2. Kapitel Der Turm

1

Die Krell-Echse sprang so warnungslos aus ihrem Sandloch, daß selbst Hrhons übermenschlich schnelle Reaktion zu spät kam. Der Waga stieß den schrillen Warnschrei seines Volkes aus, fuhr im Sattel herum und riß seinen Dolch aus dem Gürtel. Die Waffe zischte dicht über den Hals von Tallys Reitpferd durch die Luft und grub sich mit einem dumpfen Geräusch in den Sand, mit einer Kraft und Schnelligkeit geschleudert, die der einer Kanonenkugel kaum nachstand.

Die Krell-Echse traf sie nicht.

Tally riß im letzten Moment die Arme vor das Gesicht, als sie den gefleckten Schatten auf sich zufliegen sah. Die Krell-Echse prallte gegen sie, klammerte sich mit allen acht Beinen an ihren Arm, ringelte den stahlbewehrten Schwanz um ihren Bizeps und versuchte ihr mit zwei Dutzend winziger, messerscharfer Krallen das Gesicht zu zerfetzen. Ein brennender Schmerz fuhr durch Tallys Hand, als sich die Kiefer des Miniatur-Monsters um ihren rechten Zeigefinger schlossen und nadelspitze Zähnchen in ihre Haut eindrangen.

Sie fluchte ungehemmt, drehte das Gesicht von den wirbelnden Klauen weg und packte die Echse mit beiden Händen. Das Tier stieß ein wütendes Zischen aus, veränderte seine Farbe von Schwarzbraun zu einem grellen, lodernden Rot und löste den Schwanz von ihrem Arm, um mit seinem stachelbewehrten Ende nach ihren Augen zu schlagen.

Tally hielt das Tier so weit von sich fort, wie sie nur konnte, betrachtete es einen Augenblick lang mit einer Mischung aus Wut und gelindem Interesse und brach ihm dann mit einer raschen Bewegung das Rückgrat. Die Krell-Echse zuckte noch einmal und erschlaffte plötzlich in ihren Händen.

Tally ließ den Kadaver achtlos in den Sand fallen und sah wütend zu Hrhon auf.

»Du blöder Flachkopf!« schrie sie. »Kannst du nicht besser aufpassen? Um ein Haar hättest du mit deinem verdammten Dolch mein Pferd getroffen! Wozu nehme ich euch überhaupt mit? Um mich aufzuschlitzen?« Auf dem geschuppten Reptiliengesicht des Waga war keine Reaktion auf ihre Worte zu erkennen, – was nicht weiter verwunderlich war, dachte Tally mit einer Mischung aus Resignation und Zorn. Wenn man ein Gesicht wie ein fünfzehn Jahre alter Stiefel hatte, den noch dazu ein Mann mit zu großen Füßen getragen hatte, und das davon abgesehen nur aus Knochen und Panzerplatten bestand, war es schlechterdings unmöglich, darauf irgendeine Reaktion zu erkennen. Aber Hrhon zuckte sichtlich zusammen und senkte den Blick. Tallys Wutausbrüche waren selbst bei den Wagas bekannt und gefürchtet. Es wäre nicht das erste Mal, daß sie Hrhon oder Essk absteigen und stundenlang durch den glühenden Wüstensand zu Fuß hinter sich hergehen ließ. Auf der der Sonne zugewandten Seite der Horntiere, selbstverständlich.

Aber diesmal verzichtete sie auf die Bestrafung. Sie waren ihrem Ziel zu nahe, und sie waren zu lange unterwegs gewesen, um jetzt noch Zeit zu verschwenden. Außerdem entsprang ihre Erregung wohl mehr dem Schrecken als wirklicher Angst. Krell-Echsen waren harmlos: gierige kleine Ungeheuer, die einfach alles angriffen, was sich in ihrer Nähe bewegte, und dabei nur allzu leicht vergaß er, daß sie nur wenig größer als eine normale Männerhand waren. Ihre einwärts gebogenen Fangzähne enthielten in winzigen Hohlöhren ein geradezu mörderisches Gift, das im Bruchteil einer Sekunde zu Krämpfen und in weniger als einer Minute zum Tode führte, allerdings einen kleinen Schönheitsfehler hatte: es wirkte nur auf Krell-Echsen. Tally hatte mehr als eines dieser angriffslustigen kleinen Mistviecher gesehen, das sich aus lauter Blödheit selbst gebissen und vergiftet hatte.

Nein – dachte sie spöttisch. Krell-Echsen waren eine glatte Fehlkonstruktion der Natur. Einzig die Tatsache, daß die Gehranwüste einer der unwirtlichsten Flecken der Welt war und es hier so gut wie keine größeren Raubtiere gab, hatte sie bisher davor bewahrt, sich aus purer Dummheit selbst auszurotten.

Tally betrachtete das tote Reptil einen Herzschlag lang stirnrunzelnd und deutete dann mit einer wütenden Kopfbewegung auf den flachen Trichter, den Hrhons Dolch in den Sand gegraben hatte.

»Nun steig schon ab und such deine Waffe«, sagte sie ungehalten. »Aber beeil dich gefälligst. Ich will nicht noch mehr Zeit verlieren.«

Hrhons Horntier bewegte sich unruhig, als der Waga damit begann, seine Leibriemen zu lösen. Tally konnte sich trotz allem eines flüchtigen Lächelns nicht erwehren, als sie Hrhon bei seinen Vorbereitungen zusah. Wagas waren Kraftpakete; vierhundert Pfund Muskeln und Sehnen, die massive Eisenholztüren so spielend einrennen konnten, wie ein Mensch ein Blatt Papier zerreißt, und deren Entschlossenheit im Kampf durch keine nennenswerte Gehirnmasse beeinträchtigt wurde. Mit bloßen Händen waren sie nicht zu besiegen, jedenfalls nicht von Menschen und auch kaum von irgendeinem anderen Wesen, das sie kannte. Aber sie bezahlten dafür mit einer Tolpatschigkeit, die sie immer wieder zur Zielscheibe von Spott und Hohn werden ließen.

Selbst Tally amüsierte es immer wieder, einem Waga beim Auf- und Absteigen auf sein Reittier zuzusehen, obwohl sie diesen Vorgang schon unzählige Male beobachtet hatte. Wagas waren so kurzbeinig, daß sie sich im Sattel festbinden mußten, um nicht bei der ersten unerwarteten Bewegung ihrer Horntiere aus vier Metern Höhe in den Sand zu fallen.

Während Hrhon damit fortfuhr, seine Leibriemen zu lösen, trieb Tally ihr Pferd mit leisem Schenkeldruck aus dem Schatten des mächtigen Horntieres heraus und trabte langsam den nächsten Dünenhang hinauf. Das Tier wieherte unwillig, als die sengenden Strahlen der Sonne sein ungeschütztes Fell trafen. Tally achtete normalerweise darauf, stets im Schatten der gewaltigen Horntiere zu bleiben, um die Leiber der beiden stachelbewehrten Ungeheuer wie lebende Schutzschilde zwischen sich und der sengenden Sonne zu haben, und sie spürte erst jetzt richtig, wie heiß es wirklich war. Der Wind strich wie eine warme, unangenehme Hand über ihren Rücken, und ihre Augen begannen beinahe sofort zu tränen, als sie aus dem Schatten heraus war. Sie bekam fast augenblicklich Durst.

Unter den Hufen ihres Pferdes wirbelten kleine Sandund Staubwolken auf, als sie den sanft ansteigenden Hang emporritt. Sie wußte längst nicht mehr, wie viele solcher gleichförmiger Sanddünen sie schon überwunden hatte, seit sie vor zwei Tagen in die Wüste Gehran eingedrungen war. Hunderte sicher, vielleicht Tausende. Sie hatte sie nicht gezählt. Als sie diesen Weg das erste Mal geritten war, vor zehn Jahren (waren es wirklich erst zehn Jahre? Es kam ihr länger vor. Während dieser Zeit war so viel geschehen, so unendlich viel, und doch so wenig...), da hatte sie geglaubt, sich daran gewöhnen zu können. Aber das stimmte nicht. Die Gehran war etwas, an das man sich niemals gewöhnen konnte, weder sie noch irgendein anderes denkendes Wesen, das sie kannte. Sie war ein Ungeheuer, eine große, schweigende Bestie, die auf eine Unachtsamkeit lauerte, einen winzigen Fehler, irgendeine Nachlässigkeit, um dann sofort und erbarmungslos zuzuschlagen. Kaum einer von denen, die sich zu weit hineinwagten, kam je wieder heraus. Und Tally wußte, daß auch ihr – trotz allem – das gleiche Schicksal bevorstehen konnte, wenn sie auch nur einen Moment in ihrer Wachsamkeit nachließ.

Sie war in Schweiß gebadet, als sie den Hügelkamm erreichte und das Pferd mit einem harten Ruck am Zügel zum Stehen brachte. Auch sie war mit ihren Kräften am Ende. Sie hätte es sich im Beisein ihrer beiden Leibwächter niemals anmerken lassen, aber es gab im Moment kaum etwas, was sie sich sehnlicher gewünscht hätte als einen Schluck eiskaltes Wasser und einen kühlen, schattigen Ort, an dem sie sich zum Schlafen niederlegen konnte. Tally rieb sich mit Daumen und Zeigefinger der Rechten über die Augen, blinzelte ein paarmal, um die Tränen fortzuzwinkern, und starrte konzentriert nach Norden. Die Wüste schien vor ihren Augen zu verschwimmen, und die hitzegeschwängerte Luft und das gleichförmige Auf und Ab der Dünen gaukelte ihr die Illusion von Bewegung und Leben vor, wo nichts außer glühendem Sand und Öde waren.

Aber sie wußte genau, wonach sie zu suchen hatte, und nach einer Weile glaubte sie in nördlicher Richtung wirklich einen dünnen, verschwommenen Schatten wahrzunehmen. Erneut fuhr sie sich mit der Hand über die Augen, aber das Bild wurde nicht klarer. Hitze und Erschöpfung begannen ihren Preis zu fordern. Trotzdem war sie sich sicher, sich nicht getäuscht zu haben. Sie war diesen Weg zu oft geritten, um ihn noch zu verfehlen. Heute abend, spätestens beim nächsten Sonnenaufgang, würde sie da sein. (Und dann? Eine neue Enttäuschung? Nichts als ein weiteres Jahr voller Haß und vergeblicher Hoffnung?) Sie drehte sich halb im Sattel herum und sah zu den beiden Waga zurück. Hrhon hatte seinen Dolch mittlerweile ausgegraben und kletterte gerade ungeschickt auf den Rücken seines Tieres zurück. Daß die Hornbestie dabei in den beiden vorderen Beinpaaren einknickte, erleichterte ihm den Aufstieg nur unwesentlich. Das grünbraun geschuppte Reptilienwesen krabbelte wie eine zu groß geratene arthritische Kröte an der Flanke des Horntieres hinauf, wobei es Laute ausstieß, die an das Zischen eines leckenden Wasserkessels erinnerten.

Erneut stahl sich ein dünnes Lächeln in Tallys Mundwinkel. Selbst auf sie wirkten die Waga manchmal wie tolpatschige Gnome aus einem Kindermärchen. Nur, wer eine dieser Bestien einmal im Kampf erlebt hatte, wußte, wie falsch dieser Eindruck war. Aber es gab nicht sehr viele Menschen, die darüber berichten konnten.

Tally wartete geduldig, bis Hrhon wieder im Sattel und fest verschnürt war und die beiden Horntiere den Hügel hinaufgewalzt waren, – es gab keine andere Art, ihre Fortbewegungsweise auch nur annähernd zu beschreiben – dann lenkte sie ihr Pferd mit einer raschen Bewegung zurück in den Schatten der beiden Ungeheuer und sah zu Hrhon hinauf.

»Reizend, daß du schon fertig bist«, sagte sie. »Wenn es dem Herrn genehm ist, können wir jetzt vielleicht weiterreiten.«

Hrhon schien in seinem Sattel zusammenzuschrumpfen und wich ihrem Blick aus. Seine Hand schloß sich unwillkürlich um den Dolch, den er so mühsam aus dem Sand ausgegraben und wieder in seinen Gürtel geschoben hatte. Es wäre für Tally ein Leichtes gewesen, selbst von ihrem Pferd zu steigen und Hrhons Waffe zu holen – und schneller wäre es auch noch gegangen. Aber der Gedanke war ihr nicht einmal gekommen. Nicht bei Wagas.

Sie wußte, daß sie sich blindlings auf die beiden Reptilienwesen verlassen konnte. Ihre beiden Leibwächter würden ohne Zögern für sie in den Tod gehen, wenn sie es verlangte. Aber Wagas waren ein eigenartiges Völkchen. Wo bei jedem anderen eine gesunde Kombination aus Strenge und Großmut angebracht war, da half bei ihnen nur unnachgiebige Härte.

Besser, man schlug einen Waga zehnmal zu oft als einmal zu wenig.

Sie ritten weiter. Die Sonne sank langsam tiefer, aber es wurde trotzdem nicht merklich kühler, und selbst, als die kurze Dämmerung hereinbrach und in ihrem Gefolge Dunkelheit wie ein großes schweigendes Tier über die Wüste kroch, schien noch immer eine Wolke unsichtbarer Hitze über dem Land zu liegen.

Als es vollends dunkel geworden war, begannen die beiden Horntiere zunehmend unruhiger zu werden, und Tally ritt ein Stück voraus, um nicht durch den zufälligen Schlag eines Schwanzes fünf Meter tief in den Sand hineingetrieben zu werden. Die Horntiere sahen schon bei Tage nicht besonders gut; nachts waren sie praktisch blind. Es kostete die beiden Wagas immer mehr Mühe, ihre Reittiere überhaupt zum Weitergehen zu bewegen. Schließlich zog Tally die Zügel an und gab Hrhon und Essk das Zeichen zum Anhalten. Sie waren noch mindestens vier oder fünf Meilen von ihrem Ziel entfernt, und Tally wäre gerne noch weiter geritten, denn sie waren ihrem Ziel zu nahe, als daß der Gedanke an die dazwischenliegende Entfernung ihre Ungeduld noch merklich dämpfen konnte. Aber es hatte keinen Sinn, mehr von ihren Begleitern zu verlangen, als sie beim besten Willen zu geben imstande waren. Außerdem mußte sie am nächsten Morgen ausgeruht und bei Kräften sein. Einige der Werwesen waren noch immer aktiv, selbst nach all der Zeit, und sie würde jedes bißchen Kraft brauchen.

Während Hrhon und Essk umständlich aus den Sätteln stiegen und damit begannen, das Nachtlager vorzubereiten, ging Tally auf den Kamm der nächstgelegenen Düne hinauf. Hrhon wollte ihr folgen, aber sie scheuchte ihn mit einer unwilligen Handbewegung zurück. Sie wollte allein sein, wenigstens für eine Weile, allein mit sich und ihren Gedanken. Den Erinnerungen.

Erinnerungen, die sie immer wieder einholten, wenn sie hierher kam, als wären sie auf geheimnisvolle Weise in den braungelben Sandkörnern gespeichert, wie im Idiotengehirn eines sabbernden Greises. Sie kamen immer. Jahr für Jahr; jedesmal. Es waren keine schönen Erinnerungen, aber die Bilder hatten sich so tief in ihr Gedächtnis gebrannt, daß sie die Szene so plastisch und klar vor sich sah, als wäre es erst gestern geschehen, vor wenigen Augenblicken, gerade hinter der nächsten Düne, und nicht vor fünfzehn Jahren und am anderen Ende der Welt.

Sie setzte sich in den noch immer heißen Sand, zog die Beine an den Körper und schlang die Arme um die Knie. Irgendwo vor ihr lag der Turm, unsichtbar und verborgen in der Schwärze der Nacht, aber sie konnte ihn spüren. Wieder, wie jedesmal, wenn sie hierher kam, überkam sie dieses seltsame Gefühl; etwas, was sie nur hier verspürte und das sie nur schwer beschreiben konnte: eine sonderbare Mischung aus Resignation und Enttäuschung und Hoffnung, Hoffnung, die gegen jede Logik war und wohl eher Trotz als irgendeiner anderen Regung entsprang.

Für einen kurzen Moment glaubte sie den Turm fast zu sehen: einen mächtigen, gezackten Schatten, der sich in noch tieferem Schwarz vor der Farbe des Nachthimmels abzeichnete und wie ein mahnender Zeigefinger in die Unendlichkeit wies. Es war hier gewesen, wo sie ihren größten Sieg errungen hatte. Und ihre größte Niederlage. Aber Tally war kein Mensch, der eine Niederlage akzeptierte. Es hatte in ihrem Leben – in dem Leben, das sie seit fünfzehn Jahren führte, nicht in dem davor, aber das lag ohnehin so lange zurück, daß sie kaum mehr als verschwommene und wahrscheinlich falsche Erinnerungen daran hatte – nur zwei Dinge gegeben, vor denen sie sich gefürchtet hatte: Die Drachen, und den Tod, und vielleicht waren sie beide ohnehin ein und dasselbe. Die Drachen waren nicht hier, und manche – die meisten – behaupteten, daß es sie gar nicht gäbe, und den Tod... nun, die Frist, die ihr noch blieb, bis sie sich ernsthaft mit diesem Thema auseinandersetzen mußte, war noch lang, vorausgesetzt, daß ihr nichts Unerwartetes zustieß – wie ein vergifteter Pfeil zum Beispiel oder eine Schwertspitze. Aber darüber würde sie sich Gedanken machen, wenn die Zeit dafür gekommen war.

Der Wind drehte sich für einen Augenblick und trug das dumpfe Grollen der Horntiere und ihren scharfen Raubtiergestank mit sich. Tally drehte nachdenklich den Kopf und sah zu den beiden Ungetümen zurück. Sie standen, blind und verängstigt, eng zusammengedrängt am jenseitigen Ende des Dünentales, aber sie wirkten selbst jetzt, nur als massige schwarze Schatten in der Nacht erkennbar, noch immer gewaltig und furchteinflößend.

Der Anblick brachte Tally für kurze Zeit in die Wirklichkeit zurück. Sie wurde sich wieder völlig der Tatsache bewußt, wo sie war: an einem der unwirtlichsten und auch wohl tödlichsten Flecken der Welt, einem Ort, der im Grunde aus nichts anderem als Leere bestand und gerade deshalb so gefährlich war. Abgesehen von einer kleinen Armee gab es nicht viel, was sie fürchten mußte, solange sie sich in Begleitung der beiden Waga und ihrer felsenfressenden Reittiere befand. Aber Durst und Hitze und Desorientierung waren etwas, wogegen reine Körperkraft herzlich wenig nutzte. Für einen ganz kurzen Moment wurde sie sich ihrer Lage wirklich bewußt, und für diesen Moment hatte sie Angst. Aber nicht für lange. Jetzt, als sie ihrem Körper gestattete zu ruhen, griff die Müdigkeit auch nach ihrem Geist, aber es war eine angenehme, sehr wohltuende Müdigkeit, und sie wehrte sich nicht dagegen.

Wieder sah sie nach Norden, und wieder entstand vor ihrem inneren Auge das Bild des Turmes, wenn es auch von der Erinnerung verfälscht war, und Furcht und Haß ihn für sie größer und finsterer erscheinen ließen, als er war. Was sie allerdings durchaus realistisch sah – soweit man im Zusammenhang mit einem Gebilde wie dem Turm das Wort real überhaupt benutzen konnte, waren ihre Aussichten, mit dem Leben davonzukommen. Im Jahr zuvor war sie um ein Haar getötet worden, als sie versucht hatte, sich ihm zu nähern. Und wenn es eines gab, was sie über diese verfluchte Ruine im Herzen der Gehran wußte, dann, daß jeder Schritt auf sie zu doppelt so gefährlich wie der vorhergehende war.

Nein – sie konnte sich kein weiteres Versagen mehr leisten. Diesmal mußte es gelingen, wenn nicht alles, was sie in den letzten zehn Jahren erreicht hatte, umsonst gewesen sein sollte. Es war ihre größte Niederlage gewesen, aber sie spürte, daß es in ihrer Macht lag, sie in ihren größten Sieg umzuwandeln. Der Schlüssel dazu lag vor ihr, zum Greifen nahe. Sie hatte es bisher nur einfach nicht geschafft, ihn aufzuheben.

Diesmal mußte es gelingen. Sie spürte, daß ihr das Schicksal keine weitere Chance zugestehen würde. Lange Zeit saß sie reglos auf dem Hügelkamm und starrte nach Norden, ehe sie endlich aufstand und zu Hrhon und Essk zurückging. Die beiden Wagas hatten ihr Zelt aufgebaut und ringsum einen flachen Sandwall aufgeschichtet, der Staubspinnen und Krell-Echsen zurückhalten würde, die dem Lager auf einem ihrer nächtlichen Raubzüge zu nahe kommen mochten. Daneben flackerte ein Feuer, über dem sich ein Bratspieß drehte. Der Duft des gebratenen Fleisches ließ Tally das Wasser im Munde zusammenlaufen. Sie war hungrig, und sie spürte erst jetzt, wie hungrig. Tagsüber machte es die Hitze beinahe unmöglich, zu essen, aber jetzt machte ihr Körper seine Bedürfnisse sehr nachhaltig geltend. Sie setzte sich neben das Feuer, trank einen Schluck lauwarmes Wasser aus der Flasche, die ihr Essk reichte, und zog ihr Messer aus dem Gürtel. Es war die einzige Waffe, die sie trug, und auch sie diente mehr der Zierde, und wenn überhaupt, dann nur dazu, gebratenes Fleisch zu schneiden, kein lebendes. Gegen eine Gefahr, der Hrhon und Essk nicht gewachsen waren, würden ihr auch Waffen nichts mehr nutzen.

Sie aß, trank noch mehr von dem schlecht schmeckenden Wasser, das noch aus der versandeten Quelle stammte, an der sie vor zwei Tagen vorbeigekommen waren, und befestigte die geleerte Wasserflasche sorgfältig wieder an ihrem Sattelzeug. Ihre Wasservorräte waren so gut wie erschöpft, aber beim Turm gab es eine Quelle, und das Wenige, was sie noch hatten, würde für den Rest des Weges reichen.

Eine Zeitlang blieb sie noch am Feuer sitzen und starrte in die lodernden Flammen. Dann kroch sie in ihr Zelt und streckte sich auf dem Lager aus Fellen und Decken aus, das die Waga für sie vorbereitet hatten. Aber sie lag noch lange mit offenen Augen in der Dunkelheit, ehe sie endlich Schlaf fand...

2

Sie hatte einen Alptraum, ohne sich hinterher daran zu erinnern, was sie eigentlich geträumt hatte; aber er war sehr realistisch gewesen, und selbst, als sie erwachte, glaubte sie sich für einen Moment noch in graue Spinnweben aus Furcht eingewoben und sah dunkle häßliche Dinge, die auf zu vielen Beinen auf sie zukrochen, mit kleinen, ruckhaften Bewegungen. Dann verschwand die Illusion, und zurück blieb ein überraschend schwacher Hauch von Furcht, der aus den tiefsten Abgründen ihrer Seele emporwehte. Sie war in Schweiß gebadet. Ihr Herz schlug so rasch, daß es schmerzte, und sie zitterte am ganzen Leib.

Draußen wurden stampfende Schritte laut. Die Plane vor dem Eingang wurde mit einem Ruck zuerst zurück und dann auseinander gerissen, und Essks ausdrucksloses Schildkrötengesicht erschien zwischen den Zeltplanen.

»Isss habe Eusss sssreien gehört, Herrin«, sagte sie zischelnd. »Wasss issst gesssehen?«

Tally starrte die Waga eine halbe Sekunde lang verwirrt an. Dann schüttelte sie hastig den Kopf. »Es ist nichts«, sagte sie unwirsch. »Ein... böser Traum, mehr nicht. Du kannst wieder gehen.«

Die Waga schwieg, aber ihr Blick wanderte weiter mißtrauisch über den Zeltboden. Ihre gewaltigen Pranken waren halb geöffnet, als suche sie etwas, was sie packen und zerquetschen konnte.

»Es ist gut«, sagte Tally noch einmal, und etwas schärfer. »Geh!«

Essk zog sich hastig zurück, und Tally atmete erleichtert auf. Es hatte ihre gesamte Willenskraft beansprucht, nicht zu zittern und sich nichts von ihrem Schrecken anmerken zu lassen. Sie konnte es sich nicht leisten, Schwäche zu zeigen. Nicht vor den Wagas.

Aber der Traum war schlimm gewesen diesmal; schlimmer als sonst. Und vor allem eher. Wie immer beim ersten oder zweiten Mal hatte sie noch gewußt, daß sie träumte, anders als später, wenn sie dem Turm näher waren und sich die Erinnerungen mit der Wirklichkeit vermengten. Und trotzdem: es war schlimmer. Wie in einer bizarren Umkehr des zu Erwartenden wurden ihre Erinnerungen klarer, je mehr Zeit verging. Etwas grub und wühlte in ihr, und es legte die Erinnerung an längst Vergessenes rascher frei, als die Zeit sie verwischen konnte.

Sie ballte die Fäuste, spannte jeden einzelnen Muskel in ihrem Körper bis zum Zerreißen an und atmete ein paarmal gezwungen tief ein und aus, dann schloß sie die Augen und lauschte gebannt in sich hinein. Aber da war nichts. Nichts als die jetzt rasch verblassende Erinnerung an den Traum und ein grauer Schatten von Furcht, der sich wie ein schleichendes Gift in ihrer Seele eingenistet hatte und nur ganz allmählich wieder wich.

Die Sonne stand eine Handbreit über dem Horizont, als sie wenig später aus dem Zelt trat. Trotz der frühen Stunde war es bereits stickig und warm, und der Wind überschüttete das Lager mit einem beständigen Hagel winziger rotbrauner beißender Sandkörner.

Tally lief mit gesenktem Kopf zu ihrem Pferd hinüber, kramte die Sandmaske aus ihrem Gepäck und streifte sie hastig über. Das Atmen fiel ihr unter dem feinmaschigen, aber dicken Gewebe noch schwerer, aber der Himmel hatte im Westen eine trübgelbe, kränkliche Färbung angenommen, und der Wind trug mit dem Sand noch einen anderen Geruch heran. Er ließ sich nicht beschreiben, denn er entsprach nichts, was es anderswo auf der Welt gab: eine Mischung aus verbrannter Erde und heißer Luft, und doch nichts von alledem. Aber niemand, der ihn einmal wahrgenommen hatte, vergaß ihn wieder. Es würde einen Sandsturm geben. Sehr bald sogar. Tally blinzelte einen Moment zum Himmel und rannte dann auf den Dünenkamm hinauf, den sie schon am vergangenen Abend als Aussichtsposten benutzt hatte. Der Turm war jetzt, im klaren hellen Licht des Morgens, sehr deutlich zu erkennen – ein schwarzer, ausgezackter Riesenfinger, der wie der Zeiger einer zernagten Sonnenuhr weit in den Himmel ragte, keine drei Meilen mehr entfernt. An seinem Fuß schien die Luft zu kochen, so daß sein unteres Drittel auch jetzt nicht klar zu erkennen war und sich ständig zu bewegen schien, als wäre er hinter einem unsichtbaren Wasserfall verborgen. Aber es war kein Wasser. Und es war auch nicht die Hitze, die die Luft dort flimmern ließ.

Tally drängte den Gedanken mit Macht beiseite und sah wieder nach Westen. Sie war sich nicht sicher, aber es kam ihr vor, als wäre die gelbliche Färbung des Himmels bereits stärker geworden. Der Sandsturm kam rascher heran, als sie gedacht hatte.

Sie fuhr herum, rannte mit weit ausholenden Schritten den Hügel hinab und winkte die beiden Wagas zu sich heran.

»Ein Sandsturm zieht auf«, sagte sie mit einer erklärenden Geste zum Himmel. »Wir lassen alles stehen und liegen und reiten sofort weiter.«

Hrhon und Essk nickten wortlos und eilten zu ihren Reittieren, so rasch es ihre kurzen Beine zuließen. Die Hornbestien waren unruhig. Ihre mächtigen Schwänze peitschten nervös durch den Sand, die riesigen stachelbewehrten Schädel waren witternd erhoben. Die beiden Ungeheuer spürten das Nahen des Sandsturms. Und sie schienen zu spüren, daß dieser Sturm etwas war, das selbst für sie gefährlich werden konnte.

Tally hatte noch keinen Sandsturm in der Gehran direkt erlebt. Niemand hatte das, jedenfalls niemand, der hinterher noch in der Lage gewesen wäre, darüber zu berichten. Aber sie hatte von den Gewalten dieser Stürme gehört, und sie hatte – auf einer Reise, die vier oder fünf Jahre zurücklag, die Reste eines Tieres gefunden, das sie nicht kannte – und auf das kennenzulernen sie auch keinen besonderen Wert legte, denn das Skelett war ungefähr doppelt so groß gewesen wie das einer Hornbestie – eines Tieres jedenfalls, das offensichtlich von einem solchen Sturm überrascht worden war.

Selbst jetzt spürte sie noch etwas von dem damaligen Schrecken, wenn sie an den Anblick zurückdachte. Das Tier mußte versucht haben, sich einzugraben, aber es hatte es nicht mehr ganz geschafft: die Teile seines Körpers, die dem Sturm preisgegeben gewesen waren, waren sauber bis auf die Knochen abgeschliffen worden; Fleisch, Muskeln und Panzerplatten so sauber weggeschmirgelt und poliert wie die Knochen einer Eidechse, die einer halbverhungerten Ameisenarmee über den Weg gelaufen war.

Sie lief zu ihrem Pferd, sprang in den Sattel und blickte wieder nach Westen. Diesmal war sie sicher, daß sich die ungesunde gelbliche Färbung des Himmels vertieft hatte. Und die Luft roch jetzt eindeutig brandig.

»Beeilt euch!« rief sie ungeduldig. Sie zwang ihr Pferd herum, ritt die wenigen Schritte zu den beiden Hornbestien hinüber und sah nervös zu, wie Essk und Hrhon ungeschickt in die Sättel kletterten und sich festzuschnallen begannen.

Tally wartete nicht, bis die beiden Wagas mit ihren Vorbereitungen zu Ende waren. Sie sah noch einmal nach Westen, beugte sich tief über den Hals ihres Pferdes und gab ihm die Sporen.

Das Tier schrie erschrocken auf und sprengte los, als die gezahnten Bronzeräder in seine Flanken bissen. Hinter ihr stieß Hrhons Hornbestie einen schrillen, trompetenden Angstschrei aus, der die Wüste zum Erzittern zu bringen schien. Tally sah nicht einmal zurück. Die beiden Wagas wußten, wo ihr Ziel lag, und sie kannten den Weg beinahe ebensogut wie Tally. Und die Hornbestien vermochten, wenn sie sich nur einmal in Bewegung gesetzt hatten, weitaus schneller zu laufen als ein Pferd. Der Wind nahm zu, und der Sand schlug jetzt mit schmerzhafter Wucht auf ihren Körper ein; ein Bombardement von Tausenden und Abertausenden winziger heißer Nadeln. Von weit her – aber näher kommend – war ein dumpfes, vibrierendes Grollen zu hören, und der Himmel begann sich jetzt auch direkt über ihr mit erstem fahlem Gelb zu überziehen. Das Pferd griff plötzlich von selbst schneller aus, und die braunen Sanddünen der Wüste flogen nur so an ihnen vorüber.

Es war ein Wettlauf mit dem Tod. Es wurde heiß, unerträglich heiß. Der Boden, über den das Pferd jagte, schien zu brennen. Der Sturm hämmerte mit unsichtbaren Fäusten auf sie ein. Ihre Haut war längst wundgescheuert und blutig, wo sie nicht von Kleidern oder der Sandmaske geschützt war, und ohne die Maske wäre sie längst blind gewesen. Ihr Pferd schrie vor Schmerz und Angst und versuchte noch schneller zu laufen. Tally duckte sich noch tiefer über seinen Hals und blickte sich um. Der Himmel loderte in grellem Schwefelgelb, und irgendwo hinter ihnen, entsetzlich wenig weit entfernt, erhob sich eine schwarze Mauer, in der es immer wieder wetterleuchtete und blitzte. Die beiden Horntiere zeichneten sich nur noch als finstere Schatten davor ab; gigantische Monster, die um ihr Leben liefen und dabei vor Angst schrien.

