6. Kapitel Der Drachenfels

1

Der Drachenfels. Vor ihnen lag, wonach sie so lange gesucht hatte, fünfzehn – nein, mittlerweile beinahe schon siebzehn endlose Jahre ihres Leben. Der Drachenfels ...

Mehr als einmal in den letzten Tagen hatte sie ernsthaft daran zu zweifeln begonnen, daß sie ihn jemals erreichen würde. Trotz Karans Führung und Schutz hatte der Marsch das Letzte von ihnen verlangt, nicht nur in körperlicher, sondern auch und eigentlich viel mehr in psychischer Hinsicht. Karan hatte Wort gehalten; sie waren nicht angegriffen, ja, nicht einmal belästigt worden. Aber sie hatten das Ungeheuer geweckt, und es war in ihrer Nähe gewesen, die ganze Zeit über. Es war noch da.

Tally vertrieb die Erinnerungen an die letzten Tage, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und blickte nach Norden, wo der Fels wie eine gigantische schwarzbraune Nadel in den Himmel stieß. Es fiel ihr schwer, seine Höhe zu schätzen, weil es von einer bestimmten Größe an aufwärts einfach nicht mehr möglich war, so etwas zu tun. Und der Drachenfels hatte diese Größe eindeutig. Es war kein Fels, sonder ein Berg, an der Basis mindestens zwei Meilen durchmessend und drei-, wenn nicht viermal so hoch. Früher, als der Schlund noch ein Meer und voller Wasser gewesen war, mußte er eine Insel gewesen sein, und das bedeutete, daß er mindestens die Höhe der Klippe hatte. Vielleicht auch sehr viel mehr, denn der Boden über den sie sich bewegten, war während der letzten Tage beständig abgefallen.

»Ist er das?« fragte Angella. Wie Tally war sie aus dem Wald getreten und eine geraume Weile einfach schweigend stehengeblieben, um den titanischen Felsen anzustarren. Tally nickte, und Angella fuhr mit unveränderter Stimme fort: »Ich wußte immer, daß du verrückt bist. Aber ich wußte nicht, wie schlimm es war.«

Sie seufzte, wandte noch einmal den Blick, um zum Wald zurückzusehen, und schüttelte in übertrieben gespielter Resignation den Kopf. Sie sah müde aus, und wenn sie so müde war, wie Tally sich fühlte, dann mußte sie sehr müde sein.

»Gehen wir weiter«, befahl Tally. Die Sonne stand bereits tief, in einer Stunde würde es Nacht werden. Und Tally wollte bis dahin möglichst weit vom Wald und seinem schrecklichen Beherrscher entfernt sein. Karan hatte bisher Wort gehalten, und es gab keinen Grund, anzunehmen, daß er es nicht auch weiter tun würde – aber sie spürte die Nähe des Ungeheuers noch immer wie eine erdrückende Last, und Angella und auch Hrhon erging es nicht anders. Keiner der beiden widersprach, als sie weitergingen.

Vor ihnen breitete sich eine Landschaft aus, wie sie öder nicht einmal in der großen Wüste gewesen war, in der Tallys Suche begonnen hatte. Es gab keine Spur von Leben – nur harten, von Millionen und Millionen und Millionen Jahren geduldiger Erosion zerschundenen Fels, phantastisch zackige Formen bildend, zwischen denen sich hier und da kleine, trügerisch glatte Nester von weißem Sand gebildet hatten. Karan hatte sie vor diesen Sandflächen gewarnt, wie vor so vielem, was sie erwarten mochte. Es gab einen Unterschied zwischen dieser Wildnis und den Wüsten, die Tally kannte – beide waren gleich tödlich, aber die Gefahren des Schlundes waren viel direkterer Art.

Trotzdem verschwendete Tally kaum mehr als einen flüchtigen Gedanken daran. Sie waren viel zu weit gekommen, um sich jetzt noch aufhalten zu lassen. Eine halbe Stunde lang marschierten sie schweigend dahin, erschöpft, viel zu müde, um miteinander zu sprechen oder auch nur zurückzublicken. Hitze lag wie ein flimmernder Schleier über der Steinwüste, und schon bald meldete sich der Durst wieder, der wie sein Bruder, der Hunger, in den letzten Tagen zu einem treuen Begleiter geworden war. Sie hatten wenig Wasser gefunden, kleine, ölig schimmernde Pfützen, deren bloßer Anblick ihnen die Mägen herumgedreht hatte, aber keine Nahrung, und fünf Tage Hunger begannen ihren Preis zu fordern. Tally geriet jetzt schon bei kleineren Anstrengungen außer Atem, und oft wurde ihr übel. Sie fragte sich, wie sie den Aufstieg schaffen wollten, erschöpft und schwach, wie sie waren.

Als es zu dämmern begann, war der Drachenfels noch nicht näher gekommen. Der Himmel über ihnen überzog sich mit Rot, dann mit Grau, das rasch und lautlos wie ein Tintenfleck in holzigem Papier über das Firmament kroch, und gleichzeitig wurde es kalt. Die Schatten zwischen den Felsen färbten sich schwarz.

»Whir sssollten rasssten«, sagte Hrhon. »Vhergessst nissst, wasss Kharan gesssagt hat.«

Tally nickte müde. Wie konnte sie? Karan hatte von Abgründen gesprochen, die jäh zwischen den Felsen aufklafften, und von gefährlichen Dingen, die darin hausten, nicht so tödlich wie der Schlund, aber tödlich genug für drei Wahnsinnige wie sie, die sich einbildeten, die Welt auf den Kopf stellen zu können. Beinahe wahllos deutete sie auf eine Ansammlung mächtiger grauer Felsbrocken, die wenige Schritte neben ihrem Weg aufragten.

»Dort.«

Auf den letzten Metern ließen ihre Kräfte rapide nach, als schwände mit dem Tageslicht auch die Energie aus ihren Körpern. Hrhon mußte Tally stützen, damit sie auf dem unebenen Boden nicht fiel und sich verletzte, und auch Angella taumelte mehr in den Schutz der Steine, als sie ging.

Als sie sie endlich erreicht hatten, brach die Nacht herein.

Es war ein bizarrer Anblick: Der Schatten der Klippe, nun mehr als hunderfünfzig Meilen lang, wanderte wie eine Mauer aus Schwärze über das Land, verschlang den Wald, das lächerliche kurze Stück freien Geländes, das sie bisher zurückgelegt hatten, und schließlich auch ihr Versteck. Es wurde so dunkel, daß sie selbst Hrhon nur noch als verschwommenen Schatten erkennen konnte, obwohl er unmittelbar neben ihr saß.

Eine Zeitlang saßen sie einfach reglos da, still, jede für sich in seine eigenen, düsteren Gedanken versunken. Tally hätte erleichert sein müssen, denn das Allerschlimmste lag hinter ihnen; die größte Gefahr, die diese Welt bieten konnte, war überwunden. Aber sie spürte nichts als Mutlosigkeit.

Schließlich war es Angella, die das Schweigen brach.

»Wir sollten Wachen aufstellen«, sagte sie matt. Wie zur Antwort erscholl aus der Nacht ein schrilles, mißtönendes Kreischen, noch sehr weit entfernt, aber unzweifelhaft von etwas sehr Großem ausgestoßen.

Überhaupt war die Nacht nicht still: überall raschelte und polterte es, da waren Geräusche wie Schritte, etwa, das sie an das Schleifen schwerer horniger Körper auf hartem Fels erinnerte, und andere Laute, von denen sie gar nicht wissen wollte, was sie wirklich bedeuteten. Tally versuchte sich einzureden, daß es nur der Wind war, der sie narrte.

»Dasss mache isss«, erbot sich Hrhon. Tally hörte, wie er aufstand und sich entfernte. Ihr schlechtes Gewissen meldete sich. Hrhon war ungeheuer zäh – fünfzigmal so stark wie ein Mensch und sicher auch ebenso leistungsfähig, aber er hatte – wie so oft – die Hauptlast der letzten Tage getragen; im wahrsten Sinne des Wortes. Mehr als einmal hatte er Angella und sie über Meilen hinweg auf der Schulter getragen, wenn ihre Kräfte versagten und ihre Beine sich einfach weigerten, sich immer wieder aus dem klebrigen Sumpf zu lösen. Er hatte sie getragen, wenn sie schlafen wollten, oder wenn Karan – ohne einen Grund dafür anzugeben – plötzlich darauf bestand, einen bestimmten Ort sehr schnell wieder zu verlassen. Auch ein Waga brauchte von Zeit zu Zeit Ruhe, um sich zu erholen. Sie würde ihn umbringen, wenn sie ihn weiterhin so unbarmherzig antrieb. Aber sie war viel zu müde, um der Stimme ihres Gewissens nachzugeben.

»Weck mich in zwei Stunden!« rief Angella ihm nach.

»Ich löse dich dann ab. Oder besser in drei.«

Hrhon zischelte eine Antwort und verschwand vollends in der Nacht. Die Geräusche der Wüste verschluckten seine Schritte.

»Immer noch die starke Angella, wie?« fragte Tally spöttisch. »Hast du immer noch nicht genug? Oder kannst du einfach nicht anders?« Sie verstand selbst nicht genau warum sie das sagte – es wäre an ihr gewesen, so zu reagieren. Vielleicht war sie einfach in der Lage eines verwundeten Tieres, das Schmerzen litt und wild um sich biß; selbst in die Hand, die sie streicheln wollte.

»Du hast recht«, antwortete Angella. Ihre Stimme klang sehr ernst. »Ich kann wirklich nicht anders. Es ist nicht meine Art, die im Stich zu lassen, die mir geholfen haben.«

Tally fuhr zusammen wie unter einem Hieb. Angellas Worte taten weh, sehr weh. Und Angella schien zu spüren, wie sehr sie sie getroffen hatte, denn Tally hörte, wie sie sich in der Dunkelheit bewegte und ein Stück auf sie zukroch. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme sehr viel näher.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Das wollte ich nicht.«

»Ich auch nicht.« Tally lächelte, obwohl sie wußte, daß Angella es nicht sehen konnte.

»Was?«

»Das vorhin. Du hast vollkommen recht – Hrhon ist am Ende. Ich muß ihn ein wenig schonen.«

Angella lachte leise. »Wozu? Bildest du dir wirklich ein, einer von uns käme lebend hier heraus? Das schafft niemand.«

»Karan hat es geschafft«, erinnerte Tally.

»Karan!« Angella schnaubte abfällig. »Karan war ein... ein Ding, kein Mensch mehr. Und er hatte seinen verdammten Gleiter.« Tally hörte, wie sie heftig den Kopf schüttelte, dann hob sie den Arm und deutete in die Richtung, in der der Drachenfels hinter der Nacht aufragte. »Du willst dort hinauf? Das schafft niemand!«

»Warum bleibst du dann bei mir?« fragte Tally matt. Sie hatte keine Lust, zu streiten, schon gar nicht mit Angella.

»Eine gute Frage«, erwiderte Angella böse. »Vielleicht, weil ich sehen will, wie du endlich krepierst, Schätzchen.«

»Das hättest du einfacher haben können«, sagte Tally böse. Sie drehte sich mit einem Ruck herum, legte den Kopf gegen den noch warmen Fels und schloß die Augen. »Laß micht jetzt in Ruhe«, fuhr sie fort. »Ich will schlafen. Du kannst mich drei Stunden vor Sonnenaufgang wecken. Oder besser zwei.«

Angella schnaubte eine Antwort, die Tally nicht verstand, und kroch wieder zu ihrem Platz zurück.

Aber Tally schlief nicht. Sie war müde wie niemals zuvor in ihrem Leben, doch der Schlaf wollte nicht kommen. Es war zu viel, was ihr durch den Kopf ging, und es waren Dinge, die sie um so mehr erschreckten, weil sie keine Erklärung dafür hatte. Angella und sie hatten nicht darüber gesprochen – weil sie während der letzten vier Tage kaum dazu gekommen waren, mehr als ein Dutzend Wort miteinander zu wechseln – aber sie beide wußten, daß Karan ihnen nicht die Wahrheit gesagt hatte. Er hatte nicht gelogen, denn das hatte er nicht nötig gehabt, aber er hatte ihnen lange nicht alles gesagt. Sie hatte Wellers Schreie gehört und das namenlose Entsetzten darin, und irgend etwas in ihr hatte gespürt, wie sehr er litt. Karan hatte nicht mehr getan, als einen winzigen Zipfel des Geheimnisses vor ihren Augen zu lüften und die Decke wieder fallen zu lassen, lange bevor sie wirklich einen Blick darunter werfen konnten. Und trotzdem hatte das winzige bißchen, das sie erblickte, Tally bis auf den Grund ihrer Seele erschauern lassen. Und das Ungeheuer war noch da. Tally hatte keinen Beweis dafür, aber den brauchte sie auch nicht. Das Monster war erwacht, und es war da, belauerte sie, starrte sie mit unsichtbaren Augen aus der Dunkelheit heraus an, wartete... worauf?

2

Sie mußte wohl doch eingeschlafen sein, denn das nächste, was sie wahrnahm, war Hrhons Hand, die unsanft an ihrer Schulter rüttelte. Erschrocken fuhr sie hoch und senkte die Hand zur Waffe.

»Nissst!« zischelte Hrhon. »Isss bin esss!«

»Was ist los?« murmelte Tally schlaftrunken. »Du solltest das nicht tun. Ich könnte dich erschießen, weißt du?«

»Wasser«, antwortete Hrhon. »Isss habe Wassser gefunden!«

Tally sprang so schnell auf die Füße, daß ihr schwindelig wurde und sie sich an Hrhons Schulter festhalten mußte.

»Wasser? Wo?«

Hrhon machte eine vage Geste in die Dunkelheit hinein.

»Nissst sssehr weit. Kohmmt!«

Sie weckten Angella und eilten los. Wie Hrhon gesagt hatte, war es wirklich nicht sehr weit – drei, vielleicht vier Dutzend Schritte, für die sie allerdings eine geraume Zeit brauchten, denn selbst Hrhon tastete sich wie ein Blinder mit weit ausgestreckten Armen durch die pechschwarze Nacht. Dann umrundeten sie einen gewaltigen kugelförmigen Felsen, und vor ihnen lag ein flacher See, wie ein matt gewordener Spiegel im Sternenlich glänzend. Angella schrie erleichert auf, stieß Tally einfach beiseite und rannte los. Mit einem zweiten, erleichterten Schrei fiel sie auf die Knie, beugte das Gesicht zum Wasser herab und begann mit großen, gierigen Schlucken zu trinken. Eine Sekunde später fuhr sie hoch, spie das Wasser würgend wieder aus und prallte zurück, als wäre sie von einem giftigen Insekt gestochen worden.

»Was ist los?« rief Tally erschrocken. »Was hast du?« Angella drehte sich herum. Ihr Gesicht war vor Ekel verzerrt. »Das Wasser...«, murmelte sie. »Es ist...« Tally hörte gar nicht mehr hin, sondern kniete am Rande des Sees nieder, schöpfte eine Handvoll Wasser und roch daran, ehe sie vorsichtig und nur mit der Zungenspitze kostete.

»Es schmeckt... salzig!«

»Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts«, maulte Angella. »In der Brühe kann man höchstens Fleisch einpökeln. Wenn du es trinkst, dann wirst du sterben!« Tally blickte mit einer Mischung aus Zorn und Enttäschung auf den See hinab. Sie brauchten so dringend Wasser. Und der Anblick der glänzenden flachen Ebene ließ ihren Durst zu schierer Raserei aufkommen.

»Whir khönnten esss abkhochen«, schlug Hrhon vor.

»Oh, ja«, sagte Angella wütend. »Eine wirklich gute Idee. Wir nehmen einfach ein paar Felsen und stecken sie in Brand, und schon haben wir das schönste Feuer, nicht wahr?« Sie schnaubte, stieß wütend mit dem Fuß in den Boden, daß der Sand hochspritzte und ins Wasser klatschte, und fuhr herum. Eine Sekunde später verengten sich ihre Augen. Ihre Hand senkte sich auf die Waffe herab, führte die Bewegung aber nicht zu Ende.

»Was hast du«, fragte Tally.

Angella zögerte zu antworten. Schließlich schüttelte sie unwillig den Kopf. »Nichts«, sagte sie. »Ich dachte, ich hätte etwas gesehen. Ich muß mich getäuscht haben.« Sie seufzte. »Laßt uns zurückgehen. Wenn wir schon kein Wasser finden, sollten wir wenigstens schlafen.«

»Esss wäre bessser, wheitersssugehen«, sagte Hrhon.

»Ihr habt ssswei Ssstunden gessschlafen.«

»Oh, phantstisch«, antwortete Angella wütend. »Deshalb fühle ich mich wie neugeboren.«

Tally blieb ernst. »Hrhon hat vollkommen recht«, sagte sie. »Du hast keine große Wüstenerfahrung, wie?«

»Warum?« fragte Angella feindselig.

»Weil du dann wüßtest, daß es besser ist, tagsüber zu schlafen und nachts zu gehen.« Sie deutete nach Norden. Ihre Augen hatten sich weit genug an die Dunkelheit gewöhnt, sie den Drachenfels wie eine Säule aus erstarrter Dunkelheit in der Nacht erkennen zu lassen.

»Es sind drei Tagesmärsche bis dorthin; mindestens. Und es wird sehr heiß hier, tagsüber.«

Angella schwieg einen Moment. »Ohne Wasser halten wir das sowieso nicht durch«, murmelte sie.

Tally seufzte. »Ich frage mich, wie du es geschafft hast, dir halb Schelfheim unter den Nagel zu reißen, wenn du so leicht aufgibst.«

»Leicht?« Angella ächzte. »Du machst Witze, wie? Wir...«

»Ssstill!« zischte Hrhon.

Angella verstummte auf der Stelle und sah den Waga erschrocken an. »Was ist?«

»Jemand issst in der Nhähe«, flüsterte Hrhon. »Drachen!«

»Drachen?« Angella zog nun doch ihre Waffe und sah sich wild um. »Wo? Ich höre nichts.«

»Hrhon kann sie spüren«, widersprach Tally. Auch sie zog ihren Laser und schaltet ihn ein, achtete aber sorgsam darauf, das rote Licht in seinem Griff mit der Hand abzudecken. Sie wußte, wie weit auch ein kleines Licht in der Dunkelheit zu sehen war.

