohne Ohren oder Nase, mit dunklen Augen und einem sehr breiten, lippenlosen Maul.

»Hrhon ist ein Waga«, beantwortete Hraban ihre unausgesprochene Frage. »Er und Essk kommen aus dem Westen. Aus einem Land. von dem du wahrscheinlich noch nie gehört hast.«

Das Schildkrötenwesen stieß einen zischelnden, hohen Laut aus, und Hraban antwortete mit einem ähnlich hängenden Geräusch, auf das hin sich der Waga umwandte und mit komisch aussehenden Schritten davonging.

»Ihr könnt mit ihm reden?« fragte Talianna verwundert.

Hraban lachte, als hätte sie einen Scherz gemacht.

»Aber natürlich. Er ist kein Tier, Kind, sondern ein denkendes Wesen – wie du und ich. Aber jetzt komm. Du wolltest die Hornbestien sehen.«

Im Grunde hatte Talianna gar keine Lust mehr, sich den Riesentieren noch weiter zu nähern. Ganz gleich, was Hraban behauptete, sie hatte Angst vor den tonnenschweren Kolossen, die wie lebende Felsen vor ihr aufragten. Aber sie wagte es nicht, Hraban zu widersprechen.

Vorsichtig ging sie näher an die Kolosse heran. Die beiden Hornbestien sahen ein bißchen aus wie zu groß geratene Igel, mit all ihren Stacheln und Panzerplatten, fand sie, und sie hatten geradezu lächerlich kleine Köpfe. Sie schienen zu schlafen, und sie hatten sich dabei zusammengerollt wie große Katzen und die Schädel auf die beiden vorderen ihrer insgesamt sechs Beine gelegt. Talianna sah, daß sie eine sonderbare Konstruktion aus Leder und Holz auf dem Rücken trugen. Sättel. Aber sie fragte sich vergeblich, wozu um alles in der Welt man derart riesige und sicher plumpe Reittiere brauchen konnte.

»Sie sind nicht plump«, beantwortete Hraban ihre entsprechende Frage. »Sie sehen vielleicht nicht so aus, aber sie laufen schneller als jedes Pferd, und sie rennen eine Woche, ohne anzuhalten, wenn es sein muß. Und wozu man sie braucht?« Hraban grinste. »Zum Beispiel, um ein Stadttor einzurennen. Oder eine feindliche Armee niederzutrampeln.«

Seine Antwort machte Talianna betroffen, denn für einen Moment hatte sie vergessen, was Hraban wirklich war – nämlich ein Mann, der sein Brot mit Kämpfen und Töten verdiente. Sie sah ihn an, und obgleich er immer noch lächelte, kam er ihr mit einem Male düster und finsterer vor als noch vor Augenblicken. Plötzlich hatte sie ein ganz kleines bißchen Angst vor ihm.

Talianna hatte mit einem Male keine Lust mehr, die beiden Riesentiere zu betrachten, und als Hraban sie fragte, ob sie hinaufsteigen und einmal im Sattel sitzen wolle, lehnte sie ab.

Eine sonderbare Ernüchterung ergriff von ihr Besitz, als sie die wenigen Schritte ins Lager zurückgingen. Hraban bedeutete ihr mit einer knappen Geste, stehenzubleiben und auf ihn zu warten, dann trat er an den Fluß zu den Männern, die mit dem Bau eines einfachen Floßes beschäftigt waren, und redete eine Zeitlang mit ihnen; in einer Sprache, die Talianna nicht verstand. Eine Weile sah sie ihm dabei zu, dann sah sie sich abermals im Lager um, befolgte jedoch seinen Befehl, sich nicht von der Stelle zu rühren. Hrabans Worte, die er sicherlich ohne die Absicht gesprochen hatte, sie zu erschrecken, hallten dumpf hinter ihrer Stirn nach, und mit einem Male erschien ihr alles, was sie sah, anders. Die Zelte und Kleider – und vor allem die Gestalten! – waren noch immer bunt und exotisch, aber jetzt kam ihr ihre Fremdheit viel eher erschreckend als interessant vor. Dann sah sie etwas, was sie wirklich erschreckte. Die Plane eines Zeltes, nicht sehr weit von Talianna entfernt, wurde mit einem Ruck beiseite geschlagen, und eine wahre Alptraumgestalt trat ins Freie. Im allerersten Moment glaubte Talianna, sich einem kleingewachsenen Mann in einer schwarzglänzenden Rüstung gegenüberzustehen, aber die Illusion hielt nur eine halbe Sekunde, und als sie die Wahrheit begriff, konnte sie einen erschrockenen Schrei nicht mehr unterdrücken.

