3. Kapitel Schelfheim

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Selbst aus einer Entfernung von mehreren Meilen betrachtet wirkte die Stadt imposant. Dabei war keines ihrer Gebäude höher als drei Stockwerke, und selbst die Türme, von denen sich gleich mehrere Dutzend über die geneigte Stadtmauer erhoben, verdienten diesen Namen kaum; eigentlich waren es nur buckelige Warzen auf dem steinernen Damm, der Schelfheim umgürtete. Die Stadt war auf weichem, sandigem Grund erbaut, der keine schweren Gebäude trug. Aber was ihr an Höhe fehlte, machte Schelfheim an Ausdehnung wett – der Durchmesser der Stadtmauer mußte gute fünf Meilen betragen, und sie umschloß nur einen Bruchteil der wirklichen Stadt.

Schelfheim war vielleicht die einzige Stadt auf der Welt, deren Wehrmauer hinter einem Wall von Häusern lag, statt umgekehrt. Aber das Gewirr aus Straßen und Gebäuden und Plätzen hatte irgendwann vor hundert oder mehr Jahren damit begonnen, den steinernen Gürtel zu überwuchern, den seine Erbauer zum Schutz gegen einen Feind errichtet hatten, der niemals gekommen war, und sich in alle Richtungen ausgebreitet. Jetzt bedeckte es ein Gebiet von sicherlich hundertfünfzig Quadratmeilen. Ausdehnung. Es war die größte Stadt, die Tally jemals gesehen hatte, vielleicht die größte, die es überhaupt gab. Aber dadurch, daß nichts in ihr höher als zehn Meter war, wirkte sie auf den ersten Blick wie ein flachgewalzter Pfannkuchen und auf den zweiten Blick eigentlich eher erschreckend als majestätisch. Etwas an dieser Stadt störte sie.

Tally überlegte einen Moment, ob es vielleicht ihre Lage war: Schelfheim war auf dem nördlichsten Stück Norden erbaut worden, das es überhaupt gab. Von ihrem jenseitigen Ende aus mußte man fast in den Schlund spucken können. Ganz abgesehen von ihrer angeborenen Abneigung gegen Städte und zu viele Menschen war es kein Ort, an dem sie gerne gelebt hätte – eigentlich ein Ort, von dem sie sich überhaupt nicht vorstellen konnte, daß dort irgend jemand gerne lebte. Aber die Nähe der Hölle hat die Menschen schon von jeher fasziniert – vorausgesetzt, sie war nicht so nahe, daß sie wirklich gefährlich werden konnte. Sie hatten die Pferde auf dem letzten Felsenkamm anhalten lassen. Tally spürte, wie der Rappe vor Erschöpfung zitterte. Der Ritt war lang gewesen und überaus anstrengend. Sie hatten den schweren, aber sehr viel kürzeren Weg durch die Berge genommen und darauf gebaut, daß der Frühling schneller sein würde als sie – was ein Irrtum gewesen war. Schon am Abend des zweiten Tages waren sie in heftiges Schneetreiben geraten, das bald zu einem Sturm angewachsen war, der sie drei Tage in einer Felsenhöhle festgehalten hatte. Tally schauderte noch jetzt, wenn sie daran zurückdachte. Sie hatten das Packpferd geschlachtet und gegessen und alles verbrannt, was brennbar war; ihre ohnehin schmale Habe war auf das zusammengeschmolzen, was sie am Leib trugen. Und trotzdem wären sie um ein Haar erfroren. Zum ersten Mal seit sechzehn Jahren hatten sie Hrhons Kräfte im Stich gelassen, denn der Waga war ein Kaltblüter und hilfloser als sie. Anders als gewohnt hatte sie dafür sorgen müssen, daß er nicht starb. Hätte der Sturm noch einen Tag länger angehalten...

Tally verscheuchte den Gedanken, strich ein wenig pulverigen Schnee aus der Mähne ihres Pferdes und tätschelte dem Tier geistesabwesend den Hals. Das Fell des Rappen dampfte vor Kälte; sein Schweiß roch schlecht. Sie konnte von Glück sagen, wenn das Tier noch bis Schelfheim durchhielt, wo sie es gegen ein neues eintauschen konnte. Und Hrhons Pferd...

Sie drehte sich halb im Sattel herum und blickte zu dem Waga zurück, der in unnachahmlich grotesker Haltung auf dem Rücken seines Kleppers hockte – einen anderen Namen verdiente die Schindmähre wirklich nicht. Der Händler, dem sie es für einen Wucherpreis abgekauft hatte, mußte sie insgeheim für völlig übergeschnappt gehalten haben, für ein solches Pferd auch nur einen roten Heller auszugeben. Es war nicht nur häßlich, sondern auch halb lahm und bewegte sich selbst im Galopp nicht sehr viel schneller als ein Spaziergänger. Aber es war das mit Abstand größte Pferd gewesen, das sie hatten finden können, und bisher das einzige, das Hrhons Gewicht länger als zwei Tage ertragen hatte, ohne tot unter ihm zusammenzubrechen.

»Issst esss nhoch wheit?« fragte Hrhon, als er ihren Blick bemerkte.

Tally schüttelte den Kopf, wodurch etwas Schnee aus ihrem Haar fiel und unter ihren Kragen rutschte. Eine Welle prickelnder Kälte breitete sich zwischen ihren Schulterblättern aus. »Ein paar Meilen noch«, sagte sie.

»Mit etwas Glück erreichen wir die Stadt noch vor Sonnenuntergang.«

Hrhon antwortete nicht, und Tally war auch nicht sicher, ob er ihre Worte überhaupt verstanden hatte. Sie sprach es niemals aus, und sie gab sich auch alle Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen – aber Hrhon bereitete ihr in den letzten Monaten Sorgen.

Sie hatte ihn und Essk in einem Land kennengelernt, in dem es niemals Winter gab, und obwohl sie gewußt hatte, daß er ein Kaltblüter war, hatte sie niemals auch nur einen Gedanken daran verschwendet, bis sie in den Norden gezogen waren, fort vom Äquator und hinein in den weitaus größeren Rest der Welt, in dem der Unterschied zwischen Sommer und Winter nicht nur an der Anzahl der Regentage gemessen wurde.

Dreimal in den vergangenen vier Monaten hatte sie geglaubt, daß Hrhon sterben würde, und einmal war er in eine Starre verfallen, aus der er fast eine Woche lang nicht aufgewacht war. Selbst jetzt, als das schlimmste hinter ihnen lag und die Temperaturen nur noch selten unter den Gefrierpunkt fielen, wirkte der Waga apathisch. Er schlief fast ununterbrochen, auch wenn sie ritten.

Sie verjagte auch diesen Gedanken, gab Hrhon ein Zeichen, weiterzureiten und trabte vor ihm den gewundenen Weg hinab. In Schelfheim würden sie ein Zimmer mit einem Kamin und einem guten Feuer nehmen, auch wenn es ihr letztes Geld verschlingen würde, und Hrhon auftauen. Auch sie sehnte sich nach einem weichen Bett und einer Nacht, in der sie nicht ein halbes dutzendmal aufwachte und glaubte, erfrieren zu müssen.

Nach einer Weile erreichten sie die Klippe – ein zerborstener, nahezu lotrecht abfallender Felsensturz, der eine gute Viertelmeile in die Tiefe führte. Sehr weit entfernt in westlicher Richtung erkannte Tally das filigrane Gespinst einer Brücke, die in kühn geschwungenem Bogen zum Schelf hinabging, aber der Gedanke, dort hinüberzureiten, behagte ihr nicht – es waren fünf oder sechs Meilen, mindestens, und Hrhon und sie waren noch immer Gejagte. Brücken waren Orte, an denen man sich nur schlecht verstecken konnte, und an denen es auf der anderen Seite immer neugierige Augen gab, die zu viel sahen.

Tally war ein wandelnder Schatz für den, der sie erkannte. Nach den letzten Informationen, die sie hatte, betrug die Belohnung, die auf ihren Kopf ausgesetzt war, mittlerweile tausend Goldstücke. Dem Mann, von dem sie dieses Wissen hatte, hatte seine Entdeckung allerdings kein Geld, dafür aber zwei gebrochene Arme eingebracht.

Nein – sie würde nicht zu dieser Brücke reiten. Wäre sie allein gewesen, wäre sie vielleicht einfach die Klippe hinuntergestiegen; denn die Wand war zwar hoch und fast senkrecht, aber so zerklüftet, daß selbst ein Kind an ihr hinabklettern konnte. Ein vor Kälte halb erstarrter Waga jedoch nicht. Nun, es gab andere Wege hinunter auf das Schelf – und Tally wußte auch, wo sie zu finden waren.

Statt nach Westen, der Brücke zu, wandten sie sich in die entgegengesetzte Richtung. Es begann wieder zu schneien, pulverfeiner trockener weißer Schnee, der wie Dampf im Wind tanzte und unter ihre Kleider, in ihre Augen und die Nase kroch und sie zum Niesen reizte. Länger als eine Stunde ritten sie durch eine Welt, die in jeder Richtung nur drei Schritte groß war und dann in wirbelnden weißen Schwaden endete. Es wurde sehr kalt, und Tally sah jetzt immer häufiger besorgt zu Hrhon zurück, der in verkrampfter Haltung auf dem Pferd hockte und sicher schon längst heruntergefallen wäre, hätte er sich nicht im Sattel festgebunden. Endlich ließ das Schneetreiben ein wenig nach, und kurz darauf fand sie die Stelle, die ihr der Mann auf der anderen Seite der Berge beschrieben hatte – einen gewaltigen, steinernen Bogen, der in kühnem Winkel weit über die Klippe hinausreichte, wie eine Brücke, die irgendwann einmal abgebrochen war. Tally hatte bis zum letzten Moment nicht gewußt, ob ihr der Mann nun die Wahrheit gesagt oder einfach nur ihr Geld genommen und darauf vertraut hatte, daß sie ja sowieso nicht wiederkommen und ihn zur Rechenschaft ziehen würde. Aber der Felsenbogen war da, und nach kurzem Suchen entdeckte sie auch den Höhleneingang, genau an der Stelle, die ihr beschrieben worden war.

Sie lenkte ihr Pferd in den Windschatten eines Felsens, wartete, bis Hrhon neben ihr angelangt war und boxte ihn gegen die Schulter, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Waga blinzelte aus trübe gewordenen Augen zu ihr herauf.

»Du wartest hier«, befahl Tally. »Ich gehe nachsehen. Wenn du irgend etwas Verdächtiges bemerkst, dann rufe.«

Hrhon machte eine zustimmende Handbewegung, aber Tally war klar, daß sie ebensogut mit seinem Pferd hätte reden können. Trotzdem lächelte sie aufmunternd, schwang sich mit einer kraftvollen Bewegung aus dem Sattel und landete um ein Haar auf der Nase, als ihre vom langen Reiten und der Kälte verkrampften Oberschenkel mit heftigen Schmerzen auf die Bewegung reagierten. Sie biß die Zähne zusammen, schlug den pelzgefütterten Mantel zurück und zog vorsichtshalber ihr Schwert aus dem Gürtel, ehe sie geduckt in die Höhle trat.

Wärme und der Geruch nach Menschen und Abfällen schlugen ihr entgegen. Im ersten Moment sah sie nichts; denn ihre Augen waren an Sand und eisverkrusteten Fels und Schnee gewöhnt. Sie blieb stehen, tastete sich mit der Linken an der rauhen Felswand entlang und lauschte gebannt.

Aus dem Hintergrund der Höhle drangen Geräusche an ihr Ohr, die nicht hierher gehörten, die sie aber nicht identifizieren konnte. Dann hörte sie Schritte, und aus den ineinander verwobenen Schatten der Höhle schälte sich eine menschliche Gestalt. In ihrer rechten Hand blitzte Metall.

»Wer da?« fragte eine Stimme. Die sonderbare Akustik der Höhle verzerrte sie, aber Tally hörte trotzdem, daß sie einem Mann gehören mußte – und keinem, den sie mögen würde, wenn er so war, wie seine Stimme klang.

»Ich suche Weller«, antwortete sie. »Bist du Weller? «

»Weller?« Der Schatten blieb stehen. Das Blitzen von Metall in seiner Hand glitt ein Stück in die Höhe. Tally spannte sich. »Hier gibt es keinen Weller«, fuhr die Stimme fort. »Wer soll das sein?«

»Ein Idiot, der meine Zeit mit dummen Spielchen verplempert«, antwortete Tally grob. »Ich soll dir Grüße von Sagor ausrichten, Weller. Er sagte, wenn ich einen Weg auf den Schelf hinab suche, der schnell und sicher ist, wäre ich bei dir richtig.«

Der Schatten bewegte sich nicht mehr, aber er antwortete auch nicht, und Tally fügte hinzu: »Ich habe Geld.«

»Ich kann dich hinunterbringen«, sagte Weller. »Aber es ist teuer. Drei Goldheller. Hast du ein Pferd?«

»Zwei«, antwortete Tally. »Und einen Begleiter. Er wartet draußen.«

»Dann acht«, sagte Weller.

»Acht?« Tally ächzte. »Du hast niemals rechnen gelernt, wie? Zweimal drei ist nicht –«

»Neun«, unterbrach sie Weller. »Und wenn du noch lange versuchst, zu feilschen, zehn. Oder sagen wir gleich zehn. Das rechnet sich besser.«

Tally schluckte die wütende Antwort herunter, die ihr auf der Zunge lag, denn sie hatte das sichere Gefühl, daß Weller dieses Spielchen nach Belieben weiterführen würde, bis seine Forderung eine Höhe erreichte, für die sie die Brücke kaufen konnte.

»Das ist ein stolzer Preis«, sagte sie vorsichtig. »Der Brückenzoll beträgt nur einen halben Heller – für zwei Reiter.«

»Wer zu mir kommt, hat seine Gründe, die Brücke nicht zu benutzen«, erwiderte Weller gelassen. »Ich zwinge dich nicht. Dreh um und reite hin.«

Er zuckte die Achseln, kam näher und schob das rostige Schwert in den Gürtel, das er bisher in der Hand gehalten hatte. Tally konnte jetzt sein Gesicht erkennen, und sie sah, daß ihr erster Eindruck richtig gewesen war – Weller war ein sehr kräftiger, vielleicht fünfzigjähriger Mann mit grau gewordenem Haar und kleinen, unangenehm stechenden Augen. Sein Gesicht sah aus, als hätte vor Jahren einmal jemand versucht, es in zwei Teile zu schneiden. Daß er dazu einen ungepflegten schwarzen Vollbart trug, vermochte die Narbe nicht zu verbergen, ließ ihn aber noch wilder und unsympathischer erscheinen – ein Eindruck, vermutete Tally, den er nach Kräften pflegte. Er war ein Riese. Selbst unter dem fellgefütterten Wams, das er trug, zeichneten sich seine Muskeln noch deutlicher ab. Aber er mußte so stark sein, für die Arbeit, die er tat.

Einen Moment lang musterte er Tally durchdringend, dann nickte er und verzerrte sein Gesicht zu einer Grimasse, die er für ein Lächeln halten mochte. »Gut«, sagte er. »Also zehn. Dafür bekommst du und dein Begleiter noch eine warme Suppe und einen Platz an meinem Feuer. Du siehst aus, als könntest du beides gebrauchen.«

Tally überlegte einen Moment. Wellers Angebot klang verlockend. Es war Tage her, daß sie das letzte Mal etwas Warmes zu Essen bekommen hatte. Aber dann schüttelte sie den Kopf. »Ich muß gleich weiter«, sagte sie. »Wir wollen Schelfheim erreichen, ehe es dunkel wird.«

»Daraus wird nichts«, erwiderte Weller ruhig. »In einer Stunde kommt die Nachmittagspatrouille an der Klippe vorbei. Ich nehme nicht an, daß du den Reitern der Garde begegnen willst.«

»Nicht unbedingt«, antwortete Tally. Und warum auch nicht? fügte sie in Gedanken hinzu. Sie hatten zehn Monate gebraucht, um herauszufinden, daß es dieses Stadt überhaupt gab, und weitere vier, um sie zu erreichen. Welche Rolle spielten da noch ein paar Stunden?

»Dann geh und hol deinen Begleiter und die Pferde«, sagte Weller. »Es ist nicht gut, wenn sie zu lange draußen herumstehen. Ich werde derweil das Feuer entzünden.« Ohne ein weiteres Wort drehte er sich herum und verschmolz wieder mit den Schatten der Höhle, und auch Tally ging den Weg zurück, den sie gekommen war, um Hrhon zu holen.

Der Waga war nicht wieder eingeschlafen, wie sie befürchtet hatte, sondern aus dem Sattel gestiegen und schlurfte im Kreis herum, um sich Bewegung zu verschaffen. Als er ihre Schritte hörte, blieb er stehen und drehte sich schwerfällig zu ihr herum. Auf seinem flachen Schildkrötengesicht glitzerte Eis.

Tally erwartete instinktiv, seinen Atem vor dem Gesicht als grauen Dampf zu erblicken, aber sie sah nichts. Die Luft in Hrhons Lungen war so kalt wie die, die sie umgab. Obwohl sie den Anblick gewohnt war, ließ sie der Gedanke schaudern. Zum wiederholten Male fragte sie sich, was es für ein Gefühl sein mußte, wenn das Leben ganz langsam, aber unbarmherzig, im eigenen Körper erlosch.

»Es ist in Ordnung«, sagte sie. »Sagor hat die Wahrheit gesagt. Nimm die Pferde und komm.«

Hrhon griff gehorsam nach den Zügeln und führte die Pferde hinter ihr in den Höhleneingang. Der Rappe scheute, als der Waga ihn in das finstere Loch zerrte, und Tally mußte sich mit einem hastigen Satz in Sicherheit bringen, um nicht von seinen wirbelnden Hufen getroffen zu werden. Aber dann schienen die Tiere die Wärme zu spüren, die aus dem Berg drang, und wehrten sich nicht mehr.

Der Stollen führte überraschend tief in die Erde hinein. Tally schätzte, daß sie sich sicherlich eine halbe Meile weit von der Klippe entfernt hatten, ehe vor ihnen endlich die rote Glut eines Feuers sichtbar wurde. Die Luft war hier von einem unangenehmen, scharfen Geruch erfüllt, den sie nicht einordnen konnte, aber anheimelnd warm, und unter ihren Stiefeln knirschte jetzt kein Eis mehr, sondern nur noch das lose Geröll, das den Höhlenboden bedeckte.

Sie gab Hrhon ein Zeichen, zurückzubleiben, ging ein wenig schneller und fand sich nach zwei, drei Dutzend Schritten in einer gewaltigen felsigen Kuppel wieder, in deren Wände zahllose weitere Gänge mündeten. Plötzlich begriff sie, daß sie sich in einem aufgelassenen Bergwerk befand. Das rote Licht, das sie gesehen hatte, kam nicht nur von Wellers Feuer, sondern auch von mindestens einem Dutzend Fackeln, die in eisernen Haltern an den Wänden befestigt waren. Ihre Schritte erzeugten lang nachhallende, unheimlich verzerrte Echos unter der hohen Decke.

Weller wandte sich zu ihr um, als er sie hörte, und deutete mit einer Kopfbewegung auf einen eisernen Kessel, der über dem Feuer hing. »Die Suppe ist gleich so weit«, sagte er. »Ich habe immer einen Vorrat davon bereit, vor allem im Winter, wenn –« Er brach mitten im Wort ab, starrte aus groß werdenden Augen an Tally vorbei und klappte den Unterkiefer herunter, als er Hrhon erkannte.

»He!« keuchte er. »Das... das war nicht vereinbart.«

»Was war nicht vereinbart?« fragte Tally, perfekt die Ahnungslose spielend.

»Der... der Kerl da!« stammelte Weller. Seine ausgestreckte Hand deutete anklagend auf Hrhon. »Den fahre ich nicht! Der Bursche wiegt mindestens seine dreihundert Pfund!«

»Eher vierhundert«, verbesserte ihn Tally lächelnd.

»Und ich dachte, wir wären uns über den Preis einig?«

»Du hast nicht gesagt, daß dein Begleiter ein Fischgesicht ist!« antwortete Weller zornig. »Der Kerl kann von mir aus die Klippe hinunter springen. Mit mir fährt er nicht!«

»Das solltest du dir überlegen«, sagte Tally. »Wir waren uns einig, und genau das habe ich Hrhon gesagt. Wenn er jetzt hört, daß du ihn nicht führst, könnte er denken; daß du uns betrügen willst. Er wird sehr wütend, wenn man ihn betrügt. Hast du schon einmal einen wütenden Waga erlebt, Weller?« fügte sie lächelnd hinzu.

Weller starrte sie aus flammenden Augen an, war aber klug genug, nicht mehr zu widersprechen, sondern ballte nur die Fäuste und stapfte zu seinem Feuer zurück. »Es war nicht vereinbart«, maulte er, während er zornig in seiner Suppe rührte. »Das kostet den doppelten Preis – wenn ich es überhaupt tue!«

»Du wirst es tun« versprach Tally. »Und den doppelten Preis zahle ich doch sowieso schon, oder nicht?« Sie schlug ihren Mantel zurück, trat an das Feuer heran und hielt die Hände so dichtüber die Flammen, wie es gerade nochging, ohne sie sich zu verbrennen. Weller fuhr fort, heftig in seiner Suppe zu rühren, wobei er Tally und Hrhon abwechselnd wütende Blicke zuwarf. Aber Tally wußte, daß er nicht mehr widersprechen würde. Sie hatte oft genug erlebt, wie der Anblick eines Waga auf einen Menschen wirkte.

Eine Weile saß sie einfach stumm vor dem Feuer, rieb die Hände aneinander und genoß das Gefühl, das Leben prickelnd in ihren Körper zurückkehren zu spüren. Sie merkte erst jetzt, wie kalt es auch hier drinnen war: ihr Atem erschien als unregelmäßige Folge grauer Dampfwolken vor ihrem Gesicht, und ihre Muskeln schmerzten, jetzt, als sie sich langsam entspannte.

»Ihr seid Betrüger«, sagte Weller plötzlich.

»Möglich.« Tally zuckte mit den Schultern. »Dann passen wir zusammen, nicht wahr? Wie viele unbedarfte Reisende hast du schon über's Ohr gehauen, Weller? Es sieht so aus, als wärst du je an der Reihe. Merk dir für die Zukunft, daß du dir deine Fahrgäste erst ansiehst, ehe du den Preis ausmachst.«

Weller hörte auf, wie besessen in der Suppe zu rühren, starrte sie einen Moment lang verdutzt an – und begann schallend zu lachen. »Du gefällst mir«, sagte er. »Wer weiß, vielleicht ist der Spaß ein bißchen Schweißarbeit wert. Woher kommt ihr?«

Tally deutete in die Richtung, in der sie Süden vermutete. »Dorther.«

Weller blinzelte. »Und wenn ich jetzt frage, wohin ihr wollt, wirst du vermutlich antworten –«

Tally deutete mit dem Daumen über die Schulter und nickte. »Dorthin, richtig.«

Weller seufzte. »Nun gut, warum frage ich auch. Geht mich nichts an, oder?« Er bückte sich, hob zwei verbeulte Blechteller vom Boden auf und füllte sie mit der dampfenden Suppe. »Hier, das wird euch guttun.«

Tally griff nach dem Teller und begann gierig zu essen. Die Suppe schmeckte nach nichts, aber sie war warm, und sowohl Tally als auch Hrhon verlangten einen Nachschlag, den Weller ihnen auch gab. Anschließend kuschelten sie sich nebeneinander ans Feuer, und plötzlich wurde Tally müde. Sie mußte mit aller Macht gegen den Schlaf ankämpfen, der sie übermannen wollte.

»Was sucht ihr in Schelfheim?« fragte Weller nach einer Weile.

Tally hob mühsam den Kopf und blinzelte zu ihm auf.

»Jemanden, der uns nicht mit neugierigen Fragen auf die Nerven fällt«, sagte sie matt.

Weller zog eine Grimasse. »Ich habe einen Grund, zu fragen«, sagte er. »Es gibt eine Menge neugieriger Augen und Ohren in der Stadt. Du könntest an den Falschen geraten, wenn du zu viele Fragen stellst. Möglicherweise findest du dich vor dem Stadthalter wieder...« Er seufzte. »Wenn du Informationen brauchst, kannst du sie von mir bekommen.«

»Und wer sagt mir, daß du uns nicht verrätst?«

Weller grinste. »Niemand. Außer der Tatsache vielleicht, daß ich davon lebe, verschwiegen zu sein.« Er zögerte einen ganz kurzen Moment. »Du bist Tally.« Tally setzte sich kerzengerade auf. Ihre Müdigkeit verflog schlagartig. »Woher weißt du das?« fragte sie.