»Aber das ist völlig ausgeschlossen!« widersprach Angella. »Woher sollen sie wissen, wo wir sind?«

»Vielleisst hahben ssie auf unsss ghewartet?« schlug Hrhon vor.

Tally nickte zustimmend. »Hast du vergessen, wie leicht sie uns im Wald gefunden haben? Ich traue dieser Jandhi alles zu.«

»Sie müßte zaubern können, um unsere Spur jetzt noch aufzunehmen«, sagte Angella.

»Vielleicht auch das.« Tally machte eine hastige Bewegung, zu schweigen, deutete in die Richtung zurück, in der ihr improvisiertes Nachtlager lag, und huschte los, Hrhons breiten Rücken als lebende Deckung vor sich. Ihre Hand schloß sich so fest um den Laser, wie sie nur konnte.

Hrhon, Angella und sie waren jetzt alle drei mit den schrecklichen Drachenwaffen ausgerüstet; denn Tally hatte sich schweren Herzens entschlossen, Angella die Waffe der getöteten Insektenreiterin zu überlassen. Jetzt fragte sie sich, ob es vielleicht ein Fehler gewesen war. Nach einer Weile blieb Hrhon wieder stehen, hob die linke Hand und legte die andere auf die Lippen. Und diesmal hörte auch Tally die Geräusche – Laute, die nicht in den Gesang der Nacht paßten: das Schleifen von Metall, Schritte, schließlich sogar Stimmen, ohne daß sie die Worte verstehen konnte.

Dann sah sie das Licht.

Es war ein sehr sonderbares, ungewohnt weißes Licht – ein dünner, sehr weißer Strahl, der hinter den Felsen auftauchte und einen Moment lang wie ein leuchtender Finger über den Himmel glitt, ehe er sich wieder senkte und unsichtbar wurde. Eine Stimme bellte einen scharfen Befehl.

»Vorsichtig jetzt!« befahl Tally im Flüsterton. »Keinen Laut. Und – Angella?«

Angella antwortete nicht, aber sie war stehengeblieben und sah Tally fragend an. »Keine Dummheiten diesmal«, sagte Tally. »Ich will kein Gemetzel.«

Sie schlichen weiter. Der Weg zurück zu ihrem Lagerplatz kam Tally weiter vor als der zum See hinab, aber das mochte an ihrer Aufregung liegen; möglicherweise machte Hrhon auch einen Umweg, um sich den Drachenreiterinnen von der entgegengesetzten Seite zu nähern.

Sie sahen das Licht kein zweites Mal, aber die Stimmen und das Geräusch von Schritten leiteten sie: es waren die Schritte von mindestens zwei, wahrscheinlich aber mehr Frauen, dazwischen das hohe, mißtönende Pfeifen eines Hornkopfes.

Dann lag das natürlich gewachsene Felsenfort wieder vor ihnen, und Tally sah zum zweiten Male dieses sonderbare Licht. Sie konnte jetzt auch seine Quelle ausmachen – es war eine Lampe, die die Drachenreiterinnen mitgebracht hatten, eines von ihren technischen Zauberdingen, nicht größer als eine Sturmlaterne, wie sie Tally kannte, aber hundertmal stärker. In ihrem kalkweißen, beinahe schattenlosen Licht waren deutlich die Gestalten zweier hochgewachsener, dunkel gekleideter Frauen auszumachen, die dabei waren, den Lagerplatz gründlich zu untersuchen.

Dabei gab es nicht viel, was der Untersuchung wert gewesen wäre – Tally hatte ihren Mantel zurückgelassen, und den Gürtel mit dem Schwert, Angella ihren Umhang, sonst nichts.

»Ghreifen whir sssie an?« flüsterte Hrhon.

Tally schüttelte hastig den Kopf, dann fiel ihr ein, Hrhon die Bewegung schwerlich sehen konnte. »Nein«, flüsterte sie. »Nicht, bevor wir wissen, wie viele es wirklich sind.«

»Zwei«, sagte Angella. »Sieh nach rechts – es sind zwei Hornköpfe.«

Tally blickte konzentriert in die angegebene Richtung. Am Rand des scharf abgegrenzten hellen Kreises, den die Lampe in die Nacht brannte, hockten zwei der gewaltigen fliegenden Hornköpfe, gesattelt und mit dünnen Ketten aneinandergebunden, damit sie ihren Besitzerinnen nicht davonfliegen und sie in der Wüste zurücklassen konnten. Und so groß die Bestien auch waren; Tally bezweifelte, daß sie mehr als einen Reiter tragen konnten. Trotzdem schüttelte sie den Kopf. Die Dunkelheit dahinter konnte hundert weitere Ungeheuer verbergen, ohne daß sie sie auch nur sahen – und es gab auch gar keinen Grund, die beiden Frauen anzugreifen. Daß sie hier waren, konnte Zufall sein, wenn auch ein verdammt großer. Und auch ein Kundschafter, der nicht zurückehrte, konnte eine Nachricht bringen, Als sie sich herumdrehte, um Angella ihre Überlegungen mitzuteilen, war der Felsen neben ihr leer. Tally fluchte, sprang in die Höhe und war mit einem Schritt neben Hrhon. »Wo ist Angella?«

»Isss weisss nisst«, zischelte Hrhon. »Isss dachte, sssie whäre bei Eusss!«

»Oh verdammt!« murmelte Tally. »Diese Närrin wird uns noch alle umbringen.« Sie machte eine befehlende Geste. »Such sie! Schlag sie nieder, wenn es sein muß, aber bring sie zurück, ehe sie noch mehr Unheil anrichtet!«

Der Waga verschwand lautlos in der Dunkelheit, während Tally wieder zu den Felsen zurückhuschte, aus deren Deckung heraus sie die beiden Drachenreiterinnen beobachtet hatte. Im stillen verfluchte sie sich dafür, nicht besser auf Angella achtgegeben zu haben. Trotz allem war sie nichts als ein dummes Kind, das sich selbst und auch sie und Hrhon mit seiner Dickköpfigkeit in Gefahr bringen würde.

Mit klopfendem Herzen blickte sie zu den beiden Frauen hinüber. Sie waren auf die Tally schon sattsam bekannte Art gekleidet – in schwarzes, hauteng anliegendes Leder, dazu mit Helmen, die bei heruntergeklapptem Visier auch ihre Gesichter bis auf den letzten Quadratmillimeter bedeckten. Selbst die Augen waren geschützt hinter zwei kleinen, oval geformten dunklen Gläsern, was ihnen selbst etwas Insektenhaftes gab. Wahrscheinlich war diese Art von Kleidung nötig, damit sie die enorme Kälte ertrugen, die meilenhoch in der Luft auf den Rücken ihrer Flugtiere herrschte. Die beiden bewegten sich unruhig. Tally sah, wie eine von ihnen in einen jener kleinen Kästen sprach, die sie bereits kannte, während die andere nervös im Kreis ging und dabei mit etwas spielte, was wie eine vergrößerte Ausgabe der kleinen Laser aussah. Von Angella war keine Spur zu entdecken.

Irgendwo links von Tally bewegte sich etwas. Ein heller Schemen huschte durch die Nacht und verschwand wieder. Ein Stein kollerte.

Tallys Herz schien mit einem gewaltigen Satz direkt bis in ihre Kehle hinaufzuhüpfen und dort schneller und ungleichmäßig weiterzuhämmern. Konzentriert starrte sie in die Richtung, in der sie die Bewegung wahrgenommen hatte. Sie sah nichts mehr, aber sie war vollkommen sicher, sich nicht getäuscht zu haben. Natürlich konnte es ein Tier gewesen sein, aber andererseits...

Sie blickte noch einmal sichernd zu den beiden Frauen hinüber, sah, daß sie sich nicht von der Stelle gerührt hatten, und huschte davon. Ihre Knie schrammten im Dunkeln schmerzhaft über rauhen Fels, und plötzlich war unter ihren Füßen nichts mehr. Tally fiel, unterdrückte im letzten Moment einen erschrockenen Aufschrei und landete ungeschickt auf Händen und Füßen. Weicher, staubfeiner Sand dämpfte ihren Aufprall. Sie rollte herum, sprang gedankenschnell wieder in die Höhe und hob ganz instinktiv die Waffe, als sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm.

Was immer es war – es war verschwunden, ehe sie es genau erkennen konnte. Wieder sah sie nur einen hellen Schemen, etwas von der Größe und den ungefähren Proportionen eines Menschen. Und wieder war es verschwunden, ehe ihr Blick es erfassen und festhalten konnte.

Aber etwas blieb. Ein leichtes Glitzern wie von Sternenlicht, das sich auf etwas Glänzendem brach, auf etwas, das...

Etwas, das flüssig war und unbeschreiblich süß roch...

Diesmal gelang es Tally nicht mehr ganz, einen erleicherten Aufschrei zu unterdrücken. Mit einem Satz war sie neben dem Tümpel, tauchte die Hände hinein und kostete hastig von dem eiskalten Wasser.

Es war nicht salzig. Es war süß und kalt und klar wie frisches Quellwasser. Es war Quellwasser!

Tally ließ ihre Waffe fallen, beugte sich vor und tauchte das Gesicht in den Tümpel. Sie trank, bis ihre Lungen zu platzen drohten und sie sich aufrichten mußte, um zu atmen, aber auch dann schöpfte sie mit beiden Händen weiter Wasser, schüttete es sich über Gesicht und Hals und hörte erst auf, bis sie bis auf die Haut durchnäßt war und am ganzen Leib vor Kälte zitterte.

Als sie die Augen öffnete, fiel ihr Blick direkt auf das Wasser. Die Oberfläche der kleinen Pfütze war in Aufruhr; winzige Wellen huschten über den kaum metergroßen Tümpel und gaben ihm das Aussehen eines zerbrochenen Spiegels. Und trotzdem konnte sie die menschliche Gestalt deutlich erkennen, die sich darauf wiederspiegelte...

Tally ließ sich einfach zur Seite fallen. Blitzschnell rollte sie herum, raffte den Laser auf und war im Bruchteil einer Sekunde wieder auf den Knien.

Vor ihr war nichts.

Die Nacht war so leer wie eh und je, und auf dem Tümpel spiegelte sich nichts weiter als das blasse Licht der Sterne. Aber sie war doch nicht verrückt!! Oder?

Tally zog auch diese Möglichkeit einen Moment lang ernsthaft in Betracht – sie war oft genug in der Wüste gewesen, um zu wissen, wie schnell Hitze und Durst die Sinne verwirren konnten, auch und vielleicht gerade die jener, die sich sicher wähnten. Aber was sie gesehen hatte, war keine Halluzination gewesen, sondern Tatsache: für einen unendlich kurzen Moment hatte sie ganz deutlich eine menschliche Gestalt gesehen. Sie hatte sogar das Gesicht erkannt, und Ein blauweißer Blitz von ungeheurer Leuchtkraft stieß hinter ihr in den Himmel hinauf. Für den Bruchteil eines Herzschlages wurde die Welt vor ihren Augen zu einem grellen Negativ in abgrundtiefem Schwarz und unerträglich gleißendem Licht, und plötzlich hörte sie einen Schrei von solchem Entsetzen, daß sich etwas in ihr schmerzhaft zusammenzuziehen schien. Dann erlosch das Licht, und eine halbe Sekunde später auch der Schrei. Aber die Stille, die ihm folgte, war beinahe noch schlimmer...

Tally rannte los. Sie gab sich jetzt keine Mühe mehr, leise zu sein; das Versteckspiel war ziemlich sinnlos geworden. Trotzdem kam sie kaum von der Stelle. Sie war beinahe blind. Nach den grellweißen Lichtblitzen erschien die Nacht doppelt dunkel; mehr als einmal stolperte sie und fiel. Selbst als sie – nach nur wenigen Augenblicken – wieder das Licht der Zauberlampe vor sich sah, erkannte sie im ersten Moment nicht mehr als Schatten, die sich einzig von den Felsen unterschieden, weil sich zwei davon bewegten.

Trotzdem erkannte sie genug. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren nicht wahr geworden – sie waren übertroffen. Das kleine, aus Felsen und Sand gebildete Halbrund hatte sich in ein Schlachtfeld verwandelt. Die beiden Frauen waren tot. Die Hände der Jüngeren umklammerten noch immer den Schaft der gewaltigen Laserwaffe, deren Blitz die Nacht zerrissen hatte, aber Tally erkannte sie nur noch an diesen Händen: Schultern und Kopf waren verschwunden, nicht zermalmt oder verbrannt, sondern einfach nicht mehr da. Die Wunde blutete nicht einmal stark.

Ihre ältere Begleiterin lag nur wenige Schritte neben ihr auf dem Bauch, die Hände in den weichen Sand gegraben, als hätte sie noch im Tode versucht, sich irgendwo zu verstecken, mit so unnatürlich verrenkten Gliedern, daß sie einfach tot sein mußte. Angella kniete über ihr, den Dolch in der linken Hand. Mit der anderen durchsuchte sie die Taschen der Toten.

Rote Schleier von Wut vernebelten Tallys Blick. Sie war mit einem einzigen Schritt bei ihr, krallte die Hand in ihr Haar und riß sie so grob in die Höhe, daß Angella vor Schmerz aufschrie und ganz instinktiv das Messer hob. Tally schlug es ihr aus den Fingern, gab ihr einen Stoß vor die Brust und versetzte ihr mit der anderen Hand eine schallende Ohrfeige; so fest, daß ihre eigene Hand brannte. Aber ihre Wut legte sich nicht; ganz im Gegenteil. Mit einem Male hatte sie zu nichts mehr Lust, als Angellas Hals zwischen die Hände zu nehmen und einfach zuzudrücken.

»Verdammte Närrin!« schrie sie mit überschnappender Stimme. »Bist du einfach nur dumm, oder ist dein bißchen Gehirn schon so krank, daß du nicht mehr weißt, was du tust?« Angella wollte sich schon hochstemmen, aber Tally sprang auf sie zu, versetzte ihr eine zweite Ohrfeige und gab ihr einen Stoß, der sie vollends zu Boden schleuderte. »Ich hatte befohlen –«

»Sssie war esss nissst«, unterbrach sie Hrhon.

Tally erstarrt für einen Moment. Ihre Hand, schon zu einem dritten Schlag erhoben, verharrte reglos in der Luft, als sie sich zu dem Waga umwandte. »Was... hast du gesagt?«

»Daß ich es nicht war!« fauchte Angella. Sie hatte sich wieder gefangen und starrte Tally aus Augen an, in denen die schiere Mordlust blitzte. Die linke Hand hatte sie auf ihre schmerzende Wange gepreßt.

»Was... was soll das heißen?« stammelte Tally. »Du ...«

»Ich habe diese beiden nicht umgebracht«, unterbrach sie Angella zornig. »Ich wollte es, verdammt noch mal, ja, und ich hätte es getan, wenn diese dämliche Riesenschildkröte mich nicht daran gehindert hätte, aber ich habe sie nicht angerührt. Hrhon und ich waren mindestens fünfzig Meter entfernt, als wir den Schrei hörten.« Sie stemmte sich hoch, trat einen Schritt auf Tally zu und legte den Kopf schräg. »Was ist mit dir passiert? Hast du Wasser gefunden?«

Tally ignorierte ihre Frage. Verwirrt wandte sie sich an den Waga. »Ist das... wahr?«

Hrhon versuchte ein Nicken nachzuahmen. »Esss stimmt«, sagte er. »Isss habhe sssie eingheholt, ehe sssie herkham. Dhann habhen wir den Sssrei ghehört.«

»Aber wenn du es nicht warst, wer...« Tally brach verwirrt ab, blickte Angella noch einen Moment lang mißtrauisch an, dann drehte sie sich herum und kniete neben der Toten nieder, deren Taschen Angella gerade durchsucht hatte. Mit einem entschlossenen Ruck drehte sie sie herum.

Eine Sekunde später wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan.

»Oh«, murmelte sie. Ihre Hände begannen zu zittern. Ein bitterer, schmerzender Klumpen war plötzlich in ihrem Hals. Sie stand auf, schloß für einen Moment die Augen und versuchte, die immer schlimmer werdende Übelkeit zurückzudrängen, die aus ihrem Magen hochstieg. Mit einem Male hatte sie das Gefühl, Blut zu schmecken.

»Großer Gott!« flüsterte Angella. »Was ist hier geschehen?! «

»Ich... ich weiß es nicht«, sagte Tally. »Aber ich glaube dir, daß du es nicht warst.«

»Oh, vielen Dank«, fauchte Angella. Auch sie war blaß geworden, hatte sich aber deutlich besser in der Gewalt als Tally. »Ich nehme deine Entschuldigung an. Und wenn dir wieder einmal danach ist, jemanden zu ohrfeigen, komm einfach zu mir.«

»Aber wenn... wenn du es nicht warst – wer dann?« fragte Tally verstört. »Habt ihr irgend etwas gesehen – oder gehört?«

Angella schüttelte ärgerlich den Kopf, bückte sich nach ihrem Dolch und schob ihn mit einem unnötig harten Ruck in den Gürtel. »Vielleicht ein Tier«, vermutete sie.

»Karan hat uns vor Raubtieren gewarnt, oder?«

»Ein Tier?« Tally zwang sich, noch einmal auf die Tote herabzusehen. Beinahe sofort wurde ihr wieder übel. »Ich kann mir kein Tier vorstellen, das so etwas anrichten könnte.«

»Ich schon«, erwiderte Angella. »Ich kenne sogar ein paar.«

»Aber ein Ungeheuer von dieser Größe müßte Spuren hinterlassen!« Tally deutete auf den Boden. Der Sand war von ihren und den Schritten der beiden Drachenreiterinnen aufgewühlt – aber es waren nur die Spuren menschlicher Füße, die sie sah. Und plötzlich war die Angst da. Von einer Sekunde auf die andere bildete sich Tally ein, angestarrt zu werden, belauert von unsichtbaren, gierigen Augen. Und waren da nicht Schritte in der Stille? Sie verscheuchte den Gedanken.

»Vielleicht ist es geflogen«, murmelte Angella. Aber auch sie wirkte plötzlich verunsichert.

»Das hätten wir gesehen.« Tally schüttelte entschieden den Kopf. Dann fiel ihr etwas auf. »Die Hornköpfe!« sagte sie.

Angella blickte verstört zu den beiden gigantischen Fluginsekten hinüber. Sie hatten sich nicht gerührt, sonder standen einfach reglos da, aneinandergebunden und mit teilnahmelos glitzernden Facettenaugen. »Was soll damit sein?«

»Sssie lheben«, sagte Hrhon.