Tally sah das Unglück kommen, aber sie war unfähig, etwas zu tun.

Eines der Tiere warf in panischer Angst den Kopf zurück und schrie. Sein Brüllen war selbst unter dem Toben des Sturmes noch deutlich zu vernehmen. Seine drei Beinpaare gerieten aus dem Takt, und der ungeheure Schwung, mit dem der zehn Tonnen schwere Koloß vorwärtspreschte, tat ein übriges. Das Tier verlor das Gleichgewicht, knickte mit den vorderen Beinpaaren ein und grub den gewaltigen Schädel in den Sand. Hrhon wurde durch die ungeheure Wucht des Aufpralles nach vorne geschleudert; seine Leibriemen rissen. Er brüllte vor Angst, flog in hohem Bogen über den Schädel der Hornbestie hinweg und landete fast zehn Meter weiter im Sand. Das Horntier stieß einen hohen, gequälten Schrei aus, als sein Genick unter dem Gewicht des nachschiebenden Körpers brach. Es überschlug sich, bäumte sich – längst tot und nur noch ein Bündel aus Muskeln und Nerven, das sinnlos gewordenen Reflexen gehorchte – noch einmal auf und sank dann zu Boden. Und in diesem Moment tat Tally etwas, was sie wohl selbst am meisten überraschte: sie riß ihr Pferd herum, drängte das Tier gegen das Kreischen und Toben des Sturmes zurück und jagte auf Hrhon zu.

Der Waga stemmte sich schwerfällig hoch, als sie neben ihm anlangte. Der Sturz konnte ihn kaum ernsthaft verletzt haben, aber er wirkte benommen. Trotz seiner gewaltigen Körperkraft konnte er sich kaum gegen den Sturm halten. Er wankte und griff blind mit den Händen ins Leere, um irgendwo Halt zu finden.

Tally sah sich gehetzt um. Die zweite Hornbestie stürmte keine dreißig Meter hinter ihr heran, eine lebende Lawine, wahnsinnig vor Angst, die alles niederwalzen würde, was sich ihr in den Weg stellte. Essk schlug verzweifelt mit den Fäusten auf die empfindliche Stelle zwischen den Hörnern ein und brüllte aus Leibeskräften. Genausogut hätte sie versuchen können, den Sturm mit bloßen Händen aufzuhalten.

Aber Tally hatte keine Wahl, und sie dachte auch jetzt nicht bewußt, sondern gehorchte blindlings den Reflexen, die an die Stelle ihres so gewohnten logischen Denkens getreten waren. Sie sprang aus dem Sattel, gab Hrhon einen Stoß, der ihn zur Seite und gegen das Pferd taumeln ließ, und drückte ihm die Zügel in die Hand.

»Reite!« schrie sie. »Reite um dein Leben!« Dann fuhr sie herum, schickte ein Stoßgebet zu sämtlichen Göttern, von denen sie je gehört hatte...

... und rannte geradewegs auf die heranrasende Hornbestie zu. Essk schrie gellend auf, als er erkannte, was Tally vorhatte. Noch einmal versuchte sie ihr Reittier herumzureißen, aber das Ungetüm reagierte auch jetzt nicht auf ihre verzweifelten Schreie und Hiebe. Das Horntier wuchs groß und gigantisch über Tally hoch, füllte plötzlich einen ganzen Abschnitt des Himmels aus und wurde immer noch größer. Seine gigantischen Beine hämmerten mit unglaublicher Wucht auf den Wüstenboden und ließen Sand und Steine wie kleine tödliche Geschosse davonspritzen. Und es war schnell. Unglaublich schnell.

Tally wich im allerletzten Moment zur Seite aus, brachte sich mit einem verzweifelten Satz außer Reichweite der wirbelnden Hufe, kam mit einer Rolle wieder auf die Füße und warf sich abermals herum. Ein Stück des Himmels, eine Tonne schwer, dicker als ihr Körper und mit armlangen Stacheln besetzt, zischte wie eine Sense dicht über ihr durch die Luft. Tallys Hände griffen nach oben, glitten ab, packten noch einmal zu und bekamen einen Sattelriemen zu fassen.

Mit aller Kraft packte sie zu. Ein gräßlicher Ruck schien ihr die Arme aus den Gelenken zu reißen, dann folgte ein vibrierender Schmerz, der bis in ihren Rücken jagte und dort explodierte, Lähmung und furchtbare Taubheit hinterlassend. Sie schrie, als sie spürte, wie ihre Kräfte erlahmten, aber der Sturm riß ihr die Laute von den Lippen und trug sie davon.

Keuchend, halb besinnungslos vor Schmerz und Angst, klammerte sie sich fest und kämpfte mit aller Macht darum, nicht das Bewußtsein zu verlieren. Die Hornbestie preschte unbeeindruckt weiter, während Tally versuchte, sich an ihrer Flanke hochzuziehen und mit entsetzlicher Klarheit begriff, daß ihre Kräfte dazu nicht mehr reichten.

Hilflos wurde sie mitgeschleift. Ihre Beine waren blutig, die Stiefel halb zerfetzt, und alles, was unterhalb ihrer Knie war, bestand nur noch aus Schmerz. Wie durch einen dichten, blutgetränkten Nebel sah sie, wie sich Hrhon schwerfällig in den Sattel des Pferdes zog. Das Tier bäumte sich unter seinem Gewicht auf, aber der Sturm und die panische Angst trieben es weiter. Und dann war es vorbei.

Plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, war der Sturm fort. Der Himmel flammte noch immer in grellem Schwefelgelb, und wo die Wüste sein sollte, erhob sich noch immer eine schwarze, brodelnde Wand, aber das unerträgliche Heulen war verstummt, und die unsichtbaren Hämmer hörten auf, auf ihren Körper einzuschlagen. Die Hornbestie, wie ein gewaltiges lebendes Geschoß von ihrem eigenen Schwung vorwärts getragen, rannte noch hundert, zweihundert Schritt weiter und kam dann bebend und stampfend zum Stehen.

Tallys Kräfte versagten endgültig. Sie wollte ihren Halt loslassen, aber sie konnte es nicht, und als sie aufblickte, sah sie, daß Essk einen Teil ihrer Leibriemen zerrissen hatte und in fast grotesker Haltung schräg im Sattel hing, sich nur noch mit einer Hand haltend und mit der anderen ihre beiden Hände umklammernd, so fest, daß Blut zwischen ihren hornigen Fingern hervorquoll.

Für einen Moment verlor sie das Bewußtsein, denn das nächste, was sie spürte, war der Griff kalter, unmenschlich starker Hände, die sich fast behutsam unter ihren Körper schoben, sie wie ein Spielzeug in die Höhe hoben und ein Stückweit von der unruhig stampfenden Hornbestie forttrugen. Behutsam wurde sie in den Sand gelegt. Sie wollte etwas sagen, aber sie konnte es nicht: ihre Kehle war voller Sand. Sie hustete, drehte sich auf die Seite, als sie glaubte, sich erbrechen zu müssen, würgte aber nur ein paarmal trocken und krümmte sich im Sand. Ihr ganzer Körper war ein einziger, zuckender Schmerz. Ihre Hände waren von den beinharten Sattelriemen zerschnitten und von Essks kaum weniger harten Pranken gequetscht, die Haut an ihren Unterarmen war aufgerissen und blutig, wo sie an den Panzerplatten der Hornbestie entlanggescheuert war. Blut lief an ihren Armen herab und vermischte sich mit dem Schweiß und Schmutz auf ihrer Haut. Ihre Muskeln waren verkrampft und so hart, daß sie abermals vor Schmerz aufschrie, als sie versuchte, sich noch einmal zu bewegen.

»Ssstill. Isss hhhelfe Eusss«, zischelte eine Stimme an ihrem Ohr. Sie sah auf, blinzelte durch einen Schleier rosagefärbter Tränen und erkannte Hrhons flaches, dunkelgrün geschupptes Gesicht, das ausdruckslos auf sie herabblickte.

Tally raffte all ihre Kraft zusammen, versuchte sich in die Höhe zu stemmen und kam tatsächlich in eine halbwegs sitzende Position – freilich nur, um gleich darauf in Hrhons Arme zu sinken, der sie auffing, als sie zur Seite kippte. »Du verdammter... Idiot«, flüsterte sie mühsam. »Wegen deiner Dummheit wäre ich fast gestorben. Geh mir... aus den Augen. Verschwinde, du... hirnloses Flachgesicht.«

Natürlich verschwand Hrhon nicht. Aber er löste behutsam die Hände von ihren Schultern, ließ sie zurücksinken und schaufelte nach kurzem überlegen ein paar Handvoll Sand unter ihren Kopf, damit sie bequemer lag. Ein gigantischer Schatten wuchs über ihr auf, dann hörte sie, wie Essk dem Horntier einen scharfen Befehl zuschrie und die wenigen Riemen, die sie noch hielten, schlichtweg entzweiriß, um von seinem Rücken zu springen.

Hrhon hielt seine Gefährtin mit einem schrillen Zuruf zurück, deutete nach Westen und gestikulierte mit beiden Händen, wobei er einen Schwall heller, zischelnder Töne hören ließ, die er für eine Sprache halten mochte. Essk antwortete im gleichen Dialekt, und plötzlich wurde Hrhons Stimme scharf und laut und befehlend.

Tally hatte Mühe, nicht schon wieder das Bewußtsein zu verlieren. Im gleichen Maße, in dem die Schmerzen in ihren Händen und Armen abklangen, begannen ihre Beine zu schmerzen; zuerst nur die Füße, dann, einer rasch weiter vorrückenden flammenden Linie folgend, die Waden und bis hinauf über die Knie. »Was... ist mit dem Sturm?« fragte sie mühsam. »Ist er vorbei?« Hrhon versuchte ein menschliches Kopfschütteln nachzuahmen; etwas, was ihm nur teilweise gelang, weil er keinen Hals hatte, den er hätte drehen können.

»Nhein«, zischelte er. »Er khommt sssurück. Esss issst nhur eine Phausssse. Whir sssind in Ghefahrrr.«

»Dann müssen wir... weiter«, stöhnte Tally mit zusammengebissenen Zähnen. »Der... Turm, Hrhon. Schnell. Hilf mir auf... auf das Horntier!«

Aber wieder schüttelte der Waga nur Kopf und Schultern. »Kheine Ssseit mehrrr«, sagte er. »Esss issst nuhrrr eine Athempaussse. Der Sssturm wird kommen.

Sssehrrr ssslimm.«

Er wiederholte dieses absurde Kopf- und Schulterschütteln, stand auf und fauchte einen Befehl, der Essk galt. Seine Gefährtin widersprach, aber Hrhon deutete wütend nach Westen und wiederholte seinen Befehl, und diesmal widersprach die Waga nicht mehr. Mit einem schrillen Schrei zwang sie das Horntier, auf der Stelle kehrt zu machen, und ritt zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Tally stöhnte vor Schmerz, als Hrhon sie vorsichtig aufhob und hinter dem stachelbewehrten Giganten herzustapfen begann. »Was hast du vor, du Narr?« keuchte sie. »Du läufst ja geradewegs auf den Sturm zu! Willst du uns umbringen?«

Hrhon antwortete nicht, sondern verdoppelte seine Anstrengungen nur noch, und er entwickelte dabei auf seinen kurzen Beinen sogar ein erstaunliches Tempo. Tally drehte mühsam den Kopf und versuchte Essk und ihr Reittier in der brodelnden Schwärze vor ihnen auszumachen, aber ihre Lider schienen mit einem Male mit Blei gefüllt und fielen immer wieder zu, und irgend etwas stimmte nicht mit ihrem Sehvermögen: sie sah nur noch schemenhaft, dafür hatten alle Dinge einen schwach leuchtenden Schatten, der ihre Konturen nachzeichnete. Aber sie erkannte zumindest, daß die Waga die Hornbestie geradewegs auf Hrhons Reittier zutrieb, das mit gebrochenem Genick dalag. Das Tier scheute, als spüre es die Gefahr, auf die es zulief, aber Essk hatte es jetzt wieder völlig unter Kontrolle. Schon nach Augenblicken erreichten sie den Kadaver des stacheligen Giganten und hielten an. Essk begann schrille pfeifende Töne auszustoßen, und die Hornbestie lief ein paar Schritte rückwärts, dann wieder vor, zur Seite, wieder zurück und wieder fort. Tally begriff nicht, was Essk dort tat. Es sah aus, als führten Waga und Horntier einen bizarren, aberwitzigen Tanz auf.

Und dann hob Essk den Arm, sehr hoch und mit einer Bewegung, in der die ganze ungeheuerliche Kraft ihrer vierhundert Pfund lag. Metall blitzte in ihrer Faust. Die Waga stieß der Hornbestie den Dolch genau in die empfindliche Stelle zwischen ihren Augenhörnern, der einzigen Stelle überhaupt, an der ein Horntier verwundbar war. Das Ungeheuer brüllte, schleuderte Essk mit einem gewaltigen Zucken von seinem Rücken und in den Sand – und sank tot zu Boden. Sein droschkengroßer Schädel krachte mit einem eigentümlich hohl klingenden Laut auf den Schwanz von Hrhons Tier.

Und endlich begriff Tally, was der sonderbare Tanz bedeutete, zu dem Essk ihr Tier gezwungen hatte: die beiden toten Ungeheuer lagen nicht einfach nur tot nebeneinander, sondern genau so, daß sie mit ihren Körpern einen gewaltigen Halbkreis bildeten, dessen geschlossene Seite der schwarzen Wand zugewandt war, die die Welt verschlungen hatte.

Als sie diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, heulte der Sturm wieder los. Und Hrhon begann zu rennen.

3

Irgendwann in der Nacht erwachte Tally für einen Augenblick. Sie hatte geträumt, etwas Entsetzliches, unbeschreiblich Grauenhaftes, aber sie erinnerte sich nicht, was. Trotzdem sah sie für einen Moment graue Spinnfäden und dunkle, widerliche Körper auf zu vielen Beinen, die über ihre Haut huschten. Sie hatte Angst. Der Sturm heulte noch immer mit ungebrochener Wucht und ließ die Wüste erzittern, und selbst durch die geschlossenen Lider hindurch sah sie die blauweißen dünnen Blitze, die seinen schwarzen Riesenleib durchzuckten, und den dünnen sichelförmigen Kranz aus rotglühendem Horn, der sie und die beiden Wagas schützte.

Sie hatte entsetzlichen Durst, aber ihr fehlte selbst die Kraft, sich mit der Zunge über die Lippen zu fahren, und sie wachte auch nicht wirklich auf. Es war, als gestatte ihr der Traum – der kein wirklicher Traum, sondern ein unbegreiflicher Teil der düsteren Magie des Turmes war – nur eine kleine Erholungspause. Vielleicht benötigte er auch einfach diese Zeit, ihre Erinnerungen zu sondieren und das Wichtigste herauszufiltern, denn wie immer erinnerte sie sich längst nicht an alles, was in jener Nacht vor fünfzehn Jahren geschehen war.

Die Kraft, die sie immer wieder zwang, jenen entsetzlichen Tag aufs Neue zu erleben, sorgte dafür, daß der Schrecken geballt kam. In dem Kaleidoskop des Terrars, in das sie der Sandsturm geschleudert hatte, waren nur die schlimmsten Facetten vorhanden. Der unsichtbare Folterknecht in ihrem Geist würde nicht gestatten, daß sie sich durch die Erinnerung an endlose Stunden der Ruhe erholte; denn das Schicksal hatte an jenem Tag noch weit mehr für sie bereit gehalten – unter anderem die Erkenntnis, daß es eine Grenze für Dinge wie Entsetzen und Furcht nicht gab, sondern eine Steigerung immer möglich war.

Dann schlief sie wieder ein. Und sie träumte weiter; Träume von grauen Spinnfäden und gewaltigen ledernen Schwingen, die die Nacht peitschten, von einem Sturm, der sich zu einer entsetzlichen Grimasse formte und sie verhöhnte, von Hraban, dessen Augen plötzlich groß und rund wurden und aus dessen Mund Blut kam.

Dann erwachte sie wirklich, und diesmal war es ein sehr langsamer, unendlich qualvoller Vorgang, nicht nur von peinigenden Visionen, sondern auch von durchaus realen körperlichen Schmerzen begleitet.

Zurück in der Gegenwart, war sie sich trotzdem im ersten Moment nicht sicher, ob sie nun wirklich erwacht war, oder ob sie nur eine besonders perfide Fortsetzung des Alptraumes erlebte. Ihr ganzer Körper war ein einziger, brennender Schmerz, und sie hatte ganz entsetzlichen Durst. Düstere Farben bewegten sich vor ihren Augen. Jemand hatte einen Dolch in ihre Beine getrieben und drehte ihn ganz langsam und mit großem Genuß herum.

Dann berührte eine Hand ihre Schulter, eine Hand, die so hart und kalt war wie Stahl, und in den wogenden Schleiern vor ihren Augen tauchte das Gesicht der häßlichsten Schildkröte auf, die jemals geboren war. Übrigens auch der größten. Sie erkannte Essk.

»Durst«, murmelte sie. Schon diese kleine Bewegung reichte, ihre Lippen aufplatzen zu lassen. Warmes Blut lief an ihrem Kinn herab. Sie hob die Hand, um es fortzuwischen, aber die Waga drückte ihren Arm mit sanfter Gewalt herunter, gab einen unidentifizierbaren Zischlaut von sich und hob Tallys Kopf und Oberkörper an. Eine Schale wurde an ihre Lippen gesetzt, und sie schmeckte köstliches, eiskaltes Wasser.

Sie trank so gierig, daß ihr übel wurde. Danach gönnte sie sich den Luxus, für endlose Augenblicke einfach mit geschlossenen Augen in Essks Arm zu liegen und beinahe gierig auf jede Regung ihres Körpers zu lauschen. Ihr Magen und jedes einzelne Organ in seiner Nähe revoltierte, und ihre Beine brannten noch immer wie Feuer, aber nach (Minuten? Stunden? Tagen?) einer Ewigkeit, in der sie keinen Körper gehabt hatte, sondern hilflose Gefangene ihrer eigenen, quälenden Erinnerungen gewesen war, genoß sie dies alles beinahe.

Das Schlimme an den Träumen war, daß sie ganz genau wußte, daß sie träumte; in jeder einzelnen Sekunde. Und daß sie auch wußte, was kommen würde. Und hilflos dagegen war. Hraban hatte es ihr einmal erklärt, vor sehr langer Zeit: Nach dem Wahnsinn und den tötenden Schatten und den Werwesen war dies die stärkste Waffe des Turmes. Er tötet dich mit deinen eigenen Erinnerungen. So mancher, der alle Fallen und Hindernisse überwunden hatte, war als sabbernder Idiot zurückgekehrt, zerbrochen an den Schrecken, die ihm sein eigenes Unterbewußtsein beschert hatte. Die Wüste war voll mit ihren Skeletten.

Ihre Hand glitt wie von selbst zwischen ihre Brüste und tastete nach dem blutfarbenen Stein. Er war nicht mehr da.

Tally fuhr mit einem erschrockenen Laut hoch und brach in Essks Armen zusammen, als ihr prompt schwindelig wurde und der Schmerz in ihren Beinen zu neuer, lodernder Glut erwachte.

»Gansss ruhig«, zischelte die Waga. »Ihr ssseid in Sssicherheit.«

Tally schlug ihre Arme beiseite und fiel unsanft auf die Seite. Aber sie ignorierte den Schmerz – wenigstens versuchte sie es – und stemmte sich sofort wieder hoch.

»Wo ist... mein Stein, du blödes Krötengesicht?« preßte sie zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor.

Essk blickte sie einen Moment lang mit dem einzigen Ausdruck an, zu dem sie fähig war – nämlich keinem – dann wandte sie sich um und verschwand schlurfend in der Dunkelheit, während Tally mit einem nur halb unterdrückten Schmerzlaut vollends zurücksank, sich aber schon nach Sekunden abermals in eine halb sitzende, halb liegende Stellung hochstemmte und an sich hinuntersah.

Der Stein war nicht das einzige, was verschwunden war. Die Waga hatte sie vollkommen entkleidet, während sie bewußtlos gewesen war – was allerdings nicht hieß, daß sie nackt gewesen wäre. Ihre Haut war zu mehr als zwei Dritteln von sauber gewickelten, weißen Verbänden bedeckt, unter denen hier und da eine grüngraue, übelriechende Salbe hervorquoll. Bis zu den Knien hinauf waren die Verbände so dick, daß es aussah, als trüge sie Stiefel, und sie spürte erst jetzt, daß sich auch um ihren Kopf etwas Kühles, sehr Festes spannte. Sie sah aus wie eine Mumie, die man vergessen hatte einzugraben, dachte sie zornig.

Und das war lange nicht alles, was sich verändert hatte. Ihr Verstand schien länger als ihr Körper zu brauchen, um wach zu werden, denn sie bemerkte erst jetzt, daß sie nicht auf Sand oder einer Decke, sondern auf hartem Stein lag, und daß die Dunkelheit, die sie einhüllte, gemauert war, nicht das lichtfressende Schwarz des Sturmes. Und daß es sehr ruhig war. Das unerträgliche Heulen und Wimmern war verstummt, und um sie herum herrschte jene hallende Stille, die das Innere eines großen Gebäudes oder einer Höhle verriet. Wo, beim Schlund, war sie?

Essk kam zurück, begleitet von Hrhon, dessen Arme mit Kleidern beladen waren. In seiner rechten Hand glitzerte das kleine Goldkettchen mit ihrem Stein. Tally richtete sich auf, riß die Kette an sich und streifte sie hastig über. Sie bezahlte die Bewegung mit einer neuen Welle brennender Schmerzen, die ihr diesmal sogar die Tränen in die Augen zwang, aber allein der Gedanke, ohne den Stein auch nur in der Nähe des Turmes zu sein, trieb sie vor Entsetzen fast in den Wahnsinn.

»Was fällt euch ein, ihr Narren?« stöhnte sie. »Ich lasse euch in euren Schalen kochen, wenn ihr den Stein auch nur noch einmal anrührt!«

»Verssseiht, Herrin«, sagte Hrhon kleinlaut. »Aber ihr wahrrrt sssehr krank. Wir musssten euch fffflegen.«

»So?« murmelte Tally. »Mußtet ihr das?« Sie richtete sich auf – sehr vorsichtig – verbarg für einen Moment das Gesicht in den Händen und wischte sich unauffällig die Tränen fort, als sie die Finger herunternahm. »Aber wer hat euch erlaubt, mir den St-«

Sie verstummte mitten im Wort, als ihr Blick auf die Kleider fiel, die Hrhon gebracht und neben ihr abgelegt hatte. Verwirrt blickte sie den Waga an, stützte sich mit der linken Hand auf und griff mit der anderen nach den Kleidungsstücken: Hemd und Hose aus dunkelbraunem, sehr kunstvoll gegerbtem Leder, dazu passende Stiefel und ein etwas zu breiter, mit schimmernden Pailletten besetzter Gürtel, an dem eine gutbestückte Schwertscheide hing. Es waren sehr gute, kostbare Kleider, die eines Königs oder Fürsten würdig gewesen wären. Und es waren ganz entschieden nicht ihre Kleider.

»Woher habt ihr das?« fragte sie verwirrt. »Und wo... wo sind wir hier überhaupt?« Plötzlich erschrak sie; sehr heftig, als sie zum zweiten Mal begriff, daß sie nicht mehr im Schutz der toten Hornbestien in der Wüste lag. Einen Moment lang fragte sie sich mit einer Mischung aus-Entsetzen und Zorn, ob sie lange genug bewußtlos gewesen war, daß die beiden Waga sie aus der Wüste herausgebracht haben konnten. Nein.

»Esss sssind noch mehr Kleider da«, antwortete Hrhon. »Oben.« Er deutete mit der Hand auf die unsichtbare Decke über seinem Kopf.

»Oben?« Tally starrte das grüngeschuppte Wesen verwirrt an. Einen Moment lang fragte sie sich allen ernstes, ob sie vielleicht noch immer draußen in der Wüste lag, schon halb tot und fiebernd, und dies alles nur träumte. Aber die Schmerzen in ihren Beinen und das seidenweiche Leder zwischen ihren Fingern waren einfach zu real, um Teil eines Traumes zu sein.

»Wo sind wir hier?« wiederholte sie ihre Frage.

»Wohin habt ihr mich gebracht?«

Sie wußte die Antwort, eine halbe Sekunde, ehe Hrhon sie gab. Trotzdem trafen sie die beiden Worte rnit der Wucht eines Peitschenhiebes.

»Im Turm«, sagte der Waga. »Dher Sssturm issst ssslimmer gheworden. Viel ssslimmer. Whir musssten es rissskiehren.«

»Im Turm?« Tally wiederholte das Wort, und sie sah den schwarzen Stein hinter Hrhon, der wie Glas glänzte, und sie wußte, daß der Waga die Wahrheit sprach, aber sie weigerte sich auch, es zu glauben, einfach, weil es unmöglich war, un-mög-lich, und sagte noch einmal: »Im Turm?!«

»Unsss blieb kheine Whahl«, zischelte Hrhon. Plötzlich klang seine Stimme eindeutig verteidigend. »Ihr whahrt krahnk. Und der Sssturm wuhrde ihmmer heftigerrr. Essk und ich haben euch ghethragen.«

»Aber das... das ist unmöglich«, murmelte Tally hilflos. »Es... es waren drei Meilen, und der Sturm...«

»Wir hatten Glück«, sagte Hrhon leise.

Aber vielleicht war es doch möglich, dachte sie schockiert. Hrhon und Essk würden sie nicht belügen, schon gar nicht auf eine so dumme Art, die der Wahrheit keine zehn Sekunden standhalten konnte. Möglicherweise... ihre Gedanken begannen sich zu überschlagen, möglicherweise hatte der Sturm den magischen Verteidigungsgürtel des Turmes außer Kraft gesetzt. Möglicherweise hatte die Angst den Wagas auch genug Kraft gegeben, das Unmögliche zu vollbringen. Und möglicherweise war es auch einfach so, daß sie selbst durch ihre Bewußtlosigkeit und die Träume geschützt gewesen war, während die beiden Wagas einfach zu dämlich waren, um einer Halluzination zum Opfer zu fallen...

Möglicherweise war sie auch verrückt geworden.

Tally zog diese Möglichkeit einen Moment lang ernsthaft- in Betracht, denn der Wahnsinn war die heimtückischste Waffe des Turmes. Aber darüber nachzudenken, führte zu nichts anderem als Kopfschmerzen, und das einzige, was ihr dabei klar wurde, war, daß ihr absolut nicht klar werden würde, ob sie nun noch bei Verstand war oder einer besonders gemeinen Halluzination erlag.

Sie stemmte sich hoch, und diesmal waren ihr die Schmerzen und die Übelkeit wirklich egal, zumal Hrhon sofort zugriff und sie stützte. »Bring mich nach oben«, verlangte sie. »Ich will es sehen! Sofort!«

»Dasss whäre nicht ghut«, widersprach Hrhon schüchtern. »Ihr ssseid sssehr ssshwach, und der Wheg issst anssstrengend.«

»Dann trägst du mich eben, du kurzstirniges Fischgesicht!« brüllte Tally. »Ich will es sehen! Bring mich hinauf! Auf der Stelle!« Bei den letzten Worten versagte ihre Stimme, so daß sie eher mühsam krächzte als schrie, aber Hrhon wagte es trotzdem nicht, ihr noch einmal zu widersprechen, sondern hob sie gehorsam auf die Arme. Tallys Herz begann wie wild zu hämmern, als sie den Raum durchquerten und als die ersten Stufen einer breiten, sehr steil in die Höhe führenden Treppe unter Hrhons Stummelbeinen auftauchten. Am oberen Ende der Treppe schimmerte blasses Tageslicht, das sich auf den Wänden und den Stufen brach wie leuchtendes Wasser, so daß sie ein wenig mehr von ihrer Umgebung erkennen konnte als bisher. Es gab allerdings nicht viel mehr zu erkennen als schwarzen Stein; gewaltige quaderförmige Blöcke, ohne erkennbaren Mörtel aufeinandergesetzt, die alle ein wenig schräg aussahen, es aber bei genauerem Hinsehen doch nicht waren.

Tally fieberte vor Ungeduld, während Hrhon sich schnaubend die für seine Beine entschieden zu großen Stufen hinaufquälte. Wütend feuerte sie ihn zu größerer Anstrengung an, aber der Waga hatte die Grenzen seiner Möglichkeiten erreicht. Für die vielleicht hundert Stufen brauchte er annähernd fünf Minuten, und er schwankte während dieser Zeit mehr als einmal so stark, daß Tally ernsthaft befürchtete, sie würden nach hinten kippen und kopfüber die Treppe wieder hinunterschlagen. Aber schließlich erreichten sie das obere Ende der Treppe, und das Licht, das von unten aus betrachtet kaum mehr als blasser Sternenschimmer gewesen war, wuchs zu solcher Intensität heran, daß Tally blinzelte und im ersten Moment fast überhaupt nichts mehr sah.

Hastig hob sie die Hand vor die Augen, gab Hrhon mit Gesten zu verstehen, sie auf die Füße zu stellen, und klammerte sich an seiner Schulter fest, als der Boden unter ihr zu wanken begann. Ihre Augen gewöhnten sich nur langsam an das grelle, ungemilderte Tageslicht, und die Wärme und die trockene Luft, die über ihr zusammenschlugen, ließen sie abermals schwindeln, Sie befanden sich im Inneren eines sehr großen, annähernd rund geformten Raumes, der vollkommen leer und aus dem gleichen, schwarzen Stein gemauert war wie der Treppenschacht. Aber ein ganzes Drittel seiner Wand war zusammengebrochen, und durch das gewaltige Loch drang das Licht der Wüste herein, noch verstärkt durch den zu Glas geschmolzenen Boden des Todeskreises, der es wie ein Spiegel reflektierte. Tally blinzelte, zwang ihre Augen, trotz der unerträglichen Lichtfülle offen zu bleiben, und humpelte, mit beiden Armen auf die Schultern Hrhons und Essks gestützt wie auf zwei lebende Krücken, auf die Bresche zu.

Der Anblick verschlug ihr den Atem.

Unter ihr, fünfzehn, zwanzig Meter tiefer und fünfhundert Meter entfernt, breitete sich die Wüste aus wie ein endloser gelbbrauner Ozean, dessen Wogen vor einer Million Jahre erstarrt waren, die Luft darüber flirrend vor Hitze und hier und da aufgewühlt von einer Sandhose oder einer Turbulenz – beides so schön wie tödlich. Davor, bis zum Fuß des Turmes reichend, erstreckte sich ein Kreis vollkommen ebener, zu Glas erstarrter Erde. Dunkle Löcher mit hellen Kernen gähnten in diesem Riesenspiegel wie eiterige Wunden, und hier und da war es dem Wind gelungen, ein wenig Sand auf der ansonsten makellosen Ebene abzuladen, der jetzt kleinere Brüder der gigantischen Riesenwogen draußen in der Wüste bildete. Und links von ihr, von ihrem Standpunkt hinter der eingestürzten Mauer nur zu einem kleinen Teil zu erkennen, erhob sich der Turm, eine gewaltige abgebrochene Nadel aus nachtschwarzem Stein, so hoch, daß er die Wolken aufgeschlitzt hätte, hätte es welche gegeben. Nichts von alledem war Tally fremd – sie hatte es zehnmal gesehen, und sie hatte sich jede noch so winzige Einzelheit schon bei ihrem allerersten Besuch hier am Ende der Welt eingeprägt. Aber sie hatte es noch nie aus dieser Richtung gesehen.