»Das war nicht besonders schwer zu erraten«, antwortete Weller. Er deutete auf Hrhon, der zusammengekauert vor dem Feuer hockte und stumpfsinnig in die Flammen blinzelte. »Eine rabiate Amazone, die mit einem Waga durch die Lande zieht und neugierige Fragen stellt...« Er zuckte die Achseln. »Die Beschreibung paßt, findest du nicht? Du bist eine berühmte Frau, Tally.«

»Und eine wertvolle«, fügte Tally hinzu. Ihre Hand glitt zum Schwert.

Aber Wellers Grinsen wurde nur noch breiter. »Du enttäuschst mich, Tally«, sagte er. »Ich hätte das zehnfache der Belohnung einstecken können, die auf deinen Kopf steht, hätte ich all die verraten, die zu mir gekommen sind.«

»Irgendwann ist immer das erste Mal«, erwiderte Tally. Ihr Blick glitt aufmerksam über Wellers Gestalt. Auch seine Hand lag auf dem Schwert, aber nicht in drohender Weise. Es war nur ein Reflex, als Antwort auf ihre Bewegung.

»Ich kann euch von Nutzen sein«, fuhr Weller fort. »Sagt mir, wen oder was ihr sucht, in Schelfheim, und ich bringe euch hin.«

Tally dachte einen Moment ernsthaft über seinen Vorschlag nach, schüttelte aber dann den Kopf. Die Verlockung, einen Führer zu haben, war groß. Aber sie waren bis jetzt allein gewesen, und ihre innere Stimme riet ihr, auch weiterhin nicht von dieser Taktik abzuweichen.

»Du bist mir zu teuer«, sagte sie. »Selbst, wenn ich dir vertrauen würde, könnte ich mir deine Dienste nicht leisten.«

»Womit wir beim Geld wären.« Weller stakste steifbeinig um das Feuer herum und streckte die linke Hand aus.

»Du schuldest mir zehn Goldstücke. «

Tally seufzte, griff aber unter ihren Mantel und zog die Geldbörse hervor. Sorgsam zählte sie zehn Goldheller ab, ließ sie in Wellers ausgestreckte Hand fallen und knotete die Börse wieder zu. Ihre Barschaft war jetzt auf vier Goldheller und ein paar kleinere Münzen zusammengeschmolzen; in einer Stadt wie Schelfheim gerade genug für eine Übernachtung und eine drittklassige Mahlzeit. Aber sie hatte auch nicht vor, lange in Schelfheim zu bleiben. Wenn sie Glück hatten und den Mann, den sie suchten schnell genug fanden – vorausgesetzt, es gab ihn überhaupt – vielleicht nicht einmal einen Tag. Tally hatte Städte nie gemocht, und Schelfheim – obwohl sie es bisher nur von weitem gesehen hatte – würde sie garantiert noch weniger mögen. Allein der Gedanke, in diesen kochenden Pfuhl voller Menschen und Lärm und Gestank hineingehen zu sollen, bereitete ihr körperliches Unbehagen.

Wellers Blicke waren ihren Bewegungen aufmerksam gefolgt. Jetzt seufzte er, ließ seinen Lohn achtlos in der Kitteltasche verschwinden und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen nieder. »Du hast wirklich nicht viel Geld«, sagte er.

»Ich brauche keines«, erwiderte Tally ausweichend.

»Hier schon.« Weller machte eine bestimmende Handbewegung, als Tally widersprechen wollte. »Du kommst aus dem Süden, Kindchen«, fuhr er fort. »Dort mag das alles stimmen. Aber Schelfheim ist anders. Ohne genügend Geld bist du hier verloren. Aber ich will nicht so sein – jemand, der von den Töchtern des Drachen gesucht wird, verdient es, ein wenig Hilfe geschenkt zu bekommen. Also: eine Frage hast du frei.«

»Die Töchter des Drachen?« Tally starrte Weller ungläubig an. »Woher hast du diesen Namen?«

»Ist das die Frage? « Weller grinste.

Allerdings nicht sehr lange, denn Tally beugte sich blitzschnell vor, ergriff ihn am Kragen und zerrte ihn mit solcher Kraft zu sich herab, daß er fast das Gleichgewicht verlor. »Woher du diesen Namen hast, will ich wissen!«

»Beim Schlund, laß mich los!« keuschte Weller. Vergeblich versuchte er, Tallys Griff zu sprengen, erreichte damit aber nur, daß sie nun auch noch die andere Hand in sein Wams krallte und ihm fast vollends den Atem abschnürte. »Ich antworte ja, aber wie kann ich das, wenn du mich erwürgst?«

Tally ließ widerstrebend sein Wams los, starrte ihn aber weiter drohend an. Weller richtete sich keuchend wieder auf, fuhr sich mit der Linken über die Kehle und senkte die andere Hand auf das Schwert.

Tally schüttelte ganz sacht den Kopf. »Versuch es nicht«, sagte sie.

»Die Beschreibung, die man mir gegeben hat, stimmt wirklich«, murrte Weller. »Du bist rabiat.«

»Ich glaube, ich habe dir eine Frage gestellt«, erinnerte Tally. Weller starrte sie finster an, kroch ein kleines Stück von ihr zurück und strich abermals mit den Fingern über seine mißhandelte Kehle.

»Sie sind die wahren Herren von Schelfheim«, antwortete er unwillig. »Der Stadthalter und seine Soldaten gehorchen ihnen, auch wenn sie es nicht zugeben wollen.«

»Wieso Töchter des Drachen?« fragte Tally.

»Wieso Tally?« erwiderte Weller böse. »Sie nennen sich eben so. Und sie haben ganz entschieden etwas gegen dich und deinen Freund da. Was glaubst du, woher die Belohnung stammt, die auf deinen Kopf ausgesetzt ist?« Er fluchte. »Ich weiß gar nicht, warum ich mich mit dir abgebe. Ich hätte dich gleich zum Teufel jagen sollen.« Er stand auf und stieß wütend mit dem Fuß ins Feuer, daß die Funken flogen. »Kommt jetzt. Es ist Zeit.«

Die Stunde, von der er zuvor gesprochen hatte, war noch lange nicht verstrichen, aber Tally gehorchte trotzdem. Ihre Gedanken kreisten wie wild um den Namen, den Weller genannt hatte.

Die Töchter des Drachen...

Es konnte Zufall sein, aber wenn, dann war es ein so großer Zufall, daß es ihr schwer fiel, ihn zu akzeptieren. Auf der anderen Seite erschien es ihr unglaublich, daß sie in solcher Offenheit auftreten sollten. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Plötzlich konnte sie es kaum mehr erwarten, nach Schelfheim zu kommen. Vielleicht war sie ihrem Ziel näher, als sie geahnt hatte.

2

Aber bevor es so weit war, wartete noch ein gehöriger Fußmarsch auf sie. Weller verließ die Höhle durch einen der Stollen, die in ihre Wände mündeten, und für eine gute halbe Stunde führte er sie durch ein wahres Labyrinth finsterer, sich kreuzender Gänge und schräger Rampen, die mal nach oben, mal abwärts führten. Sie kam nicht dazu, Weller eine weitere Frage zu stellen, denn er ging so weit und so rasch vor ihnen, daß Tally und Hrhon Mühe hatten, überhaupt mit ihm Schritt zu halten, zumal sie noch die Pferde mit sich führen mußten, denen es gar nicht gefiel, durch pechschwarze Tunnel gezwungen zu werden. Schließlich endete der Marsch in einer zweiten, allerdings sehr viel kleineren Kuppelhöhle.

Der Geruch warnte sie, Augenblicke, bevor sie hinter Weller aus dem Gang trat. Und trotzdem wäre es um ein Haar zur Katastrophe gekommen. Sie spürte die Bewegung, eine halbe Sekunde, bevor Hrhon ein wütendes Zischen ausstieß und sie kurzerhand zur Seite schob; so wuchtig, daß sie gegen die Wand prallte und auf die Knie herabfiel. Weller ließ ein überraschtes Keuchen hören, aber der Waga rannte ihn einfach nieder und stürzte sich mit drohend erhobenen Fäusten auf das schwarzglänzende Chitinbündel, das ihm aus seinen starren Facettenaugen entgegenblickte und gar nicht begriff, wie ihm geschah.

»Hrhon – nicht!« rief Tally verzweifelt. »Hör auf!« Sie konnte nicht genau erkennen, ob Hrhon ihre Worte überhaupt gehört hatte, aber einen Augenblick später hörte sie ein dumpfes, berstendes Geräusch, dem ein pfeifender Schmerzlaut folgte, und die Schatten des Waga und des Hornkopfes verschmolzen zu einem unentwirrbaren Bündel wirbelnder Glieder.

»Hrhon! Zurück!« schrie Tally. Sie sprang auf, stieß Weller, der sich gerade aufrappeln wollte, ein zweites Mal zu Boden, und versuchte Hrhon von seinem Opfer wegzureißen.

Natürlich reichte ihre Kraft nicht aus, den Waga auch nur aufzuhalten, aber ihr Eingreifen brachte ihn wenigstens so weit zur Vernunft, daß er aufhörte, seine geballte Faust immer wieder auf den hornigen Schädel der Termite herunterkrachen zu lassen. Allerdings ließ er den Hornkopf auch nicht los, sondern preßte ihn weiter zu Boden, wobei er ohne sichtliche Anstrengung seine gewaltigen Beißzangen auseinanderbog.

»Verdammt, ist das eure Art, Dankbarkeit zu zeigen?« fragte Weller.

Tally ignorierte ihn. »Bitte, Hrhon, laß ihn los«, sagte sie. »Er gehört nicht zu ihnen.«

Hrhon zögerte. Seine geballte Faust schwebte noch immer über dem Schädel des Hornkopfes, und das trübe Glitzern seiner Augen hatte flammendem Haß Platz gemacht. Seine Lippen zitterten. Dann, ganz plötzlich, war es, als erwache er unversehens aus einem tiefen Schlaf. Verwirrt starrte er auf den Hornkopf herab, stand mit einem Ruck auf und wich zwei, drei Schritte zurück. Auch der Hornkopf erhob sich taumelnd auf seine sechs Beine und kroch ein Stückweit davon.

»Was soll das?« beschwerte sich Weller. Wütend trat er neben Tally, riß sie am Arm herum und zog die Hand hastig wieder zurück, als Hrhon ein drohendes Zischen hören ließ.

»Verzeiht meinem Freund«, sagte Tally, betont ruhig.

»Er mag Hornköpfe nicht. Sie haben seine Frau getötet«, fügte sie hinzu. Sie war verwirrt. Sie verstand und teilte Hrhons Haß auf die insektioden Kreaturen, aber sie hatte ihn noch niemals so unbeherrscht wie jetzt erlebt. »Es tut mir leid.«

»Leid?« Weller spie aus. »Beim Schlund, wenn das deine Freunde sind, möchte ich nicht deine Feinde kennenlernen, Tally! Du wirst nicht weit kommen, wenn er auf jeden Hornkopf losgeht, den er sieht. Es wimmelt in Schelfheim nämlich von ihnen.«

»Ich sagte, es tut mir leid«, erwiderte Tally scharf.

»Hrhon hat die Beherrschung verloren. Der Winter macht ihm zu schaffen. Aber es wird nicht noch einmal geschehen. Und du hättest uns warnen können.«

»Warnen?« Weller schrie fast. »Wovor? Daß ich Arbeiter beschäftige? Du bist wirklich verrückt, Tally. Ich bin froh, wenn ich euch beide Irre los bin.« Wütend fuhr er herum und klatschte in die Hände. Ein zweiter, dritter und vierter Hornkopf krochen schwerfällig in die Höhle, jeder einzelne ein wahrer Gigant, dessen bloßer Anblick Tally schaudern ließ.

Sie sah zu Hrhon hinüber. Der Waga war ein Stück zurückgewichen und musterte die Hornköpfe voller schweigendem Haß. Er wirkte kein bißchen bedrückt oder schuldbewußt, dachte Tally besorgt. Ganz im Gegenteil – sie hatte das sichere Gefühl, daß er sich sehr beherrschte, um nicht ein zweites Mal auf die Hornköpfe loszugehen.

»Was ist in dich gefahren?« fragte sie, so leise, daß Weller die Worte nicht hören konnte. »Es sind ganz normale Hornköpfe! Bist du von Sinnen?«

»Etwasss ssstimmt nissst mhit ihnen«, behauptete Hrhon. »Sssie hasssen unsss.«

»Sie...?« Tally blickte verwirrt auf die vier gigantischen Termiten herab. Der Anblick der chitingepanzerten Ungeheuer bereitete ihr Unbehagen, aber das war normal. Trotzdem war sie für einen Moment nicht sehr sicher, daß Hrhons Behauptung nur seiner Müdigkeit zuzuschreiben war.

»Unsinn«, sagte sie. »Du wirst dich beherrschen, verstanden?«

»Whie ihr bhefhelt, Herrin«, sagte Hrhon – allerdings in einem Ton, der seine Worte Lügen strafte. Seine gewaltigen Pranken bewegten sich, ohne daß er es auch nur merkte. Tally warf ihm einen letzten, mahnenden Blick zu, wandte sich wieder an Weller und deutete auf die Hornköpfe herab. »Wozu brauchst du diese Kreaturen?«

»Um Verrückte wie euch nach unten zu bringen«, antwortete Weller mit einem bösen Blick auf Hrhon. Er schnippte mit den Fingern, woraufhin sich einer der Hornköpfe in Bewegung setzte und schwerfällig auf ein vielleicht drei Meter messendes, kreisrundes Loch zukroch, das im Boden gähnte.

Tally sah erst jetzt, daß sich darüber eine komplizierte, aus zahlreichen Stangen und Zahnrädern und Rollen bestehende Konstruktion erhob, von der eine armdicke Kette in die Tiefe führte. Der Hornkopf griff geschickt mit seinen gewaltigen Zangen nach einem Hebel und begann ihn wie einen Pumpenschwengel auf und ab zu bewegen. Ein Teil des verwirrenden Räderwerkes setzte sich in Bewegung. Die Kette spannte sich. Ein ächzendes Klirren drang aus der Tiefe des Schachtes.

»Das ist also dein kleines Geheimnis«, sagte sie spöttisch. »Ein Aufzug. Vermutlich übriggeblieben, als man diese Mine aufgab.«

»Vermutlich«, knurrte Weller. »Aber er funktioniert nur, wenn jemand da ist, der den Hebel bedient, weißt du?«

Tally tat so, als hätte sie die Spitze überhört, trat an den Rand des Schachtes und beugte sich vor, um in die Tiefe zu sehen. Unter ihr, sehr tief unter ihr, bewegte sich ein glitzerndes Etwas durch den Schacht. Der Anblick ließ sie schwindeln. Sie mußten sich in die Höhe bewegt haben, statt nach unten, wie sie bisher angenommen hatte. Der Schacht war mindestens eine Meile tief. Hastig trat sie ein Stück zurück.

»Ist es stabil genug, Hrhon und die Pferde und mich zu tragen?« fragte sie.

»Keine Ahnung«, sagte Weller ärgerlich. »Der Waga wird allein fahren. Zuerst sind die Pferde dran, dann du.« Er spie zornig aus. »Bei diesem Handel zahle ich drauf!«

Oh ja, dachte Tally spöttisch. Und du weißt noch gar nicht, wie sehr, mein Lieber. Aber sie sagte vorsichtshalber nichts mehr, sondern wartete geduldig, bis der Hornkopf den Aufzug zu ihnen heraufgebracht hatte, was eine gute Viertelstunde in Anspruch nahm. Sie nutzte die Zeit, sich Wellers Maschine in aller Ruhe anzusehen.

Tally hatte zwar nicht das mindeste technische Verständnis, aber sie erkannte doch, daß es sich um eine echt komplizierte Konstruktion handelte; etwas, das weit über Rad und Hebel hinausging, die einzigen technischen Hilfmittel, die die Götter erlaubten. Die Kabine des Aufzuges selbst, die nach einer Weile schaukelnd und ächzend aus dem Schacht auftauchte, bestand zur Gänze aus Metall, das uralt sein mußte, aber nicht die geringste Spur von Rost zeigte.

»Das da kann dir den Hals kosten, weißt du das?« fragte sie.

»So?« Weller blickte provozierend an ihr vorbei.

»Du verstößt gegen die Gesetze der Götter«, sagte Tally. »Wenn sie herausfinden, was du hier tust, dann töten sie dich.«

»Da wo du herkommst, vielleicht. Hier nicht. Unsere Götter sind weniger schlimm. Aber wozu brauche ich Götter, wenn ich Kunden wie euch habe?« murrte Weller. Mit einer herrischen Bewegung scheuchte er den Hornkopf vom Rand des Schachtes weg, trat an den eisernen Käfig und stieß die Tür auf. »Mach schnell«, sagte er. »Ich bin froh, wenn ich euch los bin.« Tally rührte sich nicht von der Stelle.

»Was ist?« fragte Weller zornig. »Willst du hier übernachten?«

»Nein«, antwortete Tally. »Aber ich habe es mir anders überlegt. Deine Gesellschaft bereitet mir solches Vergnügen, daß ich sie noch ein wenig genießen möchte. Hrhon wird als erster fahren.« Sie lächelte zuckersüß. »Immerhin ist er der schwerste von uns, nicht? Und wir wollen nicht, daß deine Freunde ihn vor lauter Erschöpfung etwa fallen lassen.«

Weller preßte wütend die Lippen aufeinander, aber er widersprach nicht, sondern sah schweigend zu, wie der Waga in den metallenen Korb kletterte und die Tür hinter sich zuzog. Auf einen weiteren Wink Wellers hin krochen die Hornköpfe an die Maschine und griffen mit klickenden Zangen nach Hebeln, die Dinge taten, die Tally nicht verstand. Ächzend und stöhnend setzte sich die Kabine wieder in Bewegung und verschwand ganz langsam in der Tiefe.

»Du bist ein verdammt mißtrauisches Weib«, sagte Weller. »Du würdest nicht einmal deiner eigenen Mutter trauen, wie?«

Tally antwortete nicht. Sie war ein weiteres Stück zurückgewichen und sah aufmerksam zu, wie die riesigen Termiten Wellers Maschine bedienten.

Sie hatte Hrhons Worte nicht vergessen, und etwas in ihr sagte ihr, daß sie nicht nur seinem Haß auf die Hornköpfe und seiner Erschöpfung zuzuschreiben waren. Möglicherweise sah sie auch nur Gespenster – wenn man zu lange gejagt wurde, begann man vielleicht hinter jedem Schatten einen Feind und in jeder unbedachten Bemerkung einen Verrat zu wittern. Trotzdem ließ sie die Hand auf dem Schwert liegen und behielt Weller und seine vier Arbeiter aufmerksam im Auge, bis sich die Kette mit einem Ruck entspannte und sie wußte, daß Hrhon heil unten angelangt war.

Eine weitere Viertelstunde verging, ehe die Kabine ein zweites Mal über dem Rand des Schachtes auftauchte. Weller riß wütend die Tür auf, noch ehe sie vollends zur Ruhe gekommen war. »Jetzt die Pferde und du«, sagte er.

Tally schüttelte den Kopf. »Nein.«

Weller wurde noch bleicher, als er ohnehin war.

»Was... was soll das?« fragte er. »Glaubst du, ich hätte meine Zeit gestohlen?«

»Nein, aber ergaunert.« Tally trat einen Schritt auf ihn zu und zog mit einer fast gemächlichen Bewegung das Schwert. »Aber vielleicht hast du recht. Deine hornigen Freunde scheinen kräftig genug, uns beide halten zu können.«

Es dauerte einen Moment, bis Weller begriff. »Uns?« wiederholte er.

»Uns.« Tallys Schwert bewegte sich ein wenig nach oben und deutete nun genau auf seine Kehle. »Du wirst mich begleiten, Weller.«

»Das... das war nicht vereinbart«, stammelte Weller.

»Möglich. Dann ändere ich unsere Vereinbarung jetzt. Vorwärts!« Sie unterstrich ihre Worte mit einer drohenden Bewegung, die Weller rücklings in den Gitterkäfig hineinstolpern ließ, folgte ihm mit einem raschen Schritt und zog die Tür hinter sich zu.

»Und die Pferde?« fragte Weller nervös. Sein Blick irrte unstet zwischen Tallys Gesicht und der Spitze ihres Schwertes hin und her.

»Du kannst sie behalten«, antwortete Tally. »Als Dreingabe, für die Mehrarbeit, meinetwegen. Los jetzt – oder traust du deinen eigenen Freunden nicht mehr?« Weller schluckte sicht- und hörbar, widersprach aber jetzt nicht mehr, sondern klatschte zweimal hintereinander in die Hände. Schaukelnd und klirrend setzte sich der Aufzug in Bewegung.

Kurz, bevor die Kabine vollends in den Schacht sank und die Dunkelheit über ihnen zusammenschlug, sah Tally noch einmal zu den Hornköpfen auf, die mit ihren gewaltigen Körperkräften Wellers Maschine bedienten, und für einen ganz kurzen Moment blickte sie genau in das glatte Horngesicht eines der Ungeheuer.

Was sie sah, ließ sie schaudern. Die faustgroßen Facettenaugen des Hornkopfes waren ausdruckslos wie geschliffene Halbkugeln aus Glas – und doch... Etwas war an diesen Hornköpfen anders als an allen, denen sie bisher begegnet war. Sie wußte nicht was, und ein Teil von ihr versuchte immer noch, sie davon zu überzeugen, daß sie sich von Hrhons Hysterie anstecken ließ. Aber sie war trotzdem überzeugt, daß mit diesen Hornköpfen etwas nicht stimmte.

Die Fahrt in die Tiefe schien endlos zu dauern. Der Gitterkorb schaukelte und schwankte wie ein kleines Boot auf stürmischer See, und mehr als einmal krachte er mit solcher Wucht gegen die Wand, daß Tally fast das Gleichgewicht verlor. Weller wurde zu einem verschwommenen Schatten zwei Schritte vor ihr, und es wurde beständig dunkler, obwohl tief unter ihnen ein heller Fleck von Tageslicht schimmerte.

»Du bist ein verdammt mißtrauisches Weib«, sagte Weller nach einer Weile. Tally konnte sein Gesicht in der Dunkelheit nicht erkennen, aber seine Stimme klang eher beleidigt als wirklich zornig.

»Ich habe genug bezahlt, um es sein zu dürfen«, erwiderte sie. »Außerdem lebe ich noch. Das wäre nicht so, wäre ich nicht so mißtrauisch.«

Weller lachte leise. »Ich werde nicht schlau aus dir, Tally«, sagte er. »Was hast du vor, wenn wir unten sind? Willst du mich erschlagen?«

»Du wirst uns begleiten«, erwiderte Tally. »Nicht sehr weit. Nur bis wir in der Stadt sind.«

»Das würde euch wenig nutzen«, sagte Weller.

»Wieso?«

»Du hast noch nie eine wirklich große Stadt gesehen, wie?« vermutete Weller. »Schelfheim ist groß, und damit meine ich wirklich groß, Tally. Ihr braucht einen Führer, oder ihr seid verloren. Wohin wollt ihr überhaupt?«

»Wir suchen jemanden«, antwortete Tally nach kurzem Zögern.

»Oh.« Weller kicherte. »Nun, dann seid ihr in Schelfheim richtig. Es gibt einige hundertausend jemands in der Stadt. Weißt du seinen Namen?«

Tally nickte. Dann fiel ihr ein, daß Weller die Bewegung in der Dunkelheit ja nicht sehen konnte, und sie sagte: »Ja. Er heißt Karan.«

»Karan, der Verrückte?« Weller keuchte. »Wenn du ihn finden willst, wünsche ich dir viel Spaß. Das ist fast unmöglich, ohne jemanden, der euch durch die Stadt führt.«

»Und wieso?«

»Weil er im Norden wohnt, und das ist eine Gegend, in die sich nicht einmal die Stadtgarde wagt. Es wimmelt dort von Gesindel und Halsabschneidern, die dir für einen roten Heller den Hals umdrehen.«

»Kennst du ihn denn?« fragte Tally harmlos.