»Genau!« Tally nickte heftig. »Wenn das hier ein Raubtier war, warum hat es sie dann nicht auch getötet?« Angella sah sie und Waga einen Moment lang betroffen an, dann machte sie eine ärgerliche Handbewegung.

»Ach verdammt, woher soll ich das wissen?« fauchte sie.

»Und es interessiert mich auch nicht, zum Teufel. Wir sollten machen, daß wir hier wegkommen, bevor das, was diese beiden getötet hat zurückkommt, um sich noch einen Nachschlag zu holen.«

Es war seltsam – aber Tally wußte ganz genau, daß diese Gefahr nicht bestand. Der Anblick der beiden entsetzlich verstümmelten Leichname vor ihr erfüllte sie mit Ekel und Entsetzen, aber sie wußte mit unerschütterlicher Gewißheit, daß weder Angella noch sie oder Waga in Gefahr waren. Wer oder was auch immer hiergewesen war, er hatte ganz gezielt die beiden Drachenreiterinnen ausgeschaltet, mit einer Kälte und Präzision, die Tally schaudern ließ.

Trotzdem nickte sie nach einer Weile. »Du hast recht«, sagte sie. »Verschwinden wir von hier. Ich habe eine Quelle gefunden, nur ein paar Schritte von hier. Mit Trinkwasser.« Sie deutete auf die beiden Hornköpfe.

»Seht zu, daß ihr irgend etwas findet, worin wir Wasser abfüllen können. Es sind zwei Tagesmärsche bis zum Berg. Mindestens.«

Angella starrte sie einen Moment lang feindselig an, ging dann aber gehorsam zu den beiden riesigen Fluginsekten hinüber und begann die Ausrüstung der beiden Frauen zu durchsuchen, während Tally ihren Widerwillen abermals niederkämpfte und noch einmal neben der Toten niederkniete.

Sie führte zu Ende, was Angella begonnen hatte – sie durchsuchte ihre Taschen, löste schließlich sogar ihren Gürtel und öffnete die zahllosen Schnallen und Täschchen, die darin eingearbeitet waren. Sie fand eine Menge sonderbarer Dinge – die meistens davon völlig fremdartig und einige von durchaus gefährlichem Aussehen – aber nicht, wonach sie eigentlich suchte. Aber das mochte daran liegen, daß sie selbst keine sehr klare Vorstellung davon hatte, was es war...

Sie warf alles, was sie fand, auf einen Haufen, ging schließlich auch zu der zweiten Toten hinüber und leerte auch ihre Taschen. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, die riesige Laserwaffe an sich zu nehmen. Die Vorstellung war verlockend – schon die kleinen, handlichen Laser, mit denen Angella, Hrhon und sie bewaffnet waren, versetzte sie in die Lage, es mit einer kleinen Armee aufzunehmen – um wieviel furchtbarer mußte die Wirkung dieser gewaltigen Waffe sein? Trotzdem legte sie das Gewehr nach kurzem Zögern wieder aus der Hand. Sein Schaft war mit einer Unzahl von Knöpfen, Skalen und kleinen leuchtenden Augen übersät; Tally hatte keine Ahnung, wie diese Waffe zu handhaben war. Und keine besondere Lust, sich die Beine wegzubrennen, während sie versuchte, es herauszufinden ...

»Ich bin fertig!« Angella kam zurück, zwei an ledernen Riemen befestigte Feldflaschen in der rechten und einen dritten, etwas größeren Behälter in der anderen Hand.

»Das ist alles, was ich gefunden habe«, sagte sie. »Die beiden Flaschen sind voll.«

»Dann trinkt sie aus«, befahl Tally, gleichzeitig an Angella wie an den Waga gewandt. »Trinkt, so viel ihr könnt. Wir füllen sie an der Quelle auf.«

Angella zuckte die Achseln, schraubte jedoch sofort den Verschluß der einen Feldflasche auf und warf Hrhon die zweite zu.

»Was suchst du eigentlich?« fragte sie, nachdem sie ihren Durst gestillt und sich den Rest des Wassers über Gesicht und Hals geschüttet hatte.

»Ich weiß es selbst nicht genau«, gestand Tally. Sie seufzte, stand auf und blickte mit einer Mischung aus Resignation und Zorn auf das Sammelsurium unverständlicher Dinge herunter, das sie aus den Taschen der beiden Toten genommen hatte. »Ich beginne mich nur zu fragen, ob es wirklich Zufall ist, daß sie uns immer wieder aufspüren.«

Angella zog eine Grimasse. »Komisch«, sagte sie. »Ich erinnere mich schwach, vor einer halben Stunde den gleichen Verdacht geäußert zu haben. Bloß hast du mich da niedergebrüllt.«

Sie schraubte die Flasche wieder zu und kam mit fast gemächlichen Schritten näher. Ihr Blick huschte über die Laserwaffe, die Tally achtlos zur Seite geworfen hatte. Aber sie ging mit keinem Wort darauf ein. »Und du denkst, du findest die Antwort...« Sie stockte. Ein verblüffter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht.

»Ich Idiot«, murmelte Angella. »Oh verdammt, ich glaube ich habe die Ohrfeige verdient, die du mir gegeben hast – wenigstens die erste!«

»Wovon zum Teufel redest du?« fragte Tally ärgerlich.

»Von Jandhi!« erwiderte Angella. »Du hast sie schon einmal getroffen, nicht wahr? Ich meine, vor dem Lagerhaus?«

»Einmal«, sagte Tally. »Aber das war, bevor sie wußte wer –«

»Und sie hat dir irgend etwas gegeben?« Angella war nicht mehr zu bremsen.

»Gegeben?« Tally überlegte einen Moment angestrengt, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein«, sagte sie.

»Aber es muß so gewesen sein!« beharrte Angella.

»Denk nach, Tally – hast du irgend etwas mitgenommen, aus Schelfheim?«

»Nein!« antwortete Tally, in fast zornigem Ton.

»Nichts außer diesem Schwert da.« Sie deutete auf die Waffe, die neben Angellas Mantel im Sand lag. »Aber die habe ich...«

»Ja?« fragte Angella, als Tally nicht weitersprach, sondern sie nur betroffen anstarrte. »Woher hast du sie?«

»Gekauft«, murmelte Tally. »Von einem Katzer.

Aber...«

»Aber Jandhi war dabei«, führte Angella den Satz zu Ende. »Nicht wahr? Diese Schlampe! Dieses heimtückische Miststück! Ich hätte ihr den Hals durchschneiden sollen!« Wütend bückte sie sich, hob den Waffengurt auf und zog das Schwert aus der ledernen Hülle. Einen Moment lang bewegte sie es unschlüssig in Händen, dann drehte sie es herum und rammte die Klinge fast bis zur Hälfte in den Boden.

»Was tust du da?« erkundigte sich Tally. »Sei vorsichtig. Es ist ein verdammt gutes Schwert!«

»Oh ja!« antwortete Angella. »Du wirst dich gleich wundern, wie gut. Mein Wort, Tally, das Ding hat noch ungeahnte verborgene Qualitäten! Hrhon – hilf mir!« Der Waga kam mit wiegenden Schritten herbei und sah Angella fragend an. »Halt die Klinge fest!« befahl sie.

»Mit beiden Händen!«

Hrhon zögerte. Erst, als Tally fast unmerklich nickte, kniete er nieder und legte beide Hände um das doppelseitig geschliffene Heft. Angella ergriff den Schwertknauf, konzentrierte sich einen Moment und begann mit aller Kraft daran zu drehen.

Ein helles Knacken ertönte, und plötzlich löste sich der Schwertgriff. Unter dem eingefetteten Leder kam ein sorgsam geschnittenes, sehr feines Gewinde zum Vorschein. Angella schnaubte triumphierend, spannte noch einmal die Muskeln an und löste mit einem weiteren Ruck den gesamten Griff von der Klinge. »Ich wußte es!« sagte sie. »Diese verdammte Hexe! Sieh dir das an, Tally!«

Tally trat gehorsam näher, beugte sich neugierig vor – und verzog angewidert das Gesicht.

Der Schwertgriff war hohl, aber nicht leer. In dem kleinen Zylinder aus Metall bewegte sich etwas, das Tally verdächtig an eine Ansammlung widerlicher weißer Maden erinnerte, schleimige, nur daumennagelgroße Kreaturen, die einen entsetzlichen Geruch verströmten.

»Was ist das?« fragte sie angewidert.

»Der Grund, aus dem Jandhi immer so genau wußte, wo wir zu finden waren«, antwortete Angella. »Oh verdammt, ich hätte es gleich merken müssen! Spätestens, als sie uns in den Sumpf gefolgt sind!« Sie bewegte den abgeschraubten Schwertgriff wütend in der Hand.

»Weißt du, was das ist, Tally? Nein? Diese niedlichen kleinen Dinger sind Sandmaden! Weibliche Sandmaden!«

»Ach«, sagte Tally.

»Du hast noch nie davon gehört?« Tally schüttelte den Kopf, und Angella fuhr, noch immer mit zornbebender Stimme, fort: »Sie sind völlig harmlos, weißt du, aber es sind sehr nützliche kleine Biester. Ihre Männchen nämlich können fliegen, und obwohl sie praktisch kein Gehirn haben, sind sie sehr treu. Sie führen eine regelrechte Ehe, weißt du? Ein Sandmadenpärchen, das einmal zusammengefunden hat, trennt sich niemals wieder. «

»Verdammt noch mal, was soll das?« fauchte Tally ungeduldig. »Wenn ich einen Vortrag in Biologie brauche, gehe ich zu einem Scholaren!«

»Das hättest du besser getan, bevor du dich mit Jandhi eingelassen hast«, versetzte Angella böse. »Diese widerlichen kleinen Biester hier sind nämlich nicht nur treu, sondern äußerst anhänglich. Ein Männchen wittert sein Weibchen auf zehn Meilen Entfernung.« Sie lachte hart.

»Na, dämmert es dir? Alles, was Jandhi zu tun brauchte, war dir diese Maden unterzuschieben und die dazu passenden Männchen in einen Glaskasten zu setzen, um...«

»Um immer genau die Richtung zu wissen, in der sie suchen mußte«, murmelte Tally. Sie starrte abwechselnd Angella und den hohlen Schwertgriff an. »Das ist...«

»Das ist typisch für Jandhi«, fiel ihr Angella ins Wort.

»Du solltest diese Hexe niemals unterschätzen, Liebling. Sie muß schon damals geahnt haben, daß mit dir irgend etwas nicht stimmt, Tallyliebling. Aber ich gebe zu, daß nicht einmal ich damit gerechnet habe.« Sie schüttelte wütend den Kopf und setzte dazu an, die Maden aus ihrer Hülle heraus auf den Boden zu schütteln, führte die Bewegung aber nicht zu Ende.

»Worauf wartest du?« fragte Tally. »Bring' sie um!« Angella grinste. »Ich glaube, ich habe eine bessere Idee. Gib mir das Schwert.«

Tally reichte ihr gehorsam die Schwertklinge. Angella schraubte die Waffe vorsichtig wieder zusammen, überzeugte sich davon, daß der Griff wieder fest an seinem Platz saß, und wandte sich zu den beiden Hornköpfen um. Einen Moment lang blickte sie die beiden Tiere abschätzend an, dann hob sie das Schwert und stieß die Klinge fast bis ans Heft in den gepanzerten Schädel des kleineren der beiden Insektenwesen. Der Hornkopf bäumte sich mit einem schrillen Pfeifton auf und starb.

»Was hast du vor?« fragte Tally.

Angellas Grinsen wurde noch breiter. »Eine kleine Retourkutsche«, sagte sie. »Hrhon, hilf mir! Halt das Biest fest.«

Sie wartete, bis der Waga herangekommen war und die Zügel des Fluginsektes ergriffen hatte, dann bückte sie sich, durchtrennte mit einem raschen Schnitt die Fesseln, die es mit dem Kadaver des zweiten Hornkopfes verbanden, und richtete sich wieder auf. Sorgsam befestigte sie Tallys Schwert am Sattelzeug des bizarren Flugtieres, trat einen halben Schritt zurück und zog den Dolch aus dem Gürtel. »Kannst du ihn halten, wenn ich ihm die Augen aussteche?« fragte sie.

Tally keuchte, aber sie kam nicht mehr dazu, Angella zurückzuhalten. Hrhon knurrte zustimmend, und Angellas Hand machte eine blitzschnelle Bewegung zum Schädel des Hornkopfes hin. Die beiden Facettenaugen erloschen wie Kerzenflammen im Wind.

Der Hornkopf begann zu toben. Schwarzes Insektenblut besudelte Angella, die sich mit einem fast komisch anmutenden Hüpfen in Sicherheit brachte. Der Panzer des Riesenkäfers klappte auseinander. Eine der beiden Hälften traf Hrhon wie ein Hammer aus Chitin und schleuderte ihn zu Boden; dann entfaltete sich ein Paar gigantischer, halbdurchsichtiger Käferflügel über dem buckeligen Leib.

Tally zog hastig den Kopf ein, als das Insekt taumelnd in die Höhe schoß, halb wahnsinnig vor Schmerz und Angst. Mit ungeheurer Wucht krachte es gegen den Felsen, taumelte ein Stück zurück und herab und fing sich wieder. Sekunden später war es in der Nacht verschwunden.

»Was, zum Teufel, sollte das?« fragte Tally kalt, als sich Angella aufrichtete und damit begann, Sand aus ihrem Haar zu schütteln.

»Ein freundlicher Gruß an Jandhi«, antwortete Angella grinsend. »Diese Hornköpfe sind verdammt zäh, weißt du? Er ist jetzt zwar blind, aber mit ein wenig Glück wird es noch Tage dauern, bis er stirbt.« Sie lachte leise. »Ich gäbe deine rechte Hand dafür, Jandhis Gesicht zu sehen, wenn sie ihn endlich eingeholt hat.«

Tally antwortete nicht. Aber sie dachte noch sehr lange darüber nach, ob Angella sich wirklich versprochen hatte, als sie sagte: deine rechte Hand...

3

Aus den zwei Tagen, die Tally für den Weg zum Drachenfels veranschlagt hatte, wurden fünf, denn der Berg war zum einen sehr viel weiter entfernt, als sie geglaubt hatte, und sie kamen zum anderen sehr viel langsamer voran, als sie gefürchtet hatte. Sie marschierten nur nachts, was zwar mühsam und nicht ganz ungefährlich war; denn die Steinwüste entpuppte sich als gigantisches Labyrinth aus jäh aufklaffenden Abgründen und bodenlosen Spalten. Trotzdem wäre es unmöglich gewesen, bei Tageslicht zu marschieren. Es wurde nicht annähernd so heiß, wie Tally befürchtet hatte – aber der Himmel über dem Schlund war voller Drachen. Angellas Plan schien nicht aufgegangen zu sein. Schon am ersten Morgen sahen sie einen der gewaltigen, dreieckigen Schatten am Himmel kreisen, und der Tag war noch nicht zur Hälfte vorbei, als mehr und mehr der riesigen Tiere über ihnen erschienen – zu viele, viel zu viele, als daß es Zufall oder bloße Routine sein konnte. Tally zählte mehr als zwei Dutzend der titanischen Flugechsen, die in unregelmäßigen Spiralen über der Wüste kreisten, manchmal reglos zu verharren schienen, manchmal aber auch so tief auf das Labyrinth aus Felsen und Abgründen herabstießen, daß sie die schwarzgekleideten Gestalten auf ihren Rücken erkennen konnte.

Keiner von ihnen sprach es aus, aber es war klar, was diese plötzliche Änderung in Jandhis Taktik bedeutete: sie suchte sie. Sie, Angella und Hrhon, aber vor allem sie. Und Tally verstand allmählich selbst nicht mehr, warum.

Sicher – sie hatte Jandhi gedemütigt, mehr als einmal, und sie hatte wahrscheinlich mehr ihrer Kriegerinnen getötet als alle Klorschas und Banditen Schelfheims zusammen – und doch war nichts davon Grund genug, einen derartigen Aufwand zu rechtfertigen. Nicht, wenn man bedachte, daß Jandhi ja im Grunde nichts anderes zu tun brauchte, als abzuwarten, bis Tally ganz von selbst zu ihr kam...

Aber auch auf diese Frage fand sie – wie auf so viele – keine Antwort. Und schon bald dachte sie auch nicht mehr darüber nach, denn sie brauchte jedes bißchen Kraft, das sie aufbringen konnte, um am Leben zu bleiben.

Das Gelände wurde schwieriger, mit beinahe jedem Meter, den sie weiter nach Norden kamen. Das Netzwerk aus Rissen und Schründen, das den Boden durchzog, wurde dichter, und gleichzeitig nahmen die Felsen ab – ein Umstand, der besonders tagsüber nicht nur lästig, sondern lebensgefährlich war; denn die Drachen kreisten ununterbrochen am Himmel, und es wurde immer schwieriger, ein Versteck zu finden.

Aber zumindest in einem Punkt hatten sie Glück: keines der zahllosen Raubtiere, vor denen Karan sie gewarnt hatte, griff sie an, ja, sie sahen nicht einmal etwas Lebendes, mit Ausnahme einer riesigen Kreatur, die an einen aufrecht gehenden Haifisch erinnerte, aber hastig die Flucht ergriff, als Hhron einen Stein nach ihr schleuderte.

Und sie waren nicht allein. Tally sprach mit keinem der beiden anderen darüber, aber sie spürte es überdeutlich, und sie war sicher, daß zumindest Hrhon es ebenfalls fühlte: etwas folgte ihnen. Es war kein Zufall, daß die räuberischen Bewohner des Schlundes sie mieden, so wenig, wie es Zufall gewesen war, daß sie den Wipfelwald so vollkommen unbehelligt durchquert hatten. Irgend etwas war in ihrer Nähe, etwas, das sie schützte. Und zugleich bedrohte.

Am Morgen der fünften Nacht, die sie sich durch den Schlund geschleppt hatten, lag der Drachenfels vor ihnen.

Es war kein Berg, wie ihn Tally jemals zuvor gesehen hatte, sondern ein Alptraum: ein schwarz und tiefdunkelgrün marmorierter Riesenspeer, den ein tobsüchtiger Gott in den Boden gerammt haben mußte, lotrecht aufsteigend und fünf, sechs, vielleicht noch mehr Meilen hoch. Es gab kein sanftes Ansteigen des Bodens, keine Hänge, sondern nur den Schlund und dahinter den Berg, gerade wie eine Wand in den Himmel ragend und so hoch, daß Tally schwindelte, als sie den Kopf in den Nacken legte, um zu seinem Gipfel hinaufzusehen.