»Es ist also wahr«, murmelte sie. Irgend etwas in ihr weigerte sich noch immer, es zu glauben. Sie fühlte weder Triumph noch Freude, sondern nur eine dumpfe, fast schmerzhafte Benommenheit. Die letzten zehn Jahre ihres Lebens hatte sie praktisch nur für diesen Augenblick gelebt. Jetzt, als er da war, fühlte sie – nichts. Sie war betäubt.

»Esss war dhie einsssige Möglichkeit«, lispelte Hrhon neben ihr. Er sprach noch immer im Tonfall einer Entschuldigung, aber die Worte rissen Tally – zumindest teilweise – aus ihrer Betäubung. Mühsam wandte sie den Kopf, ließ Hrhons Schulter los und hielt sich statt dessen an einem Stein fest.

Der Boden hatte aufgehört, unter ihr zu zittern, und der heiße Wüstenwind, der durch die gewaltige Bresche hereinfauchte und sich an der gegenüberliegenden Wand brach, hechelte sie langsam in die Wirklichkeit zurück. Plötzlich wurde sie sich der Tatsache bewußt, daß sie vielleicht der erste lebende Mensch war, der dieses Gebäude betreten hatte.

Aber sie sahen allesamt sehr wenig wie Eroberer aus. Jetzt, im hellen Tageslicht, sah sie, daß die Schuppenhaut der beiden Waga mit zahllosen, erst halb verkrusteten kleinen Wunden übersät waren. Ihre Panzer glänzten unnatürlich, und an den Rändern waren die normalerweise fingerdicken Knochenschalen ausgefranst und auf die Stärke von brüchigem Pergament abgeschliffen. Und auch sie selbst bot vielleicht nicht unbedingt den Anblick eines Menschen, der einen triumphalen Sieg errungen hatte – mehr tot als lebendig, eingewickelt wie eine Mumie, dafür aber mit nacktem Hintern.

Sie lächelte schmerzlich, wandte sich wieder der Wüste zu und versuchte die Richtung zu finden, aus der sie gekommen waren. Sie befanden sich nicht im eigentlichen Turm, sondern in dem kleineren, fast völlig zerstörten Gebäude daneben, über dessen Sinn sie sich seit zehn Jahren vergeblich den Kopf zerbrochen hatte, und wenn sie das Bild noch richtig im Kopf hatte, das sich ihr von der Düne aus geboten hatte, mußte ihr letztes Nachtlager in ziemlich gerader Linie vor ihr liegen. Aber sie sah nichts mehr, obwohl der Blick hier in der Wüste sehr viel weiter reichte als anderswo. Nicht einmal die Skelette der beiden Hornbestien waren noch zu erkennen.

»Wir musssten esss tun«, fuhr Hrohn fort. »Dherrr SSSturmm Wwar...«

»Es ist gut, Hrhon«, unterbrach ihn Tally. »Es war richtig. Schließlich wollte ich ja hierher, oder?« Sie wandte sich wieder zu dem Waga um und lächelte, wurde aber sofort wieder ernst. Hrhon stand in sonderbar geduckter Haltung da, einen halben Schritt von ihr zurückgewichen und die Arme ein ganz kleines bißchen angewinkelt, und auch Essk hatte sich von ihr abgewandt und betrachtete mit großem Interesse ein nicht vorhandenes Bild auf der schwarzen Wand vor sich.

Und plötzlich begriff Tally, daß die beiden Wagas Angst hatten.

Aber natürlich, dachte sie. Ihr Vorhaben – nein, ihr fanatischer Wille – den Todesgürtel zu überwinden und diesen Turm zu erreichen, war in den letzten zehn Jahren so sehr zu einem Teil ihres Denkens geworden, daß sie manchmal vergaß, wie wenig Hrhon oder Essk oder irgenein anderes denkendes Wesen davon wissen konnten. Für die beiden Wagas waren ihre Besuche beim Turm – die sie vorher vielleicht schon zwanzigmal bei Hraban und fünfzigmal bei seinen verschiedenen Vorgängern miterlebt hatten – stets gleich gewesen. Sie hatten sich dem Turm und dem Todeskreis genähert, um danach sofort wieder den Rückweg anzutreten. Niemand hatte jemals versucht, wirklich hierher zu kommen. Die beiden Wagas zitterten innerlich vor Angst, denn für sie war das, was sie getan hatten, etwas Unvorstellbares gewesen. Sie hatten das Unberührbare berührt und ein Gesetz gebrochen, das vielleicht so alt war wie diese Welt.

»Es ist gut, Hrhon«, sagte sie noch einmal, und jetzt so sanft, wie sie nur konnte. »Ihr habt mein Leben gerettet. Und dies hier.« Sie griff nach dem Blutstein an ihrem Hals.

»Ihr wißt, wie wichtig es für die Sippe ist. Ihr mußtet es tun. Ich danke euch dafür.«

Soweit sich Tally erinnerte, war es das erste Mal überhaupt, daß sie sich bei den beiden Wagas für irgend etwas bedankte, und vermutlich hatte, von den Kindern einmal abgesehen, noch nie jemand in einem solchen Ton mit den beiden Reptilienwesen gesprochen. Aber Hrhons Furcht schwand kein bißchen; ganz im Gegenteil. Trotz ihrer Worte wirkte er eher noch niedergeschlagener und schuldbewußter als zuvor.

»Da issst...«, sagte er zögernd, »noch etwasss.«

»So?« Tally legte den Kopf schief. »Was?«

Hrhon druckste herum, bis Tally ihn bei der Schulter ergriff und noch einmal fragte. »Was, Hrhon?«

»Ich ssseige esss Euch«, zischte Hrhon. »Kommt.« Tally blickte in die Richtung, in der sein ausgestreckter Arm wies.

Sie sah erst jetzt, daß es unmittelbar neben der Tür des Treppenschachtes einen zweiten, etwas größeren Durchgang gab, hinter dem ebenfalls helles Tageslicht schimmerte. Fragend runzelte sie die Stirn, drang aber nicht weiter in den Waga, sondern stützte sich wieder auf seine und Essks Schultern und humpelte mit ihrer Hilfe auf den Ausgang zu. Die Tür führte in einen kurzen Gang, an dessen Ende ein rechteckiger Flecken brutal hellen Tageslichtes gloste. So schnell es die unsichtbaren Messer zuließen, die in ihren Beinen wühlten, durchquerte sie den Korridor und blickte neugierig ins Freie. Der Gang führte auf einen gewaltigen, gut zwanzig Meter messenden Balkon hinaus, der wie ein Vogelnest an die Flanke des Bauwerks angeklebt war. Ein gefräßiger Riese hatte ein gutes Drittel und den allergrößten Teil des brusthohen Steingeländers abgebissen, und der übriggebliebene Rest war von einem Netzwerk von Rissen und Löchern durchzogen, aber immer noch stabil genug, ihr gemeinsames Gewicht zu tragen. Vom gegenüberliegenden Ende des Balkons aus führte eine kühn geschwungene Steintreppe zur Flanke des eigentlichen Turmes hinauf. Und auf ihren untersten Stufen lag der eigentliche Grund für Hrhons Furcht.

Er hatte ungefähr die Größe eines zwölfjährigen Kindes, war schwarz wie die Nacht und mußte ein paar größenwahnsinnige Kakerlaken in seiner Ahnenreihe gehabt haben. Zwei seiner vier Hände umklammerten den Griff eines Schwertes, was darauf schließen ließ, daß sein Charakter ungefähr seinem Aussehen entsprochen hatte – bevor Hrhon ihm das Genick brach.

Daneben lag eine zweite, etwas kleinere Scheußlichkeit, die ein paar Arme weniger hatte, deren jetzt in anderthalb Metern Entfernung liegende Mandibeln dafür aber wohl selbst einem Waga Respekt einflößen mochte, wenn er nicht gerade Hrhon oder Essk hieß und das Leben seiner Herrin verteidigte.

»Hornköpfe?« murmelte Tally ungläubig. »Hier?« Sie blickte Hrhon an, starrte dann erneut auf die beiden toten Rieseninsekten hinab und versuchte vergeblich, eine halbwegs logische Erklärung für den unglaublichen Anblick zu finden. Einen Moment lang blickte sie hilflos auf den Todeskreis und die regelmäßigen schwarzen Löcher herab. Sie verwarf den Gedanken so schnell wieder, wie er gekommen war. Es gab unter den Werwesen alle möglichen – und eine ganze Menge unmöglicher – Kreaturen, aber keine Hornköpfe. Schon gar keine, die hier heraufkommen konnten.

»Sssie habhen unsss anghegriffen«, verteidigte sich Hrhon. »Whir mussten sssie töten. «

»Das ist schon in Ordnung«, sagte Tally verwirrt – sie hätte das Gleiche gesagt, wenn Hrhon die beiden Kreaturen völlig grundlos getötet hätte, denn wenn es etwas auf der Welt gab, was sie beinahe so sehr haßte wie die Drachen, dann waren es Hornköpfe. »Aber wo sind sie hergekommen?«

Hrhon deutete auf die Treppe. »Ausss dem Thurm«, sagte er.

Tally starrte ihn an. »Aus dem Turm?«

Der Waga versuchte zu nicken. »Sssusssammen mit diessser dha«, sagte er. Und damit deutete er auf eine dritte, etwas größere Gestalt, die wie die beiden Horn köpfe auf den Stufen der Treppe zusammengesunken und ebenso tot war wie sie.

Aber es war kein Hornkopf. Sie war nicht in Chitin gekleidet, sondern in schwarzbraunes Leder. In ihrer Hand lag kein Schwert, sondern eine bizarr geformte Waffe, die fast wie eine bizarr geformte kleine Armbrust ohne Bogen aussah und wie Silber glänzte, Und ihr Gesicht war nicht die starre Panzerfratze eines Hornkopfes, so wenig wie ihre Augen die glitzernden Facettenbündel eines Rieseninsektes waren, sondern die weit geöffneten, starren Augen eines allerhöchstens achtzehnjährigen, sehr hübschen Mädchens.

4

Sie hatte ihre gerade zurückgewonnen Kräfte eindeutig überschätzt, denn was folgte, war ein abermaliger und gründlicher Zusammenbruch, und es dauerte drei volle Tage, bis sie sich so weit erholt hatte, den Weg zum Turm zu wagen.

Hrhon und Essk hatten ihr in dieser Zeit alles erzählt, was seit ihrem Eintreffen hier geschehen war; und nicht nur ein-, sondern mindestens ein dutzendmal. Sie hatten unglaubliches Glück gehabt, den Turm trotz des tobenden Sturmes zu erreichen, und Tallys erster Gedanke, daß sie ihr Hiersein den gleichen überkochenden Naturgewalten verdankten, die sie fast umgebracht hätten, schien sich zu bestätigen: die beiden Wagas hatten weder von den entsetzlichen Werwesen noch von den tötenden Illusionen irgend etwas gesehen oder gespürt. Der Sandsturm, der sie auf den letzten zweihundertfünfzig Metern gepackt und wie bizarre Schlittschuhläufer auf einem See aus Glas direkt bis an den Fuß der Ruine geschoben hatte, hatte die tödliche Magie des Turmes besiegt.

Seine lebenden Bewohner nicht.

Die beiden Wagas hatten das schwarze Gebäude umkreist und eine schmale Treppe gefunden, die auf der windabgewandten Seite zu einem Eingang hinaufführte, und sie hatten sogar unbehelligt den geschützten Keller erreicht, in dem Tally drei Tage später aufgewacht war. Aber der Sturm hatte kaum ein wenig in seinem Wüten nachgelassen, als der erste Hornkopf in ihrem Unterschlupf erschien – ein grünschimmernder Haufen zermalmter Chitinplatten, den Essk ihr gezeigt hatte, und dessen Aussehen beim besten Willen nicht mehr erkennen ließ, zu welcher der vielen verschiedenen Insektenrassen er einmal gehört hatte. Er hatte Essk warnungslos angegriffen und war genauso warnungslos von ihr getötet worden, aber nicht, ohne ihr einen sehr tiefen, noch immer nicht ganz verheilten Schnitt im Arm beizubringen. Trotzdem hatte sein heimtückischer Angriff ihnen wahrscheinlich allen dreien das Leben gerettet; denn als seine beiden mordlustigen Kameraden und ihre menschliche Begleiterin einige Stunden später auftauchten, um nach dem vermißten Riesenetwas zu suchen, sahen sie sich unvermittelt zwei sehr vorsichtigen und wahrscheinlich höchst übellaunigen Wagas gegenüber. Das Ergebnis dieser Begegnung hatte Tally gesehen, draußen auf den ersten Stufen der Brücke.

Es tat Tally leid, daß auch das Mädchen getötet worden war. Nicht aus Menschlichkeit oder Pietät, denn die junge Frau gehörte ganz eindeutig zu ihren Feinden; aber sie hätte gerne mit ihr geredet. Es gab hunderttausend Fragen, auf die sie Antworten haben wollte, und sie hätte sie bekommen, freiwillig oder auf andere Weise; Tally war da nicht besonders wählerisch. Aber die Wagas hatten wohl keine andere Wahl gehabt, als auch sie zu töten. Essk hatte ihr das kopfgroße Loch gezeigt, das die sonderbare Waffe, die jetzt unter Tallys Gürtel steckte, in den massiven Stein der Wand geschlagen hatte.

Es war Abend, als sie wieder auf den halbzerstörten Balkon hinaustrat, eine gute Stunde vor Sonnenuntergang – was bedeutete, daß es noch immer heiß war, aber nicht mehr unerträglich.

Die schwarze, geländerlose Treppenbrücke, die die beiden ungleichen Gebäude miteinander verband, glänzte wie das Rückgrat eines absurden Riesentieres unter dem schräg einfallenden Rot der Abendsonne, und erst jetzt, beim zweiten Mal, sah Tally, wie lang sie war, und wie hoch. Der kühn geschwungene Bogen überspannte eine Strecke von einer guten halben Meile, und sein höchster Punkt – der Eingang zum eigentlichen Turm – lag sicherlich hundertfünfzig Meter über dem glasierten Boden des Todeskreises.

Tally war realistisch genug, ihre Grenzen zu erkennen – zumal sie sie wenige Tage zuvor auf recht drastische Weise vor Augen geführt bekommen hatte. Sie würde den Weg einmal schaffen, ehe die Sonne unterging, aber kein zweites Mal. Die kommende Nacht würden sie drüben verbringen müssen. Aber während des gesamten Tages hatte ein so heftiger Wind geweht, daß sie es nicht gewagt hatte, auf diesen kaum anderthalb Meter breiten, geländerlosen Steg hinauszutreten. Und die Geduld, eine weitere Nacht zu warten (was sicherlich klüger gewesen wäre), brachte sie nicht mehr auf.

Ein niemals zuvor gekanntes Gruseln ergriff Tally, als sie mit übermäßig großen Schritten an den beiden toten Hornköpfen vorbeiging und sich dem Leichnam des Mädchens näherte. Sie lag jetzt den sechsten Tag hier in der Sonnenglut, und sie sah nicht mehr halb so appetitlich aus wie zu Anfang. Die Hitze und die Luft, die hier oben so trocken war, daß sie zu knistern schien, wenn man sie berührte, hatten ihren Körper zumindest äußerlich von den Spuren irgendwelchen Verfalles bewahrt, aber ihr Haar war zu schwarzem Stroh vertrocknet, und die Haut, die sich über einem ehemals sicher sehr attraktiven Gesicht spannte, sah aus wie gelbes Sandpapier. Auf ihren weit geöffneten, starren Augen lag Staub. Vielleicht, dachte Tally, würde sie noch in hundert Jahren so hier liegen. Hrhon war gnädig genug gewesen, sie nicht zu verstümmeln, sondern mit einem blitzschnellen Hieb zu töten, so daß sie keine äußerlich sichtbaren Verletzungen aufwies. Und trotzdem erfüllte der Anblick Tally mit schierem Entsetzen.

Es war nicht der Umstand, daß sie tot war. Der Anblick des Todes in jeder nur vorstellbaren Form gehörte seit fünfzehn Jahren zu ihrem Leben wie die täglichen Mahlzeiten und die niemals endenden Ritte und Heereszüge. Sie hatte mehr Tote gesehen als so mancher General einer großen Armee, und nur die allerwenigsten davon waren auf natürliche Art und Weise ums Leben gekommen. Sie hatte selbst getötet, Menschen und nicht-Menschen, Hornköpfe und Tiere, Männer und Frauen, Alte und selbst Kinder: unzählige Male, manchmal nur durch ein Wort oder ein Schwei- . gen im richtigen Moment, manchmal mit eigener Hand. Mitleid? Irgendwann zwischen jenem schicksalsschweren Morgen vor fünfzehn Jahren und heute hatte sie verlernt, was dieses Wort bedeutete. Nein – es war nicht der Anblick des Todes, der sie so hart traf und abermals stehenbleiben ließ.

Es war der Gedanke, daß sie ihrem Feind gegenüberstand. Einem ihrer Feinde. Und es spielte überhaupt keine Rolle, daß er tot war.

Es waren Frauen wie diese hier gewesen, die die Drachen geritten hatten, große, schlank gewachsene Frauen in braunen Lederanzügen, die eng wie eine zweite Haut am Leib anlagen und in der Nacht schwarz ausgesehen hatten. Wäre es nicht zu jung gewesen, dann hätte das tote Mädchen auf der Treppe selbst bei ihnen gewesen sein können.

Zum ersten Mal, seit sie aufgewacht war, machte sich ein schwaches Gefühl von Triumph in ihr breit, wenn auch nur für Augenblicke. Sie hatte sehr wenig Grund, zu jubilieren. Statt der Befriedigung, die der Anblick des toten Mädchens in ihr hätte wachrufen sollen, machte sich eine düstere Unruhe in ihr breit. Ohne, daß sie es genauer begründen konnte, hatte sie plötzlich das Gefühl, nicht am Ende, sondern vielmehr am Anfang ihrer Suche zu sein.

Sie vertrieb den Gedanken, richtete sich wieder auf und begann vorsichtig die Treppe zu ersteigen. Die beiden Wagas folgten ihr in geringem Abstand. Es hatte Tally mehr als nur simple Überredung oder Bitten gekostet, Hrhon davon abzuhalten, hundert Schritte vor ihr zu gehen und den Weg nach Fallen oder einem möglichen Hinterhalt abzusuchen. Aber es wäre irgendwie wie Gotteslästerung gewesen, hätte einer der beiden Wagas den Turm vor ihr betreten.

Vorsichtig gingen sie weiter, und schon nach kurzer Zeit verschwand jeder Gedanke an das, was sie auf der anderen Seite des Turmes antreffen mochten, aus Tallys Bewußtsein; denn sie mußte all ihre Konzentration aufwenden, um weiterzugehen. Was von unten betrachtet wie ein sanft geschwungener Bogen ausgesehen hatte, entpuppte sich bald als eine gewaltige Steigung, die all ihre Kraft verlangte, zumal die Stufen vom Wind glattgeschliffen und schlüpfrig wie Glas waren.

Die Tiefe schien sie zu sich herabsaugen zu wollen, und mit jedem Schritt, den sie weiter auf die Brücke hinaustrat, hatte sie mehr das Gefühl, die ganze gewaltige Konstruktion unter sich beben und zittern zu fühlen. Sie war sich durchaus darüber im klaren, daß das unmöglich war, nichts als ein böser Streich, den ihr ihre Nerven spielten: der Stein war massiv wie ein Berg und regte sich um keinen Deut. Aber dieses Wissen nutzte verdammt wenig. Ein anderthalb Meter breiter Pfad ist so gut wie eine zehnfach so breite Landstraße, wenn er über ebenes Gelände führte. Waren unter ihm hundertfünfzig Meter Nichts und dann tödliches Glas, schrumpfte er auf magische Weise zu einem Faden zusammen.

Wären die beiden Wagas und das tote Mädchen nicht hinter ihr gewesen, wäre Tally vielleicht umgekehrt, lange bevor sie auch nur die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hätte. So aber quälte sie sich weiter, auch wenn jeder Schritt eine schiere Tortur war und zu allem Überfluß ihre Beine wieder zu schmerzen begannen. Sie brauchten eine Stunde, um das obere Ende der Treppe zu erreichen. Es gab hier oben einen zweiten, wenn auch sehr viel kleineren Balkon, ähnlich dem unten an der Ruine. Tally taumelte hinauf, entfernte sich noch ein paar Schritte von der Treppe und sank mit einem erschöpften Seufzen auf die Knie. Für einen Moment begann sich die Wüste vor ihren Augen zu drehen. Der Turm schien sich wie in einer grotesken Verneigung vor ihrer Leistung vorzubeugen und ebenso langsam wieder aufzurichten, und auf ihrer Zunge war plötzlich der bittere Geschmack warmer Kupferspäne. Für die Dauer von drei, vier raschen Herzschlägen blieb Tally reglos auf den Knien sitzen und rang nach Atem, ehe sie den Kopf hob und sich umsah. Im Westen begann die Nacht dünne schwarze Finger in den Himmel zu krallen, und der Wind war spürbar kühler geworden. Die Flanke des Turmes war wie eine schwarze Wand, die geradewegs in den Himmel hinaufführte.

Umnittelbar vor ihr war eine Tür. Sie bestand aus geschwärztem Eisen, das der Wind so glattpoliert hatte, daß sich ihre knieende Gestalt verzerrt darin widerspiegelte, und hatte ungewohnte Proportionen. Sie war nicht ganz geschlossen, so daß Tally erkannte, wie stark sie war. Das Metall war so dick wie ihr Oberarm.

Der Anblick ließ sie Erschöpfung und Schwäche vergessen. Sie stand auf, bedeutete Hrhon und Essk mit Gesten, dicht hinter ihr zu bleiben, und griff nervös nach der hemdartigen Waffe, die in ihrem Gürtel steckte. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie zu benutzen war oder ob sie in der Hand eines anderen Menschen als ihres rechtmäßigen Besitzers überhaupt funktionierte oder sich gar – wie es bei magischen Waffen nicht einmal so selten war – gegen sie wenden würde, aber die Berührung beruhigte sie ein wenig. Vorsichtig trat sie auf die Tür zu und streckte den Arm aus.

Die immense Masse hatte sie ein ebensolches Gewicht erwarten lassen, und sie griff kräftig zu. Aber die Tür bewegte sich nahezu schwerelos in ihren Angeln, und Tally verlor beinahe das Gleichgewicht, von ihrem eigenen Schwung nach hinten gerissen. Verwirrt blieb sie stehen, musterte die so seltsam gewichtslose Tür einen Moment unschlüssig und ordnete die Frage dem ohnehin nicht kleinen Reservoir ungelöster Rätsel in ihrem Gedächtnis bei. Es gab Wichtigeres zu ergründen als das Geheimnis einer Tür.

Sie hatte Dunkelheit erwartet, aber das Innere des Turmes – zumindest der winzige Ausschnitt, den sie erkennen konnte – war von mildem grünen Licht erfüllt, das ein bißchen mehr als Licht zu sein schien, denn Tally hatte ein schwer in Worte zu fassendes Empfinden von etwas Materiellem, in das sie eindrang, als sie durch die Tür schritt.

Ihr Herz hämmerte wie wild. Feiner, klebriger Schweiß bedeckte ihr Gesicht und ihre Handflächen. Jeder einzelne Nerv in ihr war bis zum Zerreißen gespannt. Ihre Augen waren weit und starr vor Anstrengung, den sonderbaren grünen Schimmer zu durchdringen. Tally war in diesem Moment nicht viel mehr als eine lebende Kampfmaschine, ein Ding aus fünfzehn Jahren aufgespartem Haß und hochtrainierten Reflexen. Ganz gleich, wer oder was ihr in diesem Moment gegenübergetreten wäre, er oder es hätte diese Begegnung mit dem Leben bezahlt.

Aber sie begegnete niemandem, und ihr erster Schritt in den Turm hinein war nichts als eine Enttäuschung. Tally hatte keine Vorstellung von dem gehabt, was sie antreffen würde – irgend etwas Gigantisches und Gefährliches vielleicht, und sicher etwas Magisches. Aber als sie nach wenigen Schritten stehenblieb und sich umsah, fand sie sich in einer nicht besonders großen, annähernd würfelförmigen Kammer, vollkommen leer bis auf das unheimliche, fließende Licht und mit einer knöcheltiefen Staubschicht auf dem Boden. Verwirrt, aber immer noch auf alle nur denkbaren bösen Überraschungen gefaßt, drehte sie sich einmal um ihre Achse und sah sich genauer um, ohne indes mehr zu entdecken als beim ersten Mal. Die Kammer war leer. Das einzige, was sie identifizierte, war die Quelle des sonderbaren Lichtes: es waren die Wände und die Decke selbst, deren Stein die moosige Helligkeit ausstrahlte, wenn auch nicht überall. Hier und da gab es große, an Lepra erinnernde Flecken, an denen der Stein schwarz war, und auf dem Boden hatte der Staub das Leuchten erstickt.

Während Tally sich noch umsah, kniete Essk nieder und untersuchte die Fußspuren, die der Staub akribisch konserviert hatte. Es waren die Spuren von menschlichen Füßen, aber auch die kleinerer, mit dürren drahtigen Klauen versehener Insektenbeine. Sie führten in gerader Linie zu einer von drei verschlossenen Türen in der gegenüberliegenden Wand, und es waren die einzigen Spuren überhaupt. Das Mädchen und die zwei – drei – Hornköpfe mußten die ersten gewesen sein, die diesen Ausgang seit sehr langer Zeit benutzt hatten. Nun, dachte Tally spöttisch, sehr oft kam es wahrscheinlich auch nicht vor, daß ungebetene Besucher den Todesschirm um den Turm durchbrachen und sich im Gesindehaus einnisteten.

Sie wollte weitergehen, aber Hrhon hielt sie mit einer knappen Geste zurück und eilte an ihr vorbei. Diesmal widersprach Tally nicht. Schweigend sah sie zu, wie der Waga die beiden Türen inspizierte, zu denen keine Spuren führten, und vergeblich an den massiven Eisenplatten rüttelte, ehe er sich schließlich dem dritten Durchgang zuwandte und ihn ohne sichtliche Mühe aufschob. Dahinter kam ein schmaler, von dem gleichen unheimlichen Licht erfüllter Gang zum Vorschein. Tallys Blick vermochte ihm nur ein knappes Dutzend Schritte zu folgen, denn er führte nicht nur leicht in die Höhe, sondern war auch sanft nach rechts gebogen, offenbar der Krümmung des Turmes folgend. Wenn zwischen ihm und der äußeren Begrenzung des Turmes nicht ein Hohlraum oder weitere, verborgene Räume lagen, dachte Tally, dann mußten die Wände des Turmes von einer enormen Dicke sein.

Abermals gebot sie Hrhon zurückzubleiben, trat mit klopfendem Herzen durch die Tür und in den Gang hinaus. Ein ganz leises Raunen trat an ihr Ohr, wie das Geräusch von Wind, aber unendlich weit entfernt, und diesmal war sie sich nicht ganz sicher, ob sie sich das Zittern des Bodens unter ihren Füßen wirklich nur einbildete.

Vor ihrem inneren Auge entstanden Visionen von aufschnappenden Falltüren, unter denen bodenlose Abgründe lauerten. Sie versuchte sie dorthin zurückzuscheuchen, wo sie hergekommen waren, nahm die Hand von der fremden Waffe und zog statt dessen ihren Dolch aus dem Gürtel – ein Zahnstocher gegen einen Drachen. Trotzdem fühlte sie sich spürbar wohler, als sie das glatte Eisen des Dolchgriffes in der Hand spürte.

5

Der Weg nahm kein Ende. Tally verlor ihr Zeitgefühl, irgendwo in einem der endlosen, nur ganz sanft gekrümmten und fast unmerklich ansteigenden Gänge. Sie wußte nicht mehr zu sagen, ob es eine Stunde war, wenige Augenblicke, oder eine Ewigkeit, die sie durch den Turm gingen. Das dumpfe Rauschen und Brausen begleitete sie, und manchmal glaubte sie einen leisen, aber sehr mächtigen Rhythmus in diesem Geräusch zu erkennen. In diesen Augenblicken erinnerte es sie an Atemzüge, an das sehr langsame, mächtige Atmen von irgend etwas Gigantischem.

Natürlich war es nicht da. Der Gang war leer, nur von Staub und dem sonderbaren leuchtenden Bewuchs erfüllt. Die Wände strömten einen unangenehmen Geruch aus, und die Luft schmeckte nach altem Eisen. Alle vier-, fünfhundert Schritte gelangten sie an eine Tür, als hätten die Erbauer dieses gewaltigen Turmes aus irgendeinem Grund dafür sorgen wollen, den Gang in möglichst viele voneinander unabhängige kleine Sektionen zu unterteilen.

Es gab auch noch andere Türen, die ausnahmslos auf der linken Stollenseite lange und offensichtlich in Räume hineinführten, die in die Wände des Turmes eingelassen waren, wie Luftblasen in Bernstein. Aber sie waren ausnahmslos verschlossen, und Tally schüttelte hastig den Kopf, als Hrhon sich erbot, eine davon aufzubrechen. Sie waren Eindringlinge und keine willkommenen Gäste. Vielleicht war es besser, wenn sie nicht mehr Lärm machten, als unbedingt nötig war.

Dann fanden sie die zweite Tote.

Sie waren durch eine weitere Tür getreten, wie immer Hrhon als erster, gefolgt von Tally und Essk, die den Abschluß bildete, aber statt des erwarteten Schneckenganges erhob sich vor ihnen eine schier endlose, sehr steil in die Höhe führende Treppe.

Auf den untersten Stufen lag eine Frau.

Tally fuhr überrascht zusammen und wollte sich an Hrhron vorbeidrängen, aber der Waga schob sie einfach zurück, zischelte irgend etwas, das Tally nicht verstand, und war mit zwei, drei überraschend gehenden Schritten bei der reglosen Gestalt, um sie rasch, aber sehr gründlich zu untersuchen – etwas, das ganz und gar überflüssig war, wie Tally befand. Wenn sie jemals eine Tote gesehen hatte, dann diese. Trotzdem wartete sie geduldig, bis Hrhon sich mit einem zufriedenen Zischeln aufrichtete und ihr mit Gesten zu verstehen gab, daß keine Gefahr mehr bestand.

Ihr Herz begann vor Aufregung schneller zu schlagen, als sie selbst neben der Toten niederkniete. Die Frau war wesentlich älter als das tote Mädchen draußen auf der Brücke, alt genug, um ihre Mutter sein zu können. Ihr Haar, das sehr kurz geschnitten war, begann bereits grau zu werden, und ihr im Tode bleich gewordenes Gesicht war von tiefen Linien durchzogen, ohne dadurch direkt häßlich zu wirken. In ihren erloschenen Augen schien noch ein Ausdruck ungläubigen Schreckens zu stehen. Ihre rechte Hand umklammerte die gleiche sonderbar geformte Waffe, wie sie Tally bei der Toten draußen gesehen und an sich genommen hatte. Der Leichnam verströmte einen ganz sachten, aber unangenehmen Geruch. Unter dem Kopf war ein häßlicher braunroter Fleck, ebenso wie auf der Stufe darüber, und der nächsten und übernächsten.

Tallys Blick folgte der eingetrockneten Blutspur, bis sie sich im grünen Dunst des Ganges verlor. Es war nicht sehr schwer zu erraten, was geschehen war: die Frau und das junge Mädchen draußen hatten offensichtlich zusammengehört, aber während das Mädchen und die Hornköpfe herausgekommen waren, um nach den unwillkommenen Besuchern zu sehen, war diese Frau zurückgelaufen, um – ja, um was zu tun? dachte Tally. Instinktiv irrte ihr Blick zum oberen Ende der Treppe. Sie sah nur grünes Licht, in dem sich die Stufen wie in leuchtender Säure aufzulösen begannen. Nun, gleich wie – sie hatte es wohl ein wenig zu eilig gehabt, denn sie mußte auf der Treppe ausgeglitten sein und sich den Schädel eingeschlagen haben. Hätte es noch eines Beweises für diese Theorie bedurft, wäre es allein der Leichengeruch gewesen. Die Tote lag schon eine geraume Weile hier. Sie stand auf, winkte Essk, an ihre Seite zu treten und setzte den Fuß auf die erste Treppenstufe, aber wieder, hielt Hrhon sie zurück. »Vorssssicht«, zischelte er. »Esss können noch mehhhr da ssseinnn.«

»Unsinn«, sagte Tally unwillig. »Die beiden waren allein, Flachkopf! Wäre es anders, wären wir wohl kaum noch am Leben, oder?«

Hrhon widersprach nicht, aber Tally wußte selbst, daß ihre Worte wohl mehr ihrer eigenen Beruhigung galten. Der Gedankengang mochte durchaus logisch sein – aber was war Logik in dieser Welt, die zur Hälfte von einem willkürlichen Schicksal und zur anderen Hälfte von Zauberei bestimmt wurde? Sie hatten keinerlei Beweise, daß am oberen Ende dieser Treppe nicht eine ganze Armee zangenbewehrter Hornköpfe auf sie wartete. Oder Schlimmeres. Aber es gab auch nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.