»Karan?« Weller schnaubte. »Sicher. Aber du –« Er brach ab, und trotz der pechschwarzen Finsternis glaubte Tally seine vorwurfsvollen Blicke direkt zu spüren. »Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht«, gestand er nach einer Weile. »Jetzt wirst du darauf bestehen, daß ich dich hinführe.«

»Ja«, sagte Tally ruhig. »Das werde ich wohl.«

Weller schnaubte. »Verdammt, ich werde nicht schlau aus dir, Tally«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob ich dich verfluchen oder deine Gerissenheit bewundern soll. Du wärst ein würdiger Partner für mich. Aber du bist dabei, mich zu ruinieren, ist dir das klar? Wer ersetzt mir den Verdienstausfall, während ich den Fremdenführer für dich spiele?«

»Ich werde dich entschädigen«, antwortete Tally. »Du kannst uns ja bei der Stadtgarde verraten, sobald wir fort sind. Sie werden zwar keine Belohnung für jemanden bezahlen, den sie nicht haben, aber ein Mann wie du lebt ja wohl davon, gute Beziehungen zu den Mächtigen zu pflegen – oder?«

Weller antwortete nicht; aber er tat es auf eine sehr bezeichnende Weise.

3

Es wurde Nacht, ehe sie die Stadt erreichten. Der Schacht endete zwar in einer gewaltigen Höhle, deren nördliche Wand zusammengebrochen war, so daß der Schelf vor ihnen lag und sie nur wenige Schritte zu gehen brauchten, um ins Freie zu gelangen. Aber was von oben aus betrachtet wie ein schmaler Sandstreifen ausgesehen hatte, der die Klippe von den ersten Häusern der Stadt trennte, erwies sich in Wahrheit als ein Stück von gut zwei Meilen, das zudem so unwegsam und so mit Felstrümmern und wucherndem Gestrüpp übersät war, daß das Gehen zu einer reinen Qual wurde.

Tally war dennoch froh über die Umstände; denn nur so hatten sie überhaupt eine Chance, die Stadt ungesehen zu erreichen – was ihn nach dem Gespräch mit Weller wichtiger denn je erschien. Sie war besorgt, weitaus stärker, als sie sich anmerken ließ. Sie hatte gewußt, daß Hrhon und sie gejagt wurden – so wie tausend andere aus tausend anderen Gründen. Trotzdem war sie schockiert, daß ein Mann wie Weller sie und Hrhon auf den ersten Blick erkannt hatte.

Dann näherten sie sich der Stadt, und Tallys Aufmerksamkeit wurde von anderen Dingen in Anspruch genommen. Es gab keine Stadtgrenze im eigentlichen Sinn: zwischen den Trümmern und dem Unrat, von dem sich ganze Berge auf dem grau gewordenen Sand des Schelfs erhoben, tauchten jäh die ersten Hütten auf, klein und schäbig und aus dem Müll erschaffen, auf dem sie erbaut waren, und das dumpfe Raunen und Brausen der Stadt, das im Laufe der letzten Stunde beständig näher gekommen war, wich dem Klang einzelner Stimmen, schrillem Gelächter und Schreien, dem Kreischen von Kindern und klingenden Hammerschlägen. Weller, der bisher so weit vorausgegangen war, wie Tally es gerade noch zuließ, blieb stehen und wartete, daß sie und der Waga zu ihm aufschlossen.

»Besser, wir bleiben von jetzt an dicht beisammen«, sagte er. Tally wußte nicht, ob sie den Ausdruck, auf seinem Gesicht richtig deutete – aber der Klang seiner Stimme verriet Furcht. »Das hier ist eine üble Gegend. Schon so mancher, der hierher gegangen ist, ist nicht wieder zurückgekommen.«

Tally blieb stehen, sah kurz zur Klippe zurück, die zu einem schmalen schwarzen Strich vor dem Nachthimmel geworden war, und blickte ihn nachdenklich an. »Trifft das auch auf deine Kunden zu?« fragte sie.

Weller zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Ich habe nie behauptet, daß der Weg sicher sei, oder? « Tally antwortete nicht. Es hatte nicht viel Sinn, sich mit Weller zu streiten, und im Grunde konnte sie ihm nur dankbar für die Warnung sein. Wer immer die Menschen waren, die hier lebten – sie waren auf jeden Fall eher seine als ihre Freunde. »Gehen wir weiter.« Sie begriff bald, was Weller gemeint hatte. Die Abfallhütten, zuerst nur einige wenige und klein, nahmen an Zahl und Größe zu, und schon nach wenigen Dutzend Schritten bewegten sie sich durch eine regelrechte Stadt, erbaut aus Abfällen und errichtet auf Bergen von Müll. Die Luft stank entsetzlich, und Tally begann sich am ganzen Leib klebrig und besudelt zu fühlen. Dabei herrschte noch immer Winter; wo der Boden nicht von zahllosen Füßen zu klebrigem Morast zertrampelt worden war, lag Schnee. Tally fragte sich, wie es hier im Sommer sein mochte. Schon jetzt hatte sie das Gefühl, kaum mehr richtig atmen zu können.

Und so wie dieser Teil Schelfheims waren seine Bewohner. Die Dunkelheit verbarg die meisten vor ihren Blicken oder ließ sie zu flachen Schatten werden, die angstvoll davonhuschten, wenn Tally, Weller, und der Waga näher kamen, aber das wenige, was sie sah, ließ sie schaudern. Es waren Menschen – meistens jedenfalls – aber sie waren so schmutzig und heruntergekommen wie die Häuser, in denen sie lebten: ausgemergelt, blasse Kreaturen, in Lumpen gekleidet und mit hungrigen Augen, die sie voller Gier anstarrten. Und nach einer Weile bemerkte Tally, daß sie verfolgt wurden.

Die Verfolger waren geschickt, und wahrscheinlich war es nur Tallys Leben als Gejagte zuzuschreiben, daß sie es überhaupt spürte – niemand kam ihnen nahe, aber die Schatten, die am Rande ihres Gesichtsfeldes entlanghuschten, nahmen zu, und etwas änderte sich im wispernden Chor der Stimmen, der ihnen folgte. Tally konnte die Drohung, die plötzlich über ihnen schwebte, beinahe anfassen.

»Was ist das hier, Weller?« fragte sie. Ganz instinktiv trat sie ein Stück näher an ihn und den Waga heran. Ihre Hand glitt unter den Mantel und schmiegte sich um den Schwertgriff. Ihre Erfahrung als Kriegerin sagte ihr, daß ihr die Waffe herzlich wenig nutzen würde – sie waren von Dutzenden, wenn nicht von Hunderten der huschenden schwarzen Gestalten umgeben. Aber die Berührung des kalten Stahls tat gut.

»Der Teil von Schelfheim, den Fremde normalerweise nicht zu Gesicht bekommen«, antwortete Weller. »Laß bloß deine Waffe stecken, oder wir sind tot, ehe du Zeit findest, ein letztes Gebet zu sprechen.«

»Verdammt, wohin hast du uns geführt?« fauchte Tally. »Enden alle deine Kunden hier?«

»Manche«, gestand Weller ungerührt. »Das hier ist die Vorstadt. Eine Menge Menschen und nicht-Menschen kommen nach Schelfheim, um ihr Glück zu machen. Manchen gelingt es, manchen nicht. Die, die Pech haben, enden hier.« Er wandte im Gehen den Kopf und grinste Tally beinahe unverschämt an. »Ich habe dir geraten, die Brücke zu benutzen, oder?« Seine Hand wies nach Westen, und als Tallys Blick der Bewegung folgte, sah sie eine Kette winziger roter Lichter, die sich schräg über den Himmel spannte und irgendwo vor ihnen mit der Stadt verschmolz. »Das hier ist das Reich der Klorschas. Der Slam. Mit etwas Glück lassen sie uns durch. «

»Und mit etwas weniger Glück?«

»Bringen sie uns um«, sagte Weller ungerührt. »Deine Kleidung fällt auf. Du siehst vermögender aus, als du bist. Aber meistens verlangen sie nur einen Wegezoll.«

»Na, dann kann ich nur hoffen, daß du deine Börse eingesteckt hast, Weller«, sagte Tally. Weller blinzelte, starrte sie einen Moment mit offenem Mund an und entschied, daß es klüger war, das Gespräch nicht fortzusetzen.

Er hätte auch nicht sehr viel Gelegenheit dazu gehabt; denn der Kreis aus Schatten, der sie umgab, zog sich immer enger zusammen, und nach wenigen Dutzend weiterer Schritte geschah das, was Tally insgeheim schon längst befürchtet hatte: sie bogen in eine schlammige Gasse, die von fensterlosen, aus Stein und Holz errichteten Häusern gesäumt wurden – und Weller blieb so abrupt stehen, daß Hrhon beinahe in ihn hineinrannte. Vor ihnen ging der Weg nicht weiter. Ein gutes Dutzend zerlumpter, ausnahmslos sehr großer Gestalten blockierte die Gasse, angeführt von einem wahren Riesen, der sich lässig auf eine fast mannsgroße Keule stützte. Sein Gesicht sah aus, als wäre es vor nicht langer Zeit mit genau dieser Keule kollidiert – was ihn nicht etwas häßlicher als die meisten seiner Begleiter machte. Tallys Hand schloß sich etwas fester um den Schwertgriff.

»Wer ist das?« flüsterte sie.

»Braku«, antwortete Weller. »Der Schlimmste von allen. Beim Schlund, das hätte nicht passieren dürfen.«

»Was ist so schlimm an ihm?«

»Er haßt mich«, antwortete Weller nervös. »Er hat mir den Tod geschworen. Und bisher hat er sein Wort immer gehalten.«

»Warum?« fragte Tally. »Hast du einmal Geschäfte mit ihm gemacht?«

Weller grinste gequält. »Ja. Aber ich schwöre, daß es ganz ehrlich zuging. Nur gehört Braku zu denen, die sich übervorteilt fühlen, wenn sie ihren Partner nicht betrügen können.«

»Wenn ihr fertig seid, wäre es wirklich großzügig, würdet ihr mit einen Teil eurer kostbaren Aufmerksamkeit schenken«, mischte sich eine dröhnende Stimme ein.

»Falls ich die Herrschaften nicht bei einer wichtigen geschäftlichen Unterredung störe, heißt das.«

Weller erbleichte noch weiter, gebot Tally aber mit einer hastigen Geste, sich nicht einzumischen, und trat den Klorschas einen Schritt entgegen. Braku musterte ihn kühl, aber in seinen Augen stand ein Glitzern, das Tally gar nicht gefiel. In Gedanken wog sie ihre Chancen ab, mit einem raschen Schritt bei ihm zu sein und ihm den Kopf von seinem schmutzigen Hals zu schlagen. Das Ergebnis, zu dem sie kam, besserte ihre Laune nicht wesentlich.

»Schön, dich zu sehen«, sagte Braku grinsend, als Weller näher kam. »Ich nehme an, du bist hier, um dich mit mir auszusöhnen, wie? « Er lachte, setzte seine gewaltige Körperfülle in Bewegung und walzte ein Stück auf Weller zu. Die Keule schwang er sich dabei über die Schulter, als wäre sie gewichtslos. »Ich habe dich lange vermißt, mein Freund. Was ist los – gehen deine Geschäfte so schlecht? Und was sind das für Galgenvögel, die du da bei dir hast?«

»Sssoll isss ihm dhehn Kopf ahbreisssen?« fragte Hrhon ruhig.

Tally fuhr erschrocken zusammen. Hrhon hatte so laut gesprochen, daß Braku schon taub sein mußte, um seine Worte nicht zu verstehen, und tatsächlich sah er auch auf und musterte Hrhon mit einem sehr sonderbaren, halb abschätzenden, halb beinahe mitleidigen Blick. Auf seinen Zügen erschien ein Ausdruck schlecht geschauspielter Überraschung.

»Oha«, sagte er. »Das Ding kann ja sprechen.« Er schob Weller mit einer achtlosen Bewegung zur Seite, wechselte seine Keule von der rechten auf die linke Schulter und kam mit gemächlichen Schritten näher. Tally sah jetzt, daß er tatsächlich ein Stück größer war als Hrhon. Außerdem stank er zum Gotterbarmen.

Zwei Schritte vor dem Waga und ihr blieb er stehen, machte eine übertrieben tiefe Verbeugung und rammte seine Keule in den Boden, um sich wieder darauf zu stützen. Gestattet die Frage, wer Ihr seid, edle Frau«, fragte er spöttisch.

Tally blickte nervös zu Weller, ehe sie antwortete.

»Jemand, der nichts mit eurem Streit zu tun hat, Braku«, sagte sie. Ihre Stimme war nicht ganz so fest, wie ihr lieb gewesen wäre. »Und der auch nichts damit zu tun haben will. Mein Begleiter und ich wollen nur in die Stadt, das ist alles.«

Etwas an ihren Worten schien die Klorschas über die Maßen zu amüsieren, denn die ganze Bande brach ihn dröhnendes Gelächter aus, bis Braku mit einer herrischen Handbewegung für Ruhe sorgte. »Oh, ihr wollt also nur in die Stadt«, sagte er grinsend. »Soso. Und da habt ihr euch der Führung Wellers anvertraut. Das war nicht sehr schlau. Er ist hier nicht besonders beliebt, mußt du wissen, Süße.«

»Sssoll isss, oder sssoll isss nissst?« fragte Hrhon. Braku runzelte die Stirn, blickte einen Moment auf den Waga herab und seufzte hörbar. »Dein Begleiter vergißt seine guten Manieren, weißt du das?« fragte er. Die Worte galten Tally, aber er sah Hrhon dabei unverwandt an.

»Still jetzt, Hrhon«, sagte Tally hastig. Zu Braku gewandt, fuhr sie fort: »Verzeiht meinem Begleiter, Braku. Wir sind fremd hier und kennen weder Eure Sitten noch Eure Gebräuche. Wenn wir Euer Gebiet verletzt haben, dann tut es uns leid.«

»Das habt ihr tatsächlich«, sagte Braku ungerührt.

»Aber mit einer Entschuldigung ist es nicht abgetan, fürchte ich.«

Tally nickte. »Ich weiß. Weller... informierte mich, daß Ihr Wegezoll verlangt.«

»So, hat er das?«

Tally nahm die Hand vom Schwert, griff statt dessen unter den Gürtel und zog die Geldbörse heraus. »Das ist alles, was wir haben«, sagte sie, während sie Braku den schmal gewordenen Lederbeutel aushändigte. »Nehmt es und laßt uns in Frieden ziehen.«

Der Klorscha riß ihr den Beutel aus der Hand und schob ihn in eine Tasche seines Mantels. Er machte sich nicht einmal die Mühe, hineinzusehen. »Das ist großzügig«, sagte er spöttisch. »Aber ich fürchte, es reicht nicht ganz.«

»Mehr haben wir nicht«, antwortete Tally. »Ihr könnt es natürlich auf einen Kampf ankommen lassen, und wahrscheinlich würdet ihr ihn auch gewinnen. Aber mehr als das, was ihr schon habt, würdet ihr nicht erbeuten, und wahrscheinlich würden ein paar von euch dabei sterben. Du als erster«, fügte sie lächelnd hinzu. Gleichzeitig kroch ihre Hand wieder unter den Mantel, aber dieses Mal nicht zum Schwert, sondern zur anderen Seite ihres Gürtels. Sie hatte die entsetzliche Waffe, die sie den Drachenreiterinnen abgenommen hatte, niemals gegen Menschen eingesetzt, und sie hatte sich geschworen, es niemals zu tun – aber wozu waren gute Vorsätze da, wenn nicht, um gebrochen zu werden?

Braku starrte sie mit offenem Mund an und schien nicht genau zu wissen, ob er nun wütend werden oder abermals in Gelächter ausbrechen sollte, »Du hast Mut«, sagte er schließlich. »Das gefällt mir. Aber dein Ton paßt mir nicht, Kleines.«

Tally schwieg. Sie wußte, daß sie Braku nicht zu sehr provozieren durfte – wenn er glaubte, vor seinen Leuten das Gesicht zu verlieren, dann hatte er keine andere Wahl mehr, als sie zu töten.

»Du hast also kein Geld«, fuhr Braku fort. Seine Augen wurden schmal. »Das ist bedauerlich. Aber wenn ich dich recht betrachte, dann gibt es vielleicht noch eine andere Möglichkeit, wie du bezahlen kannst.« Er kicherte anzüglich, hob den Arm und streckte die Hand nach Tally aus. Hrhon zischte drohend, und Braku führte die Bewegung nicht zu Ende.

»Tu es nicht«, sagte Tally ruhig. »Hrhon würde dich in Stücke reißen.«

Es wurde still. Brakus Männer hatten jedes Wort gehört, und Tally sah, wie die Mauer aus zerlumpten Gestalten ganz langsam näher kam. Und auch hinter ihr waren jetzt Geräusche. Sie waren eingekreist.

»Du machst es mir wirklich schwer, Kindchen«, sagte Braku drohend. »Möglicherweise hätte ich mich damit zufrieden gegeben, diesen Lumpen da in Stücke zu hacken und mich ein paar Stunden mit dir zu amüsieren.«

»Glaub ihm nicht«, sagte Weller. »Er wird uns alle umbringen!«

Braku drehte betont langsam den Kopf. »Wer spricht von umbringen?« fragte er ruhig. »Vielleicht reicht es mir ja, dir die Hände abzuschneiden und sie dich fressen zu lassen. Oder ich steche dir die Augen aus und –« Irgend etwas zischte dicht über Tallys Kopf durch die Luft, riß eine dünne, blutige Spur in Brakus Gesicht und bohrte sich mit einem dumpfen Schlag in die Brust des hinter ihm stehenden Mannes. Der Klorscha keuchte, taumelte einen halben Schritt zurück und brach in die Knie. Seine Hände umklammerten den gefiederten Bolzen, der aus seiner Brust ragte.

»Die Garde!« brüllte jemand.

In der schmalen Gasse brach die Hölle los. Plötzlich war die Luft voller sirrender, tödlicher Geschosse, und ebenso plötzlich begannen Brakus Männer durcheinanderzuschreien und –laufen. Ein zweiter und dritter Klorscha fielen, und irgend etwas sirrte mit einem ekelhaften Geräusch an Tallys Ohr vorbei und schlug Funken aus der Wand, vor der sie stand.

Tally ließ sich blitzartig zur Seite fallen, kam mit einer Rolle wieder auf die Füße und sah gerade noch, wie Braku seine Keule hochriß und mit einem urgewaltigen Schrei auf ein schwarzes, gehörntes Etwas losging, das wie ein Dämon aus der Nacht aufgetaucht war.

Er führte den Hieb niemals zu Ende. Ein ganzes Dutzend Pfeile und Bolzen senkte sich mit tödlicher Präzision auf ihn herab. Und plötzlich machte der gewaltige Vorderlauf der Beterin eine blitzartige, schnappende Bewegung, und Braku war nur noch ein kopfloser Torso, der mit einer grotesk langsamen Bewegung nach hinten kippte. Dann richtete sich der Blick der faustgroßen Facettenaugen auf Tally.

Hinter der ersten Beterin erschienen die häßlichen Schädel weiterer Hornköpfe, groteskerweise von kleinen, albern aussehenden Helmen aus glänzendem Metall gekrönt, und auch vom anderen Ende der Gasse erscholl das helle, widerwärtige Pfeifen der Rieseninsekten. Tally wich mit einem hastigen Schritt bis zur Wand zurück, duckte sich unter einem Pfeil hindurch und zerrte verzweifelt das Schwert aus dem Gürtel.

Die Klinge prallte funkensprühend gegen den gewaltigen Schlagarm der Beterin. Der Hieb verfehlte sein Ziel, und Tallys Kopf blieb, wo er war, aber die Wucht des Schlages ließ Tally auch zurücktaumeln und auf die Knie herabsinken. Ihre Hand war gelähmt. Sie hielt das Schwert noch fest, aber sie hatte nicht mehr die Kraft, es zu heben.

Wieder einmal war es Hrhon, der sie rettete. Der Waga sprang mit einem gewaltigen Satz auf den Rücken der Beterin, verschränkte die Fäuste über dem Kopf und ließ sie mit fürchterlicher Wucht in den Nacken des Rieseninsektes krachen. Einen Sekundenbruchteil stand der Hornkopf einfach da wie ein groteskes Pferd, auf dessen Rücken ein noch groteskerer Reiter hockte. Dann gaben seine dürren Beine nach, und Hrhon kugelte hilflos davon, während die Beterin zusammenbrach und Tally dabei halbwegs unter sich begrub.

Als sie es geschafft hatte, sich unter dem reglosen Rieseninsekt hervorzuarbeiten, hatte sich die Gasse in einen Hexenkessel verwandelt. Die Klorschas, die nicht bereits dem ersten Pfeilhagel zum Opfer gefallen waren, wehrten sich verzweifelt und mit erstaunlicher Behendigkeit gegen die Hornköpfe, aber es war ein aussichtsloser Kampf. Die Beterinnen wüteten wie die Berserker unter den zerlumpten Gestalten, und ihr gewaltiger Chitinpanzer machte sie so gut wie unverwundbar. So gnadenlos der Kampf geführt wurde, er konnte nur noch Augenblicke dauern. Von Brakus Streitmacht war nicht einmal mehr die Hälfte am Leben – und von beiden Seiten der Gasse näherten sich immer mehr der gigantischen Kampfinsekten!

Tally arbeitete sich keuchend in die Höhe, schob das Schwert in den Gürtel zurück, zog statt dessen Mayas Waffe und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß sie sie nicht im Stich lassen würde.

Tally machte sich nichts vor – trotz dieser entsetzlichen Waffe waren ihre Chancen, die Gasse lebend zu verlassen, erbärmlich. Von der Garde, deren Name eine der Klorschas geschrien hatte, war keine Spur zu sehen, aber Tally hätte in diesem Moment liebend gerne eine Hundertschaft der Schelfheim-Krieger gegen die zwei Dutzend Rieseninsekten eingetauscht, die von beiden Seiten auf sie eindrangen.

Im Grunde war es ein Zufall, der sie rettete. Die Mauer aus Klorschas, die den Hornköpfen bisher noch erbittert Widerstand geleistet hatten, zerbrach endgültig, und plötzlich sah sich Tally gleich zwei der gigantischen schwarzen Scheusale gegenüber. Sie schoß, sprang hastig zur Seite und feuerte wieder, als die zweite Beterin mit schnappenden Fängen auf sie eindrang. Diesmal traf sie ihr Ziel nicht ganz – einer der gewaltigen Keulenarme der Beterin wurde pulverisiert, aber hinter dem Hornkopf flammte die Wand auf und spie einen Regen aus Glut und brennendem Holz in die Gasse. Ein handbreiter Riß spaltete das Haus vom Dach bis zu den Grundfesten.

»Hrhon!« schrie Tally. »Weller! Zu mir!« Sie wirbelte herum, setzte über ein brennendes Etwas aus schwarzem Horn hinweg und schoß noch einmal; jetzt nicht mehr auf einen Hornkopf, sondern gezielt auf das Haus. Die Wand zerplatzte wie unter einem Hammerschlag. Grellweiße Flammen schossen in die Höhe und verwandelten die Gasse in eine zuckende Hölle aus ineinanderfließenden Schatten. Tally hetzte weiter, atmete noch einmal tief ein – und sprang mit einem gewaltigen Satz durch die Flammenwand.

Hitze, ungeheuere, unvorstellbar schreckliche Hitze hüllte sie ein. Die Luft in ihren Lungen schien zu kochender Lava zu gerinnen. Etwas schrammte schmerzhaft an ihren Rippen entlang, ein Stück glühendes Holz versengte ihr Haar. Sie sah einen Schatten auf sich zurasen, versuchte sich instinktiv abzurollen und prellte mit entsetzlicher Wucht gegen einen stehengebliebenen Mauerrest.

Der Aufprall raubte ihr fast das Bewußtsein. Tally blieb einen Moment benommen liegen, dann stemmte sie sich hoch, fegte hastig die Glut beiseite, die auf ihr Haar und ihren Mantel heruntergefallen war, und sah sich um. Sie befand sich inmitten eines Flammenmeeres. Die Drachenwaffe hatte nicht nur die Wand des Hauses pulverisiert, sondern auch hier drinnen alles kurz und klein geschlagen und in Brand gesetzt, was nur brennen konnte. Die Hitze war unerträglich, obwohl der Brand erst seit Sekunden wütete. Ein verkrümmter Körper lag dicht neben ihr, bis zur Unkenntlichkeit veschmort, aber noch im Tode eine gewaltige Axt umklammernd, und vor dem mannshohen Loch in der Wand rangen Schatten miteinander.

Sie stemmte sich hoch, schlug die Flammen aus, die an einem Zipfel ihres Umhanges leckten, und hob schützend die linke Hand vor das Gesicht, während sie tiefer in den verwüsteten Raum hineinstolperte. Sie konnte kaum mehr sehen. Das Feuer, das die unsichtbaren Blitze der Drachenwaffe entfacht hatten, brannte viel heller und heißer als irgendein anderes Feuer, daß sie jemals erlebt hatte. Und es griff mit phantastischer Schnelligkeit um sich.