»Unmöglich«, sagte Angella. Ihre Stimme war sehr ruhig; matt. Die Anstrengungen der letzten Nächte klangen in jeder Silbe mit. Und ihre Worte waren frei von jeder Bitterkeit oder gar von Vorwurf. Es war einfach eine Feststellung. Aber es gab keinen Widerspruch dagegen. Und Tally wußte, daß sie recht hatte. Es war unmöglich. Niemand, der keine Flügel hatte konnte diesen Berg besteigen.

Tally fühlte... nichts.

Es war sonderbar – sie hätte enttäuscht sein müssen, verzweifelt, zornig... aber sie spürte nichts von alledem. Allenfalls ein nicht einmal sehr starkes Gefühl von Resignation, eine ganz sanfte, aber nicht sehr unerwartete Enttäuschung. Sie hatte einen Drachen getötet. Sie hatte der Macht die Stirn geboten, die über diese Welt herrschte, länger, als die Geschichte der Völker zurückreichte, sie hatte dem gräßlichsten Ungeheuer, das die Götter jemals ersonnen hatten, – dem Schlund – ein Schnippchen geschlagen. Aber dieser Berg besiegte sie. Einfach dadurch, daß er da war.

Und doch spürte sie, daß es richtig war.

Vielleicht... ja, dachte sie matt, vielleicht war das der Grund, aus dem sie so unbeteiligt schien. Die Erkenntnis, daß Angella und sie an diesem Berg scheitern mußten, kam nicht überraschend. Sie hatten ihn gesehen, während der letzten fünf Nächte, ein ganz allmählich größer werdender Schatten vor dem Nachthimmel, und irgendwie war es – jetzt – als hätte etwas in ihr die ganze Zeit über gewußt, wie unmöglich es war, ihn zu ersteigen.

Es war wie ein Stein, der noch gefehlt hatte, das Mosaik vollends zusammenzufügen, und der nur so und nicht anders sein konnte, sollte er passen. Der Endpunkt einer Entwicklung, die irgendwann einmal ihren Anfang genommen hatte und ihren Händen längst entglitten war. Vielleicht hatte sie niemals wirklich Einfluß darauf gehabt. Zum erstenmal, seit sie vor so unendlich langer Zeit als Kind aus dem Wald getreten war und ihre Heimatstadt in Trümmern unter sich liegen gesehen hatte, fragte sie sich, ob sie vielleicht nicht in Wahrheit nur ein Werkzeug war, das Werkzeug einer höheren, durch und durch grausamen Macht, auf deren Entscheidungen sie keinen Einfluß hatte.

»Unmöglich!« sagte Angella noch einmal. »Das... das schaffen wir nicht! Niemand schafft das!«

Tally schwieg. Sie spürte, daß Angella auf eine Antwort wartete, darauf wartete, daß sie irgend etwas sagte, irgend etwas, aber es gab nichts, was sie sagen konnte. Sie waren am Ende ihres Weges angelangt. Vielleicht war dies eine jener Geschichten, dachte sie, die nicht gut endeten. Eine jener Geschichte, die niemand weitererzählen würde, weil die Helden am Ende nicht siegten, sondern den Tod fanden, nur ein paar Narren mehr, die sich eingebildet hatten, dem Schicksal eine lange Nase drehen zu können.

Sie blickte den Berg an, dann den Himmel, der sich ganz allmählich rot zu färben begann, und dann den Berggipfel. In wenigen Augenblicken würden die Drachen ausschwärmen. Es wäre leicht, dachte sie. Sie brauchten nichts anderes zu tu als einfach dazustehen und zu warten, bis sie sie sahen. Vielleicht würde der Tod im Feuer der Drachen entsetzlich sein, aber er würde nicht lange dauern. Ein kurzer Augenblick furchtbarer Hitze, vielleicht – und auch das nur vielleicht – ein kurzer Schmerz. Und nichts mehr.

Aber es wäre falsch. Irgend etwas fehlte noch. Dies alles war nicht sinnlos gewesen, das spürte sie, sondern Teil eines sorgsam ausgeklüngelten Planes. Und sein Ziel war nicht ihr Tod. Wenigstens noch nicht jetzt. Die Lösung, die endgültige Erklärung, war da, ganz dicht unter ihren Gedanken, aber ihrem Zugriff noch entzogen, wie ein noch ungeborenes Kind.

Und dann wußte sie, was zu tun war.

Ganz langsam zog sie den Laser aus dem Gürtel, schaltete die Waffe ein und richtete sie auf den Berg. Angella erbleichte Schrecken. »Was tust du?« keuchte sie. »Du wirst alles verderben? Tally! NEIN!!!« Tallys Finger verharrte ein winziges Stück über dem Auslöser. Eine Waffe vibrierte in ihrer Hand; sie spürte die Energie, die darauf wartete, entfesselt zu werden, das Drängen in ihrem Inneren, es zu tun, es endlich zu Ende zu bringen, die unhörbare, aber drängende Stimme, die ihr zuflüsterte, daß Angella und der Waga unwichtig waren. Ihr Leben zählte so wenig wie das Tallys, wie das irgendeines der zahllosen anderen lebenden Wesen, die sie ausgelöscht hatte, um hierher zu kommen. Sie war hier, und sie wußte jetzt, wie sie ihre Rache vollziehen konnte, eine Rache, die tausendmal schrecklicher war, als sich Jandhi und ihre Schwester auch nur vorstellen konnten.

Und trotzdem zögerte sie noch.

»Geh«, sagte sie leise.

Angella starrte sie an. »Was... was hast du gesagt?«

»Geh«, wiederholte Tally. »Und auch du, Hrhon – ihr könnt gehen. Was jetzt kommt, geht nur noch mich an.« Angella starrte die Waffe in Tallys Hand an, dann sie selbst. »Du... du willst...«

»Ich will nicht«, unterbrach sie Tally, sehr leise, aber in einem Ton, der es Angella unmöglich machte, zu widersprechen. »Ich muß. Ich werde tun, was nötig ist. Ich mußt dort hinauf, und es gibt nur einen Weg, dies zu tun.«

»Als Jandhis Gefangene?« Angella lachte, aber es war wohl eher ein Schrei. »Das hättest du leichter haben können!«

Tally antwortete nicht. Wie sollte sie Angella erklären, daß es nur diesen und keinen anderen Weg gegeben hatte? Wie sollte sie etwas erklären, das sie selbst zwar wußte, aber nicht verstand? Wortlos schüttelte sie den Kopf.

Angella trat einen Schritt auf sie zu und blieb stehen, als Hrhon drohend die Hände hob. »Du... du bist wahnsinnig!« keuchte sie. »Ich bitte dich, Tally – überlege, was du tust! Sie werden dich umbringen!«

»Wahrscheinlich«, antwortete Tally. »Aber zuerst werden sie mich dort hinaufbringen. Alles andere zählt nicht.«

»Verdammt noch mal, bist du nur hierhergekommen, um zu sterben?« brüllte Angella. Plötzlich duckte sie sich unter Hrhons Arm hindurch, sprang auf Tally zu und versuchte ihre Hand herunterzuschlagen. Hrhon packte sie im Nacken, riß sie zurück und schleuderte sie zu Boden.

»Laß sie«, sagte Tally sanft. Sie lächelte, senkte den Laser noch einmal und deutete mit der anderen Hand nach Süden, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Geh, Angella«, sagte sie. »Es ist vorbei. Für dich, und auch für Hrhon.«

»Gehen?« Angella stand auf, hob die Hände und führte die Bewegung nicht zu Ende. Tally hatte selten zuvor einen Ausdruck größerer Hilflosigkeit im Gesicht eines Menschen gesehen. »Aber... aber wohin denn?«

»Euch wird nichts geschehen«, sagte Tally. »Geht zurück zur Klippe. Ihr werdet einen Weg hinauf finden, ich bin sicher. Jandhi wird euch nicht mehr behelligen. Sie will nur mich.«

»Und du willst sie«, stellte Angella fest. Plötzlich war ihr Zorn wie weggeblasen. Auf eine völlig andere, aber ebenso erschreckende Art wirkte sie so kalt und entschlossen wie Tally. »Und wenn ich bleibe?« Sie sah Tally herausfordernd an.

»Dann wirst du sterben«, antwortete Tally. »Willst du das?«

»Du willst es doch auch, oder?« Angella ballte die Faust. »Du bist nicht die einzige, die glaubt, ein Recht auf Jandhis Kopf zu haben, Tallyliebling. Ich weiß nicht, was sie dir getan haben, aber ich weiß, was sie mir getan haben, und ich gehe nicht hier fort, als wäre nichts geschehen, ohne daß irgend jemand dafür bezahlt hat. Du hast kein Monopol auf Haß, Liebling.« Tally schwieg endlose Sekunden. Sie spürte, daß es Angella ernst war; zum erstenmal, seit sie sich kennengelernt hatten, hatte sie das Gefühl, einer erwachsenen Frau gegenüberzustehen, keinem dummen Kind.

»Du meinst es ernst«, sagte sie.

Angella hob die Hand und deutete auf ihr verbranntes Gesicht. »Du hast mich niemals gefragt, woher ich das hier habe«, sagte sie leise. »Ich war einmal so schön wie du, Tally. Aber Jandhi hat dafür gesorgt, daß ich zu einem Monstrum wurde. Und jetzt sag noch einmal, ich soll gehen.«

Tally sagte es nicht. Statt dessen wandte sie sich an Hrhon und sah den Waga sehr lange und sehr ernst an. Sie sagte kein Wort, aber der Waga verstand die Frage trotzdem.

»Sssie habhen Essk ghethöhtet«, zischte er.

Es war entschieden. Und aus einem Grund, den Tally selbst nicht verstand, war sie sehr froh. Von allem hatte sie der Gedanke, allein dort hinaufgehen zu müssen, vielleicht am meisten geschreckt. Es war dumm und unlogisch – aber es war ein Unterschied, ob man allein starb oder mit Freunden.

Sie sagte nichts mehr, sondern hob zum zweitenmal den Laser und drückte ab.

Ein dünner, schmerzhaft greller Lichtstrahl sengte eine blendendweiße Narbe in die Nacht und explodierte an der Flanke des Drachenfels. Selbst über eine Entfernung von fast einer Meile konnte sie sehen, wie der Stein in dunklem Rot aufglühte und sich kleine Tropfen geschmolzenen Felsens wie glühende Leuchtkäferchen lösten und in die Tiefe stürzten. Sie verlöschten, lange bevor sie den Boden erreichten.

Tally schoß ein zweites Mal, und ein drittes und viertes und fünftes und sechstes Mal, immer und immer wieder, bis die Waffe in ihrer Hand überhitzt war und nur noch ein protestierendes Summen ausstieß. Dann ließ sie die Waffe einfach fallen, drehte sich herum und hob abwehrend die Hand, als Angella neben sie trat.

»Bleibt hier«, sagte sie. »Und wehrt euch nicht, wenn sie kommen.«

»Wohin gehst du?« fragte Angella.

»Nicht sehr weit.« Tally lächelte, wandte sich an Hrhon und deutete erst auf ihn, dann auf Angella. »Gib acht, daß sie mir nicht folgt«, sagte sie. »Ich bin bald zurück.«

Sie ging, ehe Angella eine weitere Frage stellen konnte. Ihre Zeit lief ab. Wahrscheinlich blieben ihnen jetzt nur noch Minuten.

4

Über dem ausgetrockneten Ozean dämmerte der Morgen, aber hier unten, auf seinem Grunde, war die Nacht noch immer tief genug, Angella und Hrhon schon nach wenigen Schritten zu verschlucken. Tally wußte nicht, wie weit sie ging, aber sie spürte, daß es nicht sehr weit sein konnte. Sie waren in ihrer Nähe, und sie mußten so gut wie sie selbst wissen, wie wenig Zeit ihnen blieb; nur wenige Minuten, bis Jandhi und ihre Drachen kamen. Aber die Zeit würde reichen. Was Tally verstehen konnte, wußte sie jetzt, und was es darüber hinaus noch gab, konnte sie nicht verstehen. Es gab nichts zu erklären. Eine tiefe, unnatürliche Ruhe hatte von ihr Besitz ergriffen, eine Art von psychischer Lähmung, die ihren Ursprung nicht in ihr selbst hatte, sondern von außen kam.

Trotzdem begann ihr Herz vor Schrecken zu hämmern, als sie die beiden Schemen vor sich sah. Sie blieb stehen. Ganz instinktiv blickte sie noch einmal nach oben, zum Gipfel des Drachenfelsens empor. Aber der Himmel war noch leer.

»Du hast dich also entschieden.«

Es war der größere der beiden Schemen, der sprach. Er bewegte sich, kam auf eine fürchterliche, mit Worten nicht zu beschreibende Weise auf sie zu und erstarrte wieder zur Reglosigkeit, als er spürte, wie sehr sein Anblick Tally erschreckte. Sein Gesicht war das Wellers, und gleichzeitig das etwas von anderem, etwas unbeschreiblich Fremdem, Entsetzlichem, dessen bloßer Anblick Tally aufstöhnen ließ.

Es war Weller – der gleiche Weller, der sie in jener Nacht vor fünf Tagen zum Wasser geführt hatte, der die beiden Drachenreiterinnen getötet und sie und die beiden anderen sicher hierher geführt hatte. Gleichzeitig war es eine boshafte Karikatur Wellers, ein entsetzliches Ding, überlebensgroß, breiig, aufgequollen, hier und da zerlaufen wie weiches Wachs in der Sonne, eingesponnen in ein bleiches, pulsierendes Netz wie aus Spinnseide, nur viel feiner, und lebend...

»Warum?« fragte sie einfach.

»Es gibt kein Warum«, antwortete Weller. »Sie und wir sind Feinde. Wir waren es immer. Du weißt, was getan werden muß.«

Tally nickte. Plötzlich war ihr kalt. Was, dachte sie, wenn sie das Feuer mit einem Vulkanausbruch löschte? Vielleicht brachte sie einen zweiten, sehr viel größeren Schrecken auf die Welt. Dann lächelte sie über ihre eigenen Gedanken. Es war nur der Mensch in ihr, der diese Furcht spürte, das alberne dumme Wesen, das sich einbildete, seine Existenz wäre irgendwie wichtig.

»Du hast gewählt?« fragte Weller. Auch die zweite Kreatur bewegte sich jetzt, kam näher. Im ersten Moment war ihr Gesicht nicht mehr als eine glatte, totenbleiche Fläche, dann bildeten sich Mund, Nase und Augen. Karan. Tally sah weg.

»Ich habe gewählt«, sagte sie.

»Und wer soll es sein?« Das Etwas, das einmal Weller gewesen war, kam näher. Tally schauderte. Widerwillen ergriff sie, ein unbeschreiblicher Ekel, auch nur in der Nähe dieses entsetzlichen Dinges zu sein, das alles war, nur nicht mehr Weller.

»Warum ich?« stöhnte sie, wie unter Schmerzen.

»Warum nicht Karan oder... oder einer der anderen, die vor mir hierher kamen?«

»Karan war unser Bote«, erwiderte das Weller-Ding.

»Und du, weil du da warst. Wir haben auf dich gewartet, sehr lange. Auf jemanden wie dich. Alle anderen waren Narren, die gescheitert wären.«

Tally erschrak, als sie begriff, was die Worte der Kreatur bedeuteten. »Dann... dann hätte ich es auch...«

»Ohne unsere Hilfe geschafft?« Weller schüttelte den Kopf. Das weiße Gespinst, das ihn umgab, raschelte wie ein Totenhemd. »Nein. Vielleicht bis hierher. Vielleicht. Doch nicht weiter.«

Er schwieg einen Moment. Dann deutete seine schreckliche fingerlose Hand in den Himmel. Tallys Blick folgte der Geste. Sie sah den titanischen dreieckigen Schatten, der sich von der Spitze des Drachenfelsens löste und in die Tiefe zu gleiten begann, dann einen zweiten, dritten...

»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagte Weller. »Du hast dich entschieden? Wer von beiden? Angella, oder Hrhon?«

»Keiner«, sagte Tally.

Das entsetzliche Ding kroch und glitt ein weiteres Stück auf sie zu. Seine Hände waren jetzt nicht mehr weit von ihrem Gesicht entfernt. Tally unterdrückte nur noch mit letzter Kraft den Impuls, sich einfach herumzudrehen und davon zulaufen.

»Du weißt, daß wir ein Opfer verlangen«, sagte Weller.

»Nur so kann deine Rache vollzogen werden. Wer also? Die Frau oder der Waga.«

»Keine von beiden«, sagte Tally noch einmal. Großer Gott, warum fiel es ihr so schwer, zu sprechen?

»Dann willst du...?«

»Mich«, sagte Tally. »Nehmt mich!«

Und sie nahmen sie.

5

Die beiden Drachen landeten, als sie zu Angella und Hrhon zurückkam. Der Waga hatte sich hinter einen Felsen geduckt und Angella an sich gepreßt; er hielt die Beine leicht gespreizt, um festen Stand zu haben, und hatte den Kopf fast zur Gänze in seinen Panzer zurückgezogen. Trotzdem schwankte er als die beiden gigantischen Kreaturen weniger als zwanzig Schritte neben ihm den Boden berührten.

Die Erde bebte. Für einen Moment schien die Nacht zurückzukehren, als die Drachen ein letztes Mal ihre gigantischen Schwingen entfalteten, und der künstliche Sturmwind trieb auch Tally noch einmal zwischen die Felsen zurück, in deren Schutz sie stehengeblieben war, um Jandhis Ankunft zu beobachten. Staub und kleine Kiesel überschütteten sie wie Hagel. Die Luft war erfüllt vom Reptiliengestank der Drachen.

Tally drehte das Gesicht aus dem Sturm, hob schützend die Hand über den Kopf und blinzelte aus zusammengepreßten Augen zum Himmel hinaus. Über ihr, so dicht, daß sie fast meinte, sie mit dem ausgestreckten Arm berühren zu können, kreisten zwei weitere Drachen, und eine oder anderthalb Meilen darüber ein weiteres Paar der geflügelten Reptilien. Jandhi überließ nichts mehr dem Zufall. Gut.