Drei Schritte vor ihr stand der Urgroßvater aller Käfer. Er war eine Handspanne größer als sie und ging aufrecht auf vier seiner sechs Beine, was ihm eine absurde, stark nach vorne geneigte Haltung verlieh. Das schwarze Chitin seines Außenskeletts glänzte wie sorgsam poliertes Eisen, und die Augen, groß wie Taliannas Fäuste, blickten mit der nur Insekten möglichen desinteressierten Grausamkeit auf das vor Angst zitternde Menschenkind herab. Die gewaltigen, vielfach geknickten Fühler auf seinem Kopf bewegten sich ununterbrochen, und als das bizarre Wesen einen Schritt auf sie zutrat, vernahm Talianna ein leises Schaben und Rascheln, wie von trockenem Holz, das aneinanderrieb. Es war ein sehr unangenehmes Geräusch.

Eine endlose Sekunde lang stand sie da und starrte das schwarze Ungeheuer an, dann fuhr sie herum, schlug die Hand vor den Mund und rannte los – direkt in Hrabans Arme hinein, der ihren Schrei gehört hatte und zurückgekommen war.

»Was ist los, Kind?« fragte er. »Du hast geschrieen.« Talianna schlang die Arme so fest um Hrabans Hals, daß er keine Luft mehr bekam und ihren Griff mit sanfter Gewalt lösen mußte. Sie wollte antworten, aber der Schrecken schnürte ihr noch immer die Kehle zu.

»Was hast du?« fragte Hraban noch einmal, dann lächelte er plötzlich. »Oh, du hast dich erschrocken? Doch nicht vor Sixxa?« Er schüttelte den Kopf, stellte Talianna behutsam auf die Füße und drehte sie mit sanfter Gewalt herum, ließ die Hände jedoch auf ihren Schultern liegen.

Der Riesenkäfer war nicht näher gekommen, aber seine schrecklichen Augen starrten Talianna noch immer an, und sie begann noch stärker zu zittern. Ein kleiner, gurgelnder Schrei kam über ihre Lippen.

»Sixxa ist völlig harmlos«, sagte Hraban. »Hast du denn noch niemals einen Hornkopf gesehen?«

Talianna schüttelte heftig den Kopf, während sich das Rieseninsekt halb herumdrehte und ihr nun sein Profil zuwandte, fast, als wolle es ihr Gelegenheit geben, es in aller Ruhe zu studieren. Nicht, daß es von dieser Seite irgendwie schöner oder auch nur weniger unheimlich gewesen wäre. Alles an ihm war hart und schimmernd und wirkte irgendwie eckig; selbst die Augen, die faustgroße Halbkugeln waren, jede einzelne aus tausenden winziger sechseckiger Facetten zusammengesetzt. Seine Bewegungen waren ruckhaft und unglaublich schnell. Sie erinnerten Talianna an die unheimlichen, abstoßenden Bewegungen von Spinnen.

»Schickt... schickt es fort!« sagte sie. »Bitte!« Hraban seufzte. »Aber er ist völlig harmlos«, sagte er, scheinbar verständnisvoll, aber trotzdem mit einer hörbaren Spur von Verärgerung in der Stimme. Er schien kein sehr geduldiger Mann zu sein.