Beißender, blauer Rauch verpestete die Luft. Glühende Holzsplitter und Flammen regneten von der Decke, und als sie sich der gegenüberliegenden Tür näherte, brach sie durch die morschen Dielen. Hätte es einen Keller unter dem Haus gegeben, hätte sie sich vermutlich zu Tode gestürzt; so aber brach sie nur bis an die Knie ein und fand auf einem widerlich schwammigen Boden Halt. Hastig befreite sie sich, trat mit einer wütenden Bewegung die Tür ein und schoß blindlings ihre Waffe ab. Irgendwo auf der anderen Seite explodierte etwas. Grelles Licht und kleine, gelborangene Flammenzungen schlugen ihr entgegen, als sie die Reste der Tür mit der Schulter beiseitestieß.

Vor ihr erstreckte sich ein niedriger, fensterloser Gang, der bis vor wenigen Sekunden am Fuß einer hölzernen Treppe geendet hatte. Jetzt ragten nur noch die obersten vier oder fünf Stufen zerfetzt und brennend aus der Decke, und wo die Wand gewesen war, gähnte ein gewaltiges Loch mit glühenden Rändern. Dahinter war eine weitere schmale Gasse zum Vorschein gekommen. Brennende Trümmerstücke und glühender Stein bildeten ein bizarres Muster auf dem schlammigen Boden.

Tally drehte sich herum, als sie ein Geräusch hörte, das nicht in das Prasseln der Flammen gehörte. Sie sah das Glitzern von Horn, hob ihre Waffe und erkannte im allerletzten Moment Hrhon, der ungeschickt durch die Bresche im Mauerwerk hereinkroch. In der rechten Hand hielt er den abgerissenen Arm einer Beterin, seine andere Pranke zerrte ein zappelndes Etwas hinter sich her, das Tally erst nach Augenblicken als einen arg ramponierten Weller erkannte.

Flammen und brennendes Holz regneten auf die beiden herab. Hrhon spürte es wahrscheinlich nicht einmal, aber Weller schrie vor Schmerz, als ein weißglühender Span sein Gesicht traf. Winzige, rote Flämmchen begannen aus seinem Bart zu züngeln. Mit einem Satz war Tally bei ihm, schlug die Flammen mit den Händen aus und half ihm auf die Füße.

»Schaff ihn raus!« schrie sie. »Schnell!«

Gleichzeitig versetzte sie Weller einen Stoß, der ihn meterweit durch den brennenden Raum taumeln ließ, sprang zur Seite, um einem Hagel brennender Balken und sprühender Funken auszuweichen, und sah einen gigantischen hornköpfigen Umriß in der Mauerbresche auftauchen. Instinktiv riß sie ihre Waffe hoch und schoß. Der unsichtbare Blitz traf die Beterin, zerfetzte zwei ihrer Beine und zermalmte ein Drittel ihres Hinterleibes, aber das Insekt rast weiter auf sie zu, wie ein lebendes Geschoß vom Schwung seiner eigenen Bewegung vorwärts gerissen. Seine gewaltige Klaue zuckte im Todeskampf, traf Tallys Arm und schmetterte ihr die Waffe aus der Hand.

Sie fiel, spürte eine Woge entsetzlicher Hitze durch ihren linken Arm rasen und sprang verzweifelt wieder auf die Füße. Ihr Mantel brannte. Sie riß ihn herunter, schlug mit der bloßen Hand die Flammen aus, die an ihrem Wams leckten, und taumelte in die Richtung, in der Hrhons Schatten wie ein flacher Scherenschnitt hinter den Flammen tanzte.

Schmerz und Hitze trieben ihr die Tränen in die Augen. Halb blind hetzte sie durch das brennende Zimmer, prallte unsanft gegen den Türrahmen und fühlte sich plötzlich von einer unmenschlich starken Hand gepackt und vorwärts gerissen.

Auch der Korridor stand in hellen Flammen. Das Feuer hatte die Decke erreicht und das Gemisch aus Lehm und Stroh in Brand gesetzt, aus dem sie gemacht war. Der Boden schwelte, und die Luft war so heiß, daß Tally vor Schmerz aufschrie, als sie zu atmen versuchte.

Hrhon warf sie sich kurzerhand über die Schulter, versuchte mit der Hand ihr Gesicht vor den Flammen zu schützen und rannte auf seinen kurzen Beinen los, so schnell er nur konnte.

Es war nicht sehr schnell.

Er brauchte zehn Sekunden, um den nur wenige Schritte messenden Gang zu durchqueren, und hätte er weitere zehn Sekunden gebraucht, hätte er nur noch eine Leiche ins Freie geschafft. Tally konnte nicht mehr atmen. Die Hitze hatte ihre Kehle verbrannt, und der erstickende Rauch fraß in ihren Lungen wie Säure. Ihr Gesicht und ihre Hände fühlten sich an wie eine einzige, schmerzende Wunde. Als Hrhon sie behutsam von der Schulter lud und auf die Füße stellte, wankte sie vor Schwäche und wäre gestürzt, wenn der Waga nicht rasch zugegriffen und sie gestützt hätte.

»Sssoll isss disss thraghen?« fragte Hrhon.

Tally schüttelte mühsam den Kopf. Allein die Vorstellung, ihre schmerzenden Muskeln auch nur noch zu einem einzigen Schritt zu zwingen, bereitete ihr Übelkeit. Aber Hrhon war einfach zu langsam. »Wo... wo ist Weller?« keuchte sie.

»Hier, verdammt noch mal. Oder das, was ihr von mir übrig gelassen habt!«

Tally ließ Hrhons Schulter los und drehte sich um. Weller hockte wenige Schritte hinter ihr auf den Knien, die linke Hand gegen sein verbranntes Gesicht gepreßt. Sein Wams wies zahllose Brandflecken auf, an einer Stelle schwelte es sogar noch. Aber der Ausdruck in seinen Augen war eindeutig Wut.

Stöhnend stemmte er sich in die Höhe, taumelte auf Tally und den Waga zu und deutete die Straße hinab, ohne die Hand vom Gesicht zu nehmen. »Weg hier!« keuchte er. »Bevor der ganze Misthaufen in Flammen aufgeht. Das Feuer greift um sich.«

»Ich weiß«, sagte Tally. »Das war der Sinn der Sache. Ich denke, die haben jetzt anderes zu tun, als uns zu jagen.«

Wellers Augen flammten vor Zorn. »Ja!« brüllte er.

»Nämlich dasselbe wie wir, du dumme Kuh – am Leben zu bleiben! Weißt du überhaupt, was ein Feuer hier bedeutet?« Er ballte zornig die Faust und beantwortete seine Frage gleich selbst. »Natürlich nicht. Aber du wirst es gleich merken.«

Er sollte recht behalten.

4

Das Feuer folgte ihnen. Die Flammen mußten in den aus Holz und Abfällen errichteten Häusern überreichlich Nahrung finden; denn schon nach Minuten hatte nicht nur das Haus in Flammen gestanden, durch das sie geflohen waren, sondern die gesamte Gasse brannte so lichterloh, daß Tally bezweifelte, ob es einem der Hornköpfe – oder gar einem von Brakus Männern – gelang, aus der flammenden Hölle zu entkommen, in die sich die schmale Gasse verwandelt haben mußte. Und das Feuer hatte nicht am Ende der Straße Halt gemacht, sondern griff weiter um sich. Rasend schnell.

Schon nach Minuten lohte der Himmel über der Slamstadt in düsterem, drohendem Rot, und als Tally über die Schulter zurücksah, glaubte sie einen flammenspeienden Vulkan zu erblicken, dort wo das Haus gestanden hatte. Das Feuer schoß dreißig, vierzig Meter weit brüllend in die Höhe, fächerte zu einem wabernden Pilz auseinander und fiel wieder zur Erde, um weitere Dächer in Brand zu setzen. Hier und da schossen fauchende blaue Gasfackeln aus dem Boden.

»Bei allen Göttern, was geschieht hier?« schrie Tally über das Brüllen der Flammen hinweg.

»Was denkst du, was das hier ist?« schrie Weller zurück. »Der ganze Slam ist auf einem einzigen großen Müllhaufen errichtet worden. Das Zeug brennt wie Zunder.« Er gestikulierte heftig mit der freien Hand. »Lauft schneller. Es ist nicht mehr weit! Noch eine halbe Meile!« Tally fragte ihn nicht, bis wohin es noch eine halbe Meile war, sondern sparte sich ihren Atem auf, um schneller zu laufen. Sie fühlte sich erschöpft und ausgelaugt wie selten zuvor in ihrem Leben, aber die Angst gab ihr zusätzliche Kräfte. Und selbst Hrhon, der normalerweise Mühe hatte, mit einem Spaziergänger mitzuhalten, entwickelte ein erstaunliches Tempo.

Trotzdem schmolz ihr Vorsprung ganz allmählich zusammen. Hitze und Lärm und beißender Qualm folgten ihnen, und schon bald begann die Luft in Tallys Lungen abermals schmerzhaft heiß zu werden. Rings um sie herum waren plötzlich Hunderte, wenn nicht Tausende von Gestalten – Männer, Frauen und Kinder, einer so zerlumpt wie der andere, eine panische Flucht, die wie eine Woge aus Leiber nach Norden drängte und Tally einfach mit sich riß. Wäre Hrhon nicht wie ein lebender Fels hinter ihnen hergestampft, wären sie schon in den ersten Augenblicken getrennt oder schlichtweg niedergetrampelt worden.

Plötzlich hörte das Labyrinth aus schlammigen Gassen und Plätzen wie abgeschnitten auf, und vor ihnen lag ein vollkommen ebener, sicherlich eine halbe Meile breiter Sandstreifen, an dessen gegenüberliegendem Rand sich die ersten Häuser Schelfheims erhoben, eine ungeheuerliche Masse von neben-, über- und ineinandergeschachtelten Gebäuden, von der Nacht zu einer schwarzen Klippe verschmolzen. Der Widerschein des Feuers schien sie mit Blut zu übergießen.

Und er zeigte Tally auch die gewaltige Masse schwerbewaffneter Hornköpfe, die hundert Schritte vor den ersten Häusern eine undurchdringliche Kette bildeten! Sie schrie vor Schrecken auf und versuchte stehenzubleiben, aber sie wurde einfach mitgerissen. Nicht einmal mehr Hrhons Titanenkräfte reichten mehr aus, dem Sog des außer Rand und Band geratenen Mobs zu widerstehen.

Brüllend und tobend wie ein angreifendes Heer raste die Menschenmenge auf die Absperrkette aus Hornköpfen zu. Tally sah voller Entsetzen, daß die Rieseninsekten zwar zurückwichen, aber nicht sehr schnell, und daß sie ihre Speere und Schwerter senkten. Dann prallte die vorderste Reihe der in Panik geratenen Menge gegen die Kampfinsekten.

Es mußten Hunderte sein, die im ersten Augenblick starben, aber aus dem brennenden Slam strömten noch immer Tausende herbei. Die Absperrkette der Hornköpfe brach schon unter dem ersten Ansturm zusammen. Die gewaltigen Kampfinsekten wurden zerfetzt, erschlagen und zu Tode getrampelt, ebenso wie jeder, der das Pech hatte, in diesem rasenden Mob nicht schnell genug zu sein oder zu stolpern. Auch Tally, Weller und Hrhon wurden mitgerissen, ohne auch nur die geringste Chance zu haben, ihr Tempo oder auch nur ihre Richtung bestimmen zu können.

Tally wußte hinterher nicht mehr, wie es ihnen gelungen war, in dieser Stampede zusammenzubleiben; wahrscheinlich war es schlichtweg ein Wunder. Irgendwann hatten sie die Schneise überquert und fanden sich plötzlich wieder auf einer Straße, wenn auch einer gänzlich anderen als die, die sie bisher gesehen hatte – der Boden unter ihren Füßen war aus Stein, und die Gebäude waren nicht aus Abfällen erbaut, sondern aus wuchtigen Felsbrocken, die sauber behauen worden waren. Trotz der Panik, die längst auch von Tally Besitz ergriffen hatte, registrierte sie, daß die Häuser allesamt kleinen trutzigen Festungen glichen – es gab kein Fenster ohne Gitter, kein Dach ohne eine stachelige Krone aus dolchspitzen Eisenstäben, keine Tür, die nicht wuchtig genug schien, dem Ansturm eines Horntieres Stand zu halten.

Ganz allmählich verlor der Vormarsch der Menge an Schwung, aber das Schreien und Toben ließ nicht nach – ganz im Gegenteil. Mit einem Male war ein neuer Ton im überschnappenden Chor der Menschenmenge, ein Ton, den Tally nur zu gut kannte.

Es ging ganz schnell – aus der panikerfüllten Flucht der Klorschas wurde das Gegenteil: ein Angriff. Plötzlich begriff Tally, warum die Hornköpfe auf solch selbstmörderische Art versucht hatten, die Menge aufzuhalten, warum die Häuser hier Festungen glichen und welchem Zweck der halbmeilentiefe freie Streifen zwischen Schelfheim und der Slamstadt dienten. Selbst ihr, die geglaubt hatte, jede nur denkbare Spielart von Gewalt und Kampf zu kennen, fiel es im ersten Moment schwer, zu glauben, was sie sah – aber die Männer und Frauen, die vor Sekunden noch um ihr Leben gerannt waren, begannen einen Augenblick später, die Häuser anzugreifen! Zu Dutzenden versuchten sie, Türen einzurennen, zerrten an den eisernen Fenstergittern oder bildeten lebende Leitern, um die Hausdächer zu erklettern. Einige der niedrigen Gebäude verschwanden regelrecht unter einer Woge zerlumpter Gestalten. Das Splittern von Holz und Glas und gellender Kampflärm mischten sich in das Schreien der Menge.

Hier und da erschienen schattenhafte Gestalten auf den Dächern, die mit langen Stangen die Kletterer zurückstießen oder wahllos Pfeile und Bolzen in die Menge hinabschossen, aber sie wurden hinweggefegt, ebenso wie die Hornköpfe zuvor. Binnen weniger als einer Minute war die erste Häuserreihe überflutet – und der johlende Mob raste weiter.

Eine Hand ergriff sie grob an der Schulter und riß sie zurück. Sie fuhr herum, senkte die Hand auf das Schwert und erkannte Weller, der grimassenschneidend auf eine schmale Gasse zur Rechten deutete und irgend etwas schrie, was im Kreischen der Menschenmenge unterging. Aber Tally verstand auch so, was er meinte. Sie nickte, bedeutete Hrhon mit einer hastigen Geste, ihnen zu folgen, und kämpfte sich mit Fäusten, Knien und Ellbogen hinter Weller her.

Der Angriff der Klorschas erreichte seinen Höhepunkt, als sie hinter Weller in die Gasse stolperte. Eine zerlumpte Gestalt sprang ihnen entgegen. Weller schlug den Mann nieder, zog sein Schwert und tötete einen zweiten Klorscha, der ihn anspringen wollte. Dann erschien Hrhons gigantische Gestalt hinter ihnen in der Gasse, und allein sein Anblick reichte, die restlichen Plünderer Hals über Kopf die Flucht ergreifen zu lassen.

»Wohin jetzt?« fragte sie schweratmend.

Weller sah sich einen Augenblick gehetzt um, deutete dann auf eine Stelle am Fuße der gegenüberliegenden Wand und winkte Hrhon zu sich heran. »Hilf mir!« sagte er. »Schnell. Und du hältst uns den Rücken frei, Tally!« Tally konnte nicht genau erkennen, was Hrhon und er taten – Weller kniete nieder und machte sich an irgend etwas am Boden zu schaffen, dann sah sie, wie Hrhon zugriff und sich mit aller Gewalt gegen einen Widerstand stemmte. Ein entsetzliches Quietschen erscholl, und plötzlich gähnte ein metergroßes Loch im Boden, wo zuvor noch scheinbar massiver Stein gewesen war.

»Schnell!« Weller deutete hastig auf die ausgetretenen Stufen, die unter der Falltür zum Vorschein gekommen waren, sprang selbst als erster in die Tiefe und gestikulierte Tally ungeduldig, ihm zu folgen.

Ein Blick über die Schulter zurück ließ Tallys letzte Hemmungen verschwinden, Weller in die unbekannte Tiefe zu folgen. Auf der Straße tobte eine Schlacht. Mindestens zwei der Steinhäuser standen in Flammen, und das Klirren der Schwerter war jetzt fast lauter als das Brüllen der Klorschas. Über den Köpfen der Zerlumpten tanzten gewaltige, hornige Schädel. Die Stadtgarde hatte offensichtlich Verstärkung bekommen. Tally wandte sich hastig um, folgte Weller und fand sich unversehens in einem winzigen, kaum zwei Meter im Quadrat messenden Raum wieder, dessen Decke so niedrig war, daß sie nur gebückt stehen konnte. Sie hatte einen Stollen oder einen geheimen Keller erwartet, aber es gab nur diesen Verschlag – einen flachgedrückten Würfel, gerade groß genug für einen, allerhöchstens zwei Menschen; offensichtlich eine Art Fluchtkeller, der genau zu dem Zweck angelegt worden war, zu dem sie ihn benutzten; sich im Augenblick der höchsten Gefahr zu verkriechen und einfach zu hoffen, daß man nicht entdeckt wurde.

Und er war ganz entschieden nicht groß genug für zwei erwachsene Menschen und einen Waga. Als sich Hrhon schnaubend die kurze Treppe hinunterquälte und die eiserne Klappe über sich zuschlagen ließ, wurde es unerträglich eng.

»Verdammtes Froschgesicht!« brüllte Weller. »Wer hat gesagt, daß du herunterkommen sollst? Hier ist nur Platz für zwei! «

»Dhann geh dhoch rausss«, antwortete Hrhon ungerührt.

»Oh ihr Götter, was habe ich getan, mit euch Verrückten geschlagen zu sein!« beschwerte sich Weller. »Wir werden hier unten ersticken, wenn uns diese zu groß geratene Schildkröte nicht vorher erdrückt! Sag ihm, daß er rausgehen soll, Tally!«

»Halt endlich den Mund, Weller«, sagte Tally scharf. Sie versuchte vergeblich, in eine halbwegs bequeme Lage zu rutschen – alles, was sie erreichte war, sich den Fuß unter Hrhons Panzer einzuklemmen und den Handrücken blutig zu schürfen. »Verrate uns lieber, wie lange wir in diesem Grab sitzen sollen.«

»Woher beim Schlund soll ich das wissen«, fauchte Weller. Er bewegte sich, wodurch sein Knie noch ein wenig tiefer in Tallys Magengrube hineingetrieben wurde, als es ohnehin schon war. Sie unterdrückte im letzten Moment ein Stöhnen. »Manchmal dauert es Stunden, bis sie sie zurücktreiben. Manchmal auch Tage.«

Tage? dachte Tally entsetzt. Plötzlich erschienen ihr Wellers Befürchtungen, ersticken oder von Hrhon schlichtweg erdrückt werden zu können, nicht mehr ganz so lächerlich wie vor Augenblicken. Sie würde es weder Tage noch Stunden hier drinnen aushalten. Schon jetzt hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Und es war nicht nur Einbildung.

»Verdammt, wir müssen hier raus!« sagte sie. In ihrer Stimme war ein Unterton von Panik, der sie selbst erschreckte. Sie hatte niemals an Klaustrophobie gelitten – aber sie war auch noch nie in einem zwei mal anderthalb Schritte messenden Würfel mit einem Mann und einem vierhundert Pfund schweren Waga eingepfercht gewesen. »Weller – gibt es keinen anderen Weg hier heraus?«

»Nein«, antwortete Weller. »Das heißt...« Er stockte. Tally spürte, wie er versuchte, sich herumzudrehen. Eine rauhe, nach Schweiß riechende Hand tastete über ihre Brust, grabschte nach ihrem Gesicht und fuhr scharrend über die Wand, an der ihr Kopf lehnte. Weller atmete hörbar ein.

»Wir haben Glück«, sagte er. »Vielleicht. Die Wand hier besteht nur aus Lehmziegeln. Dahinter muß ein Keller liegen. Wenn dein plattgesichtiger Freund sie einrammen kann, kommen wir vielleicht raus.«

»Khein Phroblem«, sagte Hrhon. Eine gewaltige Pranke glitt über Tallys Schulter und tastete prüfend über die Steine. »Isss khann nisst risstihg ausssholen, aber esss musss ghehen. Nimm den Khopf nach rhechts, Tally.«

»Rechts für mich oder für dich?« fragte Tally hastig. Hrhon schwieg einen Moment, dann berührte seine Hand Tallys Gesicht ein zweites Mal und drückte ihren Kopf nach links, so weit, daß sie glaubte, ihr Genick würde brechen. Ihr Herz begann wie wild zu hämmern. Sie vertraute Hrhon blind, aber der Verschlag war verflucht eng, und wenn er nicht ganz genau zielte...

»Vorsssicht! «

Tally fand kaum noch Zeit, erschrocken den Atem anzuhalten, ehe Hrhons Faust mit ungeheurer Wucht gegen die Mauer prallte.

Die gesamte Wand erzitterte. Tally spürte die Wucht des Hiebes, als hätte er sie selbst getroffen. Ein dumpfes, fast wie das Stöhnen eines Tieres klingendes Knirschen drang aus der Lehmziegelwand, und dann war plötzlich nichts mehr da, wogegen sich Tally stützen konnte.

Erschrocken griff sie um sich, bekam Wellers Haarschopf zu fassen – und riß ihn mit sich, als sie in den drei Meter tiefer gelegenen Kellerraum hinabpurzelte. Der Aufprall war weniger hart, als Tally befürchtet hatte. Sie überschlug sich einmal in der Luft, prallte auf etwas Weiches, Nachgiebiges und hörte einen erstickten Schrei, ehe sie begriff, daß es Weller war, der ihren Sturz gedämpft hatte. Hastig rappelte sie sich hoch, nahm den Fuß aus seinem Gesicht und tastete im Dunkeln umher, bis ihre Hände auf Widerstand stießen. Hinter ihr waren Geräusche: ein schmerzhaftes Keuchen, dann das dumpfe Poltern und Lärmen eines Menschen, der blind umherstolperte. »Bewegt euch nicht«, sagte Weller. »Irgendwo hier muß eine Fackel sein. Wartet.«

Tally gehorchte, und tatsächlich glomm schon nach wenigen Augenblicken in der Dunkelheit hinter ihr ein winziger roter Funke auf, der rasch zum lodernden Licht einer Pechfackel heranwuchs. Im Widerschein der zuckenden Flammen erkannte sie, daß sie sich tatsächlich in einem mit allerlei Unrat und Gerümpel vollgestopftem Keller befanden. Die Luft war voller Staub, und es roch durchdringend nach schlecht gewordenem Obst.

Hrhon hockte wenige Schritte neben ihr zwischen den Überresten eines Weinfasses, das er mit seinem Körpergewicht zermalmt hatte. Er wirkte ein bißchen benommen. Tally sah, daß seine rechte Hand blutete.

Weller trat auf sie zu, drückte ihr die Fackel in die Hand und deutete auf das fast mannsgroße Loch, das Hrhon in die Wand gebrochen hatte. »Leuchte mir«, sagte er. »Und kein überflüssiges Wort. Wenn wir entdeckt werden, ist es aus.«

Ehe Tally ihrer Verwirrung Audruck verleihen konnte, kletterte er wieder zu dem kleinen Verschlag hinauf, zwängte sich ächzend durch die Mauerbresche und hob etwas vom Boden auf. Tally hob ihre Fackel etwas höher und stellte sich auf die Zehenspitzen, um zu erkennen, was er tat. Weller hatte eine daumendicke Eisenstange zur Hand genommen, die er jetzt durch eine entsprechende Öse in der Metallklappe schob, die ihr Versteck verschloß, und so verkantete, daß es unmöglich war, die Klappe von außen zu öffnen. Trotzdem rüttelte er noch einmal prüfend daran, ehe er sich mit einem zufriedenen Nicken umwandte und wieder zu Tally hinabsprang.