Geduldig wartete sie, bis die beiden Drachen zur Ruhe gekommen waren; großen häßlichen Vögeln gleich, die sich noch einen Moment unruhig auf der Stelle bewegten, ehe sich ihre schuppigen Hälse senkten, um den Reiterinnen das Absteigen zu ermöglichen.

Es ging trotz allem sehr schnell – auf jedem der beiden Drachen saßen fast ein Dutzend von Jandhis schwarzgekleideten Kriegerinnen, und Tally mußte ihre Bewegungen nicht länger als einen Herzschlag beobachten, um zu erkennen, daß sie es diesmal nicht mit Kindern wie Nil zu tun hatten, sondern mit Elitetruppen; Frauen, deren Bewegungen so schnell und präzise wie die von Maschinen waren. Jandhis Garde, wenn sie so etwas hatte, dachte Tally spöttisch.

Sie bewegte sich nicht. Die Drachenreiterinnen schwärmten rasch und beinahe lautlos aus und bildeten einen doppelten, zur Wüste hin offenen Kreis, in dessen Zentrum sich Angella und Hrhon befanden. Vier oder fünf der schlanken Gestalten traten auf sie selbst zu, sehr langsam, vorsichtig und mit angelegten Waffen.

Die Gesichter der Kriegerinnen waren hinter den heruntergeklappten Visieren ihrer Helme verborgen, so daß sie den Ausdruck darauf nicht erkennen konnte – aber Tally spürte die Nervosität der fünf Kriegerinnen. Mit einem leisen Gefühl der Beunruhigung kam ihr zu Bewußtsein, daß sie nicht irgendwer war. Sie hatte eine Spur von Blut aus jenem verfluchten Turm in der Gehran-Wüste bis hierher gezogen. Die bloße Erwähnung ihres Namens mußte diese Frauen mit Furcht oder Haß oder beidem erfüllen.

Sehr vorsichtig senkte sie die Hände, trat den Kriegerinnen einen Schritt entgegen und blieb wieder stehen, als sich eine Waffe drohend auf ihr Gesicht richtete.

»Keine Angst«, sagte sie. »Wir geben auf.«

Wenn die Kriegerinnen ihre Worte überhaupt hören, so reagierten sie nicht darauf. Vier von ihnen bildeten einen Kreis um Tally, die Waffen im Anschlag, aber so haltend, daß sie sich nicht gegenseitig treffen konnten, während die fünfte um sie herumtrat und sie rasch und sehr gründlich durchsuchte. Sie fand nichts. Tallys Dolch – die einzige Waffe, die sie noch bei sich getragen hatte – lag irgendwo draußen in der Wüste.

Trotzdem wurden ihre Hände auf den Rücken gebunden; so fest, daß es schmerzte und Tally schon nach Sekunden fühlte, wie ihr das Blut abgeschnürt wurde. Erst dann traten zwei ihrer vier Bewacherinnen zur Seite; sie bekam einen groben Stoß in den Rücken, dann griffen schlanke, aber sehr kräftige Hände unter ihre Achseln. Sie wurde mehr auf Angella und Hrhon zugeschleift, als sie aus eigener Kraft ging.

Angella blickte ihr aus vor Schrecken geweiteten Augen entgegen. Sie war gebunden wie Tally, und auch neben ihr standen zwei der gesichtslosen schwarzen Kriegerinnen, während Hrhon ein Stück zur Seite geführt worden war. Er war nicht gebunden – Jandhis Kriegerinnen schienen zu wissen, wie wenig Zweck es hatte, einen Waga fesseln zu wollen – aber die Läufe eines Dutzends Laserwaffen waren auf ihn gerichtet. Tally betete lautlos, daß Hrhon nicht die Nerven verlieren und einen Fehler machen würde.

»Was geschieht jetzt, Tally?« fragte Angella. »Wir –« Eine ihrer beiden Bewacherinnen versetzte ihr einen Kolbenstoß, der sie stöhnend in die Knie brechen ließ.

»Nicht sprechen!«

»Was soll das?!« fragte Tally scharf. »Wir haben uns ergeben!«

Ein zweiter Kolbenhieb traf nun auch ihre Rippen; nicht halb so fest wie der, den Angella bekommen hatte, aber heftig genug, ihr die Luft aus den Lungen zu treiben. »Schweigt!« sagte eine harte Stimme. »Niemand spricht, bis Jandhi kommt.«

Angella stemmte sich stöhnend in die Höhe. Ihr Gesicht zuckte vor Schmerz, aber in ihren Augen flammte schon wieder diese unbezähmbare Wut, die Tally so sehr an ihr kannte und fürchtete. Plötzlich war sie sehr froh, daß Angella gefesselt war. »Dafür bringe ich dich um, Schätzchen«, stöhnte diese. »Mein Wort darauf!«

Die Frau neben ihr hob das Gewehr, schlug aber nicht noch einmal zu, sondern beließ es bei einer warnenden Bewegung. Angella starrte sie haßerfüllt an. In ihrem Gesicht arbeitete es. Tally sah, wie sich ihre Muskeln spannten, als sie vergeblich versuchte, die Fesseln zu sprengen.

»Nicht, Angella«, sagte sie rasch. »Keine Angst – sie werden dir nichts tun. Ich bin es, die sie wollen.« In Angellas Augen blitzte es abermals auf. Aber sie war klug genug, ihre Bewacherin nicht weiter zu reizen, sondern sich nur mit einem wütenden Ruck herumzudrehen.

Und auch Tally schwieg. Sie verspürte eine absurde Erleichterung. Der gefährliche Moment war vorüber, das wußte sie. Jandhis Kriegerinnen würden sie nicht töten, jedenfalls nicht jetzt. Aber sie hatten nicht mehr viel Zeit. Wellers (Wellers??!) letzte Worte waren noch deutlich in ihrem Ohr: Dir bleibt nicht viel Zeit, Talianna. Wenig mehr als zwölf Stunden. Wir können dich schützen, bis die Sonne untergeht. Nicht länger.

Zwölf Stunden... dachte sie. Eine erbärmlich kurze Zeit – und doch genug, für das, was sie tun mußte. Sie fühlte sich sonderbar. Sie war noch nicht alt genug, um sich wirklich ernsthaft mit dem Gedanken an den Tod auseinandergesetzt zu haben, aber natürlich hatte sie darüber nachgedacht, dann und wann. Sie erinnerte sich, einmal – in einem Gespräch, dessen Anlaß und dessen Beteiligte sie vergessen hatte – über die Frage diskutiert zu haben, was sie tun würde, wüßte sie genau, daß sie nur noch eine festgelegte Spanne Zeit zu leben hätte. Sie erinnerte sich, eine Menge interessanter – und auch kluger – Gedanken zu diesem Thema gehört zu haben, damals. Aber jetzt war sie in dieser Situation, und sie fühlte nichts von alledem, was sie geglaubt hatte. Nicht einmal Angst.

Einen Moment lang lauschte sie in sich hinein, aber da war nichts: Ihr Herz schlug sehr schnell und gleichmäßig, unter ihrem rechten Knie pochte ein leichter Schmerz, wo sie im Dunkeln gegen einen Felsen geprallt war, und ihre Rippen waren taub, wo sie der Kolbenstoß getroffen hatte. Aber wo die Angst in ihrem Leib wühlen sollte, war nichts als eine tiefe, sonderbar wohltuende Leere. Vielleicht war dies schon ein Teil des Schutzes, von dem Weller gesprochen hatte.

Ein gigantischer Schatten legte sich über die Wüste und ließ Tally aus ihren Gedanken auffahren. Sie sah nach oben und erblickte einen weiteren Drachen, ein besonders großes, nachtschwarzes Tier, das in steilem Winkel aus dem Himmel geschossen kam und seinen Sturz erst dicht über dem Boden abfing. In seinem Nacken saß eine einzelne Reiterin, gekleidet in das allgegenwärtige Schwarz der Töchter des Drachen, aber ohne Helm, so daß ihr Haar frei im Wind flatterte. Der Sturmwind der Drachenschwingen peitschte die Luft, während das Tier zwei-, drei-, viermal über Tally und den anderen kreiste und schließlich zur Landung ansetzte.

Trotz des Ernstes ihrer Lage konnte Tally nicht anders, als die Eleganz der riesigen fliegenden Kreatur zu bewundern, als Jandhi landete. Der Drache mußte an die fünfzig Meter lang sein, und Tally schätzte seine Spannweite auf das Doppelte. Sein Gewicht mußte das von zehn Hornbestien gleichzeitig betragen. Und trotzdem bewegte er sich elegant und schwerelos wie ein großer, nachtschwarzer Schmetterling. Der einzige Laut, der zu hören war, war das Heulen der Luft, die seine Schwingen peitschten.

Und ebenso elegant, wie er gelandet war, senkte der Drache seinen riesigen Schlangenhals, bis der dreieckige Schädel den Boden berührte und seine Reiterin mühelos absteigen konnte.

Tally blickte ihr ruhig entgegen. Jandhi ging sehr schnell, aber ohne Hast, auf sie zu, blieb einen Moment neben Hrhon stehen und blickte ihn an und kam dann näher. Eine ihrer Kriegerinnen trat auf sie zu; Jandhi scheuchte sie mit einer unwilligen Geste zur Seite. Für einen Moment wurde es sehr still, während die beiden ungleichen Frauen sich anblickten. Jandhis Gesicht war wie Stein. Auf ihren ebenmäßigen Zügen war nicht das geringste Gefühl zu erkennen. Aber Tally spürte die Erregung, die hinter der Maske aus Unnahbarkeit und Ruhe tobte. Und Jandhi umgekehrt schien die unnatürliche Ruhe zu fühlen, die von Tally Besitz ergriffen hatte, denn nach einer Weile trat ein Ausdruck von leiser Überraschung in ihre Augen. Trotzdem dauerte es sehr lange, bis sie das Schweigen brach, das sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte.

»Du wärst besser mit mir gekommen, damals in Schelfheim«, sagte sie. »Eine Menge meiner Schwestern wären noch am Leben. Und deine beiden Freunde auch.« Sie seufzte, maß Tally mit einem langen, sehr nachdenklichen Blick und schüttelte schließlich den Kopf, als könne sie noch immer nicht glauben, was sie sah. »Du hast wirklich aufgegeben.«

»Wie du siehst.«

»Warum?« Jandhi machte eine fragende Geste. »Ich meine – warum jetzt? Du hast uns länger und gründlicher an der Nase herumgeführt als irgendein anderer vor dir – und jetzt gibst du auf?« Sie schüttelte den Kopf.

»Wenn du irgendeinen Trick vorhast, hast du zu hoch gespielt, Tally.«

»Kein Trick.« Tally zögerte einen Moment; dann hob sie die Hand und deutete auf den Berg hinter sich. »Du hast mich nicht besiegt, Jandhi. Er war es.«

Jandhi blickte sie einen Herzschlag lang verdutzt an. Dann nickte sie. »Hast du gedacht, wir sitzen schutzlos herum und warten darauf, überfallen zu werden?« fragte sie. »Niemand besteigt diesen Berg, der keine Flügel hat.« Sie seufzte. »So viel Tote, Talianna. So viel verschwendete Energie... war es das wert?«

Tally schwieg. Jandhis Frage war nicht von der Art, die eine Antwort erwartete. Und nach einer Weile schüttelte sie auch den Kopf und beantwortete sie selbst: »Nein, das war es nicht. Wärst du doch gleich zu uns gekommen, statt einen Privatkrieg zu beginnen. So viel hätte anders sein können.«

»Ach?« sagte Tally. »Hättet ihr ein paar Städte weniger niedergebrannt?«

Jandhis Gesicht verdunkelte sich vor Zorn. Sie hob die Hand, wie um Tally zu schlagen, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, sondern senkte den Arm wieder und seufzte abermals. »Vielleicht gab es wirklich keinen anderen Weg«, murmelte sie. »Aber du wirst erkennen, wie sehr du dich getäuscht hast, Tally. Und deine beiden Freunde dort auch.«

Sie wies mit einer Kopfbewegung auf Angella und Hrhon. Der Waga war zu weit entfernt, um ihre Worte zu hören, aber Angella hatte jede Silbe verstanden. Zu Tallys Überraschung schwieg sie jedoch.

»Was hast du mit ihnen vor?« fragte Tally.

Jandhi drehte sich sehr langsam herum und blickte erst Angella und dann den Waga nachdenklich an, ehe sie sich wieder an Tally wandte.

»Ich nehme an, du willst jetzt um ihr Leben bitten«, sagte sie abfällig.

»Und wenn?«

Jandhi lachte leise. Aber sie antwortete nicht auf Tallys Frage, sondern trat statt dessen einen Schritt zurück und hob die Hand.

In die schwarzgekleideten Kriegerinnen kam Bewegung. Vier von ihnen packten Hrhon und stießen ihn mit angelegten Waffen vor sich her; zwei andere ergriffen Angella unter den Achseln und zerrten sie grob auf einen der Drachen zu.

Jandhi machte eine einladende Handbewegung. »Darf ich dich einladen, auf meinem eigenen Tier zu reiten?« fragte sie spöttisch. »Diese Art zu reisen ist dir ja nicht fremd, oder? Ich glaube, du bist fliegen gewohnt.« Tally versuchte den Sarkasmus in ihren Worten zu ignorieren. »Hast du keine Angst, daß ich dich aus dem Sattel stoße?« fragte sie böse.

Jandhi lächelte. »Sicher nicht«, sagte sie. »Was hättest du schon davon? Du bist nicht hier, weil du mich umbringen willst, oder?«

»Der Gedanke ist verlockend.«

»Das Risiko gehe ich ein«, antwortete Jandhi ruhig. »Es ist nicht sehr groß, weißt du? Ich kenne dich besser, als du ahnst.«

»So?«

Jandhi nickte. »Ich war einmal wie du, Talianna«, sagte sie. »Ein junges Mädchen voller Haß und Zorn, das sein eigenes Leben weggeworfen hätte, um die zu vernichten, die es zu hassen glaubte. Hast du dich für einmalig gehalten?« Sie lachte. »Es gibt viele wie dich – Männer und Frauen und Kinder, die uns den Tod schwören. Die meisten gehen zugrunde, ehe sie uns auch nur nahe kommen. Manchen gelingt es sogar, uns Schaden zuzufügen. Gewöhnlich töten wir sie.«

»Und sonst?« fragte Tally.

Jandhi lachte leise. »Manche nehmen wir in unsere Dienste«, sagte sie. »Wenn sie gut sind. Du bist gut. Und jetzt erspare mir und dir bitte große Worte wie niemals oder lieber sterbe ich«, fügte sie rasch hinzu. »Das habe ich weiß Gott schon oft genug gehört.« Sie seufzte. »Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich selbst etwas Ähnliches gesagt. Aber das ist lange her. Komm jetzt – du wirst alles erfahren. Und danach wirst du vielleicht einsehen, wie dumm du gewesen bist.«

Begleitet von vier von Jandhis schwarzgekleideten Kriegerinnen bewegten sie sich auf den Drachen zu. Tally verspürte nun doch – wenn auch sehr schwache – Angst, aber es war keine Furcht vor der Kreatur selbst, sondern die instinktive Abneigung gegen alles Reptilische, Kalte, das wohl jeder Mensch in sich trug, die Millionen Jahre alte Furcht vor der anderen, großen Lebensform, die diese Welt lange vor dem Menschen beherrscht hatte, welche sie selbst in Hrhons Gegenwart vollkommen überwunden hatte.

Gleichzeitig – so absurd es war – kam ihr wieder zu Bewußtsein, wie schön der Drache war: ein Gigant, trotz seiner Größe elegant und leicht, von der Farbe der Nacht und schimmernd wie ein riesiger, schwarzer Diamant. Sie hatte einmal geglaubt, das Lodern in den Augen des Drachen wäre Bosheit, aber das stimmte nicht. Es war so wenig Bosheit, wie es Intelligenz war – während sie sich an Jandhis Seite auf die titanische Flugechse zubewegte, begriff sie, daß die Drachen nichts anderes als Tiere waren, ungeheuer große und ungeheuer starke Tiere, aber nicht mehr. Sie waren so wenig böse, wie es die Waffen in den Händen von Jandhis Kriegerinnen waren – nur Werkzeuge, mehr nicht.

Irgendwie beruhigte sie dieser Gedanke.

Fünfzig Schritte vor dem turmhohen Ungeheuer blieben sie stehen. Jandhi löste einen kleinen, kastenförmigen Gegenstand von ihrem Gürtel und drückte rasch hintereinander drei oder vier Tasten auf seiner Oberfläche; der Drache erwachte aus seiner Starre, stieß ein tiefes, kehliges Knurren aus und senkte den Schädel. Dicht vor Jandhi berührte der gepanzerte Unterkiefer des Kolosses den Felsboden. Ein Auge starrte sie an, das größer war als Tallys Kopf.

Jandhi drehte sich zu ihr herum und wiederholte ihre auffordernde Geste. »Keine Angst«, sagte sie. »Er tut dir nichts. Er ist sanft wie ein Lamm' – solange ich es will.« Bei diesen Worten hob sie den kleinen Kasten in ihrer Hand. Ein Lächeln erschien auf ihren Zügen, das Tallys Verwirrung zu jähem Zorn werden ließ.

»Gibt es irgend etwas womit du nicht spielst?« fragte sie mit mühsam beherrschter Stimme.

