Epilog

»Das war... eine sehr traurige Geschichte«, sagte das Mädchen. Einen Moment lang wartete es auf eine Antwort der fremden Frau, aber es bekam keine, und eigentlich hatte es auch nicht damit gerechnet. Es sah auf. Die fremde Frau mit den dunklen Haaren hatte sich gegen einen Baum gelehnt und die Augen geschlossen. Ihr Gesicht lag im Schatten, und es sah aus, als schliefe sie. Aber sie war wach. Nur ein Teil von ihr schien noch in der Vergangenheit zu weilen, bei Tally und Hrhon und all den anderen, die für wenige kurze Stunden durch ihre Worte wieder Leben bekommen hatten.

»Hat sie Wort gehalten?« fragte das Mädchen schließlich.

»Tally?« Die Frau nickte. »Ja. Es war nicht einmal besonders schwer für Angella und Hrhon, den Drachenfels zu verlassen, weißt du? Jedenfalls nicht im Vergleich zu dem, was sie ertragen mußten, um ihn zu erreichen. Nicht alle Drachen waren tot. Ein paar von ihnen waren fortgeflogen, bevor Tally den Berg erreichte, und sie kamen nichtsahnend zurück.«

»Aber Gäa –«

»Vernichtete sie alle«, sagte die Fremde. »Alle bis auf einen, dessen Reiter Angella und Hrhon überwältigten. Sie zwangen sie, ihnen das Geheimnis zu verraten, wie man die Drachen lenkte.«

Das Mädchen dachte einen Moment lang darüber nach, wie man jemanden wie eine Drachenreiterin zu irgend etwas zwingen konnte. Aber dann kam es zu dem Schluß, daß es die Antwort eigentlich gar nicht wissen wollte.

»Diese Geschichte ist... ist wahr, nicht?« sagte es ganz leise. »Ich meine – du hast sie dir nicht nur ausgedacht um... um mir die Zeit zu vertreiben, oder mich zu trösten. Die Fremde nickte. »Sie ist wahr.«

»Dann gefällt sie mir nicht«, sagte das Mädehen nach kurzem überlegen. »Sie ist häßlich, und sie hat kein gutes Ende.«

»Sie hat überhaupt kein Ende«, sagte die Fremde. »Hast du vergessen, was Hrhon gesagt hat – es hat gerade erst begonnen.«

»Aber Tally ist doch tot. Sie hat sich selbst geopfert. Warum?«

»Weil es der einzige Weg war«, sagte die Fremde. »Ihr Leben war sinnlos geworden, weißt du? Sie lebte nur noch für ihre Rache, und als sie begriff, daß sie zu schwach war, ihre Feinde besiegen zu können, tat sie das einzige, was ihr noch blieb. Ich glaube«, fügte sie mit veränderter Stimme und nach einer hörbaren Pause hinzu, »in Wirklichkeit war sie schon lange tot. Wahrscheinlich ist sie auch gestorben, damals, als ihre Stadt verbrannte.«

Ihre Worte erfüllten das Mädchen mit Schmerz. Auch seine Stadt war verbrannt, mit allen, die es gekannt und geliebt hatte. Ob sie eines Tages auch so werden würde wie Tally? Die Fremde schien ihre Gedanken zu erraten. Vielleicht waren sie auch deutlich auf ihrem Gesicht abzulesen. »Es war nicht umsonst, Kleines«, sagte sie sanft. »Ich weiß, was du jetzt fühlst – auch deine Stadt ist zerstört, und du hast wie Tally die Drachen gesehen, die es getan haben, nicht wahr?« Das Mädchen nickte. Schwieg.

»Aber es war nicht umsonst«, behauptete die Fremde. Sie stand auf, kam auf das Mädchen zu und ließ sich vor ihr in die Hocke sinken. »Sie haben hunderttausend Jahre lang geherrscht, Kind«, sagte sie. »Du kannst nicht erwarten, daß wir sie in einem Tag besiegen. Vielleicht wird es weitere hunderttausend Jahre dauern, weißt du, auf jeden Fall aber länger, als irgendeiner von uns leben wird. Aber wir haben den Feind erkannt, und er wird geschlagen werden. Willst du uns dabei helfen?«

»Euch?« fragte das Mädchen verstört.

»Willst du?«

Das Mädchen nickte zögern. Aber es war eher Verwirrung als wirkliche Entschlossenheit. »Aber wie?« murmelte es. »Sie sind so stark. Und so viele. Und sie haben die Drachen und diese entsetzlichen Waffen und...«

»Die Geschichte ist noch nicht zu Ende«, sagte die Frau, und plötzlich war ihre Stimme sehr eindringlich. Fast glaubte das Mädchen eine ganz sachte Spur von Angst darin zu erkennen.

»Angella und Hrhon behielten den Drachen, den sie erbeuteten, und sie lernten, diese Tiere zu beherrschen, so wie Jandhi und ihre Schwestern es taten. Und Jandhi hat sich getäuscht, weißt du?« Sie lachte, sehr leise und voller Trauer. »Könnte sie nur noch begreifen, wie sehr sie sich getäuscht hat. Die Zivilisation, vor der die sie und die Insekten solche Angst hatten, existiert bereits. Der Mensch hat gelernt, mit der Natur zu leben, Kind. Tausendmal besser, als Jandhi jemals begriffen hat; denn sie war blind. Er braucht keine Technik mehr. Wir brauchen keine Maschinen, die fliegen, wenn wir Tiere wie die Drachen haben. Wir brauchen keine Ärzte und Wissenschaftler, denn wir haben unsere Heiler und Magier, wir haben Männer wie Beit und Karan und Weller, und wir brauchen keine Maschinen, die unsere Arbeit tun, solage wir Tiere erschaffen können, die dies viel perfekter erledigen.«

Sie hob die Hand und deutete nach Norden. »Die großen Insekten, die irgendwo dort draußen jenseits des Schlundes lauern, wissen es nicht, aber sie selbst haben uns den Weg gezeigt, wie wir sie besiegen können. Wir haben unsere eigenen Drachen, Kind, und unsere eigenen Hornköpfe. Noch sind wir wenige, aber wir sind Menschen, und deshalb werden wir siegen. Wir schlagen sie, wo immer wir sie treffen. Aber manchmal kommen wir zu spät.«

Sie sprach nicht weiter, und auch das Mädchen schwieg für sehr lange Zeit. Schließlich stand es auf und hob wortlos den Arm.