»Aus dieser Richtung folgt uns jedenfalls niemand mehr«, sagte er. »Jetzt bete, daß die Garde hier ist, ehe das Haus fällt.« Er deutete zur Tür. »Mir ist nicht sehr wohl dabei, aber wir sollten uns draußen umsehen. Möglicherweise brauchen wir einen Weg, auf dem wir so schnell verschwinden können, wie wir gekommen sind.«

»Du kennst das Haus nicht?« fragte Tally verwirrt. Weller blickte sie stirnrunzelnd an. »Was bringt dich auf diese Idee? Der Fluchtbunker?« Tally nickte, und Weller fuhr mit einem resignierenden Achselzucken fort:

»Du kommst wirklich aus der Wüste, wie? Fast jedes Haus in Schelfheim hat einen solchen Keller. Es ist manchmal wichtig, schnell den Kopf einziehen zu können. Vor allem hier. Der Stadtrand ist eine ungesunde Gegend.«

Wie um seine Worte zu beweisen, erzitterte das Gebäude über ihren Köpfen in diesem Moment unter einem ungeheuren Schlag. Tally fuhr erschrocken herum und sah, wie irgend etwas mit solcher Kraft am Deckel des Fluchtbunkers zerrte, daß sich die Eisenstange wie weiches Kupfer durchbog. Aber er hielt, und Augenblicke später hörte das Rütteln und Zerren auf. Aber Tally war plötzlich ganz froh, als Weller abermals vorschlug, den Keller zu verlassen und sich im Haus umzusehen.

5

Sie verfolgten das Ende des Dramas vom Dach aus. Das Gebäude hatte leergestanden, wie sie nach einer kurzen, aber gründlichen Untersuchung festgestellt hatten; ein Zufall, der nicht ganz so groß war, wie Tally im ersten Moment angenommen hatte.

Weller hatte ihr erklärt, daß jeder, der seine fünf Sinne noch beisammen hatte, geflohen war, kaum daß die ersten Flammen aus dem Slam züngelten. Die Bewohner der Häuser, um die gekämpft wurde, waren entweder zu langsam oder zu dumm gewesen, der Aufforderung der Stadtgarde Folge zu leisten und die Beine – oder was immer sie benutzten, um sich fortzubewegen – in die Hand zu nehmen und sich tiefer in die Stadt zurückzuziehen, wo sie in Sicherheit waren. Und er war überzeugt, daß die rechtmäßigen Besitzer dieses Hauses nicht vor dem nächsten Sonnenaufgang zurückkehren würden.

Tally hatte nur ein einziges Mal auf die Straße hinuntersehen müssen, um ihm zu glauben.

Rings um sie herum tobte eine Schlacht. Die Klorschas hatten weitere Verstärkung bekommen, und Tally schätzte, daß ihre Zahl auf mindestens vier- oder fünftausend angewachsen war. Aber auch aus der Stadt strömten immer mehr Krieger herbei – Hornköpfe, aber jetzt auch Menschen und nicht-Menschen, die den plündernden Mob gnadenlos angriffen.

Es war zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen, aber das Wenige, was Tally sah, ließ sie erschauern. Es war kein Kampf, sondern ein entsetzliches Gemetzel, bei dem es der Stadtgarde längst nicht mehr darauf ankam, die Klorschas zurückzudrängen. Immer wieder sah sie, wie kleinere oder auch größere Gruppen der Klorschas von den Kampfinsekten der Stadtgarde eingeschlossen und bis auf den letzten Mann niedergemacht wurden. Aber auch die Klorschas wehrten sich mit erstaunlichem Erfolg. Mehr als eine Beterin – die die Hauptmacht der Verteidiger stellten – wurde vor Tallys Augen überrannt und regelrecht in Stücke gerissen, trotz ihrer ungeheuerlichen Körperkräfte. Die Slambewohner schienen eine gewisse Übung darin zu haben, mit den gepanzerten Ungeheuern fertig zu werden.

Trotzdem bestand am Ausgang des Kampfes von vornherein kein Zweifel. Die Klorschas wurden zurückgetrieben, sehr langsam, aber unbarmherzig. Das Haus, in dem sie Zuflucht gesucht hatten, hatte im Zentrum des Kampfes gelegen, aber schon nach einer Stunde bewegte sich die Front der Hornköpfe wieder nach Süden. Und aus der Stadt strömten mehr und mehr der gigantischen Kreaturen herbei.

Schließlich wurde es Tally einfach müde, dem Kampf zuzusehen. Es ging bereits auf den Morgen zu, aber der Wind hatte sich gedreht, und mit dem Brandgeruch verschwand auch die Wärme, die bisher aus der brennenden Abfallstadt herübergeweht war. Tally zog fröstelnd den Mantelkragen enger zusammen, verbarg die Hände unter den Achselhöhlen und trat auf der Stelle, um gegen die lähmende Kälte anzukämpfen, die in ihren Beinen emporkriechen wollte. Sie war müde; eine Nacht ohne Schlaf und die stundenlange Flucht durch die Slamstadt forderten ihren Preis.

Sicher wäre es klüger gewesen, hinunterzugehen und wenigstens noch eine oder zwei Stunden zu schlafen; was Wellers Worten zufolge ohne Risiko möglich gewesen wäre. Aber irgend etwas in ihr sträubte sich gegen den Gedanken, sich jetzt hinzulegen, als wäre nichts geschehen. Was sie sah, machte ihr mehr zu schaffen, als sie sich selbst eingestehen wollte.

Es war nicht nur der Kampf. Schlimmer war der Gedanke, daß alles, was sie sah, zumindest indirekt ihre Schuld war. Sie hatte gehofft, daß sich das Feuer ausbreitete, schon, um den Korschas – und auch der hornköpfigen Garde von Schelfheim – genug Beschäftigung zu verschaffen, die Jagd auf sie und Hrhon für eine Weile zu vergessen. Aber das hatte sie nicht gewollt.

Schritte drangen in ihre Gedanken. Müde drehte sie sich herum, blickte in Wellers bleiches Gesicht und wandte sich wieder der brennenden Stadt zu. Trotz des eisigen Windes spürte sie die Hitze der Flammen wie eine glühende Hand auf ihrer Haut. Die Berge und die Klippe waren hinter einer wabernden schwarzen Wand verschwunden, als hätte das Feuer die Welt dort einfach ausgelöscht.

»Warum schläfst du nicht?« fragte Weller, nachdem er neben sie getreten und ebenfalls eine Weile schweigend auf das entsetzliche Schauspiel herabgeblickt hatte. »Bis zu Karans Haus ist es noch eine schöne Strecke. Du wirst deine Kräfte brauchen.«

Die Flammen spiegelten sich wie kleine rote Funken in seinen Augen. Er war bleich, und in seiner Stimme war ein neuer, sehr müder Ton, der nicht so recht zu seiner hünenhaften Erscheinung passen wollte. Anders als Tally hatte er sich auf eines der leerstehenden Betten gelegt, nachdem sie das Haus erreicht hatten. Aber auch er schien keinen Schlaf gefunden zu haben. Wahrscheinlich hatte er Schmerzen – eine Seite seines Bartes war verschwunden, die Haut darunter rot und angeschwollen. Keine Verletzung, die wirklich gefährlich war. Aber Tally wußte, wie sehr gerade leichtere Verbrennungen weh taten.

»Du machts dir Vorwürfe, wie?« fragte Weller, als Tally nicht auf seine Worte reagierte. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Mauer aus Hitze und Licht, eine halbe Meile vor ihnen. Kleine, wie Scherenschnitte wirkende Gestalten huschten vor der Flammenwand auf und ab. »Deshalb.«

»Sollte ich?« fragte Tally knapp.

Weller schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist nicht das erste Mal, weißt du? Dieser Müllhaufen brennt jedes Jahr mindestens einmal bis auf die Grundmauern ab. In ein paar Wochen haben sie alles wieder aufgebaut.« Er seufzte, fast, als täte es ihm leid. »Nun mach dich nicht selbst verrückt, Tally. Du hattest keine Wahl. Hättest du den Brand nicht gelegt, wären wir jetzt tot. Oder Schlimmeres. Um diesen Dreckhaufen da ist es nicht schade.«

»Und die Menschen, die dort gelebt haben?«

»Die Klorschas?« Weller lachte böse. »Keine Sorge – wenn sie etwas können, dann ist es fortlaufen. Die meisten werden es überleben.«

»Das klingt, als würdest du es bedauern«, sagte Tally.

»Sie sind Abschaum«, antwortete Weller hart. »Es ist um keinen von ihnen schade. Dort unten lebt niemand, der nicht mindestens ein Menschenleben auf dem Gewissen hat. Du hast Braku erlebt. Er und seine Dreckskerle waren zwar die Schlimmsten von allen, aber die anderen sind auch nicht viel besser. Der Stadthalter von Schelfheim würde dir einen Orden verleihen, wenn er wüßte, daß du den Brand gelegt hast.«

»Auch für das hier? « Tally deutete nach unten. Die Straße lag wie eine schwarze Schlucht unter den Häusern. Aber Tally mußte die Toten nicht sehen, um zu wissen, daß sie da waren.

Weller lachte hart. »Was bist du?« fragte er. »Naiv oder nur blind? Warum glaubst du wohl, ist der Stadtrand von Schelfheim eine einzige Festung. Diese Bastarde versuchen immer wieder, die Stadt anzugreifen. Es war schon schlimmer als dieses Mal. Vor zwei Jahren haben sie es geschafft, die Garde zu überrennen und bis in die Stadtmitte vorzudringen.«

Er schüttelte drohend die Faust gegen den Halbkreis aus Flammen, der die Stadt einschloß. »Sie sind eine Pest«, fuhr er fort. »Und sie vermehren sich wie die Karnickel. Wenn nicht ab und zu ein paar von ihnen erschlagen würden, würde sie Schelfheim einfach überfluten.«

Tally verbiß sich die zornige Antwort, die ihr auf den Lippen lag. Weller begann sich in Rage zu reden, und wahrscheinlich war er ohnehin taub für alle Argumente, die sie vorbringen würde.

»Und jetzt genug«, fuhr Weller fort. »Ich bin nicht hier, um mit dir über dieses Gesindel zu reden.«

»Sondern?« fragte Tally.

Anstelle einer direkten Antwort drehte sich Weller herum und deutete nach Norden. »Deshalb.«

Tallys Blick folgte seiner Bewegung. Sie waren der Stadt jetzt sehr nahe, aber es war noch nicht vollends hell geworden, und alles, was sie im blassen Licht der Dämmerung erkennen konnte, war eine gewaltige Massierung finsterer Schatten und gedrungener Umrisse, ein steinernes Meer, das sich bis zum Horizont erstreckte. Die Brände, die auch in ihrer unmittelbaren Nähe noch tobten, ließen die Dunkelheit im Norden noch tiefer erscheinen.

»Es ist ein guter Tagesmarsch bis in den Norden«, sagte Weller. »Schelfheim ist groß.«

»Und du hast keine Lust, uns zu begleiten«, vermutete Tally. Sie lächelte müde. »Erklär mir den Weg, und du bist frei.«

Weller starrte sie an. »Ist das... dein Ernst?« fragte er ungläubig.

Tally nickte. »Ja. Ich hätte dich niemals zwingen dürfen, mitzukommen. Es tut mir leid.«

»Leid?« Weller ächzte. »Du bist von Sinnen, Tally. Ohne meine Hilfe wären du und dein geschuppter Freund nicht einmal bis hierher gekommen!«

»So?« Tally war in diesem Punkt etwas anderer Auffassung, und sie sagte es Weller: »Ohne deine Hilfe wären wir vielleicht niemals von Braku und seinen Klorschas aufgehalten worden, meinst du nicht?«

»Unsinn«, behauptete Weller. »Das mit Braku war ein dummer Zufall. Aber es gibt noch mehr Gefahren im Slam als Braku. In Schelfheim übrigens auch. Allein seid ihr verloren, glaube mir.«

»Und jetzt willst du mir deine Führung anbieten?« vermutete Tally. »Warum?«

Weller zuckte mit den Achseln. »Vielleicht gefällst du mir«, sagte er anzüglich. »Außerdem kann ich ohnehin nicht zurück, solange hier noch der Teufel los ist.« Er grinste, trat einen Schritt auf sie zu und blieb abrupt wieder stehen, als Tally drohend die Hand hob.

»Warum willst du wirklich mitkommen?« fragte Tally.

»Vielleicht aus Neugier«, antwortete Weller. »Weißt du, als ich dich gestern das erste Mal gesehen habe, habe ich mich gefragt, was an dir so Besonderes sein mag, daß die halbe Welt dich sucht. « Er machte eine vage Geste auf die brennende Stadt hinab. »Ich beginne es zu begreifen.«

»Ich wollte das nicht«, antwortete Tally unerwartet scharf. »Hätte ich geahnt, was passieren wird, hätte ich es nicht getan.«

»Und dich lieber umbringen lassen?« Weller schnaubte. »Mach dir nichts vor, Tally – wenn die Garde nicht zufällig aufgetaucht wäre, hätte Braku uns alle umgebracht. Wenigstens hätte er es versucht. Obwohl ich mir mittlerweile nicht mehr so sicher bin, daß es ihm gelungen wäre.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Tallys Gürtel. »Diese Waffe, die du da hast – woher stammt sie?«

»Ich habe sie nicht mehr«, sagte Tally. »Ich... habe sie verloren, als ich noch einmal zurückgegangen bin, um Hrhon und dich zu holen.«

»Oh«, machte Weller enttäuscht. »Das ist schade. Sie hätte uns noch von Nutzen sein können. Außerdem hätte ich sie dir gerne abgekauft.«

Tally lächelte matt. »Was bringt dich auf die Idee, daß ich sie verkauft hätte?«

»Der Umstand, daß ich Leute kenne, die ein Vermögen dafür bezahlen würden«, erwiderte Weller ernst.

»Ich habe dir schon einmal gesagt, daß ich kein Geld brauche«, erwiderte Tally, aber Weller ließ ihre Worte nicht gelten, sondern machte eine heftige Handbewegung und sagte: »Du weißt ja nicht, was du sprichst, dummes Weib. Du kommst aus dem Süden, und da gelten andere Gesetze. Dies hier ist die Zivilisation, und ohne Geld kommst du dich hier nicht einmal in Ehren beerdigen lassen. Wenn du zu Karan willst – und vor allem, wenn du etwas von ihm willst, brauchst du Geld. Viel Geld. Hast du irgend etwas, das du verkaufen könntest?«

Tally schüttelte den Kopf, ohne auch nur eine Sekunde über Wellers Worte nachzudenken. Es war so, wie sie gesagt hatte – sie hatte niemals Geld gebraucht, und alles von Wert, was sie jetzt noch besaß, waren das Schwert an ihrer Seite – und die vier anderen Drachenwaffen, die sich wohlversteckt in dem Ledersack befanden, der auf Hrhons Rücken geschnallt war. Aber sie hätte sich eher die linke Hand abhacken lassen, ehe sie eine solche Waffe einem Mann wie Weller gegeben hätte. Wieder sah sie Weller mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung an, dann runzelte er plötzlich die Stirn, hob die Hand und deutete auf den Blutstein, der an einer dünnen Kette an ihrem Hals hing. »Was ist das?« fragte er.

Tally legte ganz instinktiv die Hand auf den Stein.

»Nichts«, sagte sie hastig. »Jedenfalls nichts, was ich verkaufen könnte.«

»Er sieht wertvoll aus«, sagte Weller stur.

»Das mag sein. Aber ich verkaufe ihn nicht.«

Etwas im Klang ihrer Stimme schien Weller davon zu überzeugen, daß es wenig Sinn hatte, weiter in sie zu dringen. Er seufzte nur, drehte sich wieder um und starrte nach Süden.

»Dann wird es schwer«, murmelte er. »Wir brauchen einen Träger, um in den Norden zu kommen. Und nach dem hier –« Er deutete in die Tiefe. » – wird es in der Stadt von Soldaten und Patrouillen wimmeln.«

»Und?« fragte Tally.

Weller verdrehte in komisch gespieltem Entsetzen die Augen. »Ihr Götter, woher kommt dieses Weib?« stöhnte er. »Wir brauchen Geld, um sie zu bestechen. Viel Geld, fürchte ich. Und auch Karan wird seinen Teil verlangen. Ich kenne ihn. Er ist ein gieriger alter Kauz. Wenn du ihn nicht bezahlst, sagt er dir nicht einmal, wie spät es ist.« Tally schwieg einen Moment, dann seufzte sie, schüttelte ein paarmal den Kopf und sagte: »Vielleicht ist es doch besser, wenn wir uns trennen,«

»Warum?« fragte Weller scharf. »Hast du Angst, ich könnte dir helfen?«

»Du komplizierst alles«, antwortete Tally ungerührt.

»Bisher sind Hrhon und ich ganz gut allein zurecht gekommen, weißt du?«

»Bisher wart ihr auch nicht in Schelfheim«, antwortete Weller ärgerlich. »Beim Schlund, sieh doch endlich ein, daß ich dir helfen will, Mädchen! Du und dein Schildkrötenfreund, ihr seid bisher vielleicht ganz gut allein zurecht gekommen – draußen in eurer Wüste. Aber das hier ist die Zivilisation. Hier gelten andere Gesetze.«

»Ich weiß«, antwortete Tally leise. »Aber sie gefallen dir nicht.«

»Mir auch nicht«, versetzte Weller grob. »Aber sie sind nun mal so. Willst du nun meine Hilfe oder nicht?«

»Ich kann sie nicht bezahlen.«

»Das brauchst du nicht. Ich bringe euch zu Karan, und was an Unkosten entsteht, werde ich schon irgendwie auftreiben.« Er grinste. »Ich bin Geschäftsmann. Manchmal muß man Spesen in Kauf nehmen.«

»Und wo liegt dein Gewinn?« fragte Tally lauernd.

»Du bist ein Feind der Töchter des Drachen, oder?« Wellers Grinsen wurde noch breiter. »Alles, was ihnen schadet, nutzt mir. Ich lebe von Informationen. Außerdem«, fügte er hinzu, »gefällst du mir. Du bist eine hübsche Frau.«

Tally schürzte geringschätzig die Lippen. »Ich weiß, Weller. Aber wenn du das denkst, was ich annehme, dann schlag es dir aus dem Kopf – oder ich tue es.« Sie sah Weller scharf an, und trotz der halb scherzhaften Wahl ihrer Worte mußte etwas in ihrem Klang gewesen sein, das sein Grinsen gefrieren ließ. Fast ohne es selbst zu merken, wich er ein kleines Stück vor ihr zurück, bis er gegen die steinerne Brüstung des Daches stieß. Als er weitersprach, klang seine Stimme merklich kälter, und es war sicher kein Zufall, daß er abrupt das Thema wechselte:

»Da ist noch etwas, Tally. Du und dein Waga-Freund, ihr seid zu auffällig. Auf eure Köpfe steht eine Menge Geld. Jeder kleine Spitzel in Schelfheim hat eure Beschreibung. So, wie ihr ausseht, kommt ihr keine zwei Meilen weit.«

»Und was schlägst du vor?« fragte Tally zornig. »Soll ich Hrhon schwarz anmalen und als Hornkopf verkleiden oder mir einen Bart wachsen lassen?«

Weller reagierte nicht auf ihren Sarkasmus. »Zuallererst einmal gibst du mir dein Schwert«, sagte er ernst.

»Hier in Schelfheim tragen Frauen keine Waffen, außer sie gehören zur Garde oder den Töchtern des Drachen. Und du brauchst andere Kleider. Unten im Haus sind Röcke und Mäntel, die dir passen müßten. Und wir müssen dein Haar verbergen.«

»Was ist so auffällig daran?« fragte Tally.

»Es ist zu lang«, erwiderte Weller. »Seit ein paar Jahren ist es Mode geworden, daß die Weiber hier das Haar kürzer tragen als die Männer. Manche scheren sich sogar die Schädel.«

»Alle?«

»Natürlich nicht alle«, sagte Weller ungeduldig. »Aber viele, und alle, die etwas auf sich halten. Aber wir müssen vorsichtig sein. Je weniger du auffällst, desto besser. Die Stadtgarde wird herumschwirren wie ein Bienenschwarm, und sich jeden sehr gründlich ansehen, der aus dem Süden kommt. Und wenn ich weiß, daß eine gewisse Kriegerin und eine flachgesichtige Riesenschildkröte gesucht werden, wissen sie es bestimmt. Du mußt dich von Hrhon trennen.«

»Niemals«, widersprach Tally impulsiv, aber Weller schien mit dieser Reaktion gerechnet zu haben, denn er hob beschwichtigend die Hand, noch bevor sie das Wort vollends ausgesprochen hatte, und fügte hinzu: »Natürlich nur für eine Weile. Ihr könnt auf keinen Fall zusammen gehen. Es gibt ein paar Wagas in der Stadt – nicht sehr viele, aber doch nicht so wenige, daß sein Anblick allzu großes Aufsehen erregen würde. Wir machen einen Ort aus, an dem ihr euch treffen könnt.« Er lächelte. »Die Idee stammt übrigens von Hrhon. Ich habe mit ihm gesprochen, ehe ich heraufgekommen bin.«

Tally zögerte einen Moment zu antworten. Alles in ihr sträubte sich ganz instinktiv gegen die Vorstellung, sich von Hrhon zu trennen, und sei es nur für wenige Stunden. Aber wahrscheinlich hatte Weller recht. Immerhin hatte er praktisch auf den ersten Blick gewußt, wen er vor sich hatte.

Hätte sie ihn nur ein wenig länger gekannt, wäre es ihr nicht so schwer gefallen, ihm zu trauen. Aber so wenig, wie Weller aus ihr schlau wurde, so wenig wußte sie wirklich, woran sie mit ihm war. Sie hatte gelernt, jeden Fremden zuerst einmal als Feind einzustufen, und mehr als einmal in den letzten vierzehn Monaten hatte ihr dies das Leben gerettet. Aber sie hatte auch längst begriffen, daß Weller in Wahrheit alles andere als der kleine Gauner war, als der zu erscheinen er sich Mühe gab. Und irgendwann mußte sie schließlich damit anfangen, einem Fremden zu trauen...

Schweren Herzens nickte sie. »Gut, Weller. Ich traue dir. Aber wenn du mich hintergehst –«

»Schneidest du mir die Kehle durch und machst aus meiner Zunge eine Krawatte, ich weiß«, unterbrach sie Weller. Er seufzte. »Weißt du was, Tally? Ich glaube, wir werden noch gute Freunde. Vorausgesetzt, wir bleiben lange genug am Leben.«

6

Tally kam sich reichlich albern vor in den Kleidern, die Weller für sie herausgesucht hatte. Die Kleiderkammer des Hauses war gut gefüllt gewesen; trotz seiner exponierten Lage mußten seine Besitzer sehr wohlhabend sein. Tally hatte noch nie jemanden getroffen, der mehr als fünf oder sechs Kleider und allenfalls noch ein besonders prachtvolles Festgewand besaß, aber hier gab es gleich Dutzende, und wie Weller erklärte, war an dieser Tatsache nichts Besonderes. Schelfheim war eine reiche Stadt, in der reiche Menschen wohnten.

Aber trotz der großen Auswahl hatte Tally nichts gefunden, was ihr zusagte. Mit Ausnahme eines schweren wollenen Mantels – den Weller ihr jedoch sofort aus der Hand riß und erklärte, so etwas würde höchstens eine Küchenmagd tragen, und er verstünde überdies gar nicht, wie er sich in die Kleiderkammer verirrt hatte – waren die Röcke, Mäntel und Kleider allesamt dünne, zum Teil beinahe durchsichtige Fetzchen, derartig mit Borden, Spitzen, Pailletten, Puffärmeln und unbequemen hochgesteckten Kragen besetzt, daß es unmöglich schien, sich vernünftig darin zu bewegen.

Als sie schließlich neben Weller das Haus verließ, trug sie ein dünnes blauseidenes Nichts, das unter dem Mantel unentwegt raschelte und knisterte und sie bei jedem Schritt behinderte, dazu ein goldbesticktes Kopftuch, das ihr Haar verbarg, und Schuhe, die ein Alptraum waren – die Absätze waren so hoch wie ihr kleiner Finger und wenig dicker als eine Nadel; wenn sie versuchen sollte, damit auch nur einen Schritt zu rennen, mußte sie unweigerlich auf die Nase fallen. Tally fragte sich vergeblich, was Menschen dazu bringen mochte, sich auf derart unpraktische Weise zu kleiden.

Die Straßen waren voller Toter, als sie das Haus verließen. Es war hell geworden; denn Weller hatte darauf bestanden, daß sie warteten, bis die Sonne vollends aufgegangen war, um nicht nur aus Versehen von der Garde für versprengte Überlebende des Plündererheeres gehalten und kurzerhand niedergemacht zu werden. Mit Anbruch des Tages schien die schlimmste Wut des Feuers gebrochen zu sein; aber vielleicht war das auch nur eine Täuschung, weil das Licht der Morgensonne die Glut der tobenden Brände zu überstrahlen begann. Schelfheim war jetzt vollends von einem Halbkreis aus weißer und roter Glut und schwarzem Qualm eingeschlossen, und manchmal hörte man noch Kampflärm mit dem Wind heranwehen.