»Dann lassst mich wenigssstensss vorausssgehennn«, sagte Hrhon.

Tally dachte einen Moment ernsthaft über seinen Vorschlag nach. Der Gedanke, einen lebenden Schutzschild aus Panzerplatten und Knochen vor sich zu haben, war verlockend – der, unter vierhundert Pfund der gleichen Panzerplatten und Knochen begraben zu werden, sollte Hrhon angegriffen werden und stürzen, weniger.

Sie schüttelte den Kopf, scheuchte den Waga mit einer befehlenden Geste zur Seite und ging los.

Die Treppe schien endlos zu sein. Schon nach wenigen Augenblicken begannen ihr Ende und die Tote in grünem Dunst zu verschwinden, während die leuchtende Wand über Tally und den beiden Wagas im Tempo ihrer eigenen Schritte vor ihnen zurückwich. Es war ein unheimliches Gefühl, das Tally sehr nervös machte – sie sah nicht, wohin sie gingen, und in ihrem Kopf nistete sich der bösartige Gedanke ein, daß diese Treppe geradewegs in die Unendlichkeit führen würde und sie so lange laufen konnten, bis sie vor Erschöpfung und Durst einfach starben, ohne jemals irgendwo anzukommen.

Natürlich wußte sie auch, daß das Unsinn war, aber dieses Wissen nutzte ihr herzlich wenig. Es war enervierend, irgendwo hin zu gehen, ohne zu wissen, wo und was dieses umhin war.

Schließlich blieb sie stehen und sah nervös zu den beiden Wagas zurück. »Dieses Leuchten macht mich nervös«, gestand sie. »Es ist... unheimlich.«

Hrhon versuchte sein Schildkrötengesicht zu einem Lächeln zu verziehen, was natürlich mißlang. »Esss ist nichtsss Uuunheimlichesss«, sagte er. »Nhur leuchtende Ffflanzen. Esss gibt viele davon, da, wo wir herkommen. «

Tally blickte den Waga verwirrt an. Die Erklärung war so simpel und einleuchtend, daß sie sich fragte, warum, beim Schlund, sie noch nicht selbst darauf gekommen war – schließlich hatte sie oft genug von leuchtenden Pflanzen gehört, wenn sie auch noch keine gesehen hatte. Sie sollte sich angewöhnen, die Dinge nüchterner zu betrachten. Es konnte durchaus gefährlich werden, wenn sie mehr in dieses sonderbare Bauwerk hineinlas, als gut war.

Sie gingen weiter. Tally begann die Stufen zu zählen, die sie emporstieg, kam irgendwann aus dem Rhythmus und begann von vorne. Als sie zum zweiten Male bei dreihundert angekommen war, schälte sich über ihnen der wuchtige Umriß einer Tür aus dem grünen Dunst. Anders als alle, durch die sie bisher gegangen waren, stand sie halb offen, und dahinter hörte das grüne Licht auf.

Tally ging schneller, blieb aber auf der vorletzten Stufe stehen und gab Hrhon nun doch ein Zeichen, vorauszugehen. Der Waga senkte kampflustig die Schultern, stürmte ohne viel Federlesens durch die Tür und polterte eine Weile in der Dunkelheit dahinter herum, ehe er zurückkam und auffordernd winkte.

»Allesss in Ohrdnuhng«, zischelte er.

Tally und Essk folgten ihm.

Sie fanden sich in einem großen, annähernd würfelförmigen Raum wieder, der bis auf den allgegenwärtigen Staub vollkommen leer war, und nicht ganz so dunkel, wie Tally im ersten Augenblick angenommen hatte. Durch schmale, hoch unter der Decke angebrachte Schlitze sickerten gelbrote Streifen von Sonnenlicht herein. Jetzt erst fiel Tally auf, daß die Treppe in gerader Linie nach oben geführt hatte, nicht gekrümmt wie die Gänge zuvor. Ohne es zu merken, waren sie der äußeren Begrenzung der Turmwand näher gekommen.

Neugierig sah sie sich um. Nicht, daß es viel zu sehen gegeben hätte – der Boden war ein verwirrendes Muster von Spuren, und zehn Meter über ihren Köpfen wob das Sonnenlicht ein Netz aus flirrenden Rechtecken in die Luft, das war alles. Trotzdem verspürte Tally eine immer stärker werdende Erregung. Was immer das Geheimnis dieses Turmes war – wenn es eines gab –, sie näherten sich ihm.

Auch diesmal widersprach Tally nicht, als sich Hrhon an ihr vorbeischob und auf die offenstehende Tür am Ende der Kammer zustapfte. Der Waga bewegte sich sehr vorsichtig, noch langsamer und scheinbar behäbiger als gewohnt. Seine kurzen Arme pendelten lose neben dem massigen Leib, die vierfingrigen Hände waren zu Klauen geöffnet.

Ganz plötzlich verspürte Tally ein heftiges Gefühl von Sicherheit, diese beiden lebenden Kampfmaschinen in ihrer Nähe zu wissen. Es gab nicht viel, was einem zustoßen konnte, mit zwei ausgewachsenen Wagas als Leibwächtern – sah man von zangenbewehrten Hornköpfen und Waffen ab, die faustgroße Löcher in massiven Stein schlagen konnten, wie eine dünne böse Stimme hinter ihrer Stirn flüsterte.

Sie verscheuchte den Gedanken ärgerlich, aber ganz gelang es ihr nicht. Ihre Nervosität stieg. Vorhin, als sie zwischen den beiden Wagas dem gewundenen Gang gefolgt war, hatte sie fast so etwas wie Enttäuschung verspürt – nein, Ernüchterung. Nach zehn Jahren vergeblicher Anstrengungen und Mühe, zehn Jahren immer wieder aufs neue geschöpfter – und immer wieder aufs neue enttäuschter – Hoffnungen, war ihr plötzlich alles so profan erschienen. Das große Geheimnis, dessen Lösung sie ihr Leben gewidmet hatte, sollte nur aus einem leeren Turm bestehen? Aber dieses Gefühl war vergangen, im gleichen Moment, in dem sie die Tote gefunden hatten. Und jetzt begann allmählich etwas in ihr emporzukriechen, das sie auf sehr unangenehme Weise an Furcht erinnerte.

Vielleicht war es nur Erregung, die ganz normale Erregung, endlich am Ziel zu sein; vielleicht hatte sie auch einfach nur die Leistungsfähigkeit ihres Körpers überschätzt, denn schließlich war es noch nicht lange her, daß sie fast gestorben wäre, aber gleich, was es nun war – die Symptome waren eindeutig die von Furcht: ihre Handflächen wurden feucht, ihre Knie begannen ganz leicht zu zittern, und plötzlich hatte sie das Gefühl, von unsichtbaren Augen beobachtet und angestarrt zu werden, aus allen Richtungen zugleich.

Möglicherweise war es auch mehr als nur ein Gefühl, denn Hrhon blieb stehen, noch ehe er die Tür vollends durchschritten hatte, hob den linken Arm, zum Zeichen, daß sie und Essk zurückbleiben sollten, und drehte sich schwerfällig nach rechts und links. Tally konnte sehen, wie sich seine kurzsichtigen Augen zu schmalen Schlitzen zusammenzogen, als er versuchte, in der fast vollkommenen Dunkelheit jenseits der Tür etwas zu erkennen.

»Was ist?« fragte sie.

Hrhon versuchte ein Schulterzucken zu imitieren. »Ich weisss nicht«, sagte er. »Irgend etwass ssstimmt nicht...« Er schnüffelte hörbar. »Esss ssstinkt nach Hornköpfen.«

»Das ist kein Wunder«, antwortete Tally nervös.

»Schließlich waren sie hier, oder? Geh weiter.« Hrhon gehorchte. Schwerfällig setzte er sich in Bewegung und machte einen Schritt in die Dunkelheit hinein. Um ein Haar wäre es sein letzter gewesen.

Etwas Großes, Glitzerndes bewegte sich in der Schwärze vor ihm, ein heller, schleifender Laut war zu hören, und plötzlich schien die Dunkelheit selbst zu erwachen und sich mit fünfundzwanzig Armen und Beinen und der gleichen Anzahl mörderisch schnappender Mandibeln auf den Waga zu stürzen.

Der Anprall war so gewaltig, daß Hrhon zu Boden ging. Tally sprang mit einem erschrockenen Keuchen zur Seite, als der Waga fast genau dort niederkrachte, wo sie stand, ein halb erschrockenes, halb wütendes Zischeln ausstoßend und mit beiden Fäusten auf das schwarze Chitinbündel einschlagend, das ihn umklammert hatte. Es war Tally unmöglich, zu sagen, was es war, das Hrhon angegriffen hatte – die Kreatur war ein gutes Stück größer als er, aber nicht einmal halb so massig, machte diesen Mangel jedoch mit einer Unzahl langer, stacheliger Gliedmaßen und einem Paar schon fast grotesk großer Beißzangen wett, mit denen es Hrhons Hals abzuknipsen versuchte.

Möglicherweise wäre es ihm sogar gelungen; groß genug dazu waren die Mandibeln jedenfalls. Aber Hrhon reagierte ganz instinktiv auf die gleiche Weise, auf die sich seine Vorfahren schon vor etlichen hundert Millionen Jahren ihrer Gegner erwehrt hatten – blitzartig zog er Kopf und Glieder in seinen Panzer zurück, so daß die schrecklichen Scheren des Insektes auf stahlhartes Horn krachten statt auf Fleisch. Ein Stück davon brach ab, und der Hornkopf fuhr mit einem wütenden Pfeifen zurück. Eine Sekunde später war Essk über ihm, riß ihn mit einer fast spielerischen Bewegung von ihrem Gefährten herunter und warf ihn kurzerhand gegen die Wand. Der Laut, mit dem sein schwarzglänzender Chitinpanzer gegen den Stein prallte, ließ Tally innerlich erschauern. Aber der Kampf war noch nicht vorüber. Der Hornkopf stürzte zwar, und er blieb auch einen Moment benommen liegen, aber nur, um sich dann jäh in ein wirbelndes Bündel aus Gliedmaßen und tödlichem Horn zu verwandeln, das mit schier unglaublicher Geschwindigkeit wieder auf den Beinen war und angriff.

Und diesmal galt sein Angriff nicht den beiden Wagas, sondern Tally, die er instinktiv als die wichtigste Gegnerin erkannt haben mußte. Tally sprang zurück, beide Hände über den Kopf geschlagen und den Hals eingezogen, so gut sie konnte, denn sie wußte nur zu gut, auf welche Weise Hornköpfe normalerweise angriffen. Ihre Bewegung war sehr schnell; es war nicht das erste Mal, daß sie mit einem Hornkopf unterschiedlicher Meinung war, was ihre Lebenserwartung anging.

Trotzdem hätte sie keine Chance gehabt, währe Hrhon nicht gewesen. Aber der Waga bewegte sich plötzlich mit einer Behendigkeit, die wohl auch der Hornkopf ihm nicht zugetraut hätte – und Tally schon gar nicht. Als das Rieseninsekt an ihm vorbeiraste, fuhr er hoch und herum und ließ seine Faust auf seinen Panzer herunterkrachen. Der Schlag war auf den häßlichen Schädel gezielt, traf aber statt dessen seinen Hinterleib. Diesmal zerbrach der Chitinpanzer des Ungeheuers mit einem hörbaren Knirschen.

Das Ungeheuer stieß einen kläglichen Laut aus, torkelte einen halben Schritt an Tally vorbei und fiel wimmernd zu Boden. Seine gewaltigen Scheren schnappten in hifloser Wut.

Essk packte den Hornkopf und öffnete seinen Panzer an einer Stelle, die nicht dafür vorgesehen war. Aus den schrillen Schreien des Rieseninsektes wurde ein gurgelnder Laut. Eine zähe, gelbe Flüssigkeit quoll aus seinem Maul. Seine Glieder zuckten noch einmal, dann erschlaffte es in den gewaltigen Pranken der Waga. Trotzdem schmetterte Essk ihm die Faust noch zweimal mit aller Kraft zwischen die Augen, ehe sie ihn fallen ließ und mit einem zufriedenen Zischeln zurücktrat und sich umwandte. »Allesss in Ohrdnhung?« fragte sie. Tally begriff im ersten Moment nicht einmal, daß die Worte ihr galten. Erst, als Essk sie fast schüchtern an der Schulter berührte und ihre Frage wiederholte, riß sie ihren Blick von dem verstümmelten Insekt los und nickte. »Mir ist nichts passiert«, sagte sie. Sie wandte sich an Hrhon. »Aber was ist mit dir?«

»Nichtsss«, erwiderte Hrhon. »Esss war nhurrr die Überasssung.«

Tally blickte auf den zermalmten Hornkopf herunter und glaubte ihm. Das Ungeheuer mußte selbst sie um einen guten Meter überragen, wenn es aufrecht stand, und sie wußte, wie stark Insekten waren. Trotzdem konnte man seinen Angriff auf den Waga nur als glatten Selbstmord bezeichnen.

Mit aller Macht drängte sie ihren Widerwillen zurück, näherte sich dem toten Ungeheuer und ging dicht vor ihm in die Hocke. Ein eisiger Schauer lief über ihren Rücken, als sie die entsetzlichen Beißzangen sah, die dicht unter dem dreieckigen Insektenmaul aus seinem Schädel wuchsen. Sie waren kräftig genug, einem erwachsenen Mann den Oberschenkel durchzubeißen. Und als wäre dies allein noch nicht genug, verfügte das Ungeheuer über ein ganzes Arsenal weiterer natürlicher Waffen – angefangen von seinen gewaltigen, dornenbewehrten Sprungbeinen über ein paar Dutzend dolchspitzer Stacheln auf seinem Rücken bis hin zu seinem vorderen Beinpaar, mehrfach untergliedert und mit einem Chitinpanzer versehen, der zu einer Art natürlicher Axt zusammengewachsen war.

»Was, beim Schlund ist das?« murmelte sie.

Sie hatte nicht damit gerechnet, aber sie bekam eine Antwort.

»Eine Beterin«, sagte Essk. »Sssehr ghefährlich. Iss dachte, sssie whären ausssgessstorben.«

»Eine... Beterin?« wiederholte Tally verwirrt. Sie hatte von diesen Tieren (Tieren? Etwas in ihr sträubte sich dagegen, dieses Ding wirklich mit dem Wort Tier zu bezeichnen.) gehört, aber auch sie hatte nicht gewußt, daß es sie wirklich noch gab. Beterinnen, das waren irgendwelche Ungeheuer, die in irgendeinem Teil der Welt irgendwann einmal gelebt hatten. Sie vor sich zu sehen, erfüllte sie mit Entsetzen, ganz egal, ob sie nun tot war oder nicht. Und trotzdem wußte sie, daß Essk recht hatte – bei genauem Hinsehen war sogar noch eine Ähnlichkeit zwischen diesem horngepanzerten Ungeheuer und einer Gottesanbeterin zu erkennen, wie Tally sie kannte – wenn auch einer, die etliche zehn Arme zuviel hatte und ganz eindeutig an Größenwahn litt. Aber es war eine Beterin – der langgestreckte, vielfach gegliederte Leib, der entsetzliche dreieckige Schädel, die mächtigen Vorderläufe, das alles war unverkennbar.

»Du hättest sie nicht töten sollen«, sagte sie. »Sie hätte uns wertvolle Auskünfte geben können.« Aber der Tadel in der Stimme war nicht echt. Wie die beiden Wagas wußte sie nur zu genau, daß Hornköpfe durch absolut nichts auf der Welt zu irgend etwas zu zwingen waren, schon gar nicht durch Gewalt oder Folter, und weder Hrhon noch Essk reagierten auch in irgendeiner Weise auf ihre Worte. Als sie sich nach einer Weile aufrichtete und umdrehte, war Hrhon bereits verschwunden, während seine Gefährtin ein Stück vor und neben der Tür Aufstellung genommen hatte, den Kopf halb in den Panzer zurückgezogen und die Hände kampfbereit erhoben.

Aber es erfolgte kein weiterer Angriff mehr. Die Beterin war die letzte, tödliche Überraschung, die der Turm für sie bereitgehalten hatte – wenigstens für diesen Tag. Hrhon kam schon nach wenigen Augenblicken zurück und machte ein beruhigendes Zeichen mit der Hand. Er bestand nicht einmal mehr darauf, vor ihr herzugehen, als sie durch die Tür trat.

Das erste, was ihr auffiel, war das Geräusch: das gleiche dumpfe Brausen und Rauschen, das sie den gesamten Weg hier herauf begleitet hatte, aber ungleich lauter und machtvoller, so mächtig, daß sie meinte, den Boden unter ihren Füßen in seinem Rhythmus vibrieren zu fühlen, und abermals an ein urgewaltiges Atmen denken mußte. Dann spürte sie den Luftzug, ganz sacht, wie das Streicheln einer kühlen Hand auf der Haut. Er kam von rechts, aus dem Turminneren, und als sie sich in diese Richtung wandte, sah sie einen ganz schwachen Lichtschimmer.

Behutsam bewegte sie sich darauf zu und gelangte an eine weitere nicht gänzlich geschlossene Tür. Ihre Finger zitterten, als sie die Hand danach ausstreckte und sie öffnete, obgleich kein Grund zur Furcht mehr bestand; denn Hrhon war vor ihr hiergewesen und hatte zweifellos auch den angrenzenden Raum gründlich nach Gefahren durchsucht.

Der Geruch verriet ihr, was sie erwartete, noch bevor sie die Tür gänzlich geöffnet und ihre Augen sich an das unerwartet helle Licht dahinter gewöhnt hatten. Die Kammer war klein, leer bis auf ein paar Haufen halbverfaultes Stroh und einen übelriechenden Abortbehälter, und sie stank zum Erbrechen nach Hornköpfen. Durch ein mannshohes, aber sehr schmales Fenster in der Wand fiel Tageslicht herein, und in der Ecke neben der Tür faulte irgend etwas vor sich hin, das sich Tally lieber nicht genauer besah, von dem sie aber stark annahm, daß es die Lebensmittelration der Kampfinsekten gewesen war. In einem eisernen Halter unterhalb des Fensters stak ein ganzes Sammelsurium der widerlichsten Waffen, die sie jemals zu Gesicht bekommen hatte – häßliche Dinge mit zu vielen Schneiden und gemein gebogenen Widerhaken, wie sie nur Hornköpfe zu handhaben wußten, ohne sich dabei selbst in Stücke zu schneiden (obwohl sie sich fragte, wozu, beim Schlund, ein Ding wie das, das Hrhon angegriffen hatte, wohl eine Waffe brauchte...), und durch eine zweite, etwas niedrigere Tür in der gegenüberliegenden Wand fauchte ein brausender Windzug herein. Tally sah all das mit einem einzigen, raschen Blick, dann ging sie weiter, ehe der süßliche Insektengeruch ihr vollends den Magen umdrehen konnte, und betrat den angrenzenden Raum.

Überrascht blieb sie stehen.

Sie wußte nicht, was – oder ob überhaupt irgend etwas – sie erwartet hatte; aber auf jeden Fall nicht das. Vor ihr lag ein hoher, sehr freundlich ausgestatteter Raum, dessen Wände aus dem allgegenwärtigen schwarzen Stein des Turmes bestanden, aber mit Vorhängen und Teppichen und da und dort sogar einem Bild drapiert waren. Ein knöcheltiefer, sehr weicher Teppich bedeckte den Boden und nahm ihm seine Kälte und hier und da standen wenige, aber mit großem Geschmack ausgesuchte, Möbel: ein Tisch, darum vier kleine geschnitzte Stühle mit halbhohen Lehnen, eine Art Diwan, auf dem seidene Kissen und Felldecken lagen, ein zierliches Schränkchen, hinter dessen gläsernen Türen Trinkgefäße und Teller säuberlich aufgestellt waren. Auch hier gab es eines jener großen, eigentümlich geformten Fenster, aber im Gegensatz zu dem im Quartier der Hornköpfe war es mit leicht gefärbtem Glas gefüllt, so daß zwar Licht, aber keine Kälte hereindringen konnte. Auf dem Tisch herrschte ein wenig Unordnung: einer der beiden Becher, die darauf standen, war umgefallen, und sein Inhalt zu einem häßlichen klebrigen Fleck eingetrocknet; daneben stand ein Teller mit einer erst halb beendeten Mahlzeit, die bereits Schimmel ansetzte. Trotzdem verriet das Zimmer Tally sofort die Hand einer Frau, die es ausgestattet hatte. Genauer gesagt, zweier Frauen, die hier gelebt hatten.

Das dumpfe Brausen war noch immer zu hören, und der Luftzug war zum Sturm angewachsen, der mit ihrem Haar spielte und sie blinzeln ließ, als sie hineinsah. Wie in allen Räumen, die sie bisher durchquert hatte, gab es auch hier eine zweite Tür, genau in der gegenüberliegenden Seite; Tally vermutete, daß die Kammer auf die gleiche Weise wie der Schneckenhausgang angeordnet waren, nicht wie die Räume eines Hauses in willkürlicher Unordnung, sondern immer eine hinter der anderen, so daß eine Fortsetzung der nach oben führenden Spirale entstand. Aber sehr weit konnte sie nicht mehr führen, denn wenn ihr Zeitgefühl auch längst durcheinandergeraten war, so wußte sie doch, daß sie die Spitze der steinernen Riesennadel fast erreicht haben mußten. Der Wind leitete sie, als sie den Raum durchquerte. Das Zimmer dahinter ähnelte dem ersten, nur daß es ein wenig unordentlicher war und einer der beiden Frauen als Schlafgemach gedient haben mußte, denn es gab ein großes, mit Seide bezogenes Bett und einen niedrigen Schrank, dessen Türen offen standen, so daß sie erkennen konnte, daß er Kleider enthielt. Aber der Windzug kam nun nicht mehr von vorne, obgleich es dort eine weitere Tür gab, sondern bauschte einen schweren blauen Samtvorhang, der den größten Teil der rechts liegenden Wand einnahm.

Tally runzelte verwundert die Stirn. Wenn sie nun nicht auch noch ihr Orientierungsvermögen verloren hatte, dann führte der Weg nach rechts tiefer in den Turm hinein – wo um alles in der Welt kam dieser Sturmwind her?

Sie hob die Hand, um den Vorhang kurzerhand herunter zu reißen, besann sich dann aber eines Besseren und schob ihn beinahe vorsichtig zur Seite.

Grelles Sonnenlicht blendete sie. Sie hob die Hand, blinzelte, senkte ein wenig den Kopf und trat mit einem raschen Schritt vollends durch den Vorhang hindurch. Der Sturm schlug mit eisigen Krallen auf ihr Gesicht ein und trieb ihr die Tränen in die Augen. Das Rauschen des Windes steigerte sich zu einem ungeheuren Toben und Lärmen. Unter ihren Füßen war plötzlich kein Teppich mehr, sondern wieder harter, ganz sacht vibrierender schwarzer Stein. Wenige Schritte vor ihr erhob sich eine schmiedeeiserne Brüstung. Tally begriff plötzlich, daß sie sich nicht mehr auf festem Boden, sondern auf einem schmalen Balkon befand.

Und darunter gähnte das Nichts.

Vielleicht war es ganz gut, daß ihr die ungewohnte Helligkeit im ersten Moment die Tränen in die Augen trieb, denn so blieb ihr ein wenig Zeit, sich an den unglaublichen Anblick zu gewöhnen. Trotzdem dauerte es lange, bis sie wirklich begriff.

Sie befand sich dicht unterhalb der Turmspitze, und sie konnte dies mit solcher Sicherheit sagen, weil es diese Spitze nicht gab: vielleicht fünfzig Meter über ihr hörte der Turm einfach auf, einer ungleichmäßigen, schrägen Linie folgend, die bewies, daß dieses Ende nicht so gebaut, sondern gewaltsam abgebrochen war. Das grelle Licht der Wüstensonne strömte ungehindert in den Turm, und was es enthüllte, ließ Tallys Atem stocken, und nicht nur im übertragenem, sondern im höchst realen Sinne des Wortes.

Der Turm war leer, und im Grunde war er nicht viel mehr als eine gewaltige, sich nach oben hin verjüngende Röhre, eine Meile hoch und dreimal so tief in die Erde hinabreichend, ehe sie sich im Dunst der Entfernung verlor. Der Balkon, auf dem sie stand, gehörte zu einem ungleichmäßig geformten, steinernen Wulst, der wie ein Schwalbennest an ihre innere Wandung geklebt war und sich auch noch ein Stück nach oben hin fortsetzte, ehe er in einem Wust von zermalmtem, halb geschmolzenem Stein endete.

Tallys Gedanken überschlugen sich. Sie verstand nicht, was sie sah, und noch viel weniger verstand sie, welchen Sinn dieses unglaubliche Ding um alles in der Welt haben sollte. Ein Gefühl dumpfer Enttäuschung begann in ihr zu erwachen und wurde allmählich stärker. Sollte sie wirklich die letzten fünfzehn Jahre ihres Lebens einzig dazu geopfert haben, dies hier zu finden? Verstört sah sie nach rechts und links, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, um die Tränen fortzuwischen, die ihr das Sonnenlicht hineingetrieben hatte, und trat näher an die eiserne Brüstung heran. Der Sturm zerrte mit Urgewalt an ihrem Haar und ihren Schultern, als sie sich darüber beugte und in die Tiefe sah, und im ersten Moment wurde ihr schwindelig; denn der Abgrund unter ihr war im wahrsten Sinne des Wortes bodenlos. Ihr allererster Eindruck war richtig gewesen: der hohle Turm ragte tief, unendlich tief in den Wüstenboden hinein. Vielleicht war er auch nur der Zugang zu einer gewaltigen Höhle, die sich unter dem erstarrten Sandmeer der Gehran erstreckte. Aber sie verstand noch immer nicht, welchem Zweck er diente.

Tally schloß für einen Moment die Augen, versuchte an gar nichts zu denken und blickte noch einmal in die Tiefe.

Die Innenwand des Turmes war nicht so glatt, wie sie im ersten Moment geglaubt hatte – es gab zahllose unterschiedlich große und unterschiedlich geformte Auswüchse, und mehrere davon waren mit Balkonen der gleichen Art versehen wie dem, auf dem sie selbst stand. Zwischen ihnen spannten sich schwarze Lavawülste wie steinerne Adern – die Schneckenhausgänge, die in scheinbar willkürlichem Hin und Her nach oben und unten führten und sich hier und da berührten, sich aber nicht direkt zu kreuzen schienen; denn wo sie zusammentrafen, krochen sie wie steinerne Würme übereinander und bildeten manchmal dicke, irgendwie krankhaft wirkende Wülste. Wie Geschwüre auf der Innenseite einer ungeheuerlichen Ader, dachte Tally.

Überhaupt war dies von allem der stärkste Eindruck: obwohl sie den harten Stein unter ihren Füßen sah und stundenlang darübergeschritten war, wirkte nichts hier künstlich, nichts sah aus, als wäre es irgendwie gemacht worden. Das ganze gigantische Bauwerk wirkte wie gewachsen. Selbst die eiserne Brüstung, auf der sie lehnte, vermochte diesen Eindruck nicht zu stören. Aber was war es? Was...

Die Erkenntnis traf sie wie ein Fausthieb.

Es war, als träte sie ein zweites Mal auf den Balkon hinaus, aber diesmal mit offenen, sehenden Augen. Mit einem Male war alles ganz klar, ergab einen Sinn – den einzigen Sinn, den es überhaupt geben konnte. Und mit einem Male schien ihr jeder Quadratzentimeter ihrer Umgebung die Wahrheit entgegenzuschreien: dieser gigantische, leere Turm, selbst hier oben an seiner engsten Stelle noch Hunderte von Metern messend, die ungeheuerliche Tiefe, aus der ein Luftstrom wie ein nie endender Orkan emporbrauste, dieser einsamste aller Flecken, den es auf der Welt gab, der vielfach gestaffelte Todeskreis, der ihn umgab, dies alles konnte nur eine einzige Erklärung haben.

Und sie wußte sie, im gleichen Moment, in dem sie den Sturm, der aus der Erde emporbrauste, zum ersten Male bewußt wahrnahm. Und den Gestank, den er mit sich brachte.

Drachengestank.

6

Sie blieb länger als eine Stunde auf dem kleinen Balkon am Rande des Nichts stehen, ohne es überhaupt zu merken. Sie war wie gelähmt, nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Ihre Gedanken drehten sich im Kreise, immer und immer und immer wieder, ohne daß sie imstande war, ihren Fluß zu ändern, und sie wußte hinterher nicht mehr, was sie nun wirklich gedacht hatte, in all dieser Zeit. Tally konnte nicht in Worte fassen, was sie spürte, weil es etwas Neues war, etwas, wofür sie keine Worte hatte, eine Mischung zwischen Entsetzen und Schrecken und Erleichterung und Schmerz und anderen, fremden Gefühlen. Sie war enttäuscht, so enttäuscht und – ja: gedemütigt – wie niemals zuvor in ihrem Leben, und sie hatte allen Grund dazu. Sie fühlte sich wie ein Mensch, der das eigentlich Unmögliche vollbracht hatte, nur um festzustellen, daß es nichts war: sie hatte einen Berg erstiegen, der als unbesteigbar galt, und auf dem Gipfel angelangt erkannt, daß es in Wahrheit nichts als ein kleiner Hügel war, hinter dem sich das eigentliche Gebirge erhob.

Wozu das alles? dachte sie matt. Bitterkeit begann in ihr aufzusteigen, und für einen Moment kam ihr der Gedanke, daß all dies, die Wüste mit ihren tausendfältigen Fallen und Gefahren, der Turm mit seinen tödlichen Wächtern, nur zu dem einen Zweck errichtet worden sei, Narren wie ihr vor Augen zu führen, wie dumm und machtlos sie waren.

Aber natürlich war dies vollkommener Unsinn. Tatsache war, daß dieser Turm nichts als der erste Schritt war, die erste Stufe einer Treppe, deren Länge sie nicht einmal zu ahnen imstande war, und an deren Ende das wahre Geheimnis der Drachenreiterinnen wartete.

Der Enttäuschung folgte ein Gefühl der Leere, aber es hielt nicht lange an; denn Tally wäre nicht Tally gewesen, hätte sie nicht gleichzeitig eine noch dumpfe, aber rasch wachsende Entschlossenheit gespürt, auch die nächste Stufe des Geheimnisses zu erklimmen, und die nächste und nächste und nächste, für den Rest ihres Lebens, wenn es sein mußte.

Irgendwie ernüchterte sie dieser Gedanke. Der Schmerz in ihrem Inneren sank zu einem dumpfen Druck herab, und mit einem Male wurde sie sich ihrer Umgebung wieder bewußt: sie spürte den eisigen Wind, der ihre Finger und ihr Gesicht allmählich taub werden ließ, und das Sengen der Sonne, die ihre nackten Schultern verbrannte. Nach einem letzten, sehr langen Blick in den Abgrund wandte sie sich um und trat in die Kammer zurück.