»Schickt es fort!« beharrte Talianna. »Es... es macht mir Angst.«

Hraban seufzte abermals, nahm aber dann die rechte Hand von Taliannas Schulter und gab dem Käferwesen einen Wink. Die Antennen auf Sixxas Kopf zuckten hektisch; ein rasselnder, unangenehmer Laut kam aus seinem dreieckigen Insektenmaul. Aber es wandte sich gehorsam um und verschwand wieder in dem Zelt, aus dem es gekommen war. Als sich die Plane hob, erhaschte Talianna einen kurzen Blick in sein Inneres, und für einen Moment glaubte sie ruckhafte schwarze Bewegung zu sehen. Etwas glitzerte. Talianna sah rasch weg. Hraban löste auch die andere Hand von ihrer Schulter, drehte sie abermals herum und ließ sich wieder in die Hocke sinken. »Es tut mir leid, daß Sixxa dich so erschreckt hat«, sagte er. »Ich dachte, daß ihr die Hornköpfe kennt. Sie sind wirklich harmlos, trotz ihres furchteinflößenden Aussehens.« Er lachte. Es klang nicht ganz echt. »In unserem Lager sind viele von ihnen. Sie sind nützlich, und sehr treu. Manche von unseren Kindern reiten auf ihnen.«

Talianna hatte immer noch Mühe, nicht vor Furcht einfach loszuweinen. Sie hatte niemals zuvor im Leben etwas Entsetzlicheres gesehen als das schwarze Alptraumwesen, das Hraban so harmlos als Hornkopf bezeichnet hatte. Sie hatte auch niemals zuvor von aufrecht gehenden, intelligenten Insekten gehört.

»Sind... sind sie... nicht-Menschen?« fragte sie stockend.

Hraban runzelte die Stirn. »Eine gute Frage«, gestand er, »aber ich weiß es nicht. Manchmal kommt es mir fast so vor, aber...« Er stockte, blickte einen Moment lang an Talianna vorbei auf das Zelt, in dem der Käfer verschwunden war, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Sie sind nur Tiere, wenn auch sehr gelehrige Tiere. Ich glaube nicht, daß sie denken, so wie du oder ich.«

Der Gedanke beruhigte Talianna ein wenig. Das Schlimmste an Sixxa war vielleicht der Blick seiner Augen gewesen, schimmernder in allen Farben des Regenbogens, in denen eine böse, abschätzende Intelligenz gelauert zu haben schien. Die Vorstellung, daß dieses Monster intelligent sein könnte, erfüllte sie mit Grauen, obwohl sie selbst nicht zu sagen vermochte, warum.

Hraban stand wieder auf. Als er weitersprach, klang seine Stimme verändert. »Ich glaube, es war ein bißchen zu viel für dich, Talianna«, sagte er. »Ich bringe dich jetzt zurück zu deinem alten Mann, und du ruhst dich ein bißchen aus. Wenn ich mit meiner Arbeit hier fertig bin, komme ich zu euch, und wir reden noch ein bißchen. Einverstanden?«

Talianna nickte. Hraban brachte sie zu Gedelfi zurück, der schweigend und in unveränderter Haltung vor dem fast heruntergebrannten Feuer hockte, als hätte er sich die ganze Zeit über nicht bewegt. Er sah nicht einmal auf, als er Hrabans und Taliannas Schritte hörte.

Und das Sonderbarste war: er fragte nicht mit einem einzigen Wort danach, was Talianna gesehen hatte.

6

Es wurde sehr heiß, als die Sonne höherstieg, denn das Mittsommerfest, das ja gestern hätte gefeiert werden sollen, lag wirklich auf dem heißesten Tag des Sommers, wenngleich die Natur sich dem von Menschen geschaffenen Kalender auch in diesem Punkt nur in den allerwenigsten Fällen unterwarf. Aber zumindest war es die heißeste Zeit des Jahres, und das bedeutete selbst hier im Norden Mittagsstunden, in denen sich die Menschen kaum aus den Häusern trauten und auch die Arbeit ruhte, außer in den Minen, in denen es immer Nacht und immer warm war. Hier draußen jedoch, wo es keinen Schutz mehr gab, wurde es beinahe unerträglich, schon lange bevor die Sonne den höchsten Punkt ihrer ruhelosen Wanderung erreicht hatte, und Talianna und die anderen zogen sich in den Schatten einer Ruine zurück, auch wenn die unmittelbare Nähe der geschwärzten Mauern sie mit einem Unbehagen erfüllte, das fast schlimmer war als wirkliche Furcht.