Tally versuchte, die Bilder zu verdrängen, die ihre Phantasie zu den Lauten erschuf, aber ganz gelang es ihr nicht – kurz, bevor sie das Haus verlassen hatten, war sie noch einmal auf das Dach hinaufgegangen und hatte nach Westen geblickt, und was sie gesehen hatte, hatte sie schlichtweg mit Entsetzen erfüllt. Die Klorschas waren zurückgedrängt worden, aber die Garde gab sich nicht damit zufrieden, sie aus der Stadt zu scheuchen, sondern versuchte die Slambewohner in die Flammen zurückzujagen; auf dem schmalen unbebauten Streifen zwischen Schelfheim und dem Slam tobte eine Schlacht, die von beispielloser Härte war.

Tally maßte sich kein Urteil an; sie war eine Fremde in dieser Welt und wußte nichts von ihren Regeln und Gesetzen. Aber sie empfand ein tiefes, lähmendes Entsetzen, das mit jedem Augenblick schlimmer wurde. Und sie fühlte sich einsam. Erst jetzt, als sie das Haus verlassen hatten und sich nach Norden bewegten, begriff sie wirklich, wie sehr sie sich Weller ausgeliefert hatte. Hrhon fehlte ihr. Sie war waffenlos und allein, und sie fühlte sich verloren. Wer sagte ihr, daß dies alles nicht ein raffiniert eingefädelter Plan Wellers war, sie von dem Waga zu trennen und die Belohnung einzustreichen, die auf ihren Kopf stand? Tausend Goldheller waren ein Vermögen, selbst in einer Stadt wie dieser.

Die Gelegenheit, Wellers Loyalität auf die Probe zu stellen, kam schneller, als ihr lieb war. Sie waren kaum eine Meile gegangen – in den Folterschuhen, die Tally trug, schienen es allerdings eher zehn zu sein –, als sie auf die erste Patrouille stießen: eine Gruppe waffenstarrender Hornköpfe, die von einem dunkelhaarigen Mann in der gelben Uniform der Stadtgarde angeführt wurde. Tally stockte unwillkürlich der Schritt. Ihre Hand glitt dorthin, wo das Schwert sein sollte, und ertastete nur nutzlosen blauen Stoff. Für eine Sekunde war sie nahe daran, einfach herumzufahren und zu rennen, so schnell sie nur konnte. Ihr Herz begann zu rasen.

»Ruhig«, sagte Weller halblaut. »Ich regele das.« Er hob grüßend die Hand, trat dem Soldaten entgegen und deutete eine Verbeugung an. »Gut, daß wir euch treffen«, sagte er, ehe der Krieger auch nur Gelegenheit zu einem Wort fand. »Sind die Straßen von hier ab sicher?«

Der Soldat blickte ihn schweigend an, drehte betont langsam den Kopf und sah einen Moment schweigend in Tallys Gesicht. Ein fragender Ausdruck erschien in seinen Augen – nicht unbedingt Mißtrauen, aber auch ganz und gar keine Sorglosigkeit. Der Mann schien seine Aufgabe ernster zu nehmen, als Weller annehmen mochte, dachte Tally.

»Wer seid ihr?« fragte er grob. »Zeigt eure Ausweise.« Weller ächzte. »Ausweise? Bist du von Sinnen, Kerl? Wir sind froh, daß wir unsere nackte Haut gerettet haben! Unser Haus ist niedergebrannt, und um ein Haar hätte diese verlauste Bande meine Schwester und mich umgebracht.« Er deutete erregt auf Tally. »Sieh dir das arme Ding an! Sie ist noch immer halb verrückt vor Angst!«

»So?« sagte der Krieger kalt. Er kam näher, schob Weller einfach zur Seite und blieb einen halben Schritt vor Tally stehen. Einer der riesigen Hornköpfe folgte ihm. Ein unangnehmer, metallischer Geschmack breitete sich auf Tallys Zunge aus, als sie dem Blick der gewaltigen Facettenaugen begegnete. Wenn dieses Ungeheuer über die gleichen Fähigkeiten verfügte wie Vakk...

Aber dann drehte der Hornkopf den Schädel und blickte ausdruckslos auf Weller herab. Eine seiner zahllosen Hände begann mit einem mehrschneidigen Schwert zu spielen, das er im Gürtel trug.

»Wie lange braucht ihr noch, um dieses Pack dorthin zurückzutreiben, wo es herkommt?« fuhr Weller erregt fort. »Ich werde mich beim Stadtrat beschweren! Was sind das für Zeiten, in denen man nicht einmal auf die Straße gehen kann, ohne Gefahr zu laufen, erschlagen zu werden?«

Der Krieger seufzte, bedachte Weller mit einem fast mitleidvollen Lächeln und trat kopfschüttelnd zur Seite.

»Ihr könnte passieren«, sagte er. »Aber du solltest zum nächsten Büro des Magistrats gehen und für dich und deine Schwester neue Passierscheine beantragen. Es wird eine Weile dauern, bis ihr in euer Haus zurück könnt.«

Weller starrte ihn noch einen Moment lang böse an, dann ergriff er Tally bei der Hand und zog sie grob mit sich. Die Mauer der Hornköpfe teilte sich, um sie passieren zu lassen, und schloß sich hinter ihnen wieder.

»Das war knapp, wie?« fragte Tally, als sie außer Hörweite waren.

Weller grinste. »Ach was. Wir haben Glück – an Tagen wie heute haben sie einfach nicht genug Leute, jeden gründlich zu kontrollieren, der in die Stadt hinein will. Wenn sie einen Leser dabeigehabt hätten...«

»Was?« fragte Tally.

»Einen Leser«, wiederholte Weller. »Es gibt Hornköpfe, die sofort erkennen, wenn du lügst. Aber sie haben nicht viele davon – den Göttern sei Dank. Mit ein bißchen Glück... «

Er brach mitten im Wort ab, starrte Tally einen Herzschlag lang aus großen Augen an und begann plötzlich zu grinsen wie ein Schuljunge, dem ein besonders boshafter Scherz gelungen war. »Beim Schlund, dieser Hohlkopf hat mich auf eine Idee gebracht«, fuhr er dann fort.

»Mit etwas Glück sind wir schneller bei Karan, als ich bisher gedacht habe.«

»Was hast du vor?« fragte Tally mißtrauisch.

Aber Weller schien ihre Frage gar nicht gehört zu haben. Plötzlich sah er sich hektisch nach allen Seiten um, gestikulierte ihr gleichzeitig, still zu sein, und deutete schließlich nach links. »Dort entlang«, sagte er aufgeregt. »Wenn ich mich richtig entsinne, heißt das. Es ist lange her, daß ich hier war...«

»Was, beim Schlund, hast du vor?« fragte Tally ärgerlich. Sie hatte das ungute Gefühl, daß ihr das, was Weller mit seinen geheimnisvollen Andeutungen meinte, nicht gefallen würde.

Weller antwortete auch diesmal nicht, aber sein Grinsen wurde noch breiter. »Laß dich überraschen, Tally«, sagte er feixend. »In ein paar Minuten sind wir alle Sorgen los – mit etwas Glück.«

»Und mit etwas weniger Glück?« fragte Tally mißtrauisch.

»Sind wir tot«, erwiderte Weller. »Aber keine Sorge – ich habe das Glück gepachtet. Und jetzt schweig. Die Frauen in Schelfheim streiten sich nicht auf der Straße mit Männern. Komm.« Er wies mit einer Kopfbewegung nach links, wo eine etwas schmalere, aber ebenfalls sauber gepflasterte Straße im rechten Winkel abzweigte, und ging los, ehe sie Gelegenheit fand, abermals zu widersprechen.

Sie waren nicht mehr allein auf den Straßen, jetzt, nachdem sie die Sperre hinter sich hatten. Immer mehr Menschen kamen ihnen entgegen, manche in heller Aufregung, die meisten aber so ruhig und gelassen, als wäre nichts Außergewöhnliches geschehen. Hier und da standen Männer in kleinen Gruppen auf der Straße, um erregt miteinander zu diskutieren, und Tally sah auch Männer und Frauen, die auf die Hausdächer gestiegen waren, um das schreckliche Schauspiel von dort aus zu beobachten. Der Großteil der Schelfheimer jedoch schien von dem Brand und der Schlacht, die kaum ein Dutzend Straßenzüge weiter tobte, keinerlei Notiz zu nehmen. Trotzdem waren sie bald so sehr von Menschen umgeben, daß Tally es nicht wagte, Weller noch einmal zu fragen, was er vorhatte. So schluckte sie ihren Ärger herunter, senkte ein wenig den Blick und folgte ihm in zwei Schritten Abstand, wie er es ihr gesagt hatte. Ihre Umgebung begann sich zu verändern, je weiter sie in die Stadt eindrangen. Hatten zuerst noch die wuchtigen, festungsähnlichen Quaderbaue vorgeherrscht, wie Tally sie am Stadtrand gesehen hatte, so wurden die Häuser nun rasch normaler – schon nach weniger als einer Viertelstunde hatte sie zum ersten Male das Gefühl, wirklich in einer Stadt zu sein, und nicht in einer zu groß geratenen Festung. Sie sahen noch immer sehr viele Uniformen, und mehr als einmal tauchte der häßliche Schädel eines Hornkopfes über der Menschenmenge auf, aber niemals kam ihnen einer der Krieger auch nur nahe.

Sie überquerten einen großen, sauber gepflasterten Platz, der von einer Unzahl kleiner, zur Straße hin offenen Läden gesäumt wurde. Trotz der noch frühen Stunde herrschte bereits ein reges Treiben; vor mehreren Läden prisen Händler marktschreierisch ihre Waren an, auf einem eigens dafür abgezäunten Teil des Platzes spielten Kinder, und vor einem Haus auf der gegenüberliegenden Seite hatte sich eine regelrechte Menschentraube gebildet, die ein halbes Dutzend gelb uniformierter Stadtgardisten vergebens in irgendeine Ordnung zu bringen versuchte. Tally registrierte besorgt, daß Weller geradewegs auf dieses Gebäude zuhielt.

»Was hast du vor?« fragte sie noch einmal – und diesmal so laut, daß Weller die Worte deutlich hörte, obwohl er noch immer zwei Schritte vor ihr ging. Es war ihr jetzt auch gleich, daß er vielleicht nicht der einzige war, der sie hörte.

Ihre Taktik hatte Erfolg – Weller blieb tatsächlich stehen, blickte sie zornig an und schüttelte rasch und warnend den Kopf. »Nicht so laut!« sagte er erschrocken.

»Willst du, daß die ganze Stadt zuhört?« Er seufzte, wartete, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte, und wies mit einer Kopfbewegung auf das Gebäude vor ihnen.

»Dieser Narr hat mich auf die einzig wirklich gute Idee gebracht«, sagte er. »Das da ist die Bezirkskommandatur.«

Es dauerte einen Moment, bis Tally begriff. »Du willst ... «

»Uns Passierscheine besorgen, ganz recht«, unterbrach sie Weller feixend. »Was sonst? Unser Haus ist niedergebrannt, zusammen mit all unserer Habe und unseren Pässen. Wenn man uns ohne gültige Ausweise anhält, gibt es Ärger.«

»Du bist verrückt« keuchte Tally.

»Ganz im Gegenteil«, sagte Weller, plötzlich sehr ernst. »Du kennst diese Stadt nicht, Tally. Es ist fast unmöglich sie zu durchqueren, ohne ein halbes dutzendmal angehalten und kontrolliert zu werden. Mit einem gültigen Passierschein können wir einen Träger mieten und ganz offiziell zum Hafen reisen. Wir sind dort, ehe es Mittag wird.« Er sah sie scharf an. »Wenn du lieber Haschmich mit der Garde spielen willst, dann sag es jetzt. Ich gehe jedenfalls jetzt dort hinein und besorge uns Ausweise.«

Tally wollte ganz impulsiv widersprechen – aber dann kam ihr Wellers Idee plötzlich gar nicht mehr so verrückt vor. Sie war riskant, sicher – aber war nicht allein ihr Hiersein schon ein Risiko? Und möglicherweise hatte er recht; sie hatte die brennenden Häuser gesehen. Widerstrebend nickte sie. »Gut«, sagte sie. »Aber verlang nicht von mir, daß ich mit dir dort hineingehe.« Sie wies auf den wuchtigen Lehmziegelbau, über dessen Eingang das Emblem der Kommandatur prangte. Den Gardisten war es mittlerweile gelungen, die zwei oder drei Dutzend erregten Bürger davor wenigstens zu einer Schlange zu formieren. Einige von ihnen trugen hastig angelegte Verbände, und ein Mann mittleren Alters war so übel verwundet, daß er sich auf seine Begleiterin stützen mußte.

Weller überlegte einen Moment. Dann nickte er. »Gut. Meinetwegen bleib hier. Aber geh nicht fort.«

»Ich werde mich ein wenig umsehen«, sagte Tally. Weller seufzte. Aber er schien einzusehen, wie wenig Sinn es hatte, Tally irgend etwas befehlen zu wollen; denn er zuckte nur resignierend die Achseln und seufzte abermals.

»Wie du willst. Aber sprich mit niemandem. Und bleib in der Nähe.« Er schien noch mehr sagen zu wollen, beließ es aber dann bei einem dritten, gequält klingenden Seufzen, und drehte sich herum, um mit schnellen Schritten auf einen der Gardesoldaten zuzugehen. Tally sah, wie er einen Moment mit ihm sprach und dabei erregt auf sich selbst und sie deutete. Der Posten blickte neugierig in ihre Richtung und schüttelte den Kopf. Wellers Hand verschwand für einen Moment unter seinem Gürtel; als sie wieder auftauchte, wechselte eine blitzende Silbermünze ihren Besitzer. Diesmal nickte der Soldat auf Wellers Worte, nahm ihn beim Arm und führte ihn an der Schlange der Wartenden vorbei in das Gebäude. Böse Blicke und Verwünschungen folgten ihm, und der verwundete Mann schüttelte sogar seine Faust hinter ihm her.

Tally drehte sich rasch herum und ging ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung. Sie hatte keine Lust, als Zielscheibe für den Zorn zu dienen, der Weller galt – und sie wollte die Zeit nutzen, sich ein wenig umzusehen. Sie war noch niemals in einer Stadt wie Schelfheim gewesen, und es gab viel hier, was ihre Neugier erregte – und manches, was von Nutzen sein mochte.

Unschlüssig sah sie sich um, wandte sich schließlich wieder in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und schlenderte gemächlich an den Auslagen der Geschäfte entlang, die den Platz säumten.

Es gab buchstäblich alles – zumindest alles, was sich Tally vorstellen konnte, und noch eine ganze Menge mehr. Angefangen von Lebensmitteln über Kleider und Waffen und Dinge des täglichen Lebens boten die Geschäfte alles feil, was sich nur für Geld kaufen und verkaufen ließ. Tally blieb immer wieder stehen, um all die sonderbaren und zum Teil für sie unverständlichen Dinge zu begutachten, nahm hier und da sogar etwas zur Hand, entfernte sich jedoch immer rasch, wenn einer der Händler auf sie zutrat und sie in ein Gespräch verwickeln wollte.

Sie hatte Lust, etwas zu kaufen, einfach so, und sie hatte ein wenig Geld, denn gottlob hatten die Leute, deren Haus sie geplündert hatten, nicht mehr die Zeit gefunden, ihre Schatztruhe mitzunehmen. Es waren keine Reichtümer, die sie gefunden hatten, aber genug, ihr Ziel zu erreichen – wie Weller gesagt hatte – und noch ein bißchen mehr. Tally hielt die Handvoll Münzen, die sie in einem kleinen Lederbeutel unter ihrem Cape trug, für ein kleines Vermögen, aber Weller wäre wahrscheinlich nicht einmal zufrieden gewesen, wenn er einen faustgroßen Goldklumpen gefunden hätte.

Sie blieb vor einem Laden stehen, der Kleider und allerlei anderen Ramsch feilbot, auf einem kleinen, ein wenig abseits stehenden Tischchen aber auch Waffen – zierliche Dolche, ein Bogen, der allenfalls als Spielzeug gut war und beim ersten ernstgemeinten Spannen zerbrechen mußte, einen etwas zu klein geratenen Morgenstern, dessen Kette als Ausgleich zu lang war, so daß sich der, der ihn benutzte, allenfalls selbst den Schädel einschlagen würde... Ramsch, der hübsch aussah, aber zu nichts nutze war. Trotzdem nahm sie bedächtig jedes einzelne Stück zur Hand und begutachtete es eingehend. So lange, bis ein Schatten über sie fiel und sie ein leises Räuspern hörte.

Erschrocken sah sie auf und blickte ins Gesicht des Händlers, der aus seinem Laden getreten war und aus guten zweieinhalb Metern Höhe auf sie herabblickte. Im ersten Moment hielt sie ihn für einen Menschen, aber dann sah sie die spitzen, einwärts gebogenen Fangzähne, die sich über seine Unterlippe zogen, und die mit dünnen Härchen bewachsenen Pinselohren.

»Du interessierst dich für Waffen, Kind?« Seine Stimme war sehr leise für einen Mann seiner Größe, aber sie hatte einen so angenehmen, weichen Klang, daß Tally sofort einen Teil ihres instinktiven Mißtrauens verlor. Sie nickte, erinnerte sich daran, was Weller über die Frauen in Schelfheim gesagt hatte, und schüttelte hastig den Kopf.

Der Blick der geschlitzten Katzenaugen verharrte einen Moment auf ihrem Gesicht und streifte dann den silbernen Zierdolch, den sie in der Hand hielt. Beinahe schuldbewußt legte Tally die Waffe zurück und wollte gehen, aber der Riese hielt sie mit einer raschen Bewegung zurück.

»Warte doch«, sagte er. »Du hast recht – das da ist Tand. Ich habe etwas Besseres für dich. Für wen soll die Waffe sein? Für deinen Mann?«

»Meinen... Bruder«, sagte Tally hastig. »Ich will ihn überraschen. Aber er kennt sich mit Waffen aus. Ich nicht«, fügte sie mit einem entschuldigenden Lächeln hinzu.

»Dann habe ich genau das Richtig für dich«, sagte der Händler. »Warte hier. Ich bin gleich zurück.«

Er drehte sich herum und verschwand mit gewaltigen Schritten im Inneren seines Ladens, wo Tally ihn lautstark rumoren hörte. Es wäre ihr ein Leichtes gewesen, jetzt einfach zu gehen – aber damit hätte sie eher noch mehr Aufsehen erregt; und die Worte des Riesen hatten ihre Neugier geweckt. Sie wollte einfach wissen, ob er ein ehrlicher Mann war oder ein Gauner, der die Unwissenheit einer Frau nutzen wollte, um ein gutes Geschäft zu machen.

Nach einer Weile kam der Katzer wieder, ein armlanges, in weiße Tücher eingeschlagenes Bündel auf beiden Armen tragend. Mit einem fast verschwörerischen Lächeln legte er es vor ihr ab und machte eine einladende Geste, es zu öffnen.

Tally gehorchte. Unter dem weißen Leinen kam ein prachtvolles, beidseitig geschliffenes Schwert zum Vorschein.

Es war eine prachtvolle Arbeit – die Klinge war so lang wie ihr Arm und mit filigranen Verzierungen versehen, wohingegen ihr Griff beinahe einfach wirkte, aber eine sehr sonderbare Form hatte. Bewundernd nahm sie die Klinge auf, wog sie einen Moment prüfend in der Hand und stellte fest, daß sie ihr Gewicht kaum fühlte. Sie war perfekt ausgewogen. Wenn die Güte ihres Stahles hielt, was sein Aussehen versprach, mußte es eine phantastische Klinge sein; zehnmal besser als das Schwert, das sie Weller in Aufbewahrung gegeben hatte.

»Gefällt es dir?« fragte der Katzer.

Tally nickte heftig. »Es ist wunderschön«, sagte sie.

»Was kostet es?«

»Zehn Goldheller«, antwortete der Katzer, »und das ist geschenkt.«

Einen Moment lang war Tally ernsthaft in Versuchung, das Schwert zu kaufen. Sie hatte mehr als die Summe, die der Händler forderte, und die Klinge war diesen lächerlichen Betrag allemal wert. Aber dann dachte sie daran, was Weller sagen würde, wenn sie ihn mit einem neu gekauften Schwert im Gürtel begrüßte, und legte die Klinge mit einem bedauernden Kopfschütteln wieder zurück. Sie erweckte schon viel zu viel Aufsehen allein damit, überhaupt hier zu stehen.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Aber das ist mir zu teuer.«

»Sie ist es aber wert, Mädchen«, sagte eine Stimme hinter ihr.

Tally fuhr zusammen, sah auf und erkannte den Schrecken im Gesicht des Katzers, ehe sie sich zu der Sprecherin herumdrehte. Wie durch Zufall ließ sie das Schwert während der Bewegung nicht los.

Hinter ihr standen zwei dunkelhaarige, in Mäntel aus erdbraunem Leder gekleidete Frauen, die eine, die gesprochen hatte, alt genug, ihre Mutter sein zu können, die andere ein junges Ding, das sie mit einer Mischung aus Hochmut und Ungeduld ansah.

»Du kannst mir glauben«, fuhr die Frau mit einem gutmütigen Lächeln fort. »Eine Waffe wie diese sieht man nicht alle Tage. Sie ist mindestens das zehnfache dessen wert, was dieser Halsabschneider dafür verlangt.«

Sie lächelte, nahm Tally das Schwert aus der Hand und machte einen spielerischen Ausfall gegen den Katzer, den dieser mit einem erschrockenen Fauchen und einem hastigen Satz nach hinten beantwortete. Tally sah, wie geschmeidig und schnell ihre Bewegungen waren. Es war nicht das erste Mal, daß sie ein Schwert in der Hand hatte. Aus reiner Gewohnheit überlegte sie, ob sie die dunkelhaarige Frau besiegen könnte; aber sie kam zu keinem eindeutigen Ergebnis.

»Wahrscheinlich hat er sie irgendwo gestohlen und weiß selbst nicht, was er da hat«, fuhr die Frau fort. »Ein Schwert aus Lakamar bringt auf dem Markt allemal seine fünfundzwanzig Goldheller. Zehn ist geschenkt. Wenn du es nicht kaufst, dann nehme ich es.« Sie lachte, legte das Schwert fast behutsam wieder zurück und sah Tally aufmerksam an. »Wie ist dein Name, Kind?« fragte sie.

»Nora, Herrin«, antwortete Tally. Weller und sie hatten sich auf diesen Namen geeinigt, sollten sie aufgehalten werden. »Ihr könnt die Klinge haben, wenn Ihr wollt. Ich verstehe nichts davon, und mein Bruder hat schon ein Schwert.«

»Du bist nicht von hier, wie?« fuhr die Dunkelhaarige fort. »Woher kommst du? Einen Dialekt wie deinen habe ich noch nie gehört?« Sie lächelte bei diesen Worten, aber Tally begann ein ganzes Läutwerk von Alarmglocken zu dröhnen. Die Frau hatte sich perfekt unter Kontrolle, aber in den Augen ihrer jüngeren Begleiterin stand ein unverholenes Mißtrauen.

»Aus dem Westen, Herrin«, antwortete sie wahrheitsgemäß. »Hört man es so deutlich?«

»Wenn man darauf achtet, ja. Aus dem Westen, sagst du?«

»Ja«, antwortete Tally, und fügte hastig und in bewußt übertrieben geschauspielertem, vorwurfsvollem Ton hinzu: »Aber ich wollte, ich wäre nicht gekommen. Ich war kaum hier, da wurde das Haus meines Bruders niedergebrannt und wir überfallen. Um ein Haar wären wir umgebracht worden. Und dann mußte ich stundenlang in einem finsteren stickigen Loch hocken bleiben, bis die Soldaten dieses Gesindel endlich vertrieben hatte.«

Die Frau schwieg, aber ihr Blick wurde durchdringend. Tally hatte das unbehagliche Gefühl, ein wenig zu viel des Guten getan zu haben. Aber sie war niemals eine gute Schauspielerin gewesen. Sie überlegte, ob sie schnell genug war, das Schwert an sich zu reißen und die beiden Frauen zu töten, wenn es sein mußte.

»Wo ist dein Bruder jetzt?« fragte die Dunkelhaarige schließlich.

Tally deutete über den Platz. »In der Kommandatur. Er sagt, wir brauchen Passierscheine, um in den Norden zu kommen.«

»In den Norden? Was wollt ihr da?« Die Frage war in so scharfem Ton gestellt, daß Tally jetzt sicher war, einen Fehler begangen zu haben.