Ihr Zorn schien Jandhi zu amüsieren, denn ihr Lächeln wurde noch breiter. »Du versteht nicht«, sagte sie. »Aber wie könntest du auch? Es hat nichts mit Zauberei oder gar schwarzer Magie zu tun, weißt du?« Sie hob den Kasten und deutete gleichzeitig mit einer Kopfbewegung auf die gigantische geflügelte Kreatur, die wie ein lebender Berg über ihnen in den Himmel ragte. »Wir pflanzen Sensoren in ihre Gehirne, wenn sie noch sehr jung sind. Das ist völlig schmerzlos und ungefährlich. Täten wir es nicht, wären sie vermutlich längst ausgestorben. Oder niemals geboren worden – je nach dem. Aber jetzt komm.«

Tallys Blick irrte unsicher zwischen ihr und dem Drachen hin und her. Sie verstand Jandhis Worte nicht, und noch viel weniger verstand sie, warum sie sie überhaupt aussprach. Aber gleichzeitig glaubte sie zu spüren, daß Jandhis plötzliche Redseligkeit nicht von ungefähr kam. Jandhi verriet ihr all dies nicht, um ihr vor Augen zu führen, wie klein und machtlos sie in Wahrheit war – das hatte sie weiß Gott nun nicht mehr nötig. Nein – sie verfolgte einen ganz bestimmten Zweck damit. Aber welchen? Glaubte sie wirklich, ein paar Worte und ein wenig magischer Hokuspokus würden genügen, Tally alles vergessen zu lassen, wofür sie die letzten siebzehn Jahre ihres Lebens geopfert hatte? Lächerlich! Sie sprach nichts von ihren wahren Gedanken aus, sondern trat mit einem raschen Schritt an Jandhis Seite und sah sie fragend an. Jandhi deutete einladend auf den Drachen. Tally sah jetzt, daß im Nacken des Kolosses eine Art Sattel befestigt war, eine komplizierte Konstruktion aus Leder und Stahl, lächerlich klein gegen den Giganten, der sie trug. Der bloße Gedanke, dort hinauf-, zusteigen, erfüllte sie mit einer kreatürlichen Angst, gegen die sie für einen Moment hilflos war.

Und Jandhi schien ihre Angst zu spüren, denn sie forderte sie nicht noch einmal auf, in den Sattel zu steigen, sondern trat mit einem schnellen Schritt auf einen der hornigen Stachel, die aus dem Schädel des Drachen herausragten, zog sich mit einer geübten Bewegung in den Sattel hinauf und machte erst dann eine gleichermaßen auffordernde wie befehlende Geste. Tally gehorchte. Langsamer als Jandhi und mit vor Aufregung und Furcht hämmerndem Herzen näherte sie sich dem Drachen, blieb noch einmal stehen und kletterte schließlich zu Jandhi hinauf.

Es war ein entsetzliches Gefühl: es war im Grunde nicht schwerer, als einen Baum zu erklimmen, aber der Gedanke, daß sie auf einer der Bestien saß, die ihre Familie – ihr Leben – verbrannt hatten, vor einer der Frauen, die den Befehl dazu gegeben hatten, ja, vielleicht dabei gewesen waren, brachte sie schier um den Verstand. Alles in ihr schrie danach, sich einfach herumzudrehen und Jandhi zu töten, und wenn es das Letzte wäre, was sie in ihrem Leben tat. Aber sie durfte es nicht. Nicht, wenn nicht alles umsonst gewesen sein sollte. Nicht jetzt.

»Halt dich gut fest!« befahl Jandhi.

Tally hatte kaum Zeit, ihrem Befehl zu folgen und sich am Rand des Sattels festzuklammern.

Der monströse Schlangenhals unter ihr bewegte sich in die Höhe; beinahe gleichzeitig breitete der Gigant die Schwingen aus und stieß sich mit einem ungeheuer kraftvollen Satz ab.

Tally hatte niemals einen Drachen starten sehen, aber allein ihre ungeheure Größe hatte sie ganz instinktiv annehmen lassen, daß es sich um einen schwerfälligen Vorgang handeln mußte – ein albernes Flattern wie das eines Kormorans vielleicht. Aber der Drache sprang einfach in die Höhe, schlug nur ein einziges Mal mit den Flügeln und schoß in den Himmel wie ein Pfeil.

Tally begriff plötzlich, wieso Jandhi so wenig Angst davor gehabt hatte, von ihr angegriffen und vielleicht in die Tiefe gestoßen zu werden – selbst wenn sie es gewollt hätte, hätte sie kaum Gelegenheit dazu gefunden; denn sie brauchte all ihre Kraft und Aufmerksamkeit, sich am Sattel festzuhalten und nicht selbst abzustürzen. Die Wüste, die Kriegerinnen und die beiden anderen Drachen fielen unter ihr in die Tiefe, als hätte sich unter dem Schlund ein weiterer, noch gewaltigerer Abgrund aufgetan, um die Welt zu verschlingen. Eisiger Wind peitschte ihr Haar, schnitt wie mit Messern in ihr Gesicht und trieb ihr die Tränen in die Augen, während der Drache in die Höhe schoß, wie ein übergroßer Adler auf dem Wind reitend und nur sehr selten mit den Flügeln schlagend. Die schwarze Flanke des Drachenfelsens glitt vor ihnen in die Tiefe, kippte zur Seite und nach rechts und verschwand für einen Moment aus ihrem Blickfeld, als Jandhi den Drachen in einem weit geschwungenen Bogen herumzwang.

Dann lag der Berg unter ihnen. Tally konnte nicht viel erkennen, denn ihre Augen waren noch immer voller Tränen. Trotzdem war sie überrascht – sie hatte ein Plateau erwartet, vielleicht mit einer Art Festung, einer monströsen Stadt der Drachen; aber unter ihr lag nichts als eine gigantische, schwarze Nadel aus glänzender Lava, scharf wie ein Speer, der die Wolken aufzuschlitzen trachtete.

Erst als sich der Drache dem Berg mehr und mehr näherte, sah sie die Höhlen – es waren Hunderte –, die in seiner Flanke gähnten; manche nicht größer als Fenster, andere gigantisch genug, einem halben Dutzend Drachen zugleich Einlaß zu gewähren. Sie war ein wenig enttäuscht, den sagenumwobenen Hort der Drachen als nichts anderes als einen hohlen Berg vorzufinden, ein übergroßes Rattenloch.

Jandhi steuerte ihr Tier auf eine der größeren Höhlenöffnungen zu. Ganz instinktiv zog Tally den Kopf zwischen die Schultern, als der Felsen auf sie zusprang, aber der Drache glitt elegant in den Berg hinein, ohne daß die Spitzen seiner Flügel den Fels auch nur berührten. Sie landeten im hinteren Drittel der Höhle. Jandhi sprang mit einer federnden Bewegung aus dem Sattel, noch ehe sich der Drachenhals vollends gesenkt hatte, trat zurück und wartete, bis Tally ihr gefolgt war – weit langsamer und weniger elegant als sie.

Ihre Augen tränten noch immer, und die wenigen Momente, die sie dem schneidenden Wind ausgesetzt gewesen war, hatten sie vor Kälte steif werden lassen. Ihre Finger schmerzten so sehr, daß sie Mühe hatte, sich an den Hörnern des Drachen festzuhalten. Sie verstand die abenteuerliche Aufmachung der Drachentöter jetzt ein wenig besser.

Schaudernd – und nicht nur vor Kälte zitternd – sah sie sich um. Es war dunkel in der Höhle, obgleich unter der Decke und längs der Wände Dutzende der großen, weißes Licht verströmenden Zauberlampen brannten. Der Boden atmete Wärme, aber durch den Höhleneingang strömte eisige Luft herein, und der Gestank der Drachen war überwältigend.

Gestalten bewegten sich in der grauen Dämmerung – Frauen in den schwarzen Kleidern von Jandhis Schwestern, aber auch andere, größere Silhouetten. Schatten, deren Schwarz tiefer und deren Konturen härter waren; Gestalten, die sich auf zu vielen Beinen mit falsch angeordneten Gelenken bewegten, deren Schritte klickende Chitin-Echos auf dem Felsboden hervorriefen, deren Augen Tally kalt wie große geschliffene Halbkugeln aus Kristall musterten. Hornköpfe. Zumindest ihrem ersten Eindruck nach schien dieser Berg viel mehr eine Stadt der Hornköpfe als der Drachen zu sein.

Und da war noch etwas.

Tally wußte nicht, was es war – aber im gleichen Moment, in dem sie den Boden berührte, vielleicht sogar schon vorher, ergriff eine sonderbare Unruhe von ihr Besitz, etwas, das nichts mit ihrer Furcht oder der fremdartigen Umgebung zu tun hatte. Ein wenig erinnerte sie das Gefühl an das, das sie in Karans Sumpf gehabt hatte, auch wenn es gleichzeitig ganz, ganz anders war: aber sie spürte, daß irgend etwas hier war, irgend etwas Fremdes, Böses, ungemein Mächtiges. Und es waren nicht Jandhi und ihre Drachen.

Tally schauderte. Eine entsetzliche Angst bemächtigte sich ihrer, und es war keine Angst mehr vor dem Tod, vor irgend etwas, das sie körperlich bedrohte, sondern...

Nein – sie wußte nicht, was es war. Irgend etwas, ein Teil ihrer menschlichen Seele, zog sich zusammen wie ein getretener Wurm, als sie das Fremde spürte, das diesen Ort beherrschte, etwas Düsteres, Altes; etwas durch und durch Unmenschliches; etwas, das so alt war wie diese Welt, vielleicht älter, und das vom ersten Tag der Schöpfung an der Feind aller anderen denkenden Kreaturen gewesen war.

Tally hatte niemals an derartige Dinge geglaubt – aber jetzt fragte sie sich allen Ernstes, ob es so etwas wie das personifizierte Böse und die Hölle vielleicht doch gab. Und ob sie beidem nicht vielleicht sehr viel näher war, als sie noch vor Augenblicken geahnt hatte...

Sie sah, wie Jandhi sich umwandte und mit einer der insektoiden Kreaturen sprach. Sie verstand die Worte nicht, aber ihr Tonfall und die Gesten, die sie auf beiden Seiten begleiteten, erschreckten sie. Die Bewegungen des Hornkopfes waren herrisch, voller Ungeduld und Zorn. Und Jandis Antworten... Tally wußte, wie absurd der Gedanke war: aber für einen Moment fragte sie sich, wer von den beiden der Sklave, und wer der Herr war... Schließlich endete der kurze Disput so abrupt, wie er begonnen hatte. Der Hornkopf deutete mit einer zornigen Geste auf sie und drehte sich herum, um Jandhi einfach stehenzulassen. Und hätte Tally nicht ganz genau gewußt, daß es unmöglich war, hätte sie in diesem Moment geschworen, daß seine Facettenaugen sie mit stummer Wut gemustert hatten.

Auf Jandhis Gesicht spiegelten sich Zorn und Ohnmacht, als sie sich zu Tally herumdrehte. Dann bemerkte sie ihren verwunderten Blick und versuchte, sich in ein Lächeln zu retten. Ganz gelang es ihr nicht, und sie merkte es wohl selbst.

»Was war das, Jandhi?« fragte Tally verstört. »Dieser... dieser Hornkopf – wer war er?«

Jandhi seufzte. Für einen Moment verdunkelten sich ihre Augen vor Zorn, dann huschte ein sehr sonderbares, fast resignierendes Lächeln über ihre Züge. »Komm mit«, sagte sie. »Du wirst verstehen. Bald.«

6

Die Stadt der Drachen war ein Labyrinth aus Gängen und Stollen, aus Treppenschächten und gigantischen, leeren Felsendornen, aus jäh aufklaffenden Abgründen und bodenlosen Schlünden, in deren Tiefe ein unheimliches rotes Feuer glomm. Ein halbes Dutzend bewaffneter Hornköpfe nahm Tally und Jandhi in Empfang, als sie die Höhle durchquerten, und noch einmal die gleiche Anzahl der schrecklichen schwarzen Kreaturen stieß zu ihnen, als sie tiefer ins Innere des hohlen Berges eindrangen.

Tally hatte gehofft, Hrhon und Angella wenigstens noch einmal wiederzusehen, aber diese Hoffnung wurde enttäuscht: Jandhi führte sie durch ein wahres Labyrinth niedriger, kaum beleuchteter Gänge und Treppen tiefer und tiefer in den Berg hinein, und das einzige menschliche Leben, auf das sie trafen, waren drei oder vier schwarzgekleidete Drachentöchter, die jedoch respektvoll beiseitetraten, als sie Jandhi und ihre Eskorte erblickten.

Dafür wimmelte der Berg von Hornköpfen.

Tally sah im wahrsten Sinne des Wortes Tausende der schrecklichen Kreaturen, in allen nur denkbaren (und ein paar undenkbaren...) Formen und Größen – angefangen von kaum handspannengroßen, emsig hin und her hastenden Geschöpfen von termitenähnlichen Aussehen bis hin zu titanischen Kreaturen, halb so groß wie eine Hornbestie und gewaltige Lasten schleppend.

Schließlich erreichten sie einen Teil der Drachenstadt, in der die Räume kleiner und heller erleuchtet waren; nach und nach nahmen die menschlichen Stimmen wieder zu und das schrille Pfeifen und Sirren der Hornköpfe ab; sie bewegten sich wieder in eine Welt hinein, die wengistens die Illusion von Normalität bot, und sei es nur, weil die meisten Lebewesen, denen sie jetzt begegneten, aus weichem Fleisch statt aus stahlhartem schwarzem Chitin bestanden.

Sie betraten einen großen, vollkommen leeren Saal, in dem Jandhi einen Moment lang stehenblieb und den Kopf auf die Seite legte; fast als lausche sie auf eine für Tally unhörbare Stimme, und als sie weitergingen, blieb der allergrößte Teil ihrer Eskorte hinter ihnen zurück. Nur noch zwei der gewaltigen Rieseninsekten begleiteten Tally – was allerdings mehr als genug war, jeden Gedanken an Flucht oder Widerstand schon im Keim zu ersticken.

Die beiden Hornköpfe gehörten zu einer Spezies, die Tally noch niemals zuvor gesehen hatte: es waren übermannsgroße, ungemein kräftige Kreaturen, deren Chitinpanzer über und über mit Dornen und rasiermesserscharfen Kanten besetzt waren. Und als reichten die Waffen noch nicht aus, die ihnen die Natur mitgegeben hatte, trug jeder der aufrecht gehenden Scheußlichkeitten gleich vier Schwerter – eines in jeder Hand. Angella, Hrhon und sie zusammen hätten wohl kaum eine Chance gehabt, auch nur eines dieser Ungeheuer zu besiegen.

Und Tally dachte auch gar nicht an Flucht. Sie war nicht hier, um zu kämpfen – wenigstens nicht auf diese Art.

Sie durchquerten den Saal und betraten einen kleineren, spartanisch eingerichteten Raum, dessen Südwand von einem großen, vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster gebildet wurde. Sein Glas war so klar, daß Tally es erst bemerkte, als sie mit den Fingerspitzen dagegenstieß.

Dann begriff sie, daß es gar kein Fenster war. Sie hatten sich tiefer in den Berg hineinbewegt, nicht nach oben, und die Landschaft, die sich unter ihr ausbreitete, war auch nicht die karge Steinwüste des Schlunds, sondern... ja, was eigentlich?

Sie erinnerte sich nicht, jemals eine Landschaft wie diese erblickt zu haben. Unter ihr, unendlich tief unter ihr, wie es schien, breitete sich ein idyllisches Muster aus Wiesen und Wäldern aus, durchzogen von kleinen, willkürlich gewundenen Bächen und glitzernden Seen. Hier und da glaubte sie Bewegung wahrzunehmen, ohne genau sagen zu können, was sie verursachte. Sehr weit im Norden, wie mächtige Schatten auf dem Horizont schwimmend, waren Berge, mehr zu erahnen als wirklich zu erkennen.

»Gefällt es dir?« fragte Jandhi. Sie lächelte, trat an die Wand neben dem Fenster und berührte einen Schalter, der dort angebracht war.

Die Waldlandschaft verschwand. Statt dessen war unter Tally plötzlich Wasser, eine ungeheure, unvorstellbare Menge von Wasser, vom Sturm zu zehnfach mannshohen, schaumgekrönten Wogen gepeitscht.

Tally sprang mit einem erschrockenen Schrei zurück, starrte Jandhi an und dann wieder das so jäh erschienene Meer und schließlich wieder Jandhi. »Was... was ist das?« stammtelte sie. »Das ist...«

»Zauberei?« Jandhi lachte amüsiert, schüttelte den Kopf und berührte abermals die Wand. Das tobende Meer wich einer öden, von einer blutigroten bösen Sonne überstrahlten Wüstenlandschaft.

»Es ist keine Zauberei«, sagte Jandhi. »So etwas gibt es nicht, Talianna. Auch, wenn dir das meiste von dem, was du hier sehen wirst, so vorkommen wird.«

Wieder hob sie die Hand, und wieder wechselte das Bild hinter dem Fenster: jetzt erstreckte sich dort eine Stadt, wenn auch eine, wie sie Tally niemals zuvor erblickt hatte – sie sah Häuser von geradezu absurder Höhe, breite, mit weißem Marmor gepflasterte Straßen, kühn geschwungene Bögen und Brücken; Gebäude, deren Aussehen zu phantastisch war, als daß sie irgendeinen Vergleich fand, der auch nur annähernd gepaßt hätte. Die Stadt war... phantastisch. Und sie war groß, unvorstellbar groß.

»Es ist keine Zauberei, Tally«, sagte Jandhi noch einmal, aber plötzlich sehr leise und fast wie zu sich selbst gewandt. Tally sah rasch zu ihr hinüber und erkannte, daß auch sie auf das Bild blickte, und ein sonderbarer, fast melancholischer Ausdruck hatte sich auf ihrem Gesicht ausgebreitet.

»Es sind nur Bilder«, fuhr Jandhi fort, mit einer Stimme, die sehr traurig klang. »Bilder einer Zeit, die lange zurückliegt. Hunderttausende von Jahren, Talianna.« Sie seufzte, hob die Hand, als wolle sie das Bild der Stadt abschalten, tat es aber dann doch nicht. Tally sah, wie schwer es ihr fiel, den Blick von der phantastischen Stadt zu lösen und sie anzusehen. »Es sind nur Bilder«, sagte sie noch einmal.

»Bilder?« Es fiel Tally schwer, zu antworten. »Aber sie... sie bewegen sich.«

»Trotzdem.« Jandhi lächelte. Plötzlich gab sie sich einen Ruck, drehte sich vom Fenster weg und wandte sich an die beiden Hornköpfe. »Geht hinaus«, sagte sie. Die beiden Rieseninsekten zögerten, und Jandhi sagte noch einmal und in merklich schärferem Ton: »Geht. Ich rufe euch, wenn ich euch brauchen sollte. Tally wird vernünftig sein.« Sie sah Tally an. »Das wirst du doch, oder?«

»Habe ich eine andere Wahl?«

Jandhi seufzte. Aus irgendeinem Grund schien Tallys Antwort sie zu ärgern. Aber sie ging nicht darauf ein, sondern wiederholte nur ihre auffordernde Geste zu den Hornköpfen, und diesmal gehorchten die beiden Kreaturen. Tally spürte eine fast körperliche Erleichterung, als sich die Tür hinter den Hornköpfen schloß und sie mit Jandhi allein war. Und auch Jandhi atmete hörbar auf.