Die beiden Wagas erwarteten sie. Hrhon hatte es sich auf dem Teppich bequem gemacht und Kopf und Glieder in seinen Panzer zurückgezogen, um auf die typische Art seines Volkes zu schlafen, während Essk unstet auf und ab ging. Tally sah, daß sie den Raum durchsucht hatte, auf die sehr direkte und sehr wirksame Weise, auf die Wagas alles tun: das Zimmer war vollkommen verwüstet. Aber obwohl der Anblick die Frau in ihr ärgerte, beruhigte er die Kriegerin in ihr: sie konnte jetzt sicher sein, daß es hier keine verborgenen Fallen mehr gab. Sie bezweifelte allerdings auch, daß es jemals welche gegeben hatte. Die beiden Frauen und ihre chitintragenden Wächter mußten sich vollkommen sicher gefühlt haben. Wäre es nicht so gewesen, hätten sie und die beiden Wagas den Turm niemals lebend erreicht. Dieser Turm war allein durch seine Konstruktion schon eine Festung, die zwei oder drei beherzte Kämpfer gegen ein ganzes Heer halten konnten, wenn es sein mußte. Tally fühlte sich sonderbar bei dem Gedanken, daß Hrhon, Essk und sie wahrscheinlich die ersten lebenden Wesen waren, die diesen Turm gegen den Willen seiner Erbauer betreten hatten. Es war kein Triumph in diesem Gefühl – sie hatten Glück gehabt, das war alles, eine unglaubliche Kombination von Zufall, Glück und sicherlich auch Mut und Kraft der Waga.

»Wasss sssollen wir thuhn?« drang Essks Stimme in ihre Gedanken. »Gehen wir sssurühck?«

Tally überlegte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf, schenkte der Waga ein müdes Lächeln und ließ sich mit einem erschöpften Seufzer auf dem nieder, was Essk vom Bett übriggelassen hatte. »Nein«, sagte sie.

»Wir bleiben.«

Essk widersprach nicht, und Tally glaubte sogar so etwas wie Zustimmung auf ihrem starren Schildkrötengesicht zu erkennen. Sie begriff, daß selbst die beiden Waga an den Grenzen ihrer Kraft angelangt waren. Sie hatten die Hauptlast der Mühen und Anstrengungen getragen, die die letzten Tage gebracht hatten. Essks Frage war wohl nur rhetorischer Natur gewesen. Es war zu spät, noch an diesem Tage zurückzugehen; denn obwohl der Himmel über dem Turm noch immer in Flammen zu stehen schien, würde die Sonne in einer Stunde untergehen.

Überdies gab es keinen Grund, überhaupt zurückzugehen. Sie konnten die Nacht ebensogut hier verbringen wie in dem Keller im Nebengebäude, und etwas in Tally weigerte sich auch, jetzt einfach kehrtzumachen, ohne das Geheimnis des Turmes wirklich gelöst zu haben. Müde ließ sie sich in die seidenen Kissen zurücksinken, schloß die Augen und gähnte herzhaft. Ihre Beine schienen mit einem Male mit Blei gefüllt zu sein, und jetzt, als die Anspannung von ihr abzufallen begann, machten sich Müdigkeit und Schwäche auf wohltuende Weise in ihr breit.

»Ihr habt alles gründlich durchsucht?« murmelte sie, schon halb eingeschlafen.

»Sssicher«, zischelte Essk. »Ihr könnt beruuuhigt ssslafen, Herrin.«

Und genau das tat Tally auch.

7

Ihre Geduld wurde auf keine sehr harte Probe mehr gestellt. Nach zehn Jahren hatte das Schicksal endlich ein Einsehen mit ihr; ja, sie mußte nicht einmal mehr zehn Tage warten, sondern wenig mehr als einen und ein paar Stunden. Aber natürlich wußte sie das nicht, als sie am nächsten Morgen erwachte, und als Essk sie beinahe sanft an der Schulter berührte und schüttelte – zumindest sanft für die Begriffe einer Waga –, fuhr sie mit einer hastigen Bewegung hoch und griff ganz instinktiv nach ihrem Schwert. Erst dann begriff sie vollends, wo sie war. Unwillig schlug sie Essks Hand beiseite, setzte sich mit einem Ruck auf und verlor in den weichen Kissen prompt die Balance. Essk machte eine Bewegung, als wollte sie sie auffangen, besann sich im letzten Moment eines Besseren und zog die Hand hastig wieder zurück; möglicherweise aus Furcht, sie zu verlieren.

Tally schenkte ihr einen bösem Blick, richtete sich mühsam auf und sah sich nach irgend etwas um, worauf sie ihren Zorn entladen konnte.

Sie fand es in Gestalt des zweiten Waga, der in diesem Augenblick durch die turmaufwärts führende Tür hereinkam, beide Arme mit Waffen und allerlei Gerätschaften beladen und hörbar schnaufend vor Anstrengung – was allerdings kaum auf das Gewicht seiner Last, sondern wohl eher auf die Treppenstufen zurückzuführen war, die er sich auf seinen unbeholfenen Beinen hinauf- und wieder hinabgequält hatte.

Normalerweise hätte der Anblick Tally amüsiert. Aber sie hatte auf den ungewohnt weichen Kissen schlecht geschlafen, und natürlich hatte sie geträumt, und nicht unbedingt etwas, woran sie sich gerne erinnerte.

»Was, beim Schlund, treibst du da, du Fischgesicht?« fauchte sie. »Wer hat dir befohlen, den Turm zu plündern?«

Hrhon sah sie eindeutig betroffen an, lud seine Last auf das kleine Tischchen neben der Tür ab und breitete verlegen die Arme aus. »Isss dachte... «, begann er, wurde aber sofort von Tally unterbrochen:

»Genau das ist dein Fehler, Hrhon«, sagte sie übellaunig. »Ist dir schon einmal aufgefallen, daß jeder Satz, den du mit den Worten: ich dachte beginnst, in einer Katastrophe endet?«

Hrhon war klug genug, nicht darauf zu antworten, und Tally wischte sich mit einer fahrigen Geste endgültig den letzten Schlaf aus den Augen und trat an ihm vorbei an den Tisch, um seine Beute zu begutachten.

Es handelte sich zum allergrößten Teil um Waffen – Schwerter, Dolche, Bögen und ein paar Tally unbekannte, aber sehr unangenehm aussehende Dinge, die sie nicht einmal in die Hand hätte nehmen können, ohne Gefahr zu laufen, ein paar Finger zu verlieren. Aber es gab auch zwei der kleineren, fremdartigen Waffen, wie sie die beiden toten Frauen getragen hatten, und etwas, das wie ein Blasrohr aussah, dessen hinteres Ende mit einer Stütze versehen war, welche sich genau ihrer Schulter anpaßte. Tally dachte an das kopfgroße Loch, das die Waffe der Fremden unten im Nebenhaus in die Mauer geschlagen hatte, und legte das Rohr vorsichtig wieder aus der Hand.

»Woher hast du das alles?« fragte sie.

»Esss gibt eine Waffenkammer«, antwortete Hrhon.

»Dha issst nhoch mehrrr.«

Seine Worte überraschten Tally nicht sehr. Auch, wenn nur ein winziger Teil wirklich bewohnbar war – der Turm war gigantisch; groß genug, Hunderte, wenn nicht Tausende von Menschen zu beherbergen – warum also sollte es nicht auch Waffen für Hunderte von Menschen geben? Aber sie erschreckten sie; denn es erschien ihr ziemlich sinnlos, all diese Waffen hier anzuhäufen, wenn sie niemals benutzt werden sollten. Möglicherweise – nur möglicherweise, aber allein der Gedanke ließ sie frösteln – war es wirklich nur ein Zufall, daß sie den Turm so leer vorgefunden hatten. Und möglicherweise befanden sich die Besitzer all dieser stechenden und schneidenden Scheußlichkeiten bereits auf dem Weg hierher...

Sie verscheuchte den Gedanken, drehte sich mit einem Ruck vom Tisch weg und befahl Hrhon, ihr die Waffenkammer zu zeigen.

Der Waga hatte nicht übertrieben – die Waffenkammer war groß genug, eine ganze Armee auszurüsten, und nur sehr wenig von dem, was sie enthielt, war in schlechtem Zustand. Natürlich war es möglich, daß die beiden Frauen oder die Hornköpfe diese Arbeit getan hatten, schon um sich die Zeit zu vertreiben, aber das hielt Tally für nicht sehr wahrscheinlich. Aber sie behielt ihre Befürchtungen – zumindest im Moment noch – für sich, und befahl Hrhon knapp, ihr den Rest der Zimmer zu zeigen, die die beiden Frauen und ihre Kampfinsekten bewohnt hatten.

Es waren mehr, als sie erwartet hatte; im Inneren des steinernen Schwalbennestes verbarg sich ein wahres Labyrinth von Räumen – drei, vielleicht vier Dutzend Kammern unterschiedlicher Größe, von denen die meisten leer standen und seit endlosen Jahren nicht mehr benutzt worden waren, wie die dicke Staubschicht auf dem Boden bewies, aber der verbliebene Rest war noch immer gewaltig, und er war mit einem Luxus und Überfluß ausgestattet, wie ihn Tally nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Sie wurde es bald müde, all die Reichtümer und Kostbarkeiten zu zählen, die sie sah, und die fremdartigen Dinge und Gerätschaften zu bestaunen, die sie niemals zuvor erblickt hatte und deren Sinn ihr verborgen blieb. Nur eines war ihr schon nach kurzer Zeit klar: die beiden Frauen hatten wie die Könige hier gelebt – und sie waren nicht allein gewesen, jedenfalls nicht immer. Außer den Schlafzimmern der beiden Frauen gab es noch ein halbes Dutzend weiterer, kostbar ausgestatteter Gemächer, die Spuren häufiger Benutzung zeigten, und Kleider in den unterschiedlichsten Größen, die weder dem Mädchen noch der älteren Frau gepaßt haben konnten.

Nur eines fand sie nicht, so intensiv sie danach suchte – einen Hinweis auf die Herkunft der beiden Frauen. Sie fand Karten – Hunderte von Karten, säuberlich zusammengerollt und in einem deckenhohen Regal aufbewahrt –, Karten von Ländern und Städten, die sie kannte, anderen, von denen sie gehört hatte und sehr vielen, auf die keines von beiden zutraf. Aber was nutzten ihr die genauesten Karten, wenn sie nicht wußte, was sie zeigten, und die ausführlichsten und besten Bücher – von denen es gleich Tausende gab – wenn sie allesamt in einer Sprache abgefaßt waren, die sie nicht lesen konnte? Tallys Enttäuschung nahm zu, je mehr Zeit sie damit verbrachte, die Zimmer zu durchsuchen, und zugleich wuchs auch ihr Zorn. Sie fühlte sich genarrt. Wozu hatte sie all dies auf sich genommen, wenn sie jetzt nichts mit dem Preis ihrer Mühen anfangen konnte?

Es wurde Mittag, bis sie die Räumlichkeiten auch nur flüchtig durchsucht hatten, und die Sonne hatte den Zenit bereits überschritten und die zweite Hälfte ihrer Tageswanderung begonnen, als sie die Plattform an ihrem oberen Ende erreichten.

Tally zögerte unmerklich, das steinerne gut zehn mal fünfzehn Schritte messende Rechteck zu getreten; denn anders als auf dem kleinen Balkon im Turminneren gab es hier kein Geländer, sondern nur eine willkürlich gezogene Kante, hinter der ein meilentiefer Abgrund lauerte. Wären die beiden Wagas nicht gewesen, und das absurde Gefühl, in ihrer Gegenwart keine Schwäche zeigen zu dürfen, hätte sie wahrscheinlich auf der Stelle kehrt gemacht. Der Wind zerrte hier oben mit Macht an ihr, und für einen Moment hatte Tally das Gefühl, den ganzen gigantischen Turm wie ein dünnes Schilfrohr unter ihren Füßen schwanken zu spüren.

Hrhon deutete auf eine gut mannshohe Konstruktion, die aus der Mitte der Plattform herauswuchs und das Sonnenlicht reflektierte. »Dhass habhe isss entdeckt«, lispelte er. »Abher isss weisss nichht, wasss esss issst.« Tally sah den Waga fragend an, runzelte die Stirn und näherte sich dem sonderbaren Gebilde vorsichtig; so vorsichtig, wie man sich in einer feindseligen Umgebung nun einmal einem Ding näherte, von dem man nicht wußte, was es war, das aber – gelinde ausgedrückt - sonderbar aussah.

Das Gebilde war etwas größer als ein normal gewachsener Mann und stand auf drei lächerlich dünnen, mehrfach untergliederten Storchenbeinen aus Metall. Auf den allerersten Blick erinnerte es Tally an eine flache Schüssel, die auf die Kante gestellt worden war, nur daß ihre Innenseite nicht glatt war, sondern aus Tausenden und Abertausenden kleiner dreieckiger Spiegelscherben bestand, die man so angeordnet hatte, daß sie das Sonnenlicht einfingen und auf einen ganz bestimmten Punkt konzentrierten.

Tally hatte etwas Ähnliches sogar schon einmal gesehen, auch wenn es sehr sehr lange her war: mehr als fünfzehn Jahre, in Stahldorf, ihrem Geburtsort. Damals hatte einer der Männer versucht, einen Spiegel zu bauen, mit dem er das Sonnenlicht bündeln konnte, um auf diese Weise genug Hitze zu erzeugen, Eisen zu schmelzen. Das einzige Ergebnis seiner Bemühungen waren genug Brandblasen für den Rest seines Lebens gewesen, und der Umstand, daß die ganze Stadt über ihn gelacht hatte – aber die Konstruktion damals hatte dieser hier doch sehr geähnelt, nur daß das Gebilde, das Tally jetzt betrachtete, viel graziler und gleichzeitig perfekter aussah. Aber wozu mochte es dienen?

Vorsichtig umrundete Tally das stählerne Dreibein, hob die Hand und fuhr sacht mit den Fingerspitzen über die Spiegelfläche. Sie fühlte sich kalt an, obwohl die Sonne mit Macht vom Himmel schien und ihre Augen allein vom Hinsehen schmerzten. Tally überlegte einen Moment, dann gebot sie Hrhon und Essk mit einer knappen Geste, zurückzubleiben, und zog ihren Dolch aus dem Gürtel. Sie riß ein Stück aus dem Verband, der ihren Oberschenkel zierte, wickelte den Stoff locker um die Klinge und führte die Waffe am ausgestreckten Arm vor dem Spiegel entlang.

»Wasss thut Ihr?«erkundigte sich Essk.

Tally lächelte. »Paß auf«, sagte sie. »Gleich beginnt der Stoff zu brennen!«

Essk stieß ein verwundertes Zischeln aus und kam neugierig näher, und auch Hrhon trippelte ungeschickt um den Riesenspiegel herum und beugte sich vor. Nichts geschah. Tally führte den Dolch mit langsamen Kreisbewegungen vor dem gesamten Spiegel entlang, an jeder nur möglichen Stelle, an der das Sonnenlicht gebündelt werden konnte, aber der Stoff begann nicht einmal zu qualmen, geschweige denn zu brennen. Hrhon und Essk waren klug genug, keinen Laut von sich zu geben, aber Tally entgingen die bezeichnenden Blicke keineswegs, die sie sich zuwarfen, und aus ihrer anfänglichen Enttäuschung wurde Ärger, dann Wut. Zornig warf sie den Dolch zu Boden, hob die Hand und führte die Finger vor dem Spiegel entlang.

Nichts. Sie spürte nicht einmal Wärme, obwohl der Spiegel ganz genau auf die Sonne ausgerichtet war.

»Dha issst ein Sssatten«, sagte Essk plötzlich. Tally sah auf, blickte die Waga verärgert an und ließ die Hand sinken. »Wo?«

Essk deutete nach Westen, in die Wüste hinaus. »Dort«, antwortete sie. »Jessstisster fhort. Ahber gherade whar ein Sssatten dha.«

Tally blickte einen Moment lang in die Wüste hinaus. Sie konnte nichts anderes sehen als die endlosen braungelben Sandwogender Gehran, aber sie wußte, daß Essk sich nicht getäuscht hatte. Wenn sie behauptete, einen Schatten gesehen zu haben, dann hatte sie einen Schatten gesehen. Tallys Ärger machte von einer Sekunde auf die andere Erregung Platz. »Was war es?« fragte sie. »Ein Reiter?« Essk versuchte ein Kopfschütteln zu imitieren und verlor dabei fast das Gleichgewicht. »Nein«, sagte sie. »Etwasss Grosssesss. Sssehr gros.«

Für den Bruchteil einer Sekunde sah Tally gigantische Schwingen, auf denen der Tod ritt. Aber wirklich nur für eine Sekunde – die beiden Wagas wußten zehnmal besser als sie, wie die Drachen aussahen.

»Esss verssschwand, alsss Ihr...« begann Essk, brach dann plötzlich ab und hob mühsam den Arm in Kopfhöhe. Ihre dreifingrige Hand huschte ungeschickt über den Spiegel.

Fünf Meilen westlich des Turms erschien ein gigantisches finsteres Etwas über der Wüste.

»Beim Schlund!« keuchte Tally. »Was...«

Essk ließ die Hand sinken, stieß einen zischelnden, verwunderten Laut aus und hob abermals den Arm. Wieder erschien der Schatten über der Wüste, riesig, schwarz, zitternd und mit verschwommenen Rändern, die zu pulsieren schienen – aber es war eindeutig der Schatten einer Hand; einer gigantischen, dreifingrigen Hand, so kompakt und plump, daß sie beinahe verkrüppelt wirkte.

Tally fuhr herum, stieß Essk grob beiseite und hob selbst noch einmal die Hand vor den Spiegel.

Ihr Schatten erschien fünf Meilen weiter im Westen, zehntausendfach vergrößert und flackernd, ein gigantischer Dämon, der aus dem Nichts kam und selbst einen Schatten warf, der wie eine riesige fünfbeinige Spinne über die Dünentäler und –kämme kroch, eine Meile groß. Und plötzlich begriff Tally.

Eine Sekunde lang lähmte sie der Gedanke, denn wenn ihre Vermutung stimmte, dann...

Langsam, ganz langsam, als müsse sie gegen einen unsichtbaren zähen Widerstand ankämpfen, ließ sie die Hand sinken, sah dem Erlöschen des Riesenschattens zu und drehte sich zu Hrhon um.

»Die Karten«, sagte sie. »Geh hinunter und hol' mir ein paar von den Karten, Hrhon. Schnell.«

Das Sprechen fiel ihr schwer. Ihr Verdacht war kein Verdacht mehr, sondern Gewißheit – es war alles so klar und einleuchtend, daß es einfach keine andere Erklärung geben konnte. Aber etwas in ihr weigerte sich einfach, sie als wahr anzuerkennen, denn wenn sie es täte, müßte sie gleichzeitig zugeben, daß alles noch viel sinnloser gewesen war, als sie bisher geglaubt hatte.

Während sie darauf wartete, daß Hrhon zurückkehrte, untersuchte sie die Spiegelkonstruktion eingehender. Es gab eine Menge Dinge, die sie nicht verstand – Dutzende von Schrauben und Hebeln, mit denen der Spiegel in jede nur denkbare Richtung und Lage gedreht werden konnte, und sehr dicke Glasscheiben, die auf sonderbare Weise geschliffen waren, so daß sie alles verzerrten, was dahinter lag. Unmittelbar unter und vor dem Spiegel selbst gab es eine Art kleines Tischchen, das aus zwei metergroßen Kristallscheiben bestand, zwischen denen ein fingerbreiter Spalt war. Vorsichtig nahm sie ihren Dolch, schob die Klinge zwischen die beiden Scheiben und blickte nach Westen. Irgend etwas Riesiges, Finsteres huschte über die Dünen und verschwand, als sie die Waffe hastig zurückzog.

»Wasss isst dass, Herrin?« erkundigte sich Essk neugierig. »Sssauberei?«

Tally schüttelte zornig den Kopf. »Nein« sagte sie.

»Etwas, das schlimmer ist, Essk.«

Wütend stand sie auf, schob den Dolch in den Gürtel zurück und sah sich ungeduldig nach Hrhon um. »Warte, bis Hrhon kommt«, sagte sie. »Dann zeige ich es dir.« Aber anders als gewohnt nahm Essk ihren Befehl nicht stumm hin, sondern wich ein ganz kleines Stück von der Spiegelkonstruktion zurück. »Esss ghefällt mir nissst«, zischelte sie. »Bössse Magie.«

»Es ist keine Zauberei, du Flachkopf«, sagte Tally ärgerlich. Sie mußte sich mit aller Macht beherrschen, ihren Zorn nicht auf die Wagas abzuladen. Der Gedanke an das, was sie vor sich hatte – und das, was es bedeutete!

- trieb sie fast in den Wahnsinn.

Aber Essk beharrte auf ihrem Standpunkt. »Bössse Magie«, behauptete sie. »Isss sphüre esss. Esss mhacht mir Angssst. Nhur Magie macht Angssst.«

Tally wollte auffahren, blickte die Waga aber statt dessen nur mit einer Mischung aus Zorn und Betroffenheit an. Essk redete Unsinn – diese was-immer-es-war hatte ganz eindeutig nichts mit Magie zu tun. Und doch hatte sie vielleicht recht. Wenn auch auf eine gänzlich andere Art, als sie selbst ahnen mochte.

Es dauerte lange, bis Hrhon zurückkam. Tally bedauerte fast, nicht selbst hinuntergegangen zu sein, um die Karten zu holen; denn selbst ein Waga, der rannte, bewegte sich noch zu langsam. Zugleich aber hatte sie fast Angst vor dem Moment, in dem er zurückkam; denn wenn sich ihr Verdacht bestätigte, wenn sie sich selbst bewies, daß sie recht hatte, wie sollte sie dann noch leugnen, was nicht wahr sein durfte?

Als der Waga schließlich kam, beide Arme mit den säuberlich zusammengerollten Karten beladen, zögerte sie fast, ihm seine Last abzunehmen. Ihre Finger zitterten vor Aufregung, als sie eine der Pergamentrollen an sich nahm und das dünne Lederband löste, mit dem es verknotet war.

Vorhin, als sie diese Karten zum ersten Male in Händen gehalten hatte, waren sie ihr fast sinnlos erschienen, aber plötzlich bekam alles, was ihr so sonderbar vorgekommen war, eine entsetzliche Bedeutung: das Pergament, das so dünn war, daß das Licht hindurch schien, die verwirrenden Linien und Umrisse, mit dünnen, zitterig wirkenden, blutroten Strichen gemalt, die fremdartigen Schriftzeichen und Symbole...

Sie drängte das Entsetzen zurück, das von ihr Besitz ergreifen wollte, wandte sich mit einem Ruck um und schob die Karte zwischen die beiden Glasplatten. Draußen über der Wüste erschien ihr Spiegelbild, zehntausendfach vergrößert, und mit einem Male waren die Linien nicht mehr zitterig und unsicher, sondern Flammen, haushohe, lodernd-rote Flammen, mit denen die Götter ihre Befehle an den Himmel schrieben, waren winzige Punkte Flecke zu Bergen und Städten geworden, kaum wahrnehmbare Linien zu flammenden Küsten, die Schriftzeichen, die ihr so fremd und gleichzeitig bekannt erschienen waren, spiegelbildlich verkehrt, Worte in Flammenschrift.

Lüge! hämmerten ihre Gedanken. Alles war Lüge! Von Anfang an! Sie hatten sie belogen! Sie hatten Hraban belogen, seine Vorgänger, sie selbst. Lüge, Lüge, Lüge! Es gab keine Götter. Es hatte sie niemals gegeben. Es gab nur diesen Betrug, eine gigantische, ungeheuerliche Lüge, einen Betrug an einer ganzen Welt, der so zynisch war, daß sich etwas in Tally selbst jetzt noch weigerte, ihn als wahr zu akzeptieren. Die Erkenntnis traf sie mit einer solchen Wucht, daß sie schwankte und haltsuchend nach dem Spiegel griff. Eine schwarze Spinne huschte über die Flammenschrift der Götter draußen in der Wüste und löschte sie aus. Und irgend etwas geschah mit Tally, in diesem Moment. Was sie für Entsetzen gehalten hatte, war in Wahrheit Zorn, ein so heißer, wütender Zorn, daß sie ihn als echten körperlichen Schmerz spürte, wie einen Krampf, der jede einzelne Faser ihres Körpers zusammenzog. Sie schrie auf, riß das Schwert aus dem Gürtel und schwang die Waffe mit beiden Händen über dem Kopf. Hrhon und Essk brachten sich mit grotesk anmutenden Hüpfern in Sicherheit, als die Klinge mit furchtbarer Wucht auf die Spiegelkonstruktion herunterkrachte.

Das Gebilde zerbarst schon beim ersten Hieb, aber Tally schlug weiter und weiter auf seine Überreste ein, immer und immer wieder, bis das stählerne Dreibein verbogen und zerbrochen vor ihr lag und von dem Spiegel nichts mehr übrig war als zahllose Splitter, wie glitzernde Tränen auf der Plattform verteilt. Aber selbst dann tobte Tally noch weiter, bis sie einfach nicht mehr die Kraft hatte, das Schwert zu heben, und erschöpft auf die Knie sank.

Sie spürte kaum mehr, wie Hrhon sie nach einer Weile fast sanft am Arm in die Höhe zog und zurück in den Turm führte.

8

»Eine Maschine!« Tally ballte in hilflosem Zorn die Faust, schlug sich in die geöffnete Linke und sprang auf. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, irgend etwas zu zerstören; etwas zu packen und zu zerschlagen, irgend etwas, das ihnen gehörte, und am liebsten einen von ihnen selbst, wer immer sie sein mochten. Zornig fuhr sie herum und versetzte dem Stuhl, auf dem sie gerade noch gesessen hatte, einen so wuchtigen Tritt, daß er quer durch die Kammer flog und an der gegenüberliegenden Wand zerbrach. Ihre Wut sank dadurch um keinen Deut; ganz im Gegenteil fühlte sie sich eher noch hilfloser – und zorniger – als zuvor.

Es war dunkel geworden. Tally hatte den Rest des Tages im Inneren des Turmes verbracht, zum Teil mit dumpfem vor-sich-Hinbrüten und zum Teil mit etwas, das ihrem Naturell weitaus mehr entsprach: mit Toben. Selbst die beiden Wagas, die ihre Wutanfälle seit mehr als einem Jahrzehnt gewohnt waren, hatten viel von ihrer stoischen Ruhe verloren und wurden zusehends nervöser. Vor einer Weile hatte Hrhon den Raum verlassen, um – wie er gesagt hatte – oben auf dem Turm nach dem Rechten zu sehen. Tally wußte nicht, was es dort oben außer dem Nachthimmel zu sehen gab, aber sie wußte auch, daß es nur eine Ausflucht des Waga war – nein, in Wahrheit hatte sich Hrhon zurückgezogen, weil er sie noch niemals in einem Zustand wie jetzt erlebt hatte. Genau genommen hatte das niemand, nicht einmal Tally selbst, und hätte sie noch genug Selbstbeherrschung besessen, es überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, wäre sie wahrscheinlich vor sich selbst erschrocken.

Aber sie konnte nicht anders als so reagieren, zum einen, weil sie nicht Tally gewesen wäre, hätte sie ihrem Zorn nicht Luft gemacht, und zum anderen, weil sie wahrscheinlich den Verstand verloren hätte, hätte sie sich ruhig hingesetzt und über die Konsequenzen ihres Fundes nachgedacht.

Eine Maschine! Die Götterschrift am Himmel war nichts als das Werk einer Maschine gewesen! Wieder spürte sie Wut, eine unbezwingbare, kochende Wut, zum vielleicht hundertsten Male, seit sie den Spiegel entdeckt hatten, aber so heiß wie beim allerersten Mal. Diesmal war es der Tisch, den sie zerschlug.

»Wenn Ihr ssso wheithermacht«, sagte Essk, »wherdet Ihr auhf dem Bodhen ssslafen müssen.«

Tally fuhr herum, die Hand gehoben, um die Waga zu schlagen. Aber sie führte die Bewegung nicht zu Ende, als sie begriff, daß Essks Worte nicht spöttisch gemeint waren. Sie wußte nicht, ob ein Waga überhaupt wußte, was das Wort Humor oder gar Sarkasmus überhaupt bedeutete – Essk jedenfalls meinte genau das, was sie sagte, und sie hatte recht damit. Wütend ließ sie den Arm sinken, drehte sich herum und versetzte den Überresten des Tisches einen Tritt.

»Issst esss ssso ssslimm?« lispelte Essk.

»Schliaun?« Tally schnaubte. »Schlimm?« wiederholte sie. Essks Frage kam reichlich spät – nach Stunden, die sie nichts anderes getan hatte, als zu Toben und Schreien. Außerdem wußte sie keine wirkliche Antwort darauf. War es schlimm? Nein, schlimm nicht. Es war... es war unvorstellbar. Es war grausam und höhnisch und zynischer als alles, was sie sich vorstellen konnte. Und wer immer dafür verantwortlich war, er würde dafür bezahlen.

»Es war eine Maschine, Essk«, sagte sie schließlich.

»Begreifst du nicht? Hrabans Götterschrift war nichts als das Werk eines albernen Spiegels!«

»Ich weisss«, lispelte die Waga. »Bössse Magie.«

»Nenn es, wie du willst, du Fischgesicht, aber es war eine Maschine«, fauchte Tally. »Begreifst du nicht, was das bedeutet? Dieses... dieses Ding. Dieser verdammte Turm hier. Diese Waffe!« Sie ließ die Hand auf die Waffe der Toten klatschen, die sie noch immer im Gürtel trug. Welche Närrin war sie doch gewesen! dachte sie. Schon der Anblick dieses schrecklichen Dinges, das wie ein Kinderspielzeug aussah und kopfgroße Löcher in massiven Fels brannte, hätte ihr die Augen öffnen müssen.

»Wasss issst ssso ssslimm dharhan?« fragte Essk ruhig.

»Was daran schlimm ist?« Tally unterdrückte im letzten Moment einen Schrei. »Begreifst du das wirklich nicht, Essk?« fragte sie. Erregt trat sie auf Essk zu, packte sie bei den Schultern und versuchte vergeblich, ihre vierhundert Pfund zu schütteln. »Sie... sie haben meine Stadt niedergebrannt, weil wir Stahl geschmolzen haben! Wir haben Städte vernichtet, weil ihre Menschen eine harmlose Wassermühle bauten, nur um etwas weniger Arbeit zu haben! Wir haben ganze Völker ausgelöscht, weil sie Maschinen gebaut haben! Seit... seit zehn Jahren bin ich eure Führerin, und seit zehn Jahren sorge ich dafür, daß auf dieser Welt niemals Maschinen erfunden werden! Und die, für die ich es tue, benutzen sie selbst!«

Bei den letzten Worten hatte sie wieder geschrien, aber die Waga schien ihren Zorn gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Zumindest verstand sie ihn nicht. »Dasss issst logisch«, antwortete sie ruhig. »Sssie thun esss, weil sssie sssie fürchten. Und man fürchtet nichtsss, dasss man nicht khennt.«

»Natürlich!« fauchte Tally. »Aber ich...« Sie brach mitten im Wort ab, starrte die Waga mit großen Augen an und trat einen halben Schritt zurück. »Was... was hast du gesagt?« murmelte sie.

»Dasss sssie sssie fürchten«, wiederholte Essk.

»Und man fürchtet nichts, was man nicht kennt«, fügte Tally leise hinzu. Für einen Moment wich ihr Zorn einer tiefen, mit Entsetzen gepaarten Verwirrung.

»Du... du hast es gewußt«, murmelte sie.

»Nicht gewussst«, antwortete Essk. »Aber gheahnt. Esss issst logisch.«

»Aber... aber warum hast du niemals... niemals etwas gesagt?« stammelte Tally. »Oder Hrhon?«

»Ihr habt nicht ghefragt«, antwortete Essk ruhig. Tally starrte sie an. Sie wollte irgend etwas sagen, etwas tun – aber sie konnte es nicht. Seit fünfzehn Jahren kannte sie die beiden Wagas, aber sie hatte tatsächlich niemals auch nur ein persönliches Wort mit ihnen gewechselt, zumindest nicht mehr seit der Zeit, seit sie Hrabans Frau und wenig später seine Witwe und Nachfolgerin geworden war. Für sie – wie für übrigens alle anderen Mitglieder der Sippe auch – waren die beiden Wagas nur große, sehr zuverlässige und sehr starke Diener gewesen, im Grunde selbst nicht viel mehr als Maschinen, auf die man sich verließ, denen man aber keine eigene Persönlichkeit zubilligte.