Die Frau lächelte, ergriff ihre Hand und drückte sie, sehr kurz und voller Wärme. »Wie ist dein Name, Kleines?« fragte sie.

»Kara«, antwortete das Mädchen. Es war nicht wahr. Ihr Name war Karenin, aber sie hatte ihn nie wirklich gemocht, und Kara gefiel ihr besser. Ein bißchen erinnerte er sie an Tally, und die fremde Frau schien dies auch zu ahnen, denn sie lächelte, sagte aber nichts, sondern wandte sich wortlos um und ging auf den Waldrand zu.

Die Stadt hatte aufgehört zu brennen, als sie aus dem Wald traten. Sie war jetzt nur noch ein Haufen verkohlter Schlacke, der nicht einmal mehr rauchte.

Aber Kara hatte keinen Blick dafür. Sie starrt die beiden Drachen an, die auf dem freien Feld zwischen der Stadt und dem Wald niedergegangen waren, titanische, schwarzgeschuppte Kreaturen voller Wildheit und Kraft, als wäre die Nacht selbst auf die Erde herabgestiegen und hätte ihre Schwingen ausgebreitet. Sie war nicht einmal sehr überrascht, und ein wenig schützte sie wohl auch ihre Müdigkeit und die Betäubung, die noch immer von ihr Besitz ergriffen hatte. Eine Gestalt näherte sich ihnen; winzig im Vergleich zu den beiden schwarzen Titanen, aber in Wirklichkeit selbst ein Gigant, vierhundert Pfund schwer und von der Form einer aufrecht gehenden Schildkröte.

»Ist das....?«

»Das ist Hrhon«, sagte die fremde Frau. »Ja.« Sie lächelte, ließ Karas Hand los und bedeutete ihr mit einer raschen Bewegung, stehenzubleiben. Dann trat sie dem Waga entgegen.

»Habt ihr sie?« fragte sie. Plötzlich klang ihre Stimme hart, so hart und kalt, daß das Mädchen erschrak. Mit einem Male schien sie eine völlig andere zu werden, nur indem sie diese wenigen Worte sprach.

»Ja«, antwortete der Waga. »Sssatacks Drachehn habhen sssie erwhischt, khursss bevhor sssie den Sschlund erreichten.«

»Alle?«

»Alle«, bestätigte Hrhon. Er trag einen Schritt zur Seite, um Kara anzusehen. »Isst dasss die einsssige?« zischelte er. Die Frau nickte. »Die einzige Überlebende. Alle anderen sind tot. Wir sind zu spät gekommen. Aber wir werden sie mit uns nehmen – wenn sie will, heißt das.« Sie drehte sich herum, blickte Kara sehr ernst an und deutete auf die beiden Drachen.

»Willst du lernen, auf ihnen zu reiten?«

Kara schwieg. Zum ersten Male sah sie das Gesicht der Fremden in hellem Licht. Und zum ersten Mal erkannte sie, daß es eine Maske aus Narben und verbranntem Gewebe war.

»Du kansssst rhuhig mit unsss khommen«, sagte Hrhon.

»Whir habhen viehle Kindher dort, who wir leben.« Er versuchte zu lächeln, was natürlich mißlang, und im gleichen Moment versuchte Kara sich vorzustellen, wie es sein mußte, an der Seite dieses großen, gutmüfigen Giganten aufzuwachsen, auf einem Drachen zu fliegen... all die Wunder zu erleben, von denen sie in dieser endlos langen Nacht gehört hatte. Der Gedanke gefiel ihr. Und doch war es nicht der wahre Grund, aus dem sie nickte.

Den wirklichen Grund begriff sie erst später, als sie neben Angella und Hrhon auf dem Rücken des Drachen saß and den eisigen Fahrtwind im Gesicht spürte. Der Gigant breitete seine Schwingen aus und schwang sich hoch empor in die Luft, und der Wald und der Fluß und die verbrannte Stadt sackten unter ihnen zurück, bis sie nicht mehr waren als Farbflecke in einer endlosen Ebene tief, unendlich tief unter ihnen. Aber Kara blickte nicht hinab. Während die schwarzen Drachenschwingen die Luft peitschten und sie forttrugen, einer neuen Heimat und einem neuen Leben entgegen, blickte sie nach Norden, dorthin, wo der Schlund lag, und dahinter, in unvorstellbarer Entfernung, andere Kontinente, so groß wie der ihre, andere Welten voller anderer Menschen.

Und plötzlich wußte sie, daß sie diese anderen Welten eines Tages sehen würde. Irgendwann einmal würde sie selbst auf dem Rücken eines Drachen dorthin reiten, um ihren Teil dazu beizutragen, das Versprechen zu halten, das Angella Tally gegeben hatte – ihre Rache zu vollenden und den Kampf gegen den uralten Feind endgültig zu entscheiden.

Und sie wußte, daß sie gewinnen würden. Vielleicht würde er wirklich noch einmal hunderttausend Jahre dauern, aber am Ende würden sie siegen.

Einfach, weil sie Menschen waren.


ENDE...?

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