»Ich werde mich wohl nie an sie gewöhnen«, sagte sie lächelnd. »Verrückt, nicht – sie sind die treuesten Verbündeten, die ich mir wünschen kann, und gleichzeitig fürchte ich sie.«

Sie sah Tally an, als erwarte sie eine ganz bestimmte Antwort, zuckte schließlich die Schultern und setzte sich auf einen der niedrigen, unbequem aussehenden Stühle. Ihre Hand machte eine einladende Geste, aber Tally rührte sich nicht.

»Es geziemt sich nicht für eine Sklavin, neben den Herren zu sitzen«, sagte sie böse.

Jandhi seufzte. Aber die scharfe Antwort, mit der Tally rechnete, kam auch jetzt nicht. Ganz im Gegenteil trat ein Ausdruck von Trauer in ihren Blick. »Du verstehst noch immer nicht«, sagte sie. »Du bist so wenig mein Sklave, wie ich dein Feind bin. Wir haben gegeneinander gekämpft, und du hast verloren.«

»Bist du sicher?« fragte Tally.

Jandhi nickte. »Es gibt keinen Grund mehr für dich, den Kampf fortzuführen. Alles, was du erreichen könntest, wäre dein eigener Tod. Du warst gut, Tally, aber nicht gut genug für uns. Niemand ist das.« Sie sprach sehr ruhig, und fast ohne Gefühl. Ihre Worte waren eine Feststellung, keine Drohung, und schon gar keine Angabe. Und vielleicht hatte sie recht.

»Möglich.« Tally zuckte mit den Achseln. »Aber vielleicht kommt irgendwann doch jemand, der –«

»Der uns gewachsen ist?« Jandhi lachte. »Niemals, Tally. Die Töchter des Drachen, das sind nicht nur ich und die, die du hier siehst. Es gibt Tausend von uns, überall auf der Welt, an Hunderten von Orten. Selbst wenn es dir gelungen wäre, diese Festung zu zerstören, hättest du nichts erreicht.«

Tally starrte sie an; schwieg. Sie spürte, daß Jandhi auf eine ganz bestimmte Reaktion wartete; vermutlich ein Frage- und Antwortspiel beginnen wollte, in dem ihre und Tallys Rollen von vorn herein festgelegt waren. Tally tat ihr den Gefallen nicht.

»Warum haßt du uns so?« fragte Jandhi schließlich. Sie hob die Hand, als Tally antworten wollte, und fügte hinzu: »Sag jetzt nicht, daß wir deine Eltern getötet oder deine Heimatstadt verbrannt haben. Das ist nicht der wahre Grund. Viele hassen uns, weil wir für den Tod ihrer Freunde oder Verwandte verantwortlich sind, aber das ist es nicht. Dein Haß hat einen anderen Grund. Einen, der tiefer geht. Sag ihn mir.«

Wie zur Antwort schien sich irgend etwas in Tally zu rühren, etwas Mächtiges und Altes und ungeheuer Starkes, von dem sie bisher nicht einmal gewußt hatte, daß es da war. Aber sie ließ sich nichts von ihren wahren Gefühlen anmerken, sondern starrte Jandhi nur weiter an; so kalt und gleichzeitig so voller Verachtung, wie sie nur konnte. »Warum sollte ich?«

»Ich kenne die Antwort«, behauptete Jandhi. »Aber ich möchte sie aus deinem Mund hören.«

Tally schwieg, und wie sie erwartet hatte, fuhr Jandhi nach einer Weile von selbst fort:

»Also gut, dann werde ich es dir sagen – verbessere mich, wenn ich einen Fehler mache. Deine Heimat war Stahldorf, nicht wahr?«

Diesmal gelang es Tally nicht mehr vollends, ihre Überraschung zu verbergen. Sie nickte. »Woher weißt du das?«

»Ich weiß alles über dich«, antwortete Jandhi. Sie setzte sich bequemer hin, soweit dies auf dem metallenen Hocker überhaupt möglich war, schlug die Beine übereinander und sah Tally sehr lang und nicht einmal auf unfreundliche Weise an.

Tally ihrerseits fragte sich, wieviel Zeit ihr noch blieb – sie war schon sehr lange in diesem verdammten Berg, und sie wußte noch immer nicht, wo ihr wahrer Feind eigentlich zu finden war. Sie wußte nicht einmal, wie er aussah; sie spürte nur, daß Jandhi und ihre Schwestern es nicht waren. Und daß sie ihn erkennen würde, wenn sie ihm gegenüberstand.

»Wir wissen alles über dich«, sagte Jandhi noch einmal. »Vielleicht mehr als du selbst. Nach dem Angriff auf den Turm haben wir begonnen, Erkundigungen über dich einzuziehen.« Sie lächelte flüchtig. »Es war nicht leicht«, gestand sie. »Du hast deine Spur gut verwischt. Aber eine Frau und ein Waga, die allein durch die Welt ziehen, bleiben nicht lange unentdeckt. Du stammst also aus Stahldorf. Du warst die einzige Überlebende, nicht?«

»Die einzige, die Hraban am Leben gelassen hat, ja.« Jandhi runzelte flüchtig die Stirn, aber sie ging nicht weiter auf Tallys Bemerkung ein. »Du hast ihn geheiratet«, stellte sie fest. »Warum?«

»Warum fragst du, wenn du alles weißt?«

»Weil ich versuchen möchte, dich zu verstehen«, antwortete Jandhi. »Du hast den Mann geheiratet, der dein Dorf niedergebrannt hat. Einen Mann, der in unseren Diensten stand. Wußtest du, daß wir deine Sippe ausgelöscht haben?«

Tally wußte es nicht, aber es überraschte sie auch nicht. Sie schwieg.

»Du warst klug«, gestand Jandhi. »Nach dem Gemetzel, das du im Turm angerichtet hattest, starteten wir eine Strafexpedition gegen deine Sippe. Wir haben ihr Dorf verbrannt und sie ausgelöscht – alle.« Sie seufzte.

»Ein Fehler, wie ich jetzt weiß. Du hast sie von Anfang an nur benutzt, nicht wahr? Du hast Hraban nicht aus Liebe geheiratet, sondern nur, um sein Vertrauen zu erringen.«

»Es war der einzige Weg, um an euch heranzukommen«, antwortete Tally. Sie wollte nicht reden, denn sie spürte, daß Jandhi nun doch erreichte, was sie vorgehabt hatte – sie in eine Lage zu manövrieren, in der sie hilflos war.

Schon jetzt war sie halb in die Defensive gedrängt. Aber sie konnte auch nicht schweigen. Es war zu viel. Sie hatte all dies zu lange mit sich herumgetragen, ihren Haß zu lange geschürt, ja, ihn beschützt wie einen Schatz, weil er das einzige war, das sie noch am Leben erhalten hatte. Und jetzt stand sie einer der Frauen gegenüber, der dieser Haß galt. Sie konnte einfach nicht mehr schweigen.

»Ja!« schrie sie. »Ich wollte sein Vertrauen erringen! Ich habe ihn geheiratet, weil ich ihn benutzen wollte – und? Du und deine Drachen, ihr habt mir alles genommen, was ich hatte. Ich habe Hraban meinen Körper gegeben, weil ich ihm nichts anderes geben konnte? Und? Findest du das unmoralisch?«

Das letzte Wort hatte sie auf eine Art ausgesprochen, die Jandhi zusammenfahren ließ. Aber sie schwieg, und Tally fuhr, noch immer sehr erregt und halbwegs schreiend, fort: »Ich habe geschworen, euch zu vernichten. Damals, als ich aus dem Wald trat und meine Heimatstadt brennen sah, habe ich es geschworen, Jandhi, und ich –«

»Und du hast Hraban und seine Sippe benutzt, diesen Schwur zu halten«, unterbrach sie Jandhi, nun ebenfalls zornig. »Die Menschen, bei denen du aufgewachsen bist. Die dir Heimat und Familie waren, Tally! Sie haben dich aufgenommen, als du niemanden mehr hattest! Und sie sind tot, durch deine Schuld.«

»Menschen?« Tally spie das Wort hervor wie eine Obszönität. »Menschen, Jandhi? Sie waren Mörder, schlimmer als die Tiere. Hrhon und Essk sind für mich tausendmal mehr Menschen als Hrabans Mordgesindel.«

»Du hast dazugehört!« sagte Jandhi scharf. »Nach Hrabans Tod hast du die Sippe geführt. Du warst es, der an seiner Stelle Städte und Dörfer niederbrennen ließ! Wie viele gibt es jetzt wohl, die dich hassen, so wie du Hraban gehaßt hast?«

»Viele«, antwortete Tally ungerührt. »Aber es mußte sein. Anders wäre ich nicht an euch herangekommen.«

»Und uns wolltest du ja haben!«

»Ja, das wollte ich!« schrie Tally. »Euch. Ich... ihr Ungeheuer! Ihr beherrscht diese Welt! Ihr führt euch auf wie die Götter, und ihr vernichtet jeden, der es wagt, euch zu widersprechen.«

»Und du hast dich niemals gefragt, warum?«

Tally schwieg einen Moment. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich will es nicht wissen«, sagte sie. »Ich bin sicher, du hast tausend gute Gründe, aber was ich gesehen und erlebt habe, reicht.«

»Was hast du denn gesehen?« fragte Jandhi geduldig.

»Du hast einen großen Teil des Kontinents durchquert, den du deine Welt nennst, Tally. Also, was hast du gesehen? Ich will es dir sagen: du hast eine friedliche Welt voller friedlicher Menschen gesehen. Seit mehr als zehntausend Jahren wachen wir und unsere Drachen über den Frieden auf dieser Welt, Tally. Wir haben ihn erhalten.«

»Frieden?« Tally schnaubte. »Den Frieden des Todes, ja.«

»Aber das stimmt doch nicht!« Jandhi schüttelte heftig den Kopf, lächelte aber. »Sag mir – hast du ein Land gesehen, das vom Krieg verwüstet worden wäre? Hast du eine Stadt gesehen, deren Bewohner Hunger leiden mußten, weil ihre Felder verbrannt worden sind, oder ihre Könige zu hohe Steuern verlangten? Du weißt es nicht, aber deine Welt ist ein Paradies, Tally. Es gibt keine Kriege – jedenfalls keine großen – keinen Hunger, keine Seuchen, keinen Haß. Die Menschen leben hundert Jahre und mehr, ehe sie friedlich sterben, um der nächsten Generation Platz zu machen. Das war nicht immer so. Es gab eine Zeit, da war ein Jahrzehnt ohne Krieg etwas Besonderes. Unsere Drachen und wir haben dieser Welt den Frieden gebracht. Für dich und viele andere sind wir Ungeheuer, Dämonen und was weiß ich sonst noch. Aber das stimmt nicht. Wir sind Wächter, Tally.«

»Wächter?« Tally schnaubte. »Worüber? Ihr zwingt die Menschen, wie Tiere zu leben, und nennt das, was herauskommt, Frieden?« Sie spie aus. »Meine Eltern wurden getötet, weil sie Stahl gemacht haben, Jandhi! Hraban hat Städte niedergebrannt, deren Bewohner herausfanden, wie man ein Feld zweimal im Jahr aberntet statt einmal. Ich selbst habe einen Mann erschlagen, der nichts anderes tat, als einen Wagen zu erfinden, der besonders große Lasten transportiert.«

»Ich weiß.« Jandhi seufzte. »Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Gerade jetzt zum Beispiel sind zehn meiner Schwestern unterwegs, jemanden zu suchen, der die Elektrizität neu entdeckt hat. Wir achten darauf, daß die Menschen dieser Welt niemals wieder eine technologische Zivilisation entwickeln. Aber wir haben einen Grund dafür, Tally.«

»So?« fragte Tally böse. »Welchen? Habt ihr Angst, eure Vormachtstellung könnte gefährdet sein? Habt ihr Angst, irgend jemand könnte eine Waffe entwickeln, mit denen er euren verfluchten Drachen gewachsen ist?« Sie machte eine zornige, weit ausholende Geste. »Was ist das hier, Jandhi? Du selbst hast gesagt, es wäre keine Zauberei – was ist es dann, wenn nicht die Technik, die ihr den Menschen zu entwickeln verbietet?«

»Es ist eine Art... Erbe«, sagte Jendhi mit einem fast unmerklichen Zögern. »Aber ein sehr schweres.« Sie seufzte, hob die Hand und deutete auf das Bild, das noch immer die phantastische Stadt zeigte. »Ihr Erbe, Tally.«

»Und ihr habt Angst, ein anderer könnte es euch wegnehmen, wie?«

Jandhi schüttelte beinahe sanft den Kopf. »Ich kann gut verstehen, daß du so denkst, Talianna«, sagte sie.

»Aber es ist falsch. Ich werde dir die Geschichte dieser Welt erzählen, und ihrer Bewohner. Und danach wirst du vielleicht verstehen, warum wir so sind.«

»Kaum«, antwortete Tally wütend, sah Jandhi aber gleichzeitig neugierig an. Jandhi ihrerseits lächelte, aber es wirkte jetzt sehr traurig.

»Diese Welt ist alt, Tally«, sagte sie. »Unglaublich alt. Und sie ist viel, sehr viel größer, als du ahnst. Karan hat dir erzählt, daß der Schlund vor langer Zeit einmal ein Meer war?«

Tally nickte.

»Es stimmt«, fuhr Jandhi fort. »Ein Meer, das diese ganze Welt umspannte. Was du deine Welt nennst, Tally, ist nur ein kleiner Teil dieses Planeten – nur einer von sieben Kontinenten, die früher einmal von Meeren voneinander getrennt waren, lange bevor die Ozeane austrockneten und der Schlund entstand.«

»Sieben... Welten?« murmelte Tally verwirrt. Der Gedanke sprengte schier ihre Vorstellungskraft. Sie hatte sich niemals gefragt, was jenseits des Schlunds lag. Andere Welten, so groß, so unendlich groß wie ihre eigene? Unvorstellbar!

»Sieben Kontinente«, verbesserte sie Jandhi. »Man nennt es Kontinente, nicht Welten. Andere Welten haben sie auch besucht, aber...« Sie stockte. »Später«, fuhr sie nach kurzem Überlegen und mit veränderter Stimme fort. »Es wäre zuviel jetzt. Gib dich damit zufrieden, daß unsere Vorfahren mächtig waren, hundertmal mächtiger, als du oder auch ich uns nur vorzustellen vermögen.«

Sie seufzte, trat an das sich bewegende Bild heran und legte die Hand auf das unsichtbare Glas, als wolle sie die winzigen Gestalten dahinter ergreifen. »Sie schufen Städte wie diese, Tally, und andere, zehnmal größere und phantastischere. Sie waren... Zauberer – von unserem Standpunkt aus.« Sie drehte sich halb zu Tally herum. »Das hier ist nichts. Laß dich nicht von dem beeindrucken, was du siehst. Unsere Waffen und Funkgeräte, unsere elektrischen Lichter und Holografien – es ist ungeheuer viel, und doch ist es nur Abfall. Die kümmerlichen Reste eines untergegangenen Reiches. Alles, was nach mehr als hunderttausend Jahren geblieben ist.« Sie lachte, sehr leise, und sehr bitter. »Es ist nichts gegen das, was war. Und doch reicht dieser kümmerliche Rest aus, eine Welt zu beherrschen. Wie gewaltig muß ihre Macht damals gewesen sein?«

Wieder schwieg sie einen Moment, dann huschte ein überraschter, beinahe betroffener Ausdruck über ihre Züge. »Wir kommen vom Thema ab«, sagte sie. »Ich wollte dir von der Geschichte dieser Welt erzählen. Sie ist lang, aber rasch berichtet. Die Menschen machten sich ihre Welt untertan, damals. Sie bauten Städte wie diese – .« Sie deutete abermals auf das Bild. » – und gewaltige Maschinen. Dinge, die fliegen konnten und sich unter den Meeren bewegten, die Berge erklommen oder selbst so groß wie Berge waren.«

»Warum erzählst du mir das alles?« fragte Tally scharf.

»Damit du verstehst«, antwortete Jandhi. »Viele von uns waren dafür, dich einfach zu töten, und ich muß gestehen, auch ich war mehrmals der Meinung, daß es vielleicht besser wäre. Aber ich will nicht. Du bist unser Feind, und du haßt uns, aber du wirst aufhören zu hassen, wenn du verstehst. Du glaubst, wir unterdrücken die technische Entwicklung dieser Welt, weil wir unsere Rolle als Götter weiterspielen möchten, wie?« Sie lachte leise. »Oh Tally, wenn du wüßtest, wie sehr wir alle ihr längst überdrüssig geworden sind. Aber wir müssen sie weiterspielen.«

»Warum?«

»Weil diese Welt sonst untergeht«, antwortete Jandhi mit großem Ernst. »Weil die Drachen und wir vielleicht die letzte Chance sind, die dieser Planet hat. Und die menschliche Rasse.«

»Oh«, sagte Tally spöttisch. »Tatsächlich?«

»Tatsächlich«, erwiderte Jandhi mit großem Ernst.

»Der Gedanke ist entsetzlich, aber es ist die Wahrheit, Tally – wenn es einen Gott gibt, an den manche glauben, so hat er sich mit der Erschaffung des Menschen einen schlechten Scherz geleistet. Wir verhindern eine technische Evolution nicht aus Bosheit, sondern weil sie das Ende der Menschheit bedeuten würde. Du hast mich die Geschichte unserer Vorfahren nicht zu Ende erzählen lassen, Tally. Sie waren mächtig und so fortschrittlich, wie ihre Kultur war, so entsetzlich waren die Waffen, die sie schufen. Es gab Kriege; Dutzende, vielleicht Hunderte. Manche von ihnen löschten alle aus bis auf eine handvoll Überlebende, manche nur die Bevölkerung eines Kontinents. Neunmal, Tally, rotteten sich unsere Vorfahren um ein Haar gegenseitig aus, sich und alles Leben auf dieser Welt. Neunmal vergingen ganze Zivilsationen im Feuer der Sterne, das sie gebändigt hatten, um es als Waffe zu mißbrauchen. Und neunmal entstand die menschliche Rasse neu, aus der Asche ihrer Vorfahren.«

Sie schwieg einen Moment, als hätte sie das, was sie erzählte, vollkommen erschöpft. Vielleicht wollte sie Tally auch nur Gelegenheit geben, das Gehörte zu verdauen.