Unterdessen schwärmten Hrabans Krieger in weitem Umkreis aus, um nach weiteren Überlebenden der Katastrophe zu suchen. Das Floß war nach weniger als einer Stunde fertig gewesen und seither drei- oder viermal über den Fluß gependelt, so daß die Suche auch dort drüben fortgesetzt werden konnte, vor allem in den Bergwerken, in denen Hraban noch immer Verschüttete vermutete. Auch ein paar Stahldörfler beteiligten sich an der Suche, wenngleich Hraban keinen Hehl daraus gemacht hatte, wie wenig ihm ihre Hilfe behagte. Aber sie blieb ohnehin ergebnislos. Die kleinen Gruppen, die Hraban losgeschickt hatte, kamen im Laufe des Tages eine nach der anderen zurück, und sie waren alle allein. Talianna begann endgültig zu begreifen, daß es keine Überlebenden gegeben hatte. Die Vernichtung war ebenso total wie sinnlos gewesen, und es war ja auch alles viel zu schnell gegangen. Auch sie und die anderen zehn verdankten ihr Leben ja schließlich nur einem Zufall. Zwanzig Meter weiter vom Waldrand entfernt und näher an der Stadt wären auch sie getötet worden. Wie Hraban versprochen hatte, kam er wieder zu ihr, wenn auch erst spät am Nachmittag und nicht, um zu essen. Er kam nicht allein: das Schildkrötenwesen Hrhon war bei ihm, was die anderen Überlebenden dazu veranlaßte, sich hastig ein Stück zurückzuziehen oder zumindest mitten im Gespräch zu verstummen und den Söldner und seinen bizarren Begleiter mit schlecht verhohlener Furcht anzustarren. Nur Talianna zeigte keine Angst; irgendwie glaubte sie zu spüren, daß die grüngeschuppte Gestalt wirklich so freundlich und harmlos war, wie Hraban behauptete. Außerdem brauchte sie sich nur den schwarzen Riesenkäfer ins Gedächtnis zurückzurufen, um Hrhon schon beinahe schön zu finden.

Hraban sah müde aus, und seine Bewegungen hatten viel von ihrer Ruhe und Kraft verloren und waren jetzt fast fahrig. Seine Kleider waren voller Schmutz und schwarzem Ruß, und Talianna bemerkte einen schwarzen Kratzer auf seiner rechten Wange, der gerade erst zu bluten aufgehört hatte, denn die Kruste darauf war noch sehr hell. Ohne ein Wort zu sagen, ließ er sich mit untergeschlagenen Beinen vor Talianna nieder, legte die Hände auf die Knie und gab seinem reptilischen Begleiter mit einer Kopfbewegung zu verstehen, es ihm gleichzutun. Hrhon hockte sich umständlich zu Boden, zog die Beine unter den Leib und sah nun wirklich aus wie eine Schildkröte, die vor hundert Jahren vergessen hatte, mit dem Wachsen aufzuhören. Der Blick seiner dunklen Augen huschte unstet von Talianna zu Gedelfi und wieder zurück.

»Wer ist gekommen?« fragte Gedelfi plötzlich. Er sah auf, blickte so genau in Hrabans Richtung, als könne er ihn sehen, wandte plötzlich den Kopf und schnüffelte hör- und sichtbar. Natürlich, dachte Talianna. Er mußte den Waga riechen. Selbst ihr war sein scharfer Reptiliengeruch nicht entgangen, als sie ihm das erste Mal begegnet war.