Tally hatte plötzlich ein starkes Gefühl von Scham. Wäre der Sandsturm nicht gewesen, dann würde sie Essk und Hrhon noch jetzt als nichts anderes als Sklaven behandeln. Sie fragte sich, wie viel Dinge noch so offensichtlich vor ihrer Nase herumliegen mochten, ohne daß sie sie bisher auch nur bemerkt hatte.

»Und es war euch... egal?« fragte sie stockend. »All die Toten, all die verwüsteten Städte und Länder... das alles war euch gleich? «

»Esss isst Euer Krieg«, antwortete Essk gleichmütig.

»Nhur Mensssen bauen Masssinen. Und nhur Mensssen thöten Mensssen ohne Grund.«

Tally starrte sie betroffen an. Und plötzlich war sie es, die sich als die Unterlegene vorkam. Aus den Worten der Waga sprach eine solche Weisheit, daß sie sich für einen Moment allen Ernstes fragte, wer von ihnen nun das Tier und wer die überlegene Rasse der Schöpfung war. Aber dann meldete sich in ihr wieder die alte Tally und machte ihr klar, daß sie mit einer fischgesichtigen Waga sprach, die vor ein paar hundert Jahren aus einem Bau gekrochen und im Schlamm aufgewachsen war, bis sie auf Menschen traf, die ihr Sprechen und Denken beigebracht hatten. Essk war uralt und hatte vor Tally Hraban und vor Hraban schon einem Dutzend anderen gedient, und wahrscheinlich hatte sie diesen Unsinn irgendwann einmal aufgeschnappt und sich gemerkt, um ihn im richtigen Moment anzubringen.

Hrhons Rückkehr bewahrte Essk vor der verletzenden Antwort, die Tally auf der Zunge lag. Der Waga polterte lautstark die Treppe herunter, und obwohl sein Gesicht weiterhin ausdruckslos wie ein alter Schuh blieb, spürte Tally sofort die Erregung, die von ihm Besitz ergriffen hatte. »Jhemand khommt!« keuchte er.

»Jemand?« Tallys Hand glitt zum Schwert, ohne daß sie es auch nur bemerkte. »Wer? Wo?«

Hrhon machte eine ungeschickte Geste nach oben.

»Dort. Drei. Vhielleicht vhier. Ich khonnte nicht ghenau sssehen, was...«

Tally hörte nicht mehr, was Hrhon nicht genau hatte sehen können, denn sie war bereits an ihm vorbei,und rannte, immer zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf.

Keuchend erreichte sie die kleine Plattform am abgebrochenen oberen Ende des Turmes, blieb stehen und richtete den Blick nach Norden.

Es waren drei. Sie waren noch weit entfernt, zahllose Meilen, und so hoch, daß sie nur als winzige dunkle Punkte vor dem nicht ganz so dunklen Blau des Nachthimmels auszumachen waren, und auch das eigentlich nur, weil sie sich bewegten. Das Schlagen ihrer gigantischen schwarzen Schwingen war nicht mehr als ein Flackern, das dumpfe Rauschen und der durchdringende Drachengestank existierten nur in Tallys Phantasie, und die krächzenden Schreie, die sie zu hören glaubte, waren ihre eigenen, keuchenden Atemzüge.

Sie kamen! Sie würde sie sehen, nicht als verschwommene Schatten in der Nacht, nicht als schwarze Drohung, die nur zu ahnen und nicht wirklich zu erkennen war, sondern unmittelbar. Sie würde einer von ihnen gegenüberstehen, Auge in Auge.

Tallys Handflächen wurden feucht vor Schweiß. Ihr Herz schlug plötzlich sehr langsam, aber so schwer wie ein Hammerwerk. Wieder glitt ihre Hand zum Schwert und schmiegte sich um den lederumwickelten Griff, aber diesmal war es, als müsse sie sich daran festhalten, um nicht vollends die Verbindung zur Wirklichkeit zu verlieren. Für einen Moment begannen die Umrisse der drei Drachen vor ihren Augen zu verschwimmen. Wie lange hatte sie auf diesen Augenblick gewartet? Jahre? Zehn Jahre mindestens, seit dem Tage, an dem Hraban sie das erste Mal mit hierher in die Wüste genommen und sie das Geheimnis der Flammenschrift kennengelernt hatte. Aber in Wahrheit war es wohl weit mehr. Im Grunde hatte sie jede Sekunde der letzten fünfzehn Jahre auf diesen Augenblick gewartet, jeden Atemzug, den sie getan hatte, seit jener Nacht, als sie aus dem Wald trat und die verbrannte Stadt ihrer Kindheit unter sich liegen sah. Im Grunde war keine Sekunde in all diesen Jahren vergangen, in der sie nicht für ihre Rache gelebt hatte. Und jetzt würde sie sie vollziehen.

Einer der beiden Wagas trat schnaubend hinter ihr auf die Plattform, und als sie sich umwandte, erkannte sie Hrhon. In der Dunkelheit war er nicht mehr als ein massiger schwarzer Schatten, in dem nur die Augen von glitzerndem Leben erfüllt waren. Aber sein Erscheinen riß Tally abrupt in die Wirklichkeit zurück. Plötzlich wurde sie sich des eigenen Umstandes bewußt, daß vielleicht mehr dazu gehörte, Rache zu nehmen, als dazustehen und zu warten, daß ihre Feinde eintrafen – wie zum Beispiel die Kleinigkeit, dieses Eintreffen auch zu überleben...

»Zurück«, befahl sie grob. »Wir müssen uns irgendwo verstecken. Rasch jetzt – sie werden gleich da sein.« Hrhon gehorchte schweigend, aber bevor er sich umdrehte, warf er noch einen letzten Blick auf die drei gigantischen schwarzen Schatten am Himmel, die sich dem Turm näherten. Tally war sich der Tatsache durchaus bewußt, daß es vollkommen unmöglich war – aber für einen kurzen Moment war sie vollkommen sicher, auf dem Gesicht des Waga einen Ausdruck nackter Angst zu sehen.

Sie verscheuchte den Gedanken, gab Hrhon einen unsanften Stoß in den Rücken und hetzte hinter ihm die Treppe hinunter.

9

Sie waren wieder im Balkonzimmer, dem vorletzten vor dem Quartier der Hornköpfe. Tally sah sich unschlüssig um. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, sich einfach unter dem Bett zu verkriechen und die beiden Wagas hinter dem Vorhang zu postieren, aber sie verwarf die Idee so schnell wieder, wie sie ihr gekommen war. Es hatte keinen großen Sinn, Fallen zu stellen, wenn sie nicht einmal wußte, mit wie vielen Feinden sie zu rechnen hatten. Die Drachen waren groß genug, ein halbes Dutzend Reiter zu tragen – pro Tier. Aber es mochte ebensogut nur einer sein. Nein – sie mußten erst wissen, mit wem sie es überhaupt zu tun hatten, ehe sie überlegen konnten, wie sie vorgingen.

Aber das war leichter gesagt als getan; denn obgleich es mehrere Dutzend Kammern und Zimmer gab, waren die meisten davon leer, und auch die bewohnten Teile des Quartiers boten wenige Möglichkeiten, einen Menschen und zwei Wagas zu verbergen, sah man von so intelligenten Verstecken wie Kleiderschränken und Vorhängen ab, hinter denen die Neuankömmlinge garantiert sofort nachsehen würden. Sie hätten schon blind und vollkommen schwachsinnig zugleich sein müssen, um nicht zu bemerken, daß hier irgend etwas nicht so war, wie es sein sollte – ganz abgesehen davon, daß die beiden rechtmäßigen Bewohnerinnen des Turmes nicht da waren, mußte ihnen der zerstörte Spiegel oben auf der Plattform auffallen, noch bevor sie landeten. Tally verfluchte sich im Nachhinein für ihre eigene Unbeherrschtheit, den Spiegel zerschlagen zu haben. Aber jetzt war es zu spät, den Fehler wiedergutzumachen; ihnen blieben noch zehn Minuten, allerhöchstens.

Tally warf einen raschen, nervösen Blick zur Tür, schob das Schwert in den Gürtel zurück, das sie ganz instinktiv gezogen hatte, und schlug den schweren Samtvorhang zur Seite, der den Durchgang zum Balkon verbarg. Der Wind schlug ihr wie eine eisige Kralle ins Gesicht und ließ sie blinzeln. Jetzt, mitten in der Nacht, wirkte das Innere des Turmes wie ein bodenloser Schlund, der nur darauf wartete, daß sie ihm zu nahe kam und an dessen Grund etwas namenlos Böses, Körperloses lauerte.

Trotzdem trat sie nach kurzem Zögern ganz an das Geländer heran, legte die Hände auf das kalte Eisen und beugte sich vor, so weit sie konnte. Der Sog des Abgrundes wurde stärker. Für einen Moment mußte sie all ihre Willenskraft aufbieten, um ihm nicht einfach nachzugeben und sich nach vorne fallen zu lassen.

Es war schwer, in der herrschenden Dunkelheit überhaupt etwas zu erkennen, aber nachdem sich ihre Augen einmal an das schwache Licht gewöhnt hatten, sah sie genau das, was zu sehen sie gehofft hatte: der Balkon war nicht als freitragende Konstruktion gebaut, sondern wurde von drei mächtigen, schräg aus der Wand ragenden Balken gestützt. Und mit einigem Geschick mußte es möglich sein, über die Brüstung zu klettern und auf diesen Balken sicheren Halt zu finden.

Sie richtete sich auf, winkte Hrhon und Essk zu sich und erklärte ihnen ihren Plan. Hrhon schwieg, wie fast immer, wenn sie ihm einen Befehl erteilte, während seine Gefährtin sichtlich erschrocken zusammenfuhr und einen zischelnden Laut von sich gab.

»Ich weiß, daß es gefährlich ist«, sagte Tally. »Aber es ist die einzige Möglichkeit. Wenn sie euch beide hier finden, können sie sich den Rest der Geschichte an den Fingern einer Hand abzählen. Ihr versteckt euch hier, bis ich euch rufe.«

»Uhnd Ihr, Herrin?« fragte Hrhon.

»Ich werde sie hier erwarten«, antwortete Tally. »Ich bin allein und stelle keine unmittelbare Gefahr für sie dar. Vielleicht erfahre ich auf diese Weise mehr, als wenn wir gleich über sie herfallen.«

»Ein ghuter Plan«, stimmte Hrhon nach kurzem Überlegen zu. »Abher ghefhärlich.«

Tally warf einen schrägen Blick auf das Balkongitter und fragte sich, wie Hrhons Worte wohl wirklich gemeint waren. Selbst für einen geschickten Kletterer wie sie war es nicht ohne Risiko, über die Brüstung zu steigen und sich auf den Balken festzuklammern – für ein Wesen wie Hrhon grenzte es an Selbstmord. Tally schalt sich in Gedanken eine Närrin, die Zeit nicht genutzt zu haben, sich nach einem besseren Versteck umzusehen.

»Schnell jetzt«, sagte sie, ohne direkt auf Hrhons Worte einzugehen. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.« Hrhon zögerte noch einmal – wenn auch fast unmerklich – stieß ein resignierendes Grunzen aus und begann schnaubend und keuchend über die Brüstung zu steigen. Der Balkon ächzte unter seinem Gewicht, und Tally sah, wie sich das zollstarke Eisen des Gitters verbog, als Hrhon darüber kletterte und mit entnervender Langsamkeit damit begann, sich Hand über Hand in die Tiefe zu hangeln.

Es wurde zu einen Wettlauf gegen die Zeit. Sie gewannen ihn, wenn auch so knapp, wie es überhaupt nur denkbar war – nach Hrhon stieg auch Essk über die Brüstung, aber ihr flaches Echsengesicht war kaum am unteren Rand des Gitters verschwunden, als der erste der drei gigantischen schwarzen Schatten über dem Turm erschien.

Tally trat mit einem hastigen Schritt zurück und spähte durch einen Spalt im Vorhang nach oben. Sie sah auf diese Weise nur noch einen handbreiten Ausschnitt des Himmels, aber sie wußte nicht, wie es um die Sehkraft der Drachen bestellt war – schließlich waren es Nachttiere – und wollte nicht das Risiko eingehen, vorzeitig entdeckt zu werden.

Und sie sah auch genug. Der gigantische Schatten, der den Himmel verdunkelt hatte, verschwand wieder, aber nur, um gleich darauf von einem zweiten, womöglich noch größeren, finsteren Etwas abgelöst zu werden, das den Himmel und die Sterne auslöschte und sich tiefer und tiefer auf die Turmspitze herabsenkte, bis Tally den Eindruck hatte, eine Glocke aus geronnener Schwärze habe sich über die Wüste gestülpt. Rote, im Verhältnis zur Körpergröße des Tieres lächerlich kleine Augen blinzelten zu ihr herab; die drei Reiter, die im Nacken des fliegenden Ungeheuers hockten, sahen aus wie Spielzeuge. Der Drache sank tiefer, schlug einmal fast gemächlich mit seinen gigantischen Flügeln und gewann noch einmal kurz an Höhe, ehe er vollends auf den Turm herabsank.

Das ganze, ungeheuerliche Gebäude erbebte, als sich das Monstrum auf seiner Spitze niederließ, halb aufgerichtet, die Schwingen wie eine zu groß geratene Fledermaus an den Körper gefaltet und den Hals fast grotesk vorgebeugt, damit seine Reiter nicht den Halt verloren und sich eine Meile tiefer die eigenen Hälse brachen. Es war ungeheuerlich. Tally sah nur Schatten, schwarze Umrisse, gegen das Samtblau des Himmels, aber vielleicht machte gerade das den Anblick nur um so eindrucksvoller. Nach dem ersten Drachen landete der zweite, trotz seiner jede Vorstellung sprengenden Größe fast graziös und kurz darauf – sie sah es nicht, aber sie spürte, wie der Turm unter ihren Füßen ein drittes Mal ganz sacht erzitterte – das letzte Tier.

Ein schwer in Worte zu fassendes Gefühl von Ehrfurcht ergriff von Tally Besitz, trotz ihres Zornes und all des aufgestauten Hasses von mehr als anderthalb Jahrzehnten. Es war das erste Mal, daß sie die Drachen aus solcher Nähe sah, und trotz allem war alles, was sie empfand, Bewunderung, ein Schaudern angesichts der ungeheuerlichen Macht, die diese Tiere ausstrahlten, aber auch ihrer Schönheit und Grazie.

Tally hatte viele große Tiere gesehen – und einige davon waren wirklich groß gewesen – aber keines davon hatte auch nur annähernd die Größe dieser drei Drachen. Und es war nichts Plumpes oder gar Schwerfälliges an diesen schwarzgeschuppten Riesen; ganz im Gegenteil. Trotz ihrer Größe wirkten sie graziös, majestätisch und... ja, irgendwie leicht, wie sie so dahockten, leicht nach vorne gebeugt, manchmal die Flügel bewegend, um auf dem schmalen Grat die Balance zu halten, wie übergroße Raben, die auf einem Dachfirst saßen und ihr Gefieder schüttelten.

Nacheinander begannen die Reiter abzusteigen. Ihre Bewegungen wirkten grotesk; fast wie die von Ameisen, die über den Rücken eines Giganten krabbelten, und trotz der großen Entfernung konnte Tally die Unsicherheit und Vorsicht erkennen, die ihnen innewohnte. Und dann geschah etwas, womit Tally fast gerechnet hatte, und das sie doch zutiefst erschreckte: kaum waren die Reiter vom Rücken des ersten Drachen heruntergestiegen, spreizte das Ungeheuer die Flügel, ließ sich nach vorne kippen – und stürzte senkrecht in den Turm hinab; ein schwarzer Koloß, dessen nur halb aufgespannten Schwingen um ein Haar die Wände berührten.

Der Sturmwind, der dem Koloß hinterherfauchte, trieb Tally zurück ins Zimmer. Sie taumelte ein paar Schritte zurück, hob schützend die Hände vors Gesicht und krümmte sich, als der schwere Samtvorhang wie eine übergroße Hand nach ihr schlug. Dann kam sie endlich auf die Idee, zur Seite zu treten – und keinen Moment zu früh, wie sich zeigte, denn kaum war der Luftsog ein wenig schwächer geworden, stürzte der zweite Drache in den Turm hinab, jetzt nicht mehr als eine Faust aus Schwärze, die vor dem Balkon vorbeirauschte.

Voller Schrecken dachte sie an Hrhon und Essk, die dem heulenden Luftsog schutzlos ausgeliefert waren. Aber sie wagte es nicht, noch einmal hinauszugehen und nach den beiden Wagas zu sehen.

Statt dessen drehte sie sich herum, ging nach kurzem Überlegen zu dem verwüsteten Bett und kuschelte sich an sein Kopfende. Sie zog die Knie an den Körper, zog ein Stück der zerfetzten Decke über die Beine und legte das Schwert griffbereit neben sich, die Hand auf der ledernen Scheide. Den Kopf lehnte sie in einer bewußt unbequemen Stellung an den Bettpfosten; ganz die Haltung eines Menschen, der sich nur ein wenig hatte ausruhen wollen und dabei unversehens eingeschlafen war. Sie wartete. Und sie betete zu allen Göttern, die sie kannte – und vorsichtshalber auch gleich zu allen, von denen sie noch nie gehört hatte –, daß ihre Rechnung aufgehen und die Drachenreiter sie nicht gleich töten, sondern erst mit ihr reden würden.

Nach einer Weile hörte sie Schritte, dann Stimmen: die Stimmen von zwei, möglicherweise auch drei Menschen, die sich in einer ihr unbekannten Sprache unterhielten, und die Schritte harter Stiefelsohlen auf Stein; dazwischen ein helles, unangenehmes Schleifen und Rascheln, als krabbelten eine Million Spinnen über eine gewaltige Glasscheibe. Tallys Herz begann zu jagen. Plötzlich hatte sie Angst, ganz entsetzliche Angst. Und plötzlich fielen ihr mindestens tausend verschiedene Gründe ein, aus denen ihr Plan gar nicht aufgehen konnte.

Aber es war zu spät. Die Stimmen und Schritte kamen näher, brachen plötzlich ab – und dann hörte Tally einen überraschten Schrei, dicht gefolgt von einem Laut, den sie nur zu gut kannte: dem hellen Sirren, mit dem ein Schwert aus der Scheide glitt.

Es kostete sie all ihre Überwindung, nicht mit einem blitzschnellen Satz auf- und herumzufahren, sondern so zu tun, als wache sie in diesem Augenblick auf und wäre noch benommen vom Schlaf. Unsicher hob sie die linke Hand, fuhr sich damit über die Augen und drehte gleichzeitig den Kopf.

Das erste, was sie sah, war eine Schwertspitze, die genau auf ihr Gesicht deutete, dann eine zweite, die sich ihrer Brust bis auf wenige Zentimeter genähert hatte und dicht über ihrem Herzen verharrte. Die dritte Frau hatte einer jener seltsamen kleinen Waffen gezogen und zielte damit auf ihre Stirn. Tally sah, daß im Griffstück der Waffe ein winziges rotes Licht glomm.

»Wer bist du?« fragte eine herrische Stimme. »Was tust du hier, und was ist hier geschehen?«

Tally wäre nicht einmal dazu gekommen, zu antworten, wenn sie es gewollt hätte, denn im gleichen Augenblick wurde eines der Schwerter gesenkt, und eine Hand packte sie an der Schulter und riß sie grob in die Höhe. Sie strauchelte, prallte unsicher gegen die Wand und glitt aus, aber die gleiche Hand, die sie zuvor gestoßen hatte, fing sie nun auf – wenn auch nur, um sie abermals gegen die Wand zu stoßen und gleich darauf in Form einer kräftigen Ohrfeige auf ihre linke Wange zu klatschen.

»Wer du bist, habe ich gefragt!«

Tally hob angstvoll die Hände vor das Gesicht. Alles war so schnell gegangen, daß sie erst jetzt richtig sah, mit wem sie es zu tun hatte: es waren drei Frauen, alle etwa gleich groß, etwa im gleichen Alter und auf die gleiche Weise gekleidet – in schwarzes, nahezu hauteng anliegendes Leder, das ihre Körper fast völlig einhüllte und nur einen handgroßen Ausschnitt ihrer Gesichter freiließ. Aus einer dieser Ausschnitte funkelten sie nun ein Paar schwarzer, sehr zorniger Augen an.

»Ich habe dich gefragt, wer du bist!« Wieder hob sich die schwarzbehandschuhte Hand, um sie zu schlagen, aber diesmal wurde die Fremde von einer der beiden anderen Frauen zurückgehalten.

»Laß sie, Maya«, sagte sie scharf. »Wir klären das später. Zuerst müssen wir herausfinden, was hier geschehen ist.«

Sie unterstrich ihre Worte mit einer befehlenden, schnellen Geste, drehte sich herum und hob die linke Hand vor die Lippen, um einen schrillen, trällernden Laut zu produzieren. Einen Augenblick später traten vier gewaltige Hornköpfe in den Raum, alle vier hoch beladen mit Säcken und schweren, in Tuch eingeschlagenen Bündeln.

Tally schrie vor Schrecken auf, als sie die Ungeheuer sah. Zwei von ihnen waren Ameisenabkömmlinge, wie sie an den kräftigen, dreifach gegliederten Körpern und den großen Augen erkannte, in denen eine tückische Intelligenz zu schlummern schien. Die dritte war eine jener gigantischen Beterinnen, wie sie Hrhon und Essk am Vortage getötet hatten. Das vierte Ungeheuer schließlich gehörte einer Spezies an, wie es Tally noch niemals zuvor gesehen hatte. Es war ihr unmöglich, das gepanzerte, vielgliedrige Ding auch nur annähernd zu beschreiben – aber es war so groß, daß es Mühe hatte, sich geduckt und schräg gehend durch die Tür zu schieben, und schien nur aus Panzerplatten und Dornen zu bestehen. Tally dankte im Stillen den Göttern, daß sie am vergangenen Abend nicht auf eines dieser Ungeheuer gestoßen waren – nach einem Zusammenprall mit dieser Bestie mußten selbst die beiden Wagas aussehen, als wären sie nach fünf Meilen Anlauf in einen Riesenkaktus gerannt. Sie merkte sich die Bestie als denjenigen ihrer Gegner vor, die sie zuerst töten würde.

Die Frau, bei der es sich offensichtlich um die Anführerin der Gruppe handelte, wechselte eine Folge schneller, pfeifender Klick- und Schnalzlaute mit den Hornköpfen und deutete dabei abwechselnd auf Tally, sich selbst und den nach unten führenden Durchgang. Die Blicke des Rieseninsektes hefteten sich für einen kurzen Moment auf Tallys Gesicht, und obwohl es wenig mehr als eine Sekunde dauerte, war es doch das Unangenehmste, was sie jemals erlebt hatte – und das Erschreckendste. Es war kein Tier.

Tally war zahllosen Hornköpfen begegnet, seit sie bei Hraban und der Sippe lebte, und manche davon hatten dieses Scheusal an bizarrem Aussehen noch in den Schatten gestellt – aber sie alle waren Tiere gewesen, stumpfsinnige Kreaturen, die kaum einen eigenen Willen besaßen und nicht zu bewußtem Denken in der Lage waren. Dieser Hornkopf war anders.

Seine faustgroßen Facettenaugen waren ausdruckslos und starr wie die aller Insekten, und doch spürte Tally mit unerschütterlicher Gewißheit, daß sie einem denkenden Wesen gegenüberstand, keinem zu groß geratenen Insekt, dessen Gehirn vergessen hatte, mit dem Körper mitzuwachsen.

Es war ihr unmöglich, sich dem Blick dieser Augen zu entziehen. Die starren, in allen Farben des Regenbogens funkelnden kristallenen Halbkugeln lähmten sie, und es war etwas... saugendes in ihrem Blick, etwas, als griffe eine unsichtbare Kralle blitzartig in Tallys Kopf und drehte das Unterste ihrer Gedanken zuoberst. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Tally die entsetzliche Vorstellung, daß das Ungeheuer ein natürlicher Telepath sein könne, und daß ihr Plan im gleichen Moment zum Scheitern verurteilt war, in dem es sie ansah.

Aber dann löste sich der Blick dieser entsetzlichen Kristallaugen von ihr, und der schwarzglänzende Gigant wandte sich wieder um und beugte sich zu der Menschenfrau herab, die ihm Befehle erteilte. Tally atmete erleichtert auf. Ihre Knie zitterten so heftig, daß sie sich gegen die Wand lehnen mußte, gegen die Maya sie gestoßen hatte.

»Du bewachst sie!« befahl die Frau Maya. »Wir sehen uns ein wenig um. Und kein Wort!«

Maya nickte, wenn Tally ihr auch ansah, daß ihr zumindest der zweite Teil des Befehles nicht sonderlich behagte. Das zornige Funkeln in ihren Augen war etwas, was Tally nur zu gut kannte; statt sie einfach nur zu bewachen, hätte Maya wohl nichts lieber getan, als die Antworten auf ihre Fragen aus ihr herauszuprügeln. Aber sie widersprach mit keinem Wort, sondern trat nur einen Schritt zurück, tauschte das Schwert in ihrer Hand gegen eine der kleinen Waffen und durchbohrte Tally mit Blicken, während die beiden anderen Frauen und die Hornköpfe die Kammer wieder verließen – eine in der Richtung, aus der sie gekommen waren, die andere durch die turmabwärts führende Tür. Ihre Schritte verklangen rasch auf dem steinernen Boden.

»Wer... wer seid Ihr, Herrin?« fragte Tally, nachdem sie allein waren. Ihre Stimme zitterte vor Aufregung, was Maya mit Sicherheit für Angst halten würde. Tally war es nur recht – letztendlich spielte sie die Ahnungslose, die im Schlaf überrascht worden war und noch gar nicht so recht begriff, wie ihr geschah. »Seid Ihr... gehört Ihr zu denen, die diesen Turm...«

»Halt den Mund«, unterbrach sie Maya grob. »Wir reden, wenn Lyss zurück ist. Bis dahin hast du Zeit, dir ein paar plausible Erklärungen für das hier...« Sie machte eine weit ausholende Bewegung mit der freien Hand, »... einfallen zu lassen.«

Tally verstummte gehorsam. Maya schien gehörigen Respekt vor dieser Lyss zu haben, wenn sie ihre Befehle selbst dann befolgte, wenn diese nicht dabei war. Zweifellos war Lyss die Führerin der kleinen Gruppe, und daß sie Maya daran gehindert hatte, Tally zu schlagen, hieß noch lange nicht, daß sie die Sanftmütigere von beiden war. Tally überlegte einen Augenblick, was sie wohl mit jemandem tun würde, den sie umgekehrt in ihrem Haus vorfinden würde, noch dazu, wenn dieses gründlich verwüstet und alle seine Bewohner erschlagen worden waren. Das Ergebnis, zu dem sie kam, gefiel ihr nicht sonderlich. Maya wich einen weiteren Schritt zurück, ließ sich auf die Bettkante sinken und stützte sich bequem mit dem linken Arm in den weichen Kissen ab. Die Waffe in ihrer anderen Hand blieb dabei weiter auf Tallys Gesicht gerichtet; ihr Daumen strich nervös über das kleine Licht in ihrem Griff, so daß es zu blinzeln schien wie ein winziges müdes Auge.

Nicht, daß es ihr im Ernstfall viel genutzt hätte, dachte Tally spöttisch. Maya saß weniger als zwei Schritte entfernt, und in einer sehr unvorteilhaften Haltung. Eine blitzschnelle Drehung, ein Tritt, und sie würde dieser schwarzäugigen Schönheit den Lauf ihrer eigenen Waffe zwischen die Zähne oder sonst wohin schieben, ehe sie überhaupt begriff, wie ihr geschah. Natürlich tat sie es nicht – sie hatte dieses Risiko nicht auf sich genommen, um die drei Drachenreiterinnen zu töten – wenigstens jetzt noch nicht – sondern um an Informationen zu kommen. Aber allein das Wissen, es tun zu können, wenn sie es wollte, gab ihr einen guten Teil ihrer gewohnten Selbstsicherheit zurück.

Die Beterin und der schwarze Koloß waren ein Problem, die drei Frauen nicht. Sie verließen sich zu sehr auf die überlegene Macht ihrer Waffen, und das war etwas, was Tally kannte. Sie hatte eine Menge Männer und Frauen beerdigt, die diesen Fehler begangen hatten. Sie versuchte nicht mehr, ein Gespräch mit Maya zu beginnen, aber sie nutzte die Zeit, sich ihr Gegenüber zum erstenmal in Ruhe zu betrachten. Von Mayas Gesicht war nicht viel zu erkennen – die schwarze Kappe, die ihren Kopf bedeckte und nahtlos in die Schultern ihres Anzuges überging, gab ihren Zügen etwas Nonnenhaftes und machte es außerdem fast unmöglich, ihr Alter zu schätzen. Aber sie hatte jene ganz bestimmte Art zu sprechen, die den Menschen verriet, der Befehle zu erteilen gewohnt war, und in ihrem Blick lag eine Spur von Grausamkeit. Ihre Haut war sehr bleich, und ihre Lippen hatten einen ganz leichten Stich ins Bläuliche. Es mußte sehr kalt gewesen sein, dort oben am Himmel.

Das Sonderbarste an ihr aber war die Kleidung. Der schwarzglänzende Anzug schien aus einem einzigen Stück gefertigt zu sein und bedeckte ihren Körper von den Zehenspitzen bis zum Scheitel. Um ihre Hüften spannte sich ein breiter Gürtel, in dem ihr Schwert und die kleine Waffe gesteckt hatten und an dem zahllose kleine Taschen und Schnallen befestigt waren. Vor ihrer Brust hing etwas, das Tally entfernt an eine Sandmaske erinnerte, nur daß sie das ganze Gesicht Mayas bedecken mußte, denn ihr oberstes Drittel bestand aus sorgfältig geschliffenem Glas.

»Nun?« fragte Maya plötzlich. »Bist du zufrieden mit dem, was du siehst?«

»Ich... ich verstehe nicht, was Ihr meint, Herrin«, antwortete Tally schüchtern. Sie versuchte zu lächeln.

»Verzeiht, wenn ich Euch angestarrt habe. Aber...«

»Ach, halt endlich den Mund«, unterbrach sie Maya.

»Und hör auf, mich unentwegt anzuglotzen. Du...« Sie stockte. Ihre Augen wurden groß vor Schrecken, als ihr Blick auf etwas in Tallys Gürtel fiel. Plötzlich sprang sie auf, war mit einem Satz bei ihr und preßte ihr drohend die Waffe gegen den Hals, während sie Tally mit der Linken die Waffe aus dem Gürtel riß. Tally verfluchte sich in Gedanken dafür, das nutzlose Ding nicht liegengelassen oder wenigstens gut versteckt zu haben. Sie hatte sie schlichtweg vergessen – ein Fehler, der ihr jetzt möglicherweise das Leben kostete.

»Verdammt noch mal, woher hast du das?« schrie sie.

»Antworte, du Miststück, oder ich schieße dir den Schädel herunter!« Sie versetzte Tally eine schallende Ohrfeige, sprang zurück und richtete den Lauf der Waffe auf ihr linkes Auge. »Rede!« sagte sie wütend.

»Es wäre ziemlich dumm, jetzt abzudrücken, Maya«, sagte eine Stimme hinter ihr. »Aus dieser Entfernung überlebst du es wahrscheinlich selbst nicht.«

Maya fuhr betroffen zusammen, drehte sich halb herum und machte eine kleine erschrockene Bewegung, als sie Lyss erkannte, die zurückgekommen war. Sie wollte etwas sagen, aber Lyss schnitt ihr mit einer herrischen Geste das Wort ab und kam näher.