Nicht, daß sie es wirklich begriff. Es war vermutlich unmöglich. Jandhi erzählte Dinge von einer Größe und Tragweite, die sie so rasch gar nicht verarbeiten konnte. Aber sie begriff zumindest, worauf sie hinauswollte.

»Und du glaubst, ihr könntet den zehnten Krieg verhindern?« fragte sie. »Indem ihr die menschliche Rasse beaufsichtigt?«

»Beschützt«, verbesserte sie Jandhi. »Wir schützen sie vor sich selbst. Der letzte, der neunte Krieg, war der Entsetzlichste. Fast alles wurde zerstört. Diese Welt wurde unbewohnbar, für Hunderte von Jahren. Damals verschwanden die Meere, Tally, und neunundneunzig von hundert Tier- und Pflanzenarten. Nur sehr wenige Orte – wie diese Insel hier – blieben verschont, und das Leben brauchte hunderttausend Jahre, die Welt zurückzuerobern. Eine Welt, die verbraucht war. Es gibt keine Bodenschätze mehr, kaum mehr Wasser, kaum mehr bewohnbares Land. Der zehnte Krieg, Tally, wäre der letzte.«

»Und du glaubst, er käme, wenn du den Menschen erlaubst, Stahl zu schmieden?«

»Nein«, antwortete Jandhi. »Aber nach dem Stahl kommt die Dampfmaschine, nach ihr die Elektrizität, und dann die Bomben. So war es immer. Unsere Rasse hat neun Chancen gehabt, Tally. Sie hat sie verspielt.«

»Und du sorgst dafür, daß sie keine zehnte bekommt, wie?« fragte Tally böse. »Was bist du! Gottes rechte Hand?«

Jandhi preßte wütend die Lippen aufeinander. Aber wieder blieb die zornige Antwort aus, auf die Tally wartete. Statt dessen schüttelte sie nur den Kopf. »Wir haben eine zehnte Chance«, sagte sie. »Unsere Aufgabe wird bald beendet sein, auch wenn keiner von uns dieses Ende noch erleben wird. Die Drachen und wir sind die Hüter, Tally, mehr nicht. Wir geben acht, daß die Menschen nicht noch einmal den falschen Weg gehen. Die Technik vermag Wunder zu wirken, aber sie ist der falsche Weg. Sie führt nur in den Tod.«

»Benutzt ihr sie deshalb?«

Jandhi seufzte. »Wir würden es nicht tun, wenn wir es nicht müßten«, antwortete sie. »Und wir werden sie aufgeben, sobald wir sie nicht mehr brauchen. Unser Plan mag dir grausam erscheinen, aber er ist richtig. Der Tag wird kommen, an dem der Mensch wieder diese Welt beherrscht.«

»Und er wird schwarzes Leder tragen und auf Drachen reiten, wie?« fragte Tally böse.

»Die Drachen sind nur Werkzeuge«, sagte Jandhi ruhig. »Wie wir. Sie wurden eigens für diesen Zweck erschaffen, und sie werden verschwinden, wenn es nichts mehr gibt, worüber sie wachen müßten. Nach dem letzten Krieg, Tally, begriff eine kleine Gruppe der Überlebenden, daß der Mensch niemals wieder eine technische Zivilisation entwickeln durfte. Sie... sie hatten nur noch einen Bruchteil ihrer alten Macht, und doch reichte dieses Wenige, die Drachen zu erschaffen, die Hornköpfe, uns –«

»Euch?«

Jandhi lächelte flüchtig. »Nicht uns in Person, natürlich. Einige wenige von uns mögen noch direkte Nachkommen der Überlebenden von damals sein, aber die meisten sind Männer und Frauen wie du und ich. Aber sie erschufen die Töchter des Drachen, und sie schufen die Gesetze der Götter, wonach es dem Menschen verboten war, etwas wider die Natur zu tun. Sie zeigten uns den richtigen Weg.«

Tally dachte an brennende Städte und schwieg, aber Jandhi schien ihre Gedanken deutlich auf ihrem Gesicht zu lesen. »Es klingt grausam, ich weiß«, sagte sie. »Aber es mußte sein. Wir schufen die Gesetze, und wir sorgen dafür, daß sie eingehalten werden. Wo immer man sie bricht, tauchen die Drachen auf und ersticken das Gift im Keim, das unserer Rasse schon neunmal das Verderben gebracht hat. Und Männer wie Hraban – und Frauen wie du, die in unseren Diensten stehen, vernichten das, was wir übersehen.«

»Ist das euer großartiger Plan?« fragte Tally wütend.

»Dafür zu sorgen, daß Menschen nie wieder so leben können?« Sie wies mit einer Kopfbewegung auf das Bild.

»Wenn es sein muß, ja«, antwortete Jandhi hart. »Aber eine neue Zivilisation entsteht bereits, Tally. Du hast sie gesehen, in Schelfheim und all den anderen Städten, durch die du gekommen bist. Der Mensch hat gelernt, mit der Natur zu leben.« Sie lächelte. »Sie haben gelernt, die Gesetze der Götter zu beachten und sich zu arrangieren. Von Generation zu Generation werden es weniger, die glauben, sich gegen das Schicksal auflehnen zu können. Ich werde dir unsere Aufzeichnungen zeigen, Tally, später. Du wirst es selbst sehen. Der Tag wird kommen, an dem unsere Drachen nicht mehr fliegen müssen.«

»Ja«, sagte Tally böse. »Weil es dann niemanden mehr gibt, den sie umbringen könnten!«

Jandhi blieb ernst. »Du wirst mich verstehen«, sagte sie. »Du wirst es begreifen, so, wie ich es einsah, und alle anderen vor mir. Unsere Vorfahren haben nach den Sternen gegriffen und dabei das Leben vergessen. Diese Welt ist groß genug für unser Volk. Wir brauchen keine anderen. So wenig, wie wir Maschinen brauchen oder die Wissenschaft. Die menschliche Rasse hat lange gebraucht, dies zu begreifen, aber sie ist auf dem richtigen Weg. Gib ihnen noch ein wenig Zeit, und sie werden so mächtig und reich sein wie unsere Vorfahren.« Und vielleicht hatte sie sogar recht, dachte Tally. Vielleicht hatte sie die Wahrheit gesagt, und der Weg, der mit dem Schmelzen von Stahl begann, konnte wirklich nirgendwo anders enden als im Tod.

Und trotzdem...

Etwas war falsch. Tally wußte nicht, was, oder woher dieses Wissen kam, aber sie wußte mit unerschütterlicher Sicherheit, daß Jandhi ihr noch immer nicht alles erzählt hatte. Etwas – ein vielleicht kleiner, aber entscheidender Teil der Geschichte – fehlte noch.

»Ein wenig Zeit«, murmelte sie. »Wie lange? Tausend Jahre? Zehntausend?«

»Wenn es sein muß, ja«, antwortete Jandhi. »Aber es wird schneller gehen.«

Aber es war falsch! dachte Tally entsetzt. Begriff sie das denn nicht? Sie und ihre Schwestern waren keine Götter! Woher nahmen sie das Recht, dem Schicksal ins Handwerk pfuschen zu wollen?

»Ihr wollt also weitermachen«, sagte sie leise. »Ihr wollt damit fortfahren, Menschen zu töten, die nichts anderes tun, als ein wenig bequemer leben zu wollen. Ihr wollt weiter Städte niederbrennen, deren Bewohner sich nichts anderes zuschulden kommen lassen als –«

»Du verstehst noch immer nicht«, unterbrach sie Jandhi. »Wir –«

»Nein, und ich will es auch gar nicht verstehen!« sagte Tally. »Du denkst wirklich, du könntest mich überzeugen? Du denkst wirklich, ich würde bei diesem Wahnsinn auch noch mitmachen?«

»Ich weiß es«, erwiderte Jandhi, und sie sagte es mit einer Ruhe, die Tally einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. »Ich weiß es, Talianna, weil ich vor sehr vielen Jahren wie du in diesem Raum gestanden und den gleichen Worten gelauscht habe. Ich hätte mir all dies sparen können, aber ich wollte, daß du die Wahrheit kennst, ehe ich dich zu ihr bringe.«

»Ihr?« Tally spannte sich. »Wen meinst du?«

Aber Jandhi antwortete nicht. Statt dessen klatschte sie in die Hände. Die Tür in Tallys Rücken wurde aufgestoßen, und das Klicken harter Insektenfüße war zu hören. Sie spürte die Anwesenheit der beiden Hornköpfe, ohne sich zu ihnen herumdrehen zu müssen. Tally hatte die halbintelligenten Rieseninsekten niemals gemocht, aber sie hatte noch nie eine derart heftige, körperliche Abneigung verspürt wie in diesem Augenblick. Es war, als wäre mit den beiden Kreaturen das Böse selbst in den Raum getreten.

»Folge mir«, befahl Jandhi.

7

Je tiefer sie in der Berg eindrangen, desto intensiver wurde das Gefühl, sich dem Bösen zu nähern. Tally fror und gleichzeitig war sie in Schweiß gebadet. Die Nähe der beiden titanischen Kampfinsekten erfüllte sie mit körperlichem Unbehagen, ja, beinahe mit Schmerz, und das Gefühl wurde heftiger, je weiter sie sich dem Herzen der Drachenstadt näherten.

Sie hatte Jandhi zweimal gefragt, wohin sie sie brachte, und zweimal keine Antwort darauf erhalten. Aber ihr fiel auf, daß Jandhi jetzt mehrere Schritte vor ihr ging und auch darauf achtete, diesen Abstand einzuhalten, und daß die beiden Hornköpfe ein wenig dichter zu ihr aufgeschlossen hatten, als eigentlich nötig war. Es wurde dunkler. Die Zahl der Lampen nahm ab, und sie begegneten niemandem mehr, weder Mensch noch Hornkopf. Tally hatte Angst. Angst vor dem, was sie in der Tiefe erwarten mochte, wer diese sie war, von der Jandhi gesprochen hatte, Angst vor dem finsteren Herz der Drachenstadt – denn genau das war es, worauf sie sich zubewegten: ein gewaltiges, durch und durch böses Herz. Der Feind. Das absolut Böse in Person.

Was waren das für Gedanken? dachte sie verwirrt. Plötzlich war Wissen in ihr, Wissen oder plötzlich ein an Wissen grenzendes Ahnen, daß sie nicht haben konnte. Irgend etwas in ihr zog sich zusammen, schreckte zurück vor dem Ding, das da in der Tiefe lauerte, uralt und mächtig verwundbar, aber bisher unerreichbar für...

Und plötzlich begriff sie, daß es nicht ihre Gedanken waren. Es war das Ding in ihr, das Weller (Weller?) ihr mitgegeben hatte, Gäas mörderisches Geschenk an ihre uralte Gegenspielerin.

Gäa... Die Urmutter, Hüterin allen Lebens. Welcher Hohn! Die Bestie dort draußen war so fremd und tödlich wie das Ding, das diesen Berg beherrschte, und so wenig auf ihrer Seite wie Jandhi und ihre Schwestern. Tally versuchte sich vorzustellen, wo dies alles enden mochte, aber es gelang ihr nicht. Irgend etwas in ihr, der Teil, der noch Mensch war, schreckte vor dem bloßen Gedanken zurück; so heftig, daß sie nur mit Macht einen Aufschrei unterdrücken konnte.

Schließlich betraten sie einen Teil des Höhlenlabyrinths, der kaum mehr Spuren einer künstlichen Bearbeitung aufwies. Die Lampen mit ihrem unangenehmen weißen Licht waren längst hinter ihnen zurückgeblieben; nur hier und da blakte noch eine Fackel in einem eisernen Halter an der Wand, und die Kälte hatte einer stickigen, unangenehm feuchten Wärme Platz gemacht. Ein Geruch wie nach faulenden Pflanzen schlug ihnen entgegen, und auf dem Boden lag Staub, manchmal so hoch, daß sie bis an die Knöchel in der flockigen grauen Decke versank. Jandhi hustete von Zeit zu Zeit, und irgend etwas, sehr sehr weit vor ihnen, nahm diesen Laut auf und warf ihn zurück, sonderbar gebrochen und verzerrt, als klänge noch etwas anderes, Böses darin mit. Tally vesuchte vergeblich, die Gedanken und Gefühle zu unterdrücken, die ihr Bewußtsein überschwemmten. Das Etwas in ihr wurde stärker, mit jedem Schritt, dem sie sich dem unsichtbaren Feind näherten. Weller hatte gelogen, als er gesagt hatte, sie könnten sie bis Sonnenuntergang schützen; vielleicht hatte er sich auch schlichtweg geirrt. Aber es war gleich. Nichts spielte jetzt noch eine Rolle. Sie war am Ziel.

Sie blieben erst stehen, als sie nach Tallys Schätzung schon sicherlich wieder den halben Weg zum Schlund hinabgestiegen waren. Des letzte Licht war längst über ihnen zurückgeblieben, aber einer der Hornköpfe hatte im Vorübergehen eine Fackel aus einem der Wandhalter mitgenommen, so daß sie sich im Zentrum eines flackernden, ständig seine Form verändernden Kreises blasser roter Helligkeit bewegten.

Manchmal mußten sie durch knöcheltiefe Pfützen aus faulig riechendem Wasser waten, das aus Rissen in der Decke tropfte, dann wieder wurde es so heiß, daß Tally kaum mehr atmen konnte und ihr Gesicht brannte. Die Wände hier unten waren nicht bearbeitet, sondern irgendwann, vielleicht schon vor Jahrmillionen, durch eine Laune der Natur entstanden; gleichzeitig erinnerten sie Tally an übergroße Wurmgänge, und ein Teil ihrer Phantasie, über den sie irgendwie die Kontrolle verloren hatte, gaukelte ihr schwarze, sich windende schlangenähnliche Dinge vor, die die Dunkelheit vor ihr erfüllten, aber stets verschwanden, ganz kurz, bevor das Licht der Fackel sie berühren konnte.

Aber dann war es nur eine ganz normale, wenn auch außergewöhnlich große Tür, vor der sie stehenblieben, eine Tür aus geschwärztem Eisen, an dem der Rost seit Jahrtausenden fraß, ohne ihm ernsthaft Schaden zufügen zu können. Tally erwartet, daß Jandhi klopfen oder sich anders bemerkbar machen würde, aber sie tat nichts dergleichen, sondern blieb einfach reglos stehen. Und es dauerte auch nur ein paar kurze Augenblicke, bis aus dem Inneren der Tür ein schweres, schabendes Geräusch zu hören war. Ein verborgener Mechanismus setzte sich in Gang, dann schwang die gewaltige Tür beinahe lautlos vor Jandhi zurück. Tally sah, daß sie fast einen Meter stark war.

Dann sah sie für Sekunden gar nichts mehr, denn der Raum dahinter war von gleißender weißer Helligkeit erfüllt, die ihre an das schwache Licht gewöhnten Augen für Momente blind sein ließen. Selbst Jandhi wurde zu einem verschwommenen Schatten, dessen Konturen sich im grellen Licht wie in leuchtender Säure aufzulösen schienen.

Einer der beiden Hornköpfe gab ihr einen Stoß, der sie weiterstolpern ließ. Ganz instinktiv breitete sie die Arme aus, fühlte kühles glattes Leder und klammerte sich an Jandhis Arm fest, um nicht zu stürzen.

Der Hornkopf stieß ein wütendes Zischen aus, packte sie mit drei seiner vier Arme und riß sie zurück. Tally versuchte sich loszureißen, aber gegen die gewaltigen Körperkräfte des Insektenwesens hatte sie keine Chance.

»Laß sie los!« befahl Jandhi scharf. »Das war kein Angriff! «

Der Griff der harten Insektenklauen lockerte sich, aber nur ein wenig und auch nur für einen ganz kurzen Moment. Dann riß er Tally noch einmal und noch heftiger zurück und beantwortete Jandhis Befehl mit einem agressiven Pfeifen.

»Zum Teufel, du sollst sie loslassen!« befahl Jandhi noch einmal. Wütend trat sie auf Tally und den Hornkopf zu und machte eine herrische Geste. Und endlich lösten sich die hornigen Insektenklauen von Tallys Armen und Hals.

»Es tut mir leid«, sagte Jandhi, nun wieder an sie gewandt. »Sie sind so dumm, wie sie stark sind. Und sie sind sehr stark.«

Tally schwieg. Ihre Augen begannen sich allmählich an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen, und was sie sah, nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.

Die Höhle war gigantisch – groß genug, eine kleine Stadt hineinzubauen, was irgend jemand auch getan hatte. Der Eingang lag nicht ebenerdig, sondern fast auf halber Höhe der an die hundert Meter messenden, steinernen Kuppel, so daß Tally die phantastische Anlage zur Gänze überblicken konnte: die Höhle wirkte wie eine verkleinerte und nach außen gestülpte Ausgabe des Berges, in dessen Herz sie lag.

Auf dem Boden erhoben sich schwarzbraune, sonderbar asymmetrisch wirkende Bauwerke, die Tally an Insektennester erinnerten – und es wohl auch waren –, und in den Wänden gähnten Dutzende, wenn nicht Hunderte unterschiedlicher großer und tiefer Löcher. Manche von ihnen waren Gänge, die tiefer hinein ins gewachsene Gestein des Berges führten, andere erweiterten sich zu großen, von düsterrotem Fackellicht erfüllten Sälen, in denen gepanzerte Gestalten von phantastischem Aussehen unverständliche Dinge taten; wieder andere waren nur lichtlose Schächte, die einen Meter, aber auch eine Meile tief sein mochten.

Und überall Hornköpfe.

Wohin Tally auch sah, erblickte sie die schwarzen und brauen Insekten, viele davon Spezies angehörend, von denen sie noch niemals gehört hatte. Überall krabbelte und wogte und bewegte es sich. Das Scharren Millionen stahlhart gepanzerter Füße und Leiber lag wie eine bizarre Musik in der Luft.

Und über allem lag die Nähe des Feindes wie ein düsterer Atem.

Abermals drängte sich Tally der Vergleich mit einem gewaltigen, finsteren Herzen auf, ein schwarzes Zentrum ruhig pulsierender, düsterer Energien, das diesen Berg, seine Bewohner, vielleicht sogar die ganze Welt, beherrschte und lenkte.

Und das Gefühl, das sie schon seit langem beschlichen hatte, wurde immer drängender und klarer – daß nämlich selbst