»Hraban«, antwortete Hraban an Taliannas Stelle.

»Und wer noch?« Gedelfi schnüffelte erneut. »Etwas ist bei dir. Ein nicht-Mensch.«

Hraban nickte. »Hrhon«, sagte er. »Mein Leibwächter. Er ist ein Waga. Die Hälfte meiner Krieger sind nicht- Menschen. Hat Talianna dir nichts davon erzählt?« Bei diesen Worten sah er Talianna so fragend und gleichzeitig vorwurfsvoll an, daß sie unwillkürlich die Arme hob und antwortete: »Er hat nicht gefragt.«

»So?« Hrabans Stirnrunzeln vertiefte sich. »Ist das wahr, alter Mann? Ich dachte immer, Blinde seien besonders begierig, alles zu erfahren, was geschieht.«

»Ich brauche nichts über euch zu erfahren«, erwiderte Gedelfi feindselig. »Ich weiß, wer ihr seid.«

Hraban seufzte, setzte zu einer scharfen Antwort an und beließ es dann bei einem neuerlichen Seufzen und einem unterstützenden Kopfschütteln. »Du glaubst also zu wissen, wer wir sind«, sagte er nur.

Gedelfi schürzte die Lippen. »Ich glaube es nicht«, antwortete er betont. »Ich weiß es.«

»Und woher?« fragte Hraban.

»Ich bin ein alter Mann«, erwiderte Gedelfi. »Ein sehr alter Mann, Hraban. Ich weiß Dinge, die heute nur noch wenige wissen. Ich weiß, welcher Macht ihr dient. Ich wußte, daß ihr kommen würdet, wie die Aasgeier, um das zu vollenden, was die...« Er stockte einen Moment. »... was die anderen nicht vollbracht haben«, endete er schließlich. Talianna hatte das sehr sichere Gefühl, daß er in Wahrheit etwas ganz anderes hatte sagen wollen.

Hraban maß den Blinden mit einem sehr langen, forschenden Blick. »Du wußtest es also«, wiederholte er schließlich. Dann lachte er, setzte sich ein wenig auf und machte eine weit ausholende Armbewegung. »Das hier sieht mir aber nicht danach aus, als hätte irgendwer hier gewußt, was geschehen würde.«

Gedelfi schnaubte. »Sie waren Narren«, sagte er überzeugt. »Ich habe sie gewarnt, und andere auch. Aber sie haben nicht auf uns gehört, und irgendwann habe ich nichts mehr gesagt.«

»Und gehofft, du könntest dich täuschen«, fügte Hraban hinzu.

Diesmal antwortete Gedelfi nicht sofort. »Nein«, sagte er endlich. »Eher, es könne noch lange genug gutgehen, daß ich es nicht mehr erleben muß. Aber nun ist ja ohnehin alles vorbei. Ich werde sterben, noch ehe...« Er stockte einen Moment, legte den Kopf in den Nacken und schloß die Augen, und Talianna wußte, daß er auf diese Weise versuchte, die Wärme der Sonne zu spüren und so ihre Stellung am Himmel zu erraten – etwas, das einem Sehenden schier unmöglich gewesen wäre, womit er Talianna und die anderen Kinder aber immer wieder verblüfft hatte. »Noch ehe die Sonne untergeht«, sagte er dann.

»Was redest du für einen Unsinn?« fragte Talianna erschrocken. »Du wirst nicht sterben, Gedelfi. Du bist unverletzt, und ich gebe auf dich acht.« Instinktiv streckte sie die Hand nach der des alten Mannes aus, aber Gedelfi entzog ihr seine Finger. Talianna blickte verstört von ihm zu Hraban und wieder zurück.

»Laß nur, Kind«, sagte er, kalt, ohne eine Spur von Trost oder Verständnis, sondern fast agressiv. »Du meinst es gut, aber ich weiß, was geschehen wird. Wir alle werden sterben.«

»Was redest du nur!« fuhr Talianna auf. »Wir sind in Sicherheit, Gedelfi. Hrabans Männer werden sich um uns kümmern, und... und ich bin ja auch bei dir!« Hilfesuchend wandte sie sich an den Söldnerführer.