»Ich dachte, ich hätte befohlen, nicht mit ihr zu reden«, sagte sie lächelnd. »Oder wollte ich es nur und habe es vergessen?«

Lyss schluckte sichtbar. »Ihr... hattet es befohlen, Gebieterin«, sagte sie demütig. »Aber ich habe das hier bei ihr gefunden!« Sie deutete anklagend auf Tally und hielt Lyss gleichzeitig die Waffe hin, die sie ihr abgenommen hatte. Lyss betrachtete die Waffe einen Moment lang schweigend, scheuchte Maya mit einer unwilligen Geste zur Seite und trat bis auf zwei Schritte an Tally heran.

»Stimmt das?« fragte sie. Sie lächelte. Ihre Stimme hatte einen fast freundlichen Klang. Aber es war eine Freundlichkeit, hinter der sich unbarmherzige Härte verbarg. Sie lächelte, aber ihre Augen blickten kalt und hart wie Kugeln aus kunstvoll bemaltem Glas.

Tally nickte.

»Woher hast du es, Kind?« fragte Lyss. Sie lächelte noch immer.

»Gefunden«, antwortete Tally.

Lyss schlug sie; so hart, daß ihr Kopf gegen die Wand prallte und der Schmerz farbige Punkte vor ihren Augen flimmern ließ. »Bitte! « keuchte sie. »Es... es ist wahr, Herrin! Ich habe sie gefunden und eingesteckt, ohne... ohne zu wissen, was es ist.«

Lyss runzelte die Stirn, hob die Hand, wie um sie abermals zu schlagen, tat es aber dann nicht, sondern trat mit einem hörbaren Seufzen zurück und schob die schwarze Lederkappe nach hinten. Darunter kamen kurzgeschnittenes rotes Haar und das Gesicht einer vielleicht vierzigjährigen, sehr energisch aussehenden Frau zum Vorschein. Einen Moment lang sah sie Tally noch durchdringend an, dann schüttelte sie den Kopf, seufzte abermals, und fuhr sich müde mit beiden Händen durch das Gesicht. »So geht das nicht«, sagte sie. »Wir sollten uns ausführlicher unterhalten. Aber du mußt mir die Wahrheit sagen.«

»Ich lüge nicht«, antwortete Tally. »Ich sage Euch alles, was Ihr wollt, Herrin, aber...«

»Oh, das ist gar nicht nötig«, unterbrach sie Lyss. »Die Wahrheit reicht schon, Kindchen. Was ist hier geschehen? Und vor allem – wie kommst du hierher?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Tally. »Ich... ich bin vor dem Sturm geflohen, aber als ich kam, war bereits alles so, wie Ihr seht.«

»Sie lügt!« behauptete Maya. »Sie hat Farins Waffe, Lyss! Frag sie, woher sie sie hat.«

Lyss nickte. »Du hast es gehört«, sagte sie freundlich.

»Also?« Sie hob die Hand, in der sie noch immer die Waffe hielt. »Dieses Ding gehört Farin, einer von uns. Sie wird sie dir kaum freiwillig gegeben haben.«

Tally zögerte absichtlich, zu antworten. Sie war nervös, und sie war sich durchaus darüber im klaren, daß ihre nächsten Worte über ihr Leben entscheiden konnten. Wenn sie log, und Lyss es merkte, würde sie sie töten, auf der Stelle. »Eine... eine Frau wie Ihr?« fragte sie stockend. »Nur jünger? Mit... mit dunklem Haar?«

»Du kennst sie also«, sagte Lyss. Ihre Stimme klang schon ein ganz kleines bißchen kälter.

Tally nickte. »Sie... sie ist tot«, sagte sie.

Maya stieß ein erschrockenes Keuchen aus und wollte auf sie zutreten, aber wieder hielt Lyss sie zurück.

»Tot?« wiederholte sie. »Was ist passiert?«

»Das weiß ich nicht, Herrin«, antwortete Tally. »Sie liegt draußen, auf der Treppe, die zum Turm führt. Zusammen mit... mit ein paar Hornköpfen. Jemand hat sie erschlagen. Aber ich weiß nicht, wer es war. Ich schwöre es Euch, Herrin!«

»Sie lügt!« behauptete Maya. »Sie hat sie erschlagen! Laß mich fünf Minuten mit ihr allein, und sie wird die Wahrheit sagen!«

Lyss machte sich nicht einmal die Mühe sie anzusehen. »Du bist eine Närrin, Maya«, sagte sie kalt. »Draußen. im Gang liegt die Beterin – oder das, was noch von ihr übrig ist. Und die anderen Zimmer sehen kaum anders aus als dieses hier. Jemand hat hier sehr gründliche Arbeit geleistet, und es war nicht dieses Mädchen. Glaubst du wirklich, dieses Kind hätte die Kraft, unsere Schwestern zu töten – und die Kampfinsekten dazu? Nein.« Sie lachte, schüttelte heftig den Kopf und sah Tally kalt an. »Aber eine Lügnerin ist sie trotzdem«, fuhr sie in unverändertem Ton fort. »Sie spielt uns die Unschuld vor, die vor Angst zittert, aber das ist sie nicht. Nicht wahr, Kindchen?«

Tally schwieg.

»Wie ist dein Name, Kindchen?« fragte Lyss.

»Tally«, sagte Tally.

»Tally...« Lyss wiederholte den Namen, als versuche sie ihm einen vertrauten Klang abzugewinnen, schüttelte den Kopf und starrte einen Moment lang an Tally vorbei ins Leere. »Und wer bist du?« fragte sie schließlich. Tally atmete innerlich auf. Der gefährliche Moment war vorbei – sie wußte, daß Lyss sie jetzt nicht mehr töten würde; jedenfalls nicht, bevor sie nicht alles von ihr erfahren hatte, was sie wissen wollte.

»Ich bin Hrabans Frau«, antwortete sie. »Hraban, von der Conden-Sippe. Ich bin hier, um die Befehle der Götter zu holen.«

Auf Lyss' Gesicht war keinerlei Reaktion zu erkennen, aber in Mayas Augen blitzte es abermals wütend auf.

»Hrabans Frau!« wiederholte sie. »Seit wann schickt der Kriegsherr von Conden sein Weib, um seine Arbeit zu tun?«

Die Art, auf die sie das Wort Weib aussprach, mißfiel Tally – vor allem angesichts des Umstandes, daß sie selbst eine Frau war. Aus Mayas Mund hörte es sich an wie eine Beschimpfung. Trotzdem blieb sie äußerlich ruhig, als sie antwortete:

»Seit er tot ist, Herrin.«

»Tot?« Lyss verbarg ihre Überraschung nicht. »Hraban ist tot? Seit wann? Was ist ihm zugestoßen?«

»Er starb vor fünf Jahren«, antwortete Tally. »Er stürzte vom Pferd und brach sich das Bein. Es... es war auf dem Rückweg zur Sippe, noch halb in der Wüste, und ehe wir das Lager erreichten, bekam er Wundbrand und starb nach wenigen Tagen.« Das war nicht ganz die Wahrheit – Hraban war weder vom Pferd gefallen, noch an Wundbrand gestorben, und was ihm zugestoßen war, war Tallys Schwertspitze, aber die Geschichte klang überzeugend genug, Lyss' Mißtrauen wenigstens für den Moment zu dämpfen, denn sie machte eine ungeduldige Handbewegung und sagte: »Weiter.«

»Ich war die einzige, die mit dem Blutstein reden konnte«, fuhr Tally fort. Ihre Hand suchte den tropfenförmigen Rubin an ihrem Hals und schmiegte sich darum. Lyss' Blicke folgten der Bewegung, ehe sie sich wieder auf ihr Gesicht hefteten. »Hraban hatte nie nach einem Nachfolger gesucht. Er war noch jung, und... und es gab wohl nicht viele, die das Talent hatten. Er sagte immer, es wäre schwer, jemanden zu finden, der sein Vertrauen verdiente und gleichzeitig die Magie der Steine beherrschte. Nur ich verstand ein wenig davon.« Auch das war nicht unbedingt die Wahrheit – tatsächlich hatte es im Laufe der Jahre ein gutes halbes Dutzend Männer und Frauen im Lager gegeben, die das Pech hatten, die Kräfte des Blutrubins lenken zu können. Und tatsächlich schien diese Erklärung Lyss nicht vollends zu überzeugen, denn ihr Stirnrunzeln wurde etwas tiefer, so daß Tally hastig hinzusetzte: »Und ich war die einzige, die den Weg kannte. Hraban hat mich immer mitgenommen, wenn er in die Wüste ging.«

»Sie lügt!« sagte Maya zornig. »Ein Kind als Anführer der Conden-Sippe. Sie kann damals noch nicht zwanzig gewesen sein!«

»Warum nicht?« sagte Lyss nachdenklich. »Immerhin war sie seine Frau. Wem soll er vertrauen, wenn nicht seinem eigenen Weib? Aber erzähle weiter, Tally – du hast also seine Stelle eingenommen und bist hierher gekommen, um der Sippe unsere Befehle zu überbringen. Aber wie kommst du hierher? Hat dir Hraban niemals gesagt, daß es verboten ist, sich dem Turm zu nähern?«

»Doch«, antwortete Tally hastig. »Er hat mir alles gezeigt. Die Fallen und die Gedankensperren und... und er hat von Wesen gesprochen, die den Turm bewachen, schrecklichen Werwesen, die alles töten, was sich bewegt.

»Nun, alles offensichtlich nicht«, sagte Lyss amüsiert.

»Du bist hier, oder?«

»Es... war der Sturm, Herrin«, antwortete Tally nervös.

»Ach – und der hat dich hergeweht, wie?« fragte Lyss spöttisch.

»Ja«, antwortete Tally. Lyss runzelte verärgert die Stirn, sagte aber nichts, und Tally fuhr fort: »Ich geriet in einen Sandsturm – den schlimmsten, den ich jemals erlebt habe. Ich bin einfach geflohen, Herrin. Mein Pferd stürzte, und ich rannte zu Fuß weiter und kam hierher. Das ist die Wahrheit, Herrin!«

»Unmöglich!« behauptete Maya. »Die Gedankensperren...«

»Es könnte sein«, unterbrach sie Lyss, ohne den Blick von Tally zu nehmen. »Wenn sie vor Angst halb wahnsinnig war, könnte es sein. Es ist unwahrscheinlich, aber möglich. «

»Und die Werwesen?« fragte Maya zornig.

»Ich habe keine gesehen«, antwortete Tally. »Der Sturm war entsetzlich. Ich... ich bin einfach blindlings losgestolpert, und plötzlich war ich in einem Gebäude, das halb vom Sand zugeweht war. Ich habe mich darin verkrochen, bis der Sturm nachließ.«

Lyss blickte sie sehr lange und sehr nachdenklich an. Tally hätte in diesem Moment ihre rechte Hand dafür gegeben, ihre Gedanken lesen zu können – obwohl es auf der anderen Seite nicht einmal so schwer war, sie zu erraten. Lyss traute ihr nicht, aber sie konnte ihre Geschichte auch nicht direkt widerlegen. Und vor allem wollte sie wissen, was wirklich geschehen war.

»Es könnte so gewesen sein«, sagte die Drachenreiterin nach einer Weile. »Es ist unwahrscheinlich, aber es könnte sein. Es war der schlimmste Sturm seit Jahrzehnten, Maya. Der Verteidigungsgürtel ist schon einmal zusammengebrochen, während eines Sturmes. Trotzdem glaube ich ihr nicht.«

»Aber ich sage die Wahrheit! « sagte Tally verzweifelt. Sie mußte ihre Angst jetzt nicht einmal mehr spielen. »Es war so. Als... als der Sturm nachließ, kam ich heraus und fand die erschlagenen Hornköpfe und die beiden toten Frauen, und...«

»Die beiden Toten?« fiel ihr Maya ins Wort. »Willst du damit sagen, Tionn wäre ebenfalls tot?«

»Was hast du erwartet?« sagte Lyss leise. »Sie wäre hier, wenn sie noch am Leben wäre.« Sie lachte ganz leise. »Jemand hat den Sturm ausgenutzt, die Sperren zu durchbrechen und hier alles kurz und klein zu schlagen. Und ich werde herausfinden, wer es ist.«

»Vielleicht eine der anderen Sippen?« sagte Maya.

»Die Ancen-Leute sind in den letzten Jahren aufsässig geworden. Möglicherweise...«

»Möglicherweise«, unterbrach sie Lyss, »vertun wir unsere Zeit mit nutzlosen Vermutungen und Spekulationen, während Tionns und Farins Mörder noch ganz in der Nähe sind. Der Sturm war vor fünf Tagen. Sie können die Wüste noch nicht wieder verlassen haben.« Sie überlegte einen Moment, dann drehte sie sich mit einem Ruck um und wies mit einer herrischen Geste auf einen der Hornköpfe. »Geh und suche Vakk«, befahl sie.

»Er soll herkommen. Wir wollen sehen, was an der Geschichte unserer kleinen Freundin hier wahr ist, und was nicht.« Bei diesen Worten sah sie Tally auf eine sehr unangenehme, beinahe zynische Weise an, und auch in Mayas Augen glomm wieder dieses böse, grausame Lächeln auf. Tallys Angst wuchs. Sehnsüchtig blickte sie auf den Vorhang, hinter dem sich der Balkon verbarg. Sie hoffte inständig, daß Hrhon und Essk hörten, was hier gesprochen wurde, denn sie selbst hatte keine Möglichkeit, sie zu warnen oder gar um Hilfe zu rufen. Die beiden Wagas waren verloren, wenn die drei Frauen sie in ihrem Versteck unter dem Balkon entdeckten. Selbst ein Kind konnte sie kurzerhand in die Tiefe stoßen, während sie versuchten, über die Balkonbrüstung zu steigen, schwerfällig, wie sie waren.

Lyss bemerkte ihren Blick, wandte sich stirnrunzelnd um und schlug mit einem Ruck den Vorhang beiseite. Tallys Herz machte einen schmerzhaften Sprung und schien in ihrer Kehle zu einem pulsierenden Knoten zu gefrieren, als sie sah, wie die Drachenreiterin mit einem Schritt auf den Balkon hinaustrat, einen Moment lang in die Tiefe blickte und sich dann vorbeugte, beide Hände auf dem Gitter abgestützt.

»Ich sage die Wahrheit, Herrin«, sagte sie hastig und zum wiederholten Male. »Ich fand diesen Turm so vor. Alles war verwüstet.«

»Und warum bist du dann geblieben?« fragte Lyss. Sie drehte sich wieder um, trat jedoch nicht von dem Balkon herunter, sondern lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen gegen die Brüstung. Den eisigen Wind, der aus der Tiefe emporfauchte, schien sie nicht einmal zu spüren. Die Entfernung und die Dunkelheit, vor der sie stand, ließen sie zu einem flachen finsteren Schatten werden, beinahe noch bedrohlicher als bisher.

»Ich... ich weiß es nicht, Herrin«, stammelte Tally.

»Ich hatte Angst, daß Ihr mich für die Schuldige halten würdet. Und ich war verletzt, und... und...«

»Und außerdem ein bißchen neugierig, nicht?« sagte Lyss spöttisch, als sie nicht weitersprach. »Nun, was das angeht, kann ich dich sogar verstehen, Kind. Die Gelegenheit, hier ein bißchen herumzuschnüffeln und vielleicht sogar die Götter selbst zu sehen, hätte ich mir auch nicht entgehen lassen.« Sie lachte leise, kam nun doch wieder näher und sah Tally abschätzend an. »Ich werde nicht schlau aus dir, Tally. Du erzählst eine Geschichte, die sehr unwahrscheinlich klingt, aber trotzdem wahr sein könnte. Und trotzdem sagt mir etwas, daß es besser wäre, dir nicht zu glauben. Aber wir werden es herausfinden, Schätzchen. Sobald Vakk zurück ist. Wenn du die Wahrheit gesagt hast, hast du nichts zu befürchten. Wenn nicht, wäre es besser, du redest jetzt. Vakk hat gewisse... Methoden, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden.«

»Vakk ist der... der Hornkopf, der bei Euch ist?« fragte Tally stockend.

Lyss zog eine Grimasse. »Ja. Aber ich würde das nicht sagen, wenn er es hört. Er mag es nicht, wenn man ihn so nennt. Also?«

Tally schwieg. Sie glaubte zu spüren, daß Lyss' Worte mehr als eine leere Drohung waren, und sie hatte das entsetzliche Gefühl nicht vergessen, das sie überkommen hatte, als der Hornkopf sie das erste Mal anblickte. Trotzdem schüttelte sie nur den Kopf.

»Wie du willst«, sagte Lyss achselzuckend. »In wenigen Minuten wissen wir ohnehin, ob du lügst oder nicht.« Sie wandte sich an Maya. »Ruf deinen Drachen«, sagte sie. »Wenn sie die Wahrheit sagt und es wirklich Krieger einer anderen Sippe waren, die Tionn und Farin töteten, will ich sie haben. Sie können noch nicht sehr weit sein. Es gibt im Umkreis von fünf oder sechs Tagesreisen nichts, wo sie sich verstecken könnten.«

»Der Sturm wird alle Spuren verwischt haben«, gab Maya zu bedenken, aber Lyss fegte ihre Worte mit einer unwilligen Bewegung zur Seite. »Du machst dich startbereit«, sagte sie noch einmal. »Wenn es Krieger aus Ancen waren, brennen wir dieses verdammte Rattennest nieder. Aber ich will einen Beweis.«

Maya schien abermals widersprechen zu wollen, beließ es aber dann bei einem gehorsamen Kopfnicken und entfernte sich durch die turmabwärts führende Tür. Die Beterin folgte ihr, und Tally blieb mit Lyss und der riesigen Ameise allein zurück. Vielleicht, überlegte sie, wäre jetzt der Augenblick gekommen, anzugreifen. Der Hornkopf war kein Problem... Tally kannte diese mannsgroßen Ameisen gut genug, um zu wissen, wo ihr verwundbarer Punkt war. Sie waren stark genug, ein Pferd in Stücke zu reißen, aber ihr Hals und die Einschnürung in ihrer Körpermitte waren so lächerlich dünn, daß ein kräftiger Schwerthieb reichte, sie in zwei Teile zu spalten. Und ihre Waffe lag nur zwei Schritte von ihr entfernt.

Aber sie zögerte zu lange. Der einzige Moment, in dem ein Angriff Erfolg hätte haben können – nämlich der, in dem Lyss sich umwandte und Maya und der Beterin nachsah – ging ungenutzt vorüber, und schon einen Moment später drehte sich Lyss wieder herum und richtete den Lauf ihrer Waffe auf Tally.

»Darf ich... mich setzen?« fragte Tally schüchtern. Sie deutete auf das Bett.

Lyss nickte, trat jedoch mit einem raschen Schritt vor und fegte das Schwert mit einem Fußtritt von dannen, ehe sie eine auffordernde Handbewegung machte.

»Sicher«, sagte sie. »Hast du Angst?«

Tally nickte, ließ sich auf das Bett sinken und versuchte eine Stellung einzunehmen, die gelöst wirkte, in der sie aber notfalls blitzschnell vorspringen konnte. Es gelang ihr nicht ganz. Lyss war eine aufmerksame Beobachterin. Wenn sie ihr ohnehin vorhandenes Mißtrauen noch weiter schürte, hatte sie vollends verspielt.

»Vor den Hornköpfen, ja«, antwortete sie mit einiger Verspätung. »Vor euch nicht.«

Lyss lächelte dünn und maß die Riesenameise mit einem undeutbaren Blick. »Gibt es sie nicht, dort, wo du herkommst?«

»Nicht solche«, erwiderte Tally wahrheitsgemäß.

»Unsere Hornköpfe sind dumme Kreaturen. Tiere, die nur zum Arbeiten und Kämpfen gut sind. Dieses... Ungeheuer, das bei Euch ist – Vakk. Er ist ein nicht- Mensch, nicht wahr?«

»Wenn du damit meinst, daß er ein denkendes Wesen ist, hast du recht«, antwortete Lyss mit erstaunlicher Offenheit. »Er ist nicht so intelligent wie ein Mensch, aber er ist auch kein Tier. Und er ist sehr nützlich.«

Tally überhörte die Drohung, die in Lyss' letzten Worten mitschwang, keineswegs. Ihr Gedanken arbeiteten wie rasend.

Wie lange war es her, daß Lyss die Ameise fortgeschickt hatte, nach ihrer Begleiterin und Vakk zu rufen? Sicher erst wenige Minuten. Aber das Gebäude war nicht so furchtbar groß, daß ihr noch viel Zeit blieb, irgend etwas zu unternehmen. Tally hatte längst begriffen, daß ihr Plan fehlgeschlagen war, sich in das Vertrauen der drei Drachenreiterinnen zu schleichen und so die Informationen zu erlangen, die sie brauchte. Das einzige, was ihr jetzt noch – vielleicht – möglich war, war irgendwie am Leben zu bleiben.

»Darf ich Euch eine Frage stellen?« sagte sie.

Lyss nickte. »Sicher.«

»Diese Ancen-Leute, von denen ihr gesprochen habt«, sagte Tally zögernd. »Wer sind sie? Ich habe noch nie von einem Volk dieses Namens gehört.«

»Eine Sippe wie die deine«, antwortete Lyss bereitwillig.

»Gibt es denn mehr?«

Lyss lachte leise, aber jetzt klang der Spott darin fast gutmütig. »Natürlich«, sagte sie. »Hast du wirklich gedacht, eure Sippe wäre die einzige?« Sie machte eine Bewegung, die den ganzen Turm einschloß. »Dies alles hier wäre wohl etwas zu aufwendig, um einem Narren wie Hraban ein wenig Hokuspokus vorzumachen, nicht wahr? Und die Welt ist ein bißchen zu groß, um von einer dreihundert Köpfe zählenden Horde aus Gesindel und Mördern beherrscht zu werden. Aber das wirst du alles noch genauer erfahren, wenn sich herausstellen sollte, daß du die Wahrheit sagst.«

»Dann werdet Ihr mich nicht töten?«

»Wenn du gelogen hast, ja«, antwortete Lyss. »Sonst nicht. Aber du kannst auch nicht zurück zu deiner Sippe, das wirst du einsehen. Nicht nach allem, was du hier gesehen hast. Ich denke, wir nehmen dich einfach mit.«

»Mit zu... euch?« keuchte Tally. »Mit dorthin, wo ihr herkommt, Ihr und die anderen'?«

Lyss nickte. In ihren Augen stand ein amüsiertes Funkeln. »Warum nicht? Es wäre unsinnig, dich zu töten, wenn deine Geschichte der Wahrheit entspricht. Aber du kannst auch nicht zurück zu deinen Leuten, das wirst du verstehen. Es wird dir gefallen, Tally. Bei uns als Sklavin zu dienen ist immer noch tausendmal besser als die Königin dieser Barbaren zu sein.«

Tallys Blick richtete sich sehnsüchtig auf den schmalen Balkon hinter Lyss. Wenn sie doch nur eine Möglichkeit hätte, Hrhon und Essk zu Hilfe zu rufen. Zusammen – und mit dem Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite – hätten sie vielleicht sogar eine Chance, Vakk zu besiegen, den gigantischen Hornkopf.

Sie stand auf, machte einen Schritt in Lyss' Richtung und deutete schüchtern auf den Balkon. »Die Drachen, Herrin«, sagte sie. »Kann ich sie sehen?«

»Das wirst du früh genug, wenn sich deine Geschichte als wahr erweisen sollte«, antwortete Lyss grob. Ihre Augen wurden schmal. »Woher weißt du überhaupt, daß sie dort unten sind?«

»Ich war lange hier, Gebieterin«, antwortete Tally. »Ich habe mich umgesehen. Der Turm steht über einer Höhle, nicht war?«

Lyss nickte widerwillig. »Du bist eine gute Beobachterin, Tally«, sagte sie. »Ich denke, du kannst uns von Nutzen sein – falls wir dich mitnehmen sollten. Hast du schon einmal einen Drachen gesehen? Aus der Nähe, meine ich.«

Tally verneinte. »Aber ich würde es gerne«, sagte sie. Ehe Lyss es verhindern konnte, trat sie an ihr und der Ameise vorbei auf den schmalen Balkon hinaus, legte die Hände auf die Brüstung und beugte sich vor, so weit sie konnte. Etwas Dunkles, grünbraun Geschupptes glitzerte unter ihr und verschwand mit einer hastigen Bewegung. »Wenn Maya ihr Tier heraufholt, müßte man es sehen können.«

»Komm da weg!« befahl Lyss scharf, aber Tally tat so, als hätte sie ihren Befehl gar nicht gehört, und spielte weiter die Aufgeregte. Statt zu gehorchen, beugte sie sich noch weiter vor, so daß sie nur noch auf den Zehenspitzen stand und gerade noch die Balance halten konnte.

»Bitte, Herrin«, sagte sie. »Nur ein einziger Blick! Seit ich ein Kind bin, wünsche ich mir, einen Drachen aus der Nähe zu sehen!«

Ein flaches Gesicht erschien unter ihr; schmale glitzernde Reptilienaugen blickten fragend zu ihr herauf. Tally zog eine Grimasse, versuchte Essk mit den Augen einen Wink zu geben und ging sogar das Risiko ein, für einen Moment die linke Hand von ihrem Halt zu lösen und sich mit Zeige- und Mittelfinger bezeichnend über die Kehle zu fahren. Sie beendete die Bewegung damit, daß sie die Hand zur Stirn hob und sich das Haar aus dem Gesicht strich, mit dem der Wind spielte.

Sie konnte nicht erkennen, ob der Waga ihre Geste verstanden hatte, denn sein Gesicht verschmolz wieder mit den Schatten, und eine Sekunde später war Lyss bei ihr und riß sie grob an der Schulter zurück. Tally stolperte ein Stückweit rücklings, griff haltsuchend um sich und bekam einen Zipfel der schweren Samtgardine zu fassen, die den Balkon abtrennte. Hastig klammerte sie sich daran fest, fand ihr Gleichgewicht wieder und schloß den Vorhang wie durch Zufall. »Verzeiht, Gebieterin«, sagte sie demütig. »Ich wollte nur...«

»Ich weiß, was du wolltest«, unterbrach sie Lyss ungehalten. »Ich denke, du mußt noch eine Menge lernen, mein Kind. Gehorchen, zum Beispiel. Geh jetzt zurück und setz dich wieder.«

Diesmal gehorchte Tally sofort; allein, um Lyss' Mißtrauen nicht noch weiter zu schüren. Sie war sich des Risikos durchaus im klaren, daß sie eingegangen war. Aber sie hatte keine Wahl. Und tatsächlich schien Lyss ihr Benehmen ihrer Angst und Nervosität zuzuschreiben; denn sie verzichtete darauf, noch einmal auf den Balkon zurückzugehen, sondern wandte sich ganz im Gegenteil noch einmal um und schloß auch die letzten Falten des Vorhanges, um den eisigen Zugwind auszusperren.

Als sie damit fertig war, wurden in dem aufwärts führenden Gang die schleifenden Schritte chitingepanzerter Füße laut, und wenige Augenblicke später erschienen die beiden Hornköpfe und die dritte Drachenreiterin, deren Namen Tally noch nicht kannte. Rasch trat sie auf Lyss zu, verbeugte sich demütig und sagte: »Ihr habt mich rufen lassen, Gebieterin?«

Lyss ignorierte sie einfach. Statt dessen trat sie auf Vakk zu, deutete auf ihn, dann auf Tally und schließlich wieder auf ihn und gab wieder einen jener sonderbar hohen Pfeiflaute ab, offensichtlich ein Wort in der Sprache dieser entsetzlichen Kreatur.

Der Hornkopf kippte seinen ganzen gewaltigen Körper nach vorne, um ein menschliches Nicken zu imitieren, trat an Lyss vorbei und blieb dicht vor Tally stehen. Der Blick seiner ausdruckslosen Facettenaugen richtete sich auf ihr Gesicht, und obwohl sie diesmal gewarnt war und ihm auswich, begann sie sich fast sofort wieder unwohl zu fühlen.

Erst jetzt, als sie ihm kaum auf Armeslänge gegenüberstand, sah sie, wie groß und massig der Hornkopf wirklich war. Sein gewaltiger Käferleib mußte eine Tonne wiegen. Die riesigen Beißzangen, die wie eine barbarische Krone hoch über seinen gehörnten Schädel hinausragten, streiften fast die Decke des Raumes. Jedes einzelne seiner sechs Beine war so dick wie Tallys Oberschenkel, und mit stahlhartem Chitin gepanzert. Aus den Enden seiner beiden Beinpaare wuchsen Hände, jede mit mindestens zehn Fingern und drei Daumen, wovon die beiden oberen kräftig und sehr groß, die unteren Hände beinahe zart, dafür aber sehr geschickt, wirkten. Sein Rückenpanzer zitterte ganz leicht, und Tally sah jetzt, daß er in der Mitte gespalten war. Darunter glänzte das filigrane Gespinst durchsichtiger Käferflügel. Die Chitinplatten, die sie bedeckten, waren so dick wie Tallys Daumen.

»Also«, sagte Lyss befehlend. »Jetzt erzähle.«

Tally gab sich alle Mühe, dem Blick des Riesenkäfers auszuweichen, als sie zu ihr aufsah. »Was... soll ich erzählen Gebieterin?« fragte sie stockend.

Ein Schatten huschte über Lyss' Gesicht. »Deine Geschichte, Tally«, antwortete sie unwillig. »Das, was du uns vorhin erzählt hast. Oder hast du sie schon vergessen?« Sie lächelte böse, schob ihre Waffe in den Gürtel zurück und kam näher, blieb aber ein Stück hinter und neben Vakk stehen.

»Aber das... das habe ich doch schon«, stammelte Tally. »Ich habe Euch alles gesagt, was ich weiß!«

»Dann tu' es noch einmal«, fauchte Lyss ungeduldig. Sie deutete auf Vakk. »Ich möchte es noch einmal hören, verstehst du? Von Anfang an. Er wird erkennen, ob du die Wahrheit sagst.«

Tally fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Ihre Hände wurden feucht vor Schweiß, und ihr Gaumen war mit einem Male zu trocken, daß sie kaum mehr sprechen konnte. Ihre Gedanken überschlugen sich schier. Etwas in ihr hatte sich bisher noch immer an die Hoffnung geklammert, daß Lyss sie schlichtweg getäuscht hatte, um sie aus der Reserve zu locken, aber jetzt wußte sie, daß das nicht stimmte. Vakk war sicherlich kein Telepath, der in ihren Gedanken lesen konnte wie in einem offenen Buch, aber Lyss schien sehr sicher zu sein, daß er Lüge und Wahrheit zu unterscheiden vermochte. Und das Ergebnis blieb sich – zumindest für Tally – gleich. Ihre Lage war verzweifelt. Selbst, wenn sie eine Waffe gehabt hätte – sie bezweifelte, daß ein normales Schwert überhaupt in der Lage war, diesem Monstrum mehr als einen harmlosen Kratzer beizubringen. Wo blieben die Wagas?

»Was ist?« fragte Lyss scharf. »Hast du deine Zunge verschluckt, oder überlegst du dir eine neue Lüge? «

»Ich... ich habe nicht gelogen, Gebieterin«, stammelte Tally. Sie deutete auf Vakk. Ihr Hand zitterte. »Aber er macht mir Angst. Schickt ihn fort, bitte.«

Lyss' Augen wurden schmal. Aber dann hob sie zu Tallys Überraschung die Hand und machte eine knappe, befehlende Geste. »Geh ein Stück zurück, Vakk«, sagte sie.

Der Hornkopf gehorchte tatsächlich. Schlurfend bewegte er sich rückwärts, bis sein gekrümmter Rückenschild fast gegen den Vorhang stieß, und blieb wieder stehen. Tally sah, wie sich die Falten des blauen Samtstoffes ganz sacht bewegten. Fast, als bausche sie der Wind.

Aber nur fast.