»Mein... Bruder kennt dort jemanden«, antwortete sie nervös. »Wir brauchen einen Ort zum Schlafen. Und das Haus muß wieder aufgebaut werden, und die Geschäfte sollen weitergehen, sagt mein Bruder.« Die Augen der Frau wurden schmal. »Ihr seid ausgebrannt«, sagte sie. »Ihr habt nichts mehr, nicht einmal mehr einen Ort zum Schlafen, und du willst ein Schwert kaufen?«

»Mein... mein Bruder war so traurig«, stotterte Tally.

»Und da dachte ich, ich könnte ihn aufheitern. Er mag Waffen.«

»Was verschwenden wir unsere Zeit mit dieser Närrin, Jandhi?« fragte die jüngere Frau ärgerlich. »Sie ist dumm, wie alle Westler.«

»Schweig, Nirl«, sagte die ältere Frau scharf. »Das Kind ist völlig verstört, siehst du das nicht?« Sie wandte sich wieder an Tally und lächelte. »Vielleicht hast du sogar recht«, sagte sie. »Wir werden das Schwert mitnehmen. Wenn sich dein Bruder auf Waffen versteht, wird er sich freuen.«

»Aber –«

»Kein aber«, unterbrach sie Jandhi. »Ich bin sicher, unser diebischer Freund wird sich freuen, dir die Klinge als Geschenk zu überlassen, nicht wahr?«

Ihre letzten Worte galten dem Katzer, der dem Gespräch mit ständig wachsender Nervosität gefolgt war. Jetzt nickte er fast überhastet, griff mit zitternden Händen nach dem Schwert und hielt es Tally hin. Aber bevor sie danach greifen konnte, nahm ihm Jandhi die Waffe aus der Hand.

»Ich begleite dich zu deinem Bruder«, sagte sie. »Es treibt sich allerhand Gesindel auf den Straßen herum, vor allem an einem Tag wie heute. Jeder Mann der Garde ist im Einsatz, um die Klorschas zurückzujagen, mußt du wissen.«

Sie lächelte abermals und machte eine einladende Handbewegung. »Komm«, sagte sie, als Tally zögerte.

»Du kannst mir glauben – es ist sicherer für dich, nicht allein zu sein.«

Tally setzte sich widerstrebend in Bewegung. Sie blieb äußerlich ruhig, und sie war fast selbst erstaunt darüber, aber hinter ihrer Stirn tobte ein wahres Chaos. Jandhi gab sich nicht einmal sonderliche Mühe, die Tatsache zu verbergen, daß sie ihr kein Wort glaubte. Sie wußte nicht, wer diese beiden ungleichen Frauen waren, aber sie mußten sehr mächtig sein, den Reaktionen des Katzers nach zu schließen. Und sie hatte keinen großen Hehl daraus gemacht, daß ihr Vorschlag, Tally zu begleiten, nichts anderes als ein Befehl war. Tally wäre nicht überrascht gewesen, wenn Jandhi sie geradewegs dem nächsten Posten der Stadtgarde übergeben hätte.

Aber sie tat es nicht. Statt dessen geleitete sie sie zur Tür der Kommandatur, genau wie sie gesagt hatte, scheuchte den Posten mit einer nachlässigen Geste aus dem Weg und machte erneut eine auffordernde Geste, als Tally abermals zögerte, ihr zu folgen.

Es war dunkel im Gebäude, denn die wenigen Fenster, die es gab, waren nicht breiter als eine Hand und zusätzlich vergittert, und es stank nach zu vielen Menschen und zu wenig Sauberkeit. Eine Falle, dachte Tally. Dieses Haus war ein Gefängnis ader eine Falle oder beides – und sie war dabei, sehenden Auges hineinzulaufen!

Etwas von ihrer Nervosität mußte sich deutlich auf ihrem Gesicht wiederspiegeln, denn Jandhi blieb plötzlich stehen und schenkte ihr ein neuerliches, beinahe mütterliches Lächeln. »Du mußt keine Angst haben«, sagte sie. »Wir werden deinen Bruder finden, und dann könnt ihr weiter.«

Sie gingen weiter, überwanden eine kurze Treppe mit ungleichmäßigen Stufen und standen plötzlich vor einer verschlossenen Tür, die von gleich zwei Kriegern in den gelben Mänteln der Stadtgarde bewacht wurden. Jandhi scheuchte auch sie aus dem Weg, stieß die Tür auf und zog Tally einfach mit sich.

Sie fanden sich in einem großen, muffig riechenden Zimmer wieder, dessen Wände bis unter die Decke mit hölzernen Regalen bedeckt waren, in welchen sich buchstäblich Tausende von Folianten und Pergamentrollen befanden. An einem gewaltigen, mit Bergen von Papier bedeckten Tisch hockte ein dunkelhaariger Mann unbestimmbaren Alters, der bei ihrem rüden Eintreten zornig aufsah.

Aber nur für einen Moment. Dann wurde der Zorn in seinem Blick zu Erschrecken. Er stand so hastig auf, daß sein Stuhl ein Stück nach hinten schlitterte und umzukippen drohte.

Und er war nicht der einzige, der bei ihrem Anblick erschrak. Auch Weller, der ihnen den Rücken zugekehrt hatte und sich nur ganz langsam herumdrehte, wurde bleich. Sein Unterkiefer sackte herab. Der Blick, mit dem er zuerst Tally und dann ihre beiden Begleiterinnen maß, war eindeutig entsetzt.

Jandhi deutete auf Weller. »Ist das dein Bruder, Kind?« fragte sie.

Tally nickte.

»Dann sind wir hier richtig«, fuhr Jandhi fort. Sie ließ endlich Tallys Hand los, ging mit zwei raschen Schritten um den Tisch herum und sah Weller vorwurfsvoll an.

»Du bist leichtsinnig, deine Schwester allein draußen herumlaufen zu lassen, weißt du das?« sagte sie. »Einem Kind wie ihr, und noch dazu einem, das fremd in der Stadt ist, kann hier alles mögliche zustoßen. Man sollte dich für deinen Leichtsinn bestrafen.« Sie schüttelte tadelnd den Kopf, machte eine unwillige Geste, als Weller widersprechen wollte, und wandte sich an den Mann auf der anderen Seite des Tisches. »Gibt es Schwierigkeiten, Kommandant?«

»Nein«, antwortete der Mann hastig. »Das heißt... doch.«

»Was denn nun?« Jandhi runzelte unwillig die Stirn.

»Wo ist das Problem – diese beiden sind von den Klorschas aus ihrem Haus vertrieben worden und brauchen Passierscheine, um zu ihren Verwandten in den Norden zu kommen.«

»Das... das stimmt schon«, antwortete der Mann. Er wurde immer nervöser. »Jedenfalls ist es das, was der Bursche da –« Er deutete auf Weller. » – behauptet. Aber so einfach ist das nicht. Ich muß erst sehen, ob –«

»Wie wäre es«, unterbrach ihn Jandhi scharf, »wenn du einmal hinausgehen und auf die Straße blicken würdest, Kerl? Vor deiner Kommandantur stehen noch drei Dutzend andere, die das gleiche Problem haben. Ein paar von ihnen sind verletzt. Wie würde es dir gefallen, wenn deine Vorgesetzten erführen, daß du die Leute, von deren Steuern sie leben, stundenlang warten läßt?« Der Mann schrumpfte ein Stück in sich zusammen.

»Aber... aber meine Vorschriften sagen –«

»Vergiß deine Vorschriften, Kerl!« Jandhi geriet sichtlich in Rage. »Gib den beiden einen Passierschein, und zwar auf der Stelle!«

»Wie Ihr befehlt, Herrin. «

Jandhi schnaubte. »In der Tat, ich befehle es.« Zornig wandte sie sich wieder an Tally. »Diese Narren! Eines Tages werden die Klorschas ganz Schelfheim überrennen, und die Leute werden es nicht einmal merken, weil sie die Nasen nicht aus ihren Gesetzbüchern bekommen!« Sie seufzte, beugte sich ungeduldig vor und stützte sich auf der Tischkante ab, während der Kommandant hastig eine Schreibfeder nahm und einige Zeilen auf ein Stück Pergament kritzelte. Jandhi riß es ihm aus den Händen, kaum daß er Zeit gefunden hatte, sein Siegel darunter zu setzen, faltete es achtlos in der Mitte zusammen und gab es Weller.

»Hier«, sagte sie. »Nimm. Und denk in Zukunft daran, deine Schwester nicht mehr allein zu lassen.«

Weller nickte. Sein Blick flackerte wie der eines Wahnsinnigen. Feiner Schweiß perlte auf seiner Stirn. »Das ist... sehr freundlich von Euch, Herrin«, stammelte er.

»Ich... ich danke Euch.«

Jandhi machte eine ungeduldige Handbewegung.

»Bedank dich bei deiner Schwester«, erwiderte sie grob.

»Ich helfe ihr, nicht dir. Im Grunde hast du es nicht besser verdient, Kerl. Predigen wir nicht seit Jahren, daß ihr die Häuser im Westen aufgeben und die Straßen zumauern sollt? Aber Narren wie du sind ja nicht zur Vernunft zu bringen, scheint mir. Nora erzählt, du willst das Haus wieder aufbauen? Stimmt das?«

Weller tauschte einen raschen, sehr nervösen Blick mit Tally. »Ich... denke darüber nach«, gestand er zögernd. »Mein Geschäft ist hier im Westen, und –«

»Dein Geschäft nutzt dir nichts, wenn man dir die Kehle durchgeschnitten hat«, unterbrach ihn Jandhi grob. »Jetzt bring erst mal dieses Kind in Sicherheit, und dann überlege dir gut, wo du deinen Handel wieder aufbauen willst. Es ist möglich, daß wir es eines Tages leid sind, das Leben guter Krieger zu verschwenden, um Narren wie dich zu retten.«

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Weller hastig.

»Und ich... ich danke Euch. Auch im Namen meiner Schwester.«

»Schon gut«, murrte Jandhi. »Jetzt geh. Zwei Straßen südlich findest du einen Trägerstand. Sag dem Verleiher, daß Jandhi dich schickt, dann wirst du das erste Tier bekommen, das frei ist.«

Weller nickte abermals, drehte sich mit einer fahrigen Bewegung herum und lief so schnell aus dem Zimmer, daß es fast einer Flucht gleichkam. Seine Angst war nicht mehr zu übersehen.

Tally zögerte, ihm zu folgen. Alles in ihr schrie danach, aus der Nähe dieser beiden geheimnisvollen Frauen zu verschwinden, von denen sie immer noch nicht wußte, wer sie waren, die aber über eine ungeheure Macht zu verfügen schienen. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, daß es ungeheuer wichtig war, mehr über sie zu erfahren.

»Geh ruhig, Kind«, sagte Jandhi, die ihr Zögern wohl falsch deutete. »Wenn dein Bruder tut, was ich sage, seid ihr in wenigen Stunden bei euren Verwandten.«

»Danke, Herrin«, sagte Tally. »Ich... ich weiß gar nicht, wie ich Euch –«

»Du brauchst mir nicht zu danken«, unterbrach sie Jandhi. »Es ist unsere Aufgabe, für Ordnung zu sorgen, oder? Und nun geh. Wer weiß – vielleicht sehen wir uns wieder. Wo im Norden wohnen eure Verwandten? «

»Ich weiß nicht genau«, sagte Tally, was der Wahrheit entsprach. »Irgendwo am... am Hafen, sagte Weller.«

»Am Hafen?« Zwischen Jandhis Augen entstand eine steile Falte. »Keine gute Gegend. Aber sie paßt zu deinem Bruder.«

Sie beendete das Gespräch mit einer bestimmenden Geste, lächelte aber noch einmal, als sich Tally rückwärts gehend aus dem Zimmer entfernte. Erst, als die Tür hinter ihr zuschlug, wagte es Tally, sich wieder aufzurichten und erleichtert aufzuatmen. Obwohl eigentlich nichts Besonderes passiert war, hatte sie das bestimmte Gefühl, mit knapper Not einer entsetzlichen Gefahr entronnen zu sein.

Weller hatte das Gebäude bereits verlassen und wartete auf der Straße auf sie, ein Stück abseits der Schlange, und noch immer bleich wie Kalk vor Schrecken. Aber in seinen Augen flammte es zornig auf, als Tally an den Wachen vorbei aus der Tür trat und auf ihn zuging.

»Bist du wahnsinnig geworden?« fauchte er. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst mit niemandem sprechen? Und du –«

»Sie haben mich angesprochen«, unterbrach ihn Tally.

»Was sollte ich tun?«

»Oh verdammt, du bist ja noch verrückter, als ich geglaubt habe!« Weller keuchte, als litte er Schmerzen.

»Weißt du überhaupt, wer das war?«

Tally nickte. »Jandhi«, sagte sie. »Das war der Name, mit dem sie ihre Begleiterin ansprach.«

»Jandhi, ja«, schnaubte Weller wütend. »Jandhi san Sar, die heilige Mutter der Töchter des Drachen in Schelfheim. Die Frau, die ihre rechte Hand opfern würde, um dich in die Finger zu bekommen!«

Tally erschrak nicht einmal sehr. Sie hatte geahnt, daß es mit Jandhi und Nirl etwas Besonderes auf sich hatte, und ein Teil von ihr hatte wohl auch gespürt, daß diese Frau mehr als nur irgendeine einflußreiche Persönlichkeit Schelfheims war. Trotzdem spürte sie, wie alle Farbe aus ihrem Gesicht wich. Unter dem Kleid begannen ihre Knie ein wenig zu zittern. »Die... Töchter des Drachen?« wiederholte sie unsicher.

Weller grinste böse. »Ja – und jetzt frag' mich, warum ich so erschrocken war. Beim Schlund – ich habe mich schon auf dem Schafott gesehen, als du mit den beiden hereingekommen bist.«

»Na, dann sind wir ja quitt«, sagte Tally spitz. Ihr Schrecken schlug in Zorn auf Weller um. »Deine Idee, einfach so in die Kommandantur zu spazieren und dir einen Passierschein geben zu lassen, war ja wohl auch nicht so gut.«

»Unsinn!« fauchte Weller. »Ich war dabei, mit diesem Narren über die Höhe des Bestechungsgeldes zu verhandeln, als du hereingeplatzt bist. Jetzt ist er zornig und wird uns Ärger machen, wo er nur kann.«

Tally sah ihn scharf an. Sie wußte nicht, ob Wellers Behauptung nun eine Lüge war oder der Wahrheit entsprach. Vielleicht vertrug er es einfach nicht, daß sie recht hatte; der Typ dazu schien er zu sein.

»Ein Grund mehr, zu tun, was Jandhi vorgeschlagen hat«, sagte sie schließlich. »Du weißt, wo dieser Trägerstand ist?«

Weller nickte wütend, drehte sich auf der Stelle herum und wollte losstürmen. Aber sie hatten noch keine drei Schritte getan, als hinter ihnen eine helle Stimme rief:

»Nora, Weller! Wartet!«

Als Tally sich herumdrehte, erkannte sie Jandhi, die mit weit ausgreifenden Schritten auf sie zueilte. Von ihrer jüngeren Begleiterin war keine Spur zu sehen, aber hinter ihr traten gleich fünf Soldaten aus dem Haus und scheuchten die Wartenden beiseite.

»Das ist das Ende«, flüsterte Weller. »Sie hat endlich gemerkt, wer du bist. Warum habe ich dich nicht in den Schacht geworfen, ich Narr!«

Tally ignorierte seine Worte. Gebannt blickte sie Jandhi entgegen, die beinahe im Laufschritt auf sie und Weller zukam, dicht gefolgt von den Kriegern der Stadtwache. Sie wußte, daß ihre Chancen praktisch gleich null waren, einen Kampf mit diesen Männern zu bestehen, waffenlos und in der unpraktischen Kleidung, die sie trug. Trotzdem spannte sie die Muskeln. Wenn sie schon sterben mußte, würde sie wenigstens einen oder zwei von ihnen mitnehmen – und Jandhi zuallererst.

»Gut, daß ihr noch da seid«, sagte Jandhi. »Du hast etwas vergessen, Kind. Hier!« Sie griff unter ihren Mantel. Als sie die Hand wieder hervorzog, blitzte das gewaltige Silberschwert des Katzers darin.

Weller erbleichte noch ein bißchen mehr, als er die Klinge sah, und wie zur Antwort blitzte es in Jandhis Augen spöttisch auf. »Das ist für dich«, sagte sie, hielt die Klinge aber Tally hin, die zögernd und mit zitternden Fingern danach griff.

»Für... mich?« wiederholte Weller.

»Bedank dich bei deiner Schwester«, sagte Jandhi. »Sie hat es gekauft, um dir eine Freude zu machen. Dabei hättest du es eher verdient, daß man dir das Ding über den Schädel schlägt.« Sie lachte, trat einen Schritt zurück und maß Weller mit einem sehr strengen Blick.

»Behandle das Kind gut, Weller«, sagte sie. »Ich werde mich nach euch erkundigen. Und wenn ich höre, daß Nora ein Leid geschehen ist, ziehe ich dich persönlich zur Verantwortung.«

Damit ging sie. Aber Weller starrte noch lange Zeit mit offenem Mund in die Richtung, in der sie verschwunden war.

Er sprach kein Wort mehr mit Tally, bis sie den Trägerstand erreicht hatten.

7

Der Träger war eine Überraschung. Tally hatte mit einem Wagen gerechnet, vielleicht einer Art Rikscha, wie sie in den kleineren Städten im Westen benutzt wurden, durch die sie gekommen war; nach allem, was sie bisher in Schelfheim erlebt hatte, vielleicht sogar mit einer Maschine – denn wo die Götter selbst regierten, da schienen sie es mit ihren eigenen Gesetzen nicht ganz so ernst zu nehmen. Aber er war nichts von alledem. Es war ein Hornkopf, ein gigantisches Käferding, zwei Meter hoch und fast doppelt so lang, mit sechs spinnenartig geknickten Beinen und einem häßlichen, stachelgekrönten Schädel.

Tally blieb erschrocken stehen, als sie sich durch die Menschentraube gekämpft hatten, die den Trägerstand umlagerte, und sie das Ungeheuer erblickte. Ihr instinktiver Widerwille gegen Hornköpfe wurde für einen Moment so übermächtig, daß sie um ein Haar herumgefahren und schlichtweg davongelaufen wäre. Vielleicht hätte sie es sogar getan, wäre sie nicht derart in der Menschenmenge eingekeilt gewesen, daß sie sich gar nicht mehr bewegen konnte.

Weller befahl ihr überflüssigerweise, stehenzubleiben und auf ihn zu warten, zog den Passierschein unter dem Wams hervor und ging auf den Trägerführer zu, der ihm feindselig entgegenblickte.

Tally konnte nicht hören, was sie sprachen, aber Jandhis Name schien auch hier Wunder zu wirken. Der Führer erbleichte sichtlich, starrte Weller eine Sekunde lang mit einer Mischung aus Haß und Furcht an und fuhr dann auf dem Absatz herum. Weller winkte ihr ungeduldig, neben ihn zu treten.

Tally wollte gehorchen, aber eine Hand hielt sie am Arm zurück. Ärgerlich fuhr sie herum, blickte in ein breitflächiges, vor Zorn gerötetes Gesicht und erinnerte sich im letzten Moment daran, daß sie die verschreckte kleine Schwester eines verweichlichten Städters spielte. Der Mann, der sie und Weller abwechselnd wütend anstarrte behielt seine Zähne.

»Was soll das?« ereiferte er sich. »Wir stehen seit Stunden hier! Was fällt euch Pack ein, euch vorzudrängen?«

»Fragt meinen Bruder, Herr«, antwortete Tally kleinlaut. »Er hat ein Stück Papier. Ich weiß nichts davon.« Der Mann schnaubte, ließ ihren Arm los, versetzte ihr aber in der gleichen Bewegung einen Stoß, der sie geradewegs in Wellers Arm taumeln ließ. »Das werden wir sehen!« brüllte er. »Es geht hier der Reihe nach, oder –« Er brach mitten im Satz ab, wurde bleich und starrte aus hervorquellenden Augen auf die Schwertspitze, mit der Weller ihn in die Nase piekste.

»Wenn du Ärger suchst, Kerl«, sagte Weller lächelnd, »dann kannst du ihn haben. Oder vergreifst du dich prinzipiell nur an wehrlosen Frauen?«

Der Bursche schluckte ein paarmal. Aber er schien nicht ganz so feige zu sein, wie Weller annahm, denn er wich zwar einen Schritt zurück, hob aber gleich darauf wieder zornig die Fäuste. »Damit kommt ihr nicht durch!« sagte er. »Wir alle warten seit Stunden auf einen Träger! Ihr habe euch in der Reihe anzustellen wie alle!« Weller kam nicht dazu, zu antworten, denn in diesem Moment kam der Führer zurück, schlug sein Schwert mit der flachen Hand herunter und baute sich drohend zwischen ihm und dem Mann auf, der Tally gestoßen hatte.

»Was geht hier vor?« fragte er. »Ich dulde keinen Streit an meinem Stand.«

»Wieso läßt du sie vor?« beschwerte sich der Schelfheimer. »Wir alle warten seit Ewigkeiten hier, und jetzt –«

»Und jetzt kommt einer, der in Jandhis Namen spricht«, unterbrach ihn der Führer. »Was soll ich machen? Ihn zurückschicken und meine Lizenz verlieren, Kerl?«

Er spie ärgerlich aus, aber Tally hatte das Gefühl, daß diese Geste wohl eher ihr und Weller galt als dem Mann.

»Du hast die Wahl«, fuhr er fort. »Du kannst dich einige Augenblicke länger gedulden, oder es darauf ankommen lassen, daß diese beiden mit der Garde wiederkommen und meinen Laden dichtmachen. Dann kannst du zu Fuß gehen – ist dir das lieber?«

Der Mann widersprach nicht mehr. Aber sein Zorn war keineswegs verflogen – und er war nicht der einzige, der Weller und Tally voller kaum mehr verhohlenem Haß anstarrte. Wohin sie auch sah, blickte sie in zorngerötete Gesichter. Hier und da wurden sogar Fäuste geschüttelt. Verwünschungen wurden laut. Einige galten Weller und ihr, anderen den Töchtern des Drachen oder der Stadtgarde.

»Komm«, sagte Weller halblaut. »Besser, wir verschwinden, ehe dieser Tölpel etwas tut, was er später bedauert.«

Sie näherten sich dem Träger. Wieder stockten Tallys Schritte, und noch einmal wurde ihre instinktive Angst vor dem gepanzerten Ungeheuer fast übermächtig. Plötzlich war sie froh, daß Hrhon nicht bei ihnen war. Sie war sicher, daß es zu einem Unglück gekommen wäre, hätte der Waga diese Kreatur gesehen.

Auf ein Zeichen des Führers hin knickte der Hornkopf in den vorderen beiden Beinpaaren ein und öffnete seinen Rückenschäld. Tally sah, daß die zarten Flügel darunter beschnitten waren, so daß er nicht mehr fliegen konnte. Der Chitinpanzer selbst war sehr sonderbar geformt – im ersten Moment dachte sie, er wäre ebenfalls verstümmelt, aber dann erkannte sie, daß er zu einer Art natürlichem Sattel umgeformt war; nicht durch den Eingriff von Messern oder anderen Werkzeugen, sondem durch sorgsame Zuchtauswahl. Der Hornkopf war eine gezielte Mutation. Und nicht nur in einer Hinsicht, wie sie Augenblicke später erkannte.

»Wohin wollt ihr?« fragte der Führer übellaunig.

»Zum Hafen«, antwortete Weller. »Zur kleinen Schleuse. Das nördliche Ufer. «

Während Tally unsicher auf den halb geöffneten Rückenschild des Trägers hinaufkletterte, begann der Führer mit den Fingerspitzen über den Schädel des Hornkopfs zu fahren. Seine Hände bewegten sich dabei schnell und geschickt wie die eines Künstlers, der ein empfindliches Instrument spielt; mal zog er schnelle, zitterige Linien, mal tippte er nur mit den Fingerspitzen auf das schwarze Chitin, zum Abschluß preßte er die Handfläche auf das dreieckige Insektenmaul des Scheusales.

»Was tut er da?« fragte Tally halblaut.

Weller machte eine erschrockene Bewegung, still zu sein, beugte sich aber trotzdem zu ihr herüber und antwortete: »Er sagt ihm, wohin er uns bringen soll. Wenn er fertig ist, gibt es nichts, was den Träger noch vom Weg abbringen könnte. Aber still jetzt. Du stellst zu viele dumme Fragen.«

Der Führer war mittlerweile fertig geworden und ein Stück zurückgetreten. Einen Moment lang verharrte der Träger noch in seiner reglosen, nach vorne gebeugten Haltung. Dann richtete er sich wieder auf, hob den Kopf und spreizte die Flügeldecken noch weiter auseinander, bis sie im rechten Winkel vom Körper abstanden und er seine beiden Fahrgäste in der Balance hatte. Tally und Weller saßen nun schräg hinter seinem stacheligen Schädel, sicher gehalten von den natürlichen Vertiefungen seines Panzersattels, während ihre Beine frei in der Luft baumelten.

Tally begann sich unwohl zu fühlen. Außerdem kam sie sich lächerlich vor, auf den auseinandergeklappten Flügeldecken eines Riesenkäfers zu hocken wie ein Korb voller Früchte neben dem Rücken eines Lastesels. Weller ergriff mit der linken Hand eines der gebogenen Schädelhörner des Trägers und bedeutete ihr mit Blicken, es ihm gleichzutun. Tally gehorchte, und kaum hatte sie das Horn aus schwarzem Chitin berührt, da setzte sich der Hornkopf in Bewegung, langsam und schaukelnd wie ein überladenes Kamel zuerst, dann, als er aus der Menschenmenge heraus war und seine Beine in den gewohnten Takt gefunden hatten, mit erstaunlichem Tempo. Tally verspürte ein leises Ekelgefühl. Die Art, in der sich die Beine des Hornkopfes bewegten, erinnerten sie stark an das Laufen einer Spinne. Nach wenigen Augenblicken erreichten sie eine breitere, von zweigeschossigen steinernen Häusern gesäumte Straße. Tally sah, daß in ihrer Mitte ein doppelter, gut dreifach mannsbreiter Streifen dunklerer Steine in das Straßenpflaster eingelassen war, auf dem sich zahlreiche Trägerinsekten bewegten – und zwar in einer Ordnung, die sie überraschte. Das hektische Hin und Her der Käfer wirkte chaotisch, aber es war das Gegenteil: alle Träger, die sich nach Norden bewegten, hielten sich auf dem linken Streifen während die westwärts eilenden – es waren erheblich weniger – die rechte Straßenseite benutzten. Niemals berührten sich die Insekten dabei, auch wenn es so aussah, als müßten sie mit ihren weit auseinandergeklappten Flügeldecken die Straße leerfegen wie mit Sensen.

Ihr eigener Träger wartete reglos, bis er eine Lücke in dem schwarzen Strom der Insekten erspähte, flitzte mit erstaunlicher Behendigkeit los und reihte sich ein. Tally hätte sich gerne mit Weller unterhalten, denn es gab buchstäblich Tausende von Dingen, die sie sah und nicht verstand, aber das Klicken und Knistern und Rascheln der wirbelnden Insektenbeine schwoll zu einem derartigen Lärm an, daß sie hätten schreien müssen, um sich zu verständigen. Die Häuser flogen nur so an ihnen vorüber. Wenn sie ihre Geschwindigkeit beibehielten, schälzte Tally, dann mußten sie die knapp zwanzig Meilen bis zum Hafen in weniger als zwei Stunden zurückgelegt haben.

Aus den zwei Stunden wurden vier, denn die Straßen, die der Träger nahm, waren nicht immer so breit wie diese, und mehrmals stockte der klickende Fuß der schwarzen Riesenkäfer, wenn sie an Stellen kamen, an denen sich die Straßen kreuzten. Einmal mußten sie eine geschlagene halbe Stunde warten, weil ein Stück vor ihnen einer der Riesenkäfer von der Bahn abgekommen und wie ein lebendes Geschoß in den entgegengesetzten Laufstrom hineingerast war, was ein heilloses Chaos hervorgerufen hatte. Soweit Tally erkennen konnte, hatte es Verletzte, vielleicht sogar Tote unter den Männern und Frauen gegeben, die unsanft von den Rücken ihrer Lasttiere heruntergeschleudert worden waren. Als sie sich ihrem Ziel zu nähern begannen, hörte Tally ein dumpfes, an- und abschwellendes Rauschen. Zu Anfang war es so leise, daß es fast im Klicken und Rasseln des Insektenstromes unterging. Aber es schwoll an, bis es das Chitinwispern der Träger zu übertönen begann, und nach einer Weile glaubte sie, den Boden unter den Füßen ihres Tieres im Rhythmus dieses Geräusches zittern zu fühlen.

»Was ist das, Weller?« schrie sie über den Lärm hinweg.

Weller drehte sich schwerfällig im Sattel herum.

»Was?« antwortete er schreiend. »Dieser Lärm?« Tally nickte, und Weller fuhr mit einer vagen Geste nach Norden hin fort: »Der Hafen. Mach dich auf eine Überraschung gefaßt! Und stell zum Teufel noch mal nicht so viele dumme Fragen. Wir fallen auf!«

Tally verbiß sich die wütende Antwort, die ihr auf der Zunge lag – schon allein, weil sie mit vollem Stimmaufwand hätte schreien müssen, um sie hervorzubringen. Nach allem, was sie bisher mit Weller erlebt hatte, schien er höchst sonderbare Vorstellungen von der Bedeutung des Wortes unauffällig zu haben. Aber wenige Augenblicke später bog der Träger in eine schmale Seitenstraße ein, und was Tally sah, ließ sie ihre Verärgerung im Moment vergessen, denn unter ihnen lag der Hafen von Schelfheim.

Sie hatte sich bisher niemals Gedanken über die Bedeutung des Wortes Hafen gemacht; irgendwie hatten sich die beiden Vorstellungen, daß Schelfheim am Schlund lag und daß Wasser prinzipiell das Bestreben hatte, bergab zu fließen, in Tallys Bewußtsein nicht zu der Unmöglichkeit vereint, die sie darstellten. Bis jetzt. Unter ihnen lag der Fluß, ein glitzerndes, eine halbe Meile breites Band, das wie mit einem ungeheuerlichen Lineal gezogen gerade nach Westen verlief, bis es sich im Häusermeer der Stadt verlor. Ein halbes Dutzend gewaltiger Brücken überspannte den Fluß. Seine Ufer waren gemauert, schräg abfallende, grünverkrustete Dämme, unter denen das Wasser mit unglaublicher Geschwindigkeit dahinschoß. Das dumpfe Donnern und Dröhnen, das sie hörte, überraschte sie jetzt nicht mehr, denn sie blickte geradewegs in den gigantischsten Wasserfall, den sie jemals gesehen hatte.

Sie waren dem Schlund jetzt sehr nahe, und eine Viertelmeile unter ihnen schoß das Wasser des Flusses schäumend und und donnernd ins Nichts, ein brüllender Strom, der mit der Geschwindigkeit eines Pfeiles in die große Leere hinausraste und zu weißglitzerndem Schaum wurde, ehe er seinen meilentiefen Sturz begann. Der Boden unter den Füßen ihres Reittieres zitterte jetzt wirklich, und die Luft war so voller Feuchtigkeit, daß ihre Kleider schon nach Augenblicken dunkel und schwer zu werden begannen. Wasser sammelte sich in winzigen glitzernden Tröpfchen auf dem Chitinpanzer des Trägers.

Tally bemerkte es nicht einmal. Wie gebannt starrte sie auf das unglaubliche Bild, das sich ihr bot.

Der Fluß hatte sich im Laufe der Jahrhunderttausende ein Stückweit ins Land hineingefressen, so daß der Wasserfall praktisch innerhalb der Stadt lag. Die Glocke aus sprühender Gischt mußte eine halbe Meile hoch sein, ein Bereich immerwährender Feuchtigkeit und nie endenden, entsetzlichen Lärms, in dem trotzdem Häuser und Straßen entstanden waren, von denen sich manche bis auf wenige Schritte an den Rand des Abgrundes herangetastet hatten.

Tally schauderte. Ein Gefühl eisiger Kälte durchflutete sie, und ganz plötzlich hatte sie Angst, panische Angst. Es war das erste Mal, daß sie den Schlund sah, wirklich sah, so nahe, daß sie nur noch wenige hundert Schritte hätte tun müssen, um ihn zu erreichen. Und obwohl ihr Leben in den letzten vierzehn Monaten keinem anderen Ziel mehr gedient hatte als genau diesen Schlund zu erreichen, entsetzte sie sein Anblick zutiefst. Vor ihr lag der Rand der Welt, das große Nichts, die Leere, aus der alles Leben kam und in die es zurückkehrte, ein Abgrund, Meilen um Meilen um Meilen tief, und mit nichts anderem als nichts gefüllt. Wo Land sein sollte, erstreckte sich eine ungeheuerliche, blaugrün gemusterte Einöde, so entsetzlich, so unbeschreiblich tief unter der Klippe liegend, daß selbst das Wasser Stunden brauchen mußte, es in seinem Sturz zu erreichen.

Für einen ganz kurzen Moment war Tally sicher, daß Maya gelogen hatte. Es war unmöglich, daß dort unten irgend etwas existierte, und wenn, war es noch unmöglicher, daß irgend etwas den Weg hinauf aus dieser Tiefe schaffte. Nicht einmal ein Drache.

Dann bewegte sich der Träger in eine weitere Gasse hinein, und mit dem unmittelbaren Anblick des Schlundes verschwand auch die Angst, mit dem er sie erfüllt hatte. Tally atmete hörbar auf. Der feine Sprühregen des Wasserfalles hatte sie bis auf die Haut durchnäßt, und plötzlich spürte sie, wie kalt es geworden war. Sie zitterte am ganzen Leib. Aber sie versuchte tapfer, sich einzureden, daß es wirklich nur an der Kälte und der alles durchdringenden Feuchtigkeit lag. Mit aller Macht kämpfte sie ihre Furcht nieder und versuchte, sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren.

Sie näherten sich jetzt dem eigentlichen Hafen, einem komplizierten System hintereinandergestaffelter riesiger Becken, deren Staumauern die Strömung des Flusses schrittweise brachen, bis sie weit genug gebändigt war, nicht jedes Schiff wie ein Spielzeug zu zermalmen. Trotzdem waren die Schiffe, die auf den Wellen schaukelten, mit gewaltigen Ketten und Tauen gesichert. Die gemauerten Ufer waren hier mit einem komplizierten System aus stacheligen Rädern und Ketten übersät, das sich so weit in den Westen zog, wie Tally sehen konnte.

Sie fragte Weller nach dem Sinn dieser Konstruktion, und er erklärte ihn ihr: Schiffe, die nach Schelfheim fuhren, konnten sich der Strömung überlassen, bis sie in einem der Hafenbecken aufgefangen wurden, während das Fahren in südlicher Richtung weitaus schwieriger war. Segel oder Ruder und auch beides zusammen hatten keine Chance gegen den Sog der Strömung, so daß Schiffe, die Schelfheim wieder verlassen wollten, gezogen werden mußten, und zwar mehrere Meilen landeinwärts, bis weit hinüber über die Klippe, die den Schelf vom eigentlichen Land trennten, Wellers Erklärung erfüllte Tally mit Staunen, aber auch mit einer tiefen, jäh aufflammenden Wut. Sie hatte Städte verbrannt, deren Bewohner so leichtsinnig gewesen waren, einen Flaschenzug zu erfinden. Und in dieser Stadt, die unter dem Befehl der Drachenreiterinnen stand, sah sie Maschinen, die an ein Wunder grenzten. Irgendwie holte diese Erkenntnis Tally in die Wirklichkeit zurück. Die Ehrfurcht, mit der sie der Anblick des Schlundes erfüllt hatte, verkroch sich in einen entlegenen Winkel ihres Bewußtseins, und ganz plötzlich wurde sie sich wieder des Grundes bewußt, aus dem sie überhaupt hier war.

Aber sie hatten ihr Ziel jetzt auch fast erreicht. Der Träger trippelte ungeschickt eine gewundene Treppe hinab, näherte sich dem Rand eines der gewaltigen Hafenbecken und hielt plötzlich an. Weller sprang mit einer geschmeidigen Bewegung von seinem Panzer herunter, duckte sich unter seinem Schädel hindurch und streckte die Arme aus, um Tally beim Absteigen zu helfen.

Tally ignorierte ihn, stieg umständlich von ihrem Sitz herab und trat ein paar Schritte auf der Stelle, um ihre vom langen reglosen Sitzen steif gewordenen Muskeln zu durchbluten. »Wo ist Karans Haus?« fragte sie. Weller zog eine Grimasse. »Hier nicht«, antwortete er.

»Wir haben noch einen kleinen Spaziergang vor uns – nicht lang. Drei, vielleicht vier Stunden.«

Tally starrte ihn wütend an. »Was soll das?« fragte sie.

»Wenn ich einen Fremdenführer gebraucht hätte, der mir die Sehenswürdigkeiten von Schelfheim zeigt, hätte ich einen engagiert, Weller. Warum hast du uns hierher bringen lassen, wenn Karan drei Stunden entfernt wohnt?«

»Deshalb.« Weller deutete mit einer Kopfbewegung auf den Träger, der jetzt schwerfällig seine Flügeldecken zusammnenfaltete und sich auf der Stelle zu drehen begann. »Ich traue deiner Freundin Jandhi nicht, weißt du? Diese Biester sind zwar strohdumm, aber sie merken sich jeden Weg, den sie einmal gegangen sind. Wenn er zurück ist, braucht Jandhi nur auf seinen Rücken zu steigen, und er führt sie hierher.« Er grinste. »Aber bis dahin sind wir längst Meilen entfernt.«

»Und Hrhon?« fragte Tally. »Wir wollten uns hier mit ihm treffen.«

»Er kann frühestens beim Sonnenuntergang hier sein«, antwortete Weller ungeduldig. »Er ist ein Waga, vergiß das nicht. Nicht-Menschen bekommen keine Träger in Schelfheim. Er muß wohl oder übel laufen. Aber wir sollten die Zeit nutzen, zu Karan zu gehen und mit ihm zu reden. Wenn wir ihn finden, heißt das.«

Tally starrte ihn wütend an, aber sein Grinsen verriet ihr, daß er zumindest den letzten Satz nur gesagt hatte, um sie zu reizen. So schwieg sie und trat nur finsteren Blickes neben ihn, als er sich umwandte und in die Richtung zu gehen begann, aus der sie gerade gekommen waren.

Sie konnte Wellers Vorsicht sogar verstehen – auch ihr war die Freundlichkeit, mit der Jandhi sie behandelt hatte, noch immer ein Rätsel, und es hätte sie keineswegs überrascht, wenn Weller recht gehabt hätte und dies alles wirklich nur eine geschickt aufgestellte Falle war, in der sie und Hrhon sich fangen sollten. Trotzdem nahm ihre Verärgerung noch zu; denn sie gingen mindestens eine Meile auf genau dem Weg zurück, den der Träger sie hergebracht hatte, ehe sie schließlich nach Norden abbogen und sich wieder dem Schlund näherten. Tally fragte sich, warum sie nicht einfach vom Rücken des Tieres gesprungen waren, als sie an dieser Stelle vorbeikamen, und sie stellte die gleiche Frage Weller, der sie aber nur als sei sie nicht ganz richtig im Kopf, anstarrte, und es vorzog, gar nicht zu antworten. Je weiter sie sich vom Hafen entfernten, desto zahlreicher wurden die Menschen, denen sie begegneten. Wenn sich die Häuser in der Nähe des Wasserfalles auch aus reiner Platznot bis an den Abgrund herangeschoben hatten, so spielte sich das Leben dort doch zum allergrößten Teil hinter ihren Mauern ab – wer hatte schon Lust, dachte Tally, bei jedem Atemzug Wasser zu atmen und ständig das Gefühl zu haben, sich auf den Grund eines besonders dünnflüssigen Meeres verirrt zu haben. Zwei Meilen westlich des Hafens war dies anders. Zwar übertönte das Grollen und Dröhnen des Wasserfalls auch hier jeden anderen Laut, und wenn sie sich darauf konzentrierte, so konnte sie auch hier noch das Zittern und Beben des Bodens spüren, aber die Straßen waren doch wieder voller Leben. Weller wurde immer schweigsamer, je weiter sie in diesen Teil der Stadt eindrangen, und er ging jetzt dichter neben ihr.

Tally konnte ihn gut verstehen. Was sie sah, erschreckte die Frau in ihr, und es ließ die Kriegerin vorsichtiger werden. Die Häuser waren hier allesamt alt und grau und so schmutzig, daß der Slam dagegen wie eine gepflegte Parklandschaft wirken mußte, und manche Straßen waren so mit Abfällen übersät, daß sie über Berge von Müll und Unrat steigen mußten, wollten sie nicht große Umwege in Kauf nehmen. Es gab fast ebensoviele Ratten wie Menschen – und beinahe keine Frauen.

Es dauerte eine Weile, bis Tally dieser Umstand auffiel, und eigentlich waren es auch eher die teils verwunderten, teils aber auch eindeutig gierigen Blicke, die ihr folgten, die sie überhaupt darauf aufmerksam werden ließ, daß hier fast nur Männer zu sehen waren. Von den beiden einzigen Frauen, die ihnen in den gut zwei Stunden ihres Marsches begegnete, war die eine uralt, eine Greisin, die sich schwer auf einen Stock stützte und trotzdem kaum vorwärts kam, die andere etwa in Tallys Alter, aber in Männerkleidung gehüllt und bis an die Zähne bewaffnet. Ihr Gesicht war vernarbt und fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Sie glaubte plötzlich besser zu verstehen, warum Weller sie gewarnt hatte, in dieser Stadt offen sichtbar eine Waffe zu tragen.

Und sie sehnte sich jetzt mehr denn je danach zurück. Als sie nach einer Weile von der belebten Hauptstraße abbogen und eine Abkürzung durch eine kaum meterbreite Gasse nahmen, befahl sie Weller mit einer Geste stehenzubleiben.

»Mein Schwert«, sagte sie.

Weller zögerte. »Du erregst auch so schon genug Aufsehen«, sagte er, »Ich halte es für keine gute Idee, wenn du einen Waffe trägst.«

»Ich schon«, erwiderte Tally kurz angebunden.

»Außerdem werde ich es unter dem Mantel verstecken. Aber diese Gegend gefällt mir nicht. Hier läuft zu viel Kroppzeug herum.«

Weller lachte. »Dann warte, bis wir in der Altstadt sind«, sagte er, griff aber gehorsam unter sein Cape und zog Tallys Schwert hervor. Sie schüttelte den Kopf, als er ihr die Klinge reichen wollte.

»Das andere«, sagte sie. »Das, das ich dem Katzer abgekauft habe. Das da kannst du behalten.«

Weller gab sich keine Mühe, seine Enttäuschung zu verhehlen. »Sagtest du nicht irgend etwas von einem Geschenk für mich?« fragte er schüchtern.

»Jandhi hat das gesagt, nicht ich«, verbesserte ihn Tally. »Geh zurück und beschwer dich bei ihr.«

Weller lächelte gequält, zog die Silberklinge unter dem Umhang hervor und sah stirnrunzelnd zu, wie sie es in den Waffengurt schob und beides umband. Ihr eigenes, altes Schwert hielt sie ihm hin. Weller schüttelte den Kopf, und Tally warf die Klinge achtlos zu Boden. Sie schloß ihren Mantel sorgfältig wieder, tastete durch den schweren Stoff nach der Waffe und rückte sie zurecht, so daß sie sie mit einem Griff ziehen konnte, der Stahl sich aber nicht zu deutlich unter dem Mantel abzeichnete.

»Ich halte das für keine gute Idee«, sagte er noch einmal. »Für eine Klinge wie die da schneidet man dir hier die Kehle durch.«

»Nicht, wenn ich sie in der Hand habe«, sagte Tally trocken. Sie wollte weitergehen, blieb aber nach einem halben Schritt abermals stehen und schlüpfte aus den Folterschuhen, die sie bisher tapfer getragen hatte. Der Stein unter ihren Füßen fühlte sich eisig an. Ihre Fußsohlen begannen fast sofort vor Kälte zu prickeln. Aber zum ersten Mal seit Stunden hatte sie wieder das Gefühl, sicher auf ihren eigenen Füßen zu stehen.

Weller seufzte. »Es hat wohl wenig Sinn, dich davon abhalten zu wollen, wie?«

»Sehr wenig«, antwortete Tally. »Außerdem habe ich den Eindruck, daß ich sowieso auffalle. Also will ich mich wenigstens wehren können, wenn es sein muß.« Sie sah Weller auffordernd an. »Wie weit ist es noch?«

»Nicht sehr weit«, antwortete Weller. »Allerdings weiß ich nicht genau, wo ich ihn finde. Aber ich kenne jemanden, der uns hinführen wird«, fügte er hastig hinzu, als Tally ärgerlich die Brauen zusammenzog.

Sie gingen weiter. Die Kälte kroch eisig in Tallys nackten Beinen empor, und plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können. Die Gasse schien sich rings um sie herum zusammenzuziehen, wie ein steinernes Maul, das sie verschlingen wollte. Aber das vertraute Gewicht der Waffe an ihrer Seite beruhigte sie. Und – Tally wußte nicht, warum, aber sie war absolut sicher – sie hatte das ungute Gefühl, daß sie sie brauchen würde.

Sehr bald.

Das Mädchen war eingeschlafen. Die sanfte, sehr leise Stimme der fremden Frau hatte es sacht hinübergeschaukelt ins dunkle Reich des Schlafes, und als es aufschrack und – halb erschrokken, halb erleichtert, sich nicht allein wiederzufinden, wie es im allerersten Moment befürchtet hatte – in ihr Gesicht blickte, spürte es, daß es sehr lange geschlafen haben mußte. Im Osten begann der Himmel bereits grau zu werden; die Nacht war zu Ende. Die Geschichte der Frau noch nicht, das spürte es ganz genau, denn obwohl es nur eine ausgedachte Geschichte war, die die dunkelhaarige Fremde sich zweifellos im gleichen Moment einfallen ließ, in dem sie sie dem Mädchen erzählte, hatte sie einen Anfang gehabt und eine Fortsetzung, und sie mußte ein Ende haben.

Daß sie nicht wahr war, störte das Mädchen nicht sehr; ganz im Gegenteil – wäre sie wahr gewesen, hätten sie all die sonderbaren und fremdartigen Dinge sicherlich erschreckt. So aber erweckten sie nur sein Interesse, und erfüllten es allenfalls mit einem schwachen, eher mohligen Schaudern. Und sie halb ihm zu vergessen. Die Stadt brannte noch immer, obwohl es hinter den geschwärzten Mauern eigentlich lange nichts mehr geben konnte, was noch zu verbrennen war. Aber dann und wann trug der Wind noch immer den rußigen Geruch des Todes heran, und der Himmel über der Stadt lohte rot.

Hastig wandte das Mädchen den Blick. Es wollte nicht erinnert werden. Es wußte, daß der Schmerz kommen würde, so wie er Talianna eingeholt hatte, das Mädchen aus der Geschichte der Fremden. Aber es fühlte sich noch nicht stark genug, ihn zu ertragen.

Sie setzte sich auf, zog fröstelnd die Knie an den Körper und rieb mit den Händen über ihre nackten Oberarme. Der Morgen war kalt.

Nach einer Weile stand die fremde Frau auf, löste ihren Mantel von den Schultern und legte ihn dem Mädchen über. Das Kind bedankte sich mit einem scheuen Lächeln und kuschelte sich eng in das wollene Kleidungsstück.

»Hat sie Karan gefunden?« fragte es.

»Tally?« Die Fremde nickte. »Oh ja. Ihn und andere.«

»Und hat er getan, was sie von ihm wollte.«

Die dunkelhaarige Frau lächelte. »Sicher. Wenn auch auf andere Weise, als Tally sich vorgestellt hatte. Aber die Geschichte ist noch lang. Und du bist müde. Schlaf ein wenig. Ich werde auf dich aufpassen.«

Das Mädchen schüttelte fast erschrocken den Kopf. Es wollte nicht schlafen. Wenn es schlief, würden die Träume kommen. Es haßte Angst. »Rede weiter«, sagte es. »Bitte. Was geschah mit Hrhon und Weller?«

Die Fremde zögerte. Aber dann setzte sie sich wieder auf den Felsen, auf dem sie die ganze Nacht gehockt hatte, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und beugte sich leicht vor, ehe sie zu erzählen begann.

»Sie brauchten länger, Karan zu finden, als Weller geglaubt hatte. Bald wurde es wieder dunkel, und Tally, die nun schon seit zwei Tagen und einer Nacht nicht geschlafen hatte, wurde sehr müde, und außerdem hatte sie Angst, wie du dir sicher vorstellen kannst. Also schlug Weller vor, daß er sich allein auf die Suche nach Karan machen wolle, während Tally in einem Gasthaus auf ihn wartete...

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