»Sagt doch auch etwas, Hraban«, sagte sie.

Hraban blickte sie an, aber etwas war in seinen Augen, was Taliannas Schrecken eher noch schürte. »Das ist etwas, worüber ich mit dir reden muß«, sagte er. Er deutete auf Gedelfi. »Du magst diesen alten Mann, nicht wahr? Und er braucht dich.«

»Ja«, antwortete Talianna zornig. Hrabans Art, über Gedelfi zu reden, machte sie zornig. Er sprach von dem Blinden wie von jemandem, der nicht hören konnte, daß man über ihn sprach. Sein Verhalten war zumindest unhöflich, wenn nicht verletzend. »Warum fragt Ihr?«

»Weil wir einen alten und noch dazu blinden Mann wie ihn nicht mitnehmen können«, erwiderte Hraban.

»Er wäre eine zu große Last für uns. Ganz davon abgesehen, daß ihn das Leben, das wir führen, binnen einer Woche umbrächte.«

»Ich... ich verstehe nicht«, murmelte Talianna. »Was meint Ihr damit – nicht mitnehmen? Wollt Ihr ihn denn hier zurücklassen?«

Gedelfi schnaubte. »Er meint damit, daß –«

»Ich meine«, fiel ihm Hraban mit leicht erhobener Stimme und sehr rasch ins Wort, »daß ich nachgedacht habe, über dich und deine Leute, Talianna. Du sagst, deine Familie ist tot. Von diesen Leuten hier ist niemand mit dir verwandt?«

Talianna verneinte, und wieder blickte Hraban sie eine endlose Sekunde lang an. »Ich kann nicht bleiben«, fuhr er fort. »Ein Teil meiner Leute wird noch hierbleiben und tun, was zu tun ist, aber ich muß fort, und zwar noch heute. Was würdest du davon halten, mit mir zu kommen?« fragte er dann geradeheraus.

»Mit... mit Euch kommen?« wiederholte Talianna verwirrt. »Wieso? Ich... ich meine... was... weshalb...« Sie begann zu stammeln, brach ab und sah beinahe flehend zu Gedelfi; aber natürlich bemerkte der Blinde ihren Blick nicht.

»Mit Euch kommen?« wiederholte sie schließlich noch einmal.

»Warum nicht?« sagte Hraban. »Was gibt es hier noch, was das Bleiben für dich lohnte. Niemand wird hierbleiben, und ein zehnjähriges Mädchen ohne Verwandte oder Freunde hat kein sehr angenehmes Leben zu erwarten. Nicht in einem Land wie diesem. Außerdem«, fügte er mit einem entschuldigenden Lächeln hinzu, »muß ich gestehen, daß du mir gefällst. Ich hatte einmal eine Tochter, die dir sehr ähnlich war, in deinem Alter.«

»Oh«, murmelte Talianna betreten. »Das... das tut mir leid. Woran ist sie gestorben?«

Hraban lachte schallend. »Gestorben? An nichts. Sie lebt und erfreut sich bester Gesundheit, Kind. Aber sie hat einen haarigen Tagedieb aus dem Süden geheiratet und ein halbes Dutzend lärmender Bälger mit ihm bekommen, und ich habe sie davongejagt.« Er beugte sich vor. »Also? Hättest du Lust? Unser Leben ist sicher nicht so bequem und ruhig wie das, das du gewohnt bist, aber dafür spannender. Ich kann dir eine Menge Dinge zeigen, von denen du bisher nicht einmal geträumt hast.«

Einen Moment lang war Talianna ernsthaft in Versuchung, Hrabans Vorschlag anzunehmen, denn der Schmerz über den Verlust ihrer Familie und ihrer Heimat war noch zu frisch, als daß jene Phase betäubenden Kummers eingesetzt hätte, in der einem jegliche Zukunft gleichgültig läßt und das Leben nicht mehr lebenswert erscheint. Außerdem war sie zehn Jahre alt. Aber dann schüttelte sie doch den Kopf und rückte ein Stück näher an Gedelfi heran.

»Nein«, sagte sie. »Ich bleibe bei Gedelfi. Er braucht mich.«

Aber in diesem Moment geschah etwas Sonderbares. Der Blinde entzog ihr abermals seine Hand und schob sie gar ein Stück von sich fort, und obgleich seine Augen seit zwei Jahrzehnten nur ewige Nacht gesehen hatten, wurde ihr Blick so stechend, daß selbst Hraban plötzlich unsicher wurde. »Du meinst das so, wie du es sagst«, sagte er.

Hraban nickte. »Ja. Ich mag das Mädchen. Wofür hälst du mich, Alter?«

»Für das, was du bist«, antwortete Gedelfi. »Ein hübsches Kind wie sie erzielt einen guten Preis auf dem Sklavenmarkt.«

Die Beleidigung ließ Hraban erbleichen. »Glaubst du, ich würde sie bitten, mitzukommen, wenn es so wäre?« fuhr er auf. »Ich sehe niemanden, der mich daran hindern könnte, sie einfach mitzunehmen.« Er ballte die Faust und schlug sich wuchtig auf den Oberschenkel.

»Spring in den Schlund, Alter! Ich habe es nicht nötig, mit einem alten Narren zu schachern.«

»Nein«, antwortete Gedelfi, mit einem Male wieder ganz ruhig. »Das hast du nicht, Hraban.« Er legte die Hand auf Taliannas Schulter und schob sie ein Stück auf Hraban zu. »Nimm sie mit.«

Im allerersten Moment war Talianna so überrascht, daß sie Gedelfi nur mit offenem Mund anstarrte. Dann ergriff sie Zorn. Wütend schüttelte sie seine Hand ab und rutschte noch ein Stück weiter von ihm fort. Was fiel diesen beiden ein, wie um ein Stück Eisen um sie zu feilschen?

»Ich werde nirgendwo hingehen!« protestierte sie.

»Ich –«

»Du wirst den Mund halten und tun, was ich dir sage!« Gedelfis Stimme war so scharf und befehlend, wie sie es noch niemals zuvor erlebt hatte. Taliannas gerechter Zorn verrauchte so schnell, wie er gekommen war, und zurück blieben Unsicherheit und Verwirrung.

»Aber du... du brauchst mich!« sagte sie. »Was willst du ohne mich anfangen?«

»Ich brauche dich?« Gedelfi lachte abfällig. »Was bildest du dir ein, du dummes Kind? Ich brauch dich ungefähr so dringend wie einen Kropf, oder ein Geschwür am Hintern.«

Ein Schlag ins Gesicht hätte Talianna nicht härter treffen können. Entsetzt starrte sie Gedelfi an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Aber wir... wir sind doch immer Freunde gewesen«, jammerte sie. »Ich habe dir doch immer geholfen, und du –«

»Geholfen?« Gedelfi machte ein abfälliges Geräusch.

»Auf die Nerven gegangen bist du mir, mit deinen dummen Fragen. Manchmal warst du ganz nützlich, das stimmt. Aber das heißt nicht, daß ich dich noch länger ertragen muß.«

Talianna begann zu weinen. Irgendwo in ihr war eine Stimme, die ihr zuflüsterte, daß Gedelfi sie absichtlich verletzte, um ihr die Entscheidung zu erleichtern, und sie wußte einfach, daß es ganz und gar nicht so gewesen war, wie er behauptete. Aber dieses Wissen nutzte wenig. Seine Worte taten weh. Verdammt weh.

Und nach einer Weile stand sie ohne ein weiteres Wort auf und ging zu Hraban. Noch am gleichen Abend verließen sie das zerstörte Dorf an der Flußbiegung für immer.

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