»Bist du jetzt zufrieden?« fragte Lyss ungeduldig. Tally nickte. »Danke. Verzeiht, Herrin, aber er... er sieht so schrecklich aus. Ich habe Angst vor ihm. «

»Jetzt rede«, befahl Lyss unwirsch. »Erzähle alles noch einmal. Genau so, wie du es Maya und mir erzählt hast.« Tally gehorchte. Sie begann mit ihrem Namen und der Tatsache, daß sie Hrabans Frau und seine Nachfolgerin war, berichtete dann von dem Sandsturm und davon, daß sie sich in diesem Turm gerettet hatte, ohne selbst genau sagen zu können, wie es ihr gelungen war, die mannigfaltigen Sperren zu überwinden, die ihn umgaben. Nichts von dem, was sie sagte, war direkt gelogen, aber sie bildete sich trotzdem nicht ein, Vakk auf diese Weise lange Zeit narren zu können. Alles, was sie brauchte, war ein wenig Zeit. Nervös blickte sie zu Vakk hoch. Der Blick seiner gläsernen Augen war ausdruckslos wie immer, aber seine kleinen Hände hoben und senkten sich nervös, und manchmal drang ein knisternder Laut unter seinem Panzer hervor, wenn sich die Hügel darunter bewegten.

Als sie bei der Stelle ihrer Erzählung angekommen war, an der sie den eigentlichen Turm betrat, unterbrach sie Lyss. »Du hast also alles ganz genau so vorgefunden, wie es jetzt ist?« sagte sie lauernd. »Dies alles hier war bereits verwüstet, ehe du kamst?«

Tally warf einen nervösen Blick auf Vakk, ehe sie nickte. »Ja, Herrin«, sagte sie.

Vakk hob eine seiner zahlreichen Hände. »Hschieee hlhüüüükt«, hauchte er.

Es dauerte einen Moment, bis Tally begriff, daß dieses entsetzliche Wesen gesprochen hatte – seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, lächerlich angesichts seiner gewaltigen Größe, und seine Worte derart verzerrt, daß Tally sie eher erriet, als sie sie verstand. Aber sie sah, wie Lyss erbleichte. Ihre Hand näherte sich erneut der fürchterlichen Waffe in ihrem Gürtel.

»Du lügst!« wiederholte sie Vakks Worte.

»Stimmt«, antwortet Tally. Dann sprang sie.

Ihr Angriff mußte so ziemlich das Letzte gewesen sein, womit Lyss gerechnet hatte, denn sie machte nicht die leiseste Bewegung, ihr auszuweichen, sondern stand wie versteinert da, bis Tally gegen sie prallte und sie von den Füßen riß. Hinter ihr erscholl ein schriller, keuchender Schrei, und noch während sie zusammen mit Lyss zu Boden stürzte, sah sie, wie der riesige Samtvorhang plötzlich zu bizarrem Leben zu erwachen schien und sich wie ein Netz auf Vakk herabsenkte. Dann erwachte Lyss endlich aus ihrer Erstarrung, und für die nächsten Augenblicke hatte Tally anderes zu tun, als auf Vakk und die beiden Wagas zu achten.

Sie spürte gleich, daß sie viel stärker und geschickter war als die Drachenreiterin. Aber Lyss wehrte sich mit der Kraft und Wut einer Wildkatze. Tallys Knie nagelte ihre rechte Hand an den Boden, so daß sie ihre Waffe nicht ziehen konnte, aber ihre andere Hand schlug und kratzte nach ihrem Gesicht, während sie wie von Sinnen mit den Beinen strampelte und ihr immer wieder die Knie in den Rücken stieß.

Tally versetzte ihr einen Faustschlag gegen die Schläfe. Lyss bäumte sich auf, schrie vor Schmerz und erschlaffte plötzlich.

Aber sie hatte die dritte Drachenreiterin vergessen. Tally sah einen Schatten auf sich zurasen, zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern und hob schützend die Hand vor das Gesicht. Trotzdem traf sie der Tritt mit solcher Wucht, daß sie von Lyss' Brust herunterkippte und haltlos über den Boden rollte. Die Frau in der schwarzen Lederbekleidung setzte ihr nach, trat abermals nach ihrem Gesicht und stieß ein überraschtes Keuchen aus, als Tally ihren Fuß packte und so wuchtig herumdrehte, daß sie nun ihrerseits das Gleichgewicht verlor. Noch im Fallen versuchte sie ihre Waffe zu ziehen, aber Tally ließ ihr keine Chance. Blitzschnell packte sie ihre Hand, verdrehte sie und brach ihr mit einem harten Ruck den Arm.

Das Gesicht der jungen Frau verzente sich vor Schmerz. Sie krümmte sich und begann zu wimmern.

Tally drehte sie grob auf den Rücken, schlug ihr die Faust unter das Kinn und hob in der gleichen Bewegung die Waffe auf, die sie fallengelassen hatte. Ihr Daumen senkte sich auf das rote Dämonenauge in ihrem Griff. Sie hatte sehr genau hingesehen, wie die Drachenreiterinnen ihre Waffen handhabten.

Aber es war nicht nötig, sie zu benutzen. Die beiden Riesenameisen standen einfach blöde da und glotzten; denn schließlich hatte ihnen niemand gesagt, daß sie in den Kampf eingreifen sollten. Und als Tally sich herumdrehte, waren Hrhon und Essk gerade dabei, ein zappelndes blaues Riesenpaket über die Balkonbrüstung zu hieven, was offensichtlich ihre gesamte Kraft in Anspruch nahm. Vakk wehrte sich verzweifelt, aber der Vorhang preßte seine Glieder erbarmungslos zusammen, und selbst seine gewaltigen Kräfte schienen nicht auszureichen, den schweren Samtstoff zu zerreißen. Nur eine seiner kleinen, vielfingrigen Hände ragte zwischen den blauen Falten hervor und versuchte, sich an der Balkonbrüstung festzuhalten. Hrhon schlug so wuchtig mit der Faust zu, daß fünf oder sechs der winzigen Klauen abbrachen.

Tally drehte sich wieder herum und sah auf Lyss herab. Die Drachenreiterin war bei Bewußtsein, schien aber nicht die Kraft zu haben, sich zu erheben; denn als sie es versuchte, knickten ihre Arme unter ihrem Körpergewicht ein. Sie fiel auf das Gesicht und schlug sich die Lippen blutig. Ein leises, qualvolles Stöhnen drang aus ihrer Brust.

»Steh auf!« befahl Tally kalt.

Lyss stöhnte erneut, stemmte sich mühsam auf Knie und Ellbogen hoch und sah sie haßerfüllt an. Ein dünner Blutfaden sickerte aus ihrer aufgeplatzten Lippe und zog eine rote Spur über ihr Kinn. »Spring in den Schlund, du Miststück«, stöhnte sie.

Tally lächelte dünn, packte mit der linken Hand ihr Haar, riß ihren Kopf in den Nacken und schlug ihr den Lauf der Waffe ins Gesicht. Lyss schrie vor Schmerz, stürzte abermals zu Boden und verbarg das Gesicht zwischen den Händen.

»Steh auf!« sagte Tally noch einmal.

Dieses Mal gehorchte Lyss. Stöhnend stemmte sie sich auf die Knie, blieb einen Moment reglos sitzen und stand vollends auf, als Tally drohend die Hand hob. Ihr Gesicht begann bereits anzuschwellen, wo sie Tallys Schlag getroffen hatte. Aber der Ausdruck in ihren Augen war keine Furcht, sondern Haß, ein so heißer, ungezügelter Haß, daß Tally innerlich erschauerte. »Das wirst du bereuen, du Miststück!« sagte sie. »Ich werde dich vernichten. Ich werde deine ganze Sippe auslöschen und...«

Tally schlug noch einmal zu. Lyss krümmte sich stöhnend, schlug die Hände gegen den Leib und sank ganz langsam vor Tally auf die Knie. Ihr Gesicht wurde noch bleicher, als es ohnehin schon war.

»Nun?« sagte Tally freundlich. »Soll ich weitermachen, oder ziehst du es vor, mir auf meine Fragen zu antworten?«

»Du kannst mich erschlagen, wenn du willst«, stöhnte Lyss. »Von mir erfährst du nichts.«

Im gleichen Moment erscholl hinter Tally ein schrilles, unglaublich zorniges Pfeifen, und nahezu gleichzeitig schrien auch Hrhon und Essk erschrocken auf. Tally fuhr herum – und erstarrte einen Moment lang vor Schrecken.

Ein gigantisches, schwarzglänzendes Etwas stürzte sich auf den Balkon herab, getragen von einem doppelten Paar lächerlich kleiner Käferflügel und mit weit ausgebreiteten Armen und gierig geöffneten Zangen. Die faustgroßen Facettenaugen Vakks flammten vor Wut, und aus seinem dreieckigen Insektenmaul drangen pfeifende, schrille Töne, so hoch, daß sie in Tallys Ohren schmerzten.

Einzig seine eigene Größe hinderte den Hornkopf daran, wie ein lebendes Geschoß direkt in den Raum hineinzurasen und sofort über die beiden Wagas und Tally herzufallen. Der Balkon erbebte wie unter einem Hammerschlag, als der gigantische Hornkopf landete und ungeschickt gegen die Wand prallte. Hrhon nutzte den Augenblick, sich mit geballten Fäusten auf ihn zu stürzen, aber Vakk traf ihn noch im Fallen mit einer seiner gewaltigen Fäuste; der Waga taumelte wie unter einem Tritt einer Hornbestie zurück und fiel auf den Rücken.

Ein harter Schlag traf Tallys Handgelenk und lähmte es. Sie schrie auf, ließ die Waffe fallen und konnte gerade noch die Hand hochreißen, um zu verhindern, daß Lyss' Fausthieb ihr Gesicht traf. Trotzdem ließ der Hieb sie zurücktaumeln und das Gleichgewicht verlieren. Sie fiel ungeschickt auf die Knie, registrierte verwundert, daß Lyss die Gelegenheit nicht nutzte, ihr nachzusetzen und sie vollends kampfunfähig zu machen, und begriff beinahe zu spät, was dieses Zögern bedeutete.

Sie reagierte im letzten Augenblick auf den Angriff des Ameisenabkömmlings, der mit gierig schnappenden Mandibeln auf sie zustürzte. Blitzschnell duckte sie sich unter den gewaltigen Beißzangen hindurch, schlug zwei seiner vier Arme beiseite und brach sich fast die Hand, als ihre Faust auf den stahlharten Panzer des Hornkopfes krachte. Dann fühlte sie sich von fünf oder sechs unmenschlich starken Händen gleichzeitig gepackt und zu Boden gerungen. Ein paar armlanger, rostbrauner Mandibeln schnappte vor ihrem Gesicht auseinander und zuckte auf ihren Hals herab.

Der Hornkopf führte die Bewegung nie zu Ende. Ein braungrün gefleckter Gigant erschien über ihm, bog seine Zangen ohne sichtliche Anstrengung auseinander und schlug ihm mit einem einzigen wütenden Hieb den Schädel ein. Einen Sekundenbruchteil später wirbelte Hrhon herum, packte auch den zweiten Hornkopf und warf ihn kurzerhand gegen die Wand. Das Brechen seines Chitinpanzers klang wie splitterndes Glas in Tallys Ohren.

Aber es war noch nicht vorbei. Hrhon fuhr herum und jagte brüllend vor Wut zu Essk zurück, die in ein verzweifeltes Handgemenge mit Vakk verstrickt war, und als Tally sich endlich unter dem toten Hornkopf hervorgearbeitet hatte, war Lyss ein paar Schritte entfernt auf die Knie gefallen und gerade im Begriff, ihre Waffe aufzuheben. Die Entfernung zwischen ihr und Tally betrug nicht einmal drei Schritte – aber Tally wußte, daß sie es nicht schaffen würde.

Es war nicht mehr die Frau in ihr, die reagierte, sondern nur noch die Kriegerin. Ohne wirklich zu denken, ließ sie sich zur Seite fallen, rollte auf die verwundete Drachenreiterin zu und über sie hinweg. Ihr Hand fand den Dolch im Gürtel der Bewußtlosen und riß ihn heraus.

Lyss und sie kamen im gleichen Moment auf die Knie. Und Lyss feuerte ihre Waffe im selben Moment ab, in dem Tally den Dolch schleuderte.

Es ging unglaublich schnell, und es war entsetzlich. Tally sah keinen Blitz, sie hörte nichts, spürte nichts – und doch war es, als jage eine unsichtbare Riesenfaust an ihr vorbei, so dicht und mit solch ungeheuerlicher Gewalt, daß sie ihren Luftzug wie einen Hieb spürte. Aber die Götterfaust traf nicht sie, sondern die Drachenreiterin.

Der Körper der Bewußtlosen wurde in die Höhe und herumgerissen. Blaue Flammen huschten wie Elmsfeuer durch ihr Haar, schlugen Funken aus ihren Augen und den Fingerspitzen und huschten auf winzigen flammenden Füßchen über die Metallteile ihrer Ausrüstung, und plötzlich begann sich ihre Haut zu kräuseln, schmolz wie Wachs unter der Glut der Sonne und wurde braun. Beißender Qualm stieg von ihrem Haar und dem schmelzenden Leder ihrer Kleidung auf.

Tally wandte mit einem Schreckenslaut den Blick, spannte instinktiv jeden Muskel im Leib und wartete darauf, daß Lyss ihre schreckliche Waffe ein zweites Mal abfeuerte, um auch sie zu töten.

Aber Lyss schoß nicht mehr. Lyss war tot. Tallys Dolch hatte ihre Kehle durchbohrt und sie auf der Stelle getötet. Für die Dauer eines einzelnen, quälend schweren Herzschlags blieb Tally einfach so auf den Knien hocken, reglos, unfähig, sich zu bewegen, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen oder irgend etwas anderes zu empfinden als pures Entsetzen. Sie hatte den Tod in tausendfacher Gestalt erlebt und selbst gebracht, aber sie hatte niemals ein solches Grauen verspürt wie in diesem Moment. Der Gedanke, daß Menschen eine solche Waffe erfinden und gegen Menschen verwenden sollten, raubte ihr fast den Verstand.

Ein schrilles Kreischen hinter ihrem Rücken riß sie in die Wirklichkeit zurück, und was sie sah, fegte auch den letzten Rest von Benommenheit beiseite.

Die beiden Wagas waren in einen gnadenlosen Kampf mit dem gewaltigen Hornkopf verwickelt. Und es war ein Kampf, den sie nicht gewinnen konnten. Vakk hatte Essk mit seinen gewaltigen Scheren gepackt und in die Höhe gerissen, während Hrhon sich seinerseits auf dem riesigen Rückenpanzer des Hornkopfes festklammerte und mit beiden Fäusten auf seinen Schädel einhämmerte.

Trotz des ungeheuren Gewichts der beiden Wags stand Vakk noch immer aufrecht auf seinen Beinen, und wenn er Hrhons Hiebe überhaupt spürte, so ignorierte er sie. Seine riesigen Beißzangen hielten Essk unbarmherzig gepackt, während seine Hände in die Lücken ihrer Panzerung stocherten, in die sie ganz instinktiv Kopf und Arme zurückgezogen hatte. Hrhon schrie vor Wut und Angst und ließ seine Faust immer und immer wieder auf den gepanzerten Schädel des Rieseninsekts herunterkrachen. Es klang, als schlüge ein gigantischer Hammer auf einen noch gigantischeren Amboß. Aber Vakk wankte nicht einmal.

Tally sprang hastig auf die Füße, lief quer durch den Raum, um ihr Schwert aufzuheben, und stürmte auf den Hornkopf zu. Sie schwang die Waffe mit beiden Händen, spannte jeden einzelnen Muskel bis zum Zerreißen an und ließ die Klinge mit aller Gewalt auf den schwarzen Chitinpanzer des Käfers herunterkrachen.

Die Klinge brach ab.

Ein entsetzlicher Schmerz zuckte durch Tallys Arme bis in die Schultern hinauf und lähmte sie. Sie taumelte zurück, ließ den nutzlosen Schwertgriff fallen und versuchte sich mit einem Satz in Sicherheit zu bringen, als Vakk mit einer wütenden Bewegung nach ihr schlug. Sie schaffte es nicht ganz. Die Faust des Hornkopfes streifte ihren Rücken, und schon diese eine, beinahe flüchtige Berührung reichte, Tally haltlos vier, fünf Schritte weit vorwärts taumeln und der Länge nach hinschlagen zu lassen. Einen Moment lang blieb sie benommen liegen, dann stemmte sie sich mit zusammengebissenen Zähnen auf die Knie und drehte sich herum. Sie sah, wie Essk starb.

Vakk bäumte sich mit einem wütenden Zischen auf, schüttelte Hrhon wie ein lästiges Insekt von seinem Rücken herunter und schlug mit allen vier Armen auf Essks Rückenpanzer. Gleichzeitig schlossen sich seine gewaltigen Zangen mit erbarmungsloser Kraft.

Essks Rückenschild zerbrach. Ein schriller, überschnappender Schrei drang aus dem Panzer der Waga, dann tauchte ihr Kopf zwischen den grünbraunen Schuppen auf, das Gesicht verzerrt vor Schrecken und Qual; dunkles Echsenblut tropfte aus ihrem Maul. Vakk zertrümmerte ihr mit einem einzigen Hieb seiner gewaltigen Scheren den Schädel.

Und im gleichen Moment schien auch in Tally irgend etwas zu zerbrechen. Sie hörte den entsetzlichen Laut, mit dem Essks Schädeldecke zersplitterte, und für einen kurzen, unendlich kurzen Moment glaubte sie den Schmerz der Waga wie ihren eigenen zu spüren. Sie schrie auf, fiel ein zweites Mal auf die Ellbogen herab und spürte etwas Kleines, sehr Kaltes zwischen den Fingern, ein bizarres schwarzes Ding mit einem rotleuchtenden Dämonenauge an der Seite.

Irgend etwas geschah mit ihr, etwas Furchtbares, das vor fünfzehn Jahren begonnen hatte und erst jetzt zum Abschluß kam. Sie dachte nicht mehr. Sie bestand nur noch aus einem ungeheuren, jedes andere Gefühl hinwegfegenden Haß. Ihre Hand schloß sich um die Waffe, hob sie, richtete sie auf den tobenden Giganten, der sich mit grotesk langsam wirkenden Bewegungen herumdrehte, ihr Finger glitt über das kalte glatte Metall des Griffes, verharrte einen Sekundenbruchteil über dem roten Teufelslicht und senkte sich.

Tally fühlte nur ein ganz sachtes Vibrieren, als sich die Waffe entlud. Aber wie zuvor war die Wirkung entsetzlicher als alles, was sie jemals erlebt hatte.

Vakk wurde von einer unsichtbaren Dämonenfaust getroffen und gegen die Wand geschleudert. Seine Panzerplatten zerbrachen wie Glas. Eines seiner Facettenaugen erlosch, von einer unsichtbaren Faust getroffen und zermalmt; gelbes Insektenblut besudelte sein Gesicht. Er fiel nicht, sondern stand einfach da, reglos, nur ganz leicht zitternd, sein einzelnes, sehendes Auge auf Tally gerichtet, die Arme weit gespreizt, wie eine überlebensgroße Statue. Tally schoß ein zweites Mal.

Vakks Brustpanzer zersplitterte wie unter einem Hammerschlag. Einer seiner Arme brach ab und flog davon, und plötzlich durchzog ein Spinnennetz aus Tausenden feinverästelter Risse und Sprünge durch seinen tonnenförmigen Leib. Gelbes Insektenblut quoll wie zähflüssiger Honig aus seinem Maul.

Er war tot, noch ehe er nach vorne kippte und auf dem Boden aufschlug, aber Tally schoß noch einmal, und noch einmal und noch einmal, bis der gigantische Hornkopf nichts mehr war als ein schwarzgelber, brodelnder Haufen aus zerfetztem Fleisch und zerborstenen Panzerplatten. Aber selbst dann feuerte sie weiter; ein, vielleicht zwei dutzend Mal, bis die Waffe in ihrer Hand nur noch ein protestierendes Summen ausstieß und das rote Dämonenauge zu flackern begann. Erst dann ließ sie den Arm sinken, hob die linke Hand vor das Gesicht und schloß die Augen.

Sie fühlte... nichts. Eine Leere, die entsetzlicher als der Haß zuvor, schlimmer als die Angst war. Dann Entsetzen, ein unendlich tiefes, kaltes Grauen vor sich selbst, vor dem Ungeheuer, in das sie sich für Augenblicke verwandelt hatte, dem Blutrausch, der sie überkommen hatte. Sie hatte getötet, aber zum allerersten Mal in ihrem Leben hatte es ihr Freude bereitet, keine Befriedigung, wie bei Hraban, keinen Triumph, wie in den unzähligen Schlachten und Zweikämpfen, die sie bestanden hatte, sondern Freude. Und sie wußte, daß es keine Rolle spielte, daß es ein Hornkopf gewesen war. In diesem Moment hätte sie auch Lyss oder eine der beiden anderen Frauen erbarmungslos – und mit dem gleichen furchtbaren Gefühl – getötet.

Plötzlich war ihr kalt. Und sie ekelte sich vor sich selbst. Angewidert schleuderte sie die Waffe von sich, stand auf und blieb einen Moment reglos mit geballten Fäusten und geschlossenen Augen stehen, bis ihre Hände und Knie aufgehört hatten, haltlos zu zittern. Hrhon hockte neben Essks Leichnam, reglos und in unnatürlich verkrampfter Haltung, als sie neben ihn trat. Im ersten Moment glaubte sie, er wäre verletzt. Aber dann sah sie, wie seine Hand in einer unglaublich sanften Bewegung über Essks zerstörtes Gesicht glitt und ihre Lider schloß, und sie begriff, daß Hrhons Schmerz nicht körperlicher Art war.

Ein Gefühl sonderbarer Wärme durchströmte sie. Es war absurd, und es war unglaublich grausam – aber genau das war es, was Tally in diesem Moment spürte: ein Gefühl von Freundschaft und Verbundenheit mit dem Waga, wie sie es niemals zuvor irgendeinem anderen lebenden Wesen gegenüber empfunden hatte. Sie spürte Hrhons Schmerz, den furchtbaren Verlust, den er erlitten hatte, und sie teilte ihn, und trotzdem überkam sie eine tiefe Erleichterung, als sie begriff, daß Hrhon unter der Maske der unbesiegbaren Kampfmaschine ein fühlendes Wesen wie sie war. Sie hätte es in diesem Moment nicht ertragen, wäre es anders gewesen.

Sicherlich zehn Minuten stand sie einfach so da, blickte auf Hrhon und die tote Essk herab und schwieg, bis Hrhon ihre Nähe spürte und schwerfällig zu ihr emporblickte. Sein Gesicht war ausdruckslos wie immer, aber in seinen Augen schimmerten Tränen. Sie hatte bis zu diesem Moment nicht einmal gewußt, daß Wagas weinen konnten.

»Es... es tut mir leid, Hrhon«, sagte sie ganz leise. Hrhon schwieg.

»Du hast sie geliebt, nicht wahr?« Tally ließ sich neben dem Waga auf die Knie sinken und berührte seinen Schulterpanzer.

»Sssie whar meine Ghefährin«, antwortete Hrhon. In seiner Stimme war ein Klang, den Tally niemals zuvor darin gehört hatte.

»Deine Gefährtin.« Tally versuchte zu lächeln, aber sie spürte selbst, daß eine Grimasse daraus wurde.

»Großer Gott, Hrhon, du hast sie geliebt. Geliebt wie ein Mann eine Frau liebt, ein Mensch einen Menschen. Und ich habe euch für Tiere gehalten. All die Jahre hindurch.« Sie senkte beschämt den Blick. Hrhon antwortete nicht, aber vielleicht war es gerade das, was es so schlimm machte.

»Es tut mir so leid«, flüsterte sie.

»Dasss bhraucht esss nissst«, antwortete Hrhon.

»Sssie ssstarb im Khampf. Ein ghuter Tod fhür eine Waga.«

»Ein sinnloser Tod«, sagte Tally leise. »Es war alles umsonst, Hrhon. Ich habe euch hierher geführt und Essk damit umgebracht, und es hatte nicht einmal einen Sinn.«

»Sssie sssind tot«, sagte Hrhon mit einer Geste auf die beiden Drachenreiterinnen.

»Aber ich bin nicht gekommen, um sie zu töten«, antwortete Tally. »Ich wollte Informationen von ihnen. Ich wollte wissen, woher sie kommen. Warum sie tun, was sie tun.«

»Warum?« wiederholte Hrhon. »Warum whollt ihr dasss wisssen, Herrin?«

»Weil ich sie hasse, Hrhon«, antwortete Tally. »Sie haben mein Volk getötet. Sie haben meine Familie vernichtet und meine Stadt ausgelöscht, so wie sie Hunderte von Städten in Dutzenden von Ländern verbrannt haben. Ich hasse sie. Ich... ich kam hierher, um ihr Geheimnis zu ergründen. Ich wollte wissen, wer sie waren, und woher sie kamen.«

»Um sssie sssu sssuchen und aussszulösssen«, vermutete Hrhon. Tally nickte. Es war möglich, daß sie damit ihr eigenes Todesurteil aussprach, und sie wußte es, denn Hrhon gehörte zur Sippe, nicht zu ihr. Aber es war ihr gleich. Sie hätte sich nicht einmal gewehrt, hätte Hrhon sie in diesem Moment angegriffen.

»Ihr müssst sssie sssehr hasssen«, fuhr Hrhon fort, sehr leise, und sehr ernst.

»Mit jeder Faser meiner Seele«, antwortete Tally. »Ich lebe nur dafür, sie zu vernichten, Hrhon.« Ihre Stimme wurde hart. »Das ist der Grund, aus dem ich all dies getan habe. Aus dem ich Hraban gefolgt bin und ihn geheiratet habe. Aus dem ich die Anführerin einer Sippe von Mördern und Gesindel wurde, die durch die Welt zieht und die tötet, die die Drachen übersehen haben. Und es war alles umsonst.«

»Ssseid Ihr sssicher?« fragte Hrhon.

»Sie sind tot, oder? Tote reden nicht.«

»Eine lebt noch«, erinnerte Hrhon ruhig. »Sssie weiss nicht, wasss gesssehen issst«, fuhr Hrhon fort. »Whir wherden sssie ühberwälthigen. Sssie whird reden.«

»Und wenn nicht?« fragte Tally.

»Sssie whird«, behauptete Hrhon. »Ühberlassst sssie mhir, und ihr wheerdet erfharhen, wasss ihr wisssen wollt.«

Tally schwieg einen Moment. Der Gedanke, Maya – auch wenn sie zu ihren erklärten Todfeinden gehörte – einem zornigen Waga auszuliefern, erfüllte sie mit Schaudern. Aber dann blickte sie in Essks zerstörtes Gesicht, und sie begriff, daß dies die Bedingung war. Ohne daß es einer von ihnen mit nur einem Wort aussprechen mußte, war es eine Vereinbarung. Hrhon würde auch weiterhin bei ihr bleiben, so, wie er ihr mit seiner unerschütterlichen Ruhe und seiner ungeheuren Kraft stets geholfen hatte, aber der Preis dafür war Maya. Tally begann zu ahnen, daß ihr der Waga im innersten wohl sehr viel ähnlicher war, als sie bisher für möglich gehalten hatte.

»Sie werden erfahren, was hier geschehen ist«, sagte sie leise.

Hrhon schwieg.

»Du kannst nicht zurück zur Sippe, Hrhon«, fuhr Tally fort. »Sie werden sie auslöschen. Sie werden Conden verbrennen.«

Hrhon schwieg noch immer, und auch Tally sagte jetzt nichts mehr.

Eine Stunde später kehrten Maya und die Beterin zurück. Tally erschoß den Hornkopf mit Lyss' Waffe und ließ Hrhon mit Maya allein, um auf die Plattform am oberen Ende des Turmes hinaufzugehen. Sie fragte niemals, was er getan hatte, aber als die Sonne aufging und die erstarrten Dünen der Gehran mit Blut zu überschütten begann, kam der Waga zu ihr herauf. Seine Hände waren voller Blut, und es war nicht sein eigenes.

»Hat sie gesprochen?« fragte Tally, ohne ihn anzusehen.

Der Waga machte eine zustimmende Handbewegung.

»Isss weisss, whoher sssie khommen.«

Tally stand auf. Es war noch kalt, und ihre Glieder fühlten sich klamm und steif an. Fröstelnd rieb sie die Hände aneinander, trat ganz dicht an den Rand der Plattform heran und blickte in die Tiefe. Die Kälte nahm zu, obwohl die Sonne rasch höher stieg, aber es war eine Kälte, die eher aus ihr selbst zu kommen schien. Es war sonderbar – fünfzehn Jahre lang hatte sie von diesem Moment geträumt, und sie hätte Triumph verspüren müssen. Aber er kam nicht. Ganz im Gegenteil hatte sie beinahe Angst davor, endlich die Antwort auf die Frage zu bekommen, deren Lösung sie ihr Leben verschrieben hatte.

Es dauerte lange, bis sie fragte, woher die Drachen kamen.

Hrhon sagte es ihr.

Die Frau hatte aufgehört zu reden, aber das Mädchen merkte es im ersten Moment gar nicht. Sie war müde. Die Nacht war weit fortgeschritten – dem Morgen schon näher als der Mitternacht, und trotz allem, was es gehört und erlebt hatte, verlangte ihr Körper sein Recht. Das Kind war müde, und gleichzeitig hatte es eine fast panikartige Angst davor, einzuschlafen. Es hatte Angst, es könnte aufwachen und allein sein. Die fremde Frau mit den dunklen Haaren und der sanften Stimme, die so faszinierend zu erzählen wußte, war jetzt alles, was es noch hatte.

»Bist du müde, Kind?« fragte die Frau.

Das Mädchen schüttelte den Kopf, dann bemerkte es den zweifelnden Blick und lächelte verlegen. Nur noch mit Mühe unterdrückte es ein Gähnen. »Ja«, gestand es. »Aber ich will nicht schlafen.«

»Du kannst es ruhig«, sagte die Frau. »Ich werde aufpassen, daß dir nichts geschieht.«

Das Mädchen schüttelte beinahe erschrocken den Kopf. »Nein«, sagte es hastig. »Ich will nicht schlafen.« Es zögerte einen Moment, dann: »Ist... Tallys Geschichte damit zu Ende?«

Ihre Frage schien die Fremde zu amüsieren, denn sie lachte leise. »O nein«, sagte sie. Wieder – wie schon mehrere Male zuvor – legte sie den Kopf in den Nacken und blickte in den Himmel, und das Mädchen war jetzt sicher, daß sie es tat, weil sie etwas ganz Bestimmtes suchte oder auf etwas wartete. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, auf was. Aus dem Himmel kamen nur die Drachen und der Tod.

»Soll ich weitererzählen?« fragte die Frau.

Das Mädchen nickte.

»Dann hör zu«, sagte die Frau. »Es kam genau so, wie Tally geglaubt hatte. Natürlich erfuhren die Herren der Drachen, was in jener Nacht im Turm geschehen war, und sie übten furchtbare Rache. Tally und Hrhon gingen nicht zurück nach Conden, aber später hörten sie, daß die Drachen gekommen waren, kaum einen Monat nach ihrer Flucht, und die gesamte Sippe ausgelöscht hatten.«

Das Mädchen schauderte. Es erschien ihr ungerecht, daß so viele hatten sterben müssen, nur um der Rache einer einzelnen Frau wegen. Aber dann rief sie sich ins Gedächtnis zurück, daß es ja schließlich nur eine Geschichte war, die die Frau erzählte. Sie war schon lange sicher, daß es nichts anderes sein konnte.

»Und Tally?« fragte sie.

»Sie und Hrhon machten sich auf die Suche«, antwortete die Frau. »Sie wußten nun, woher die Drachen kamen. Aber der Weg war weit und voller Gefahren, und die meisten, die sie fragten, behaupteten, daß es ohnehin unmöglich wäre, ihn zu gehen. So suchten sie jemanden, der ihn schon einmal gegangen war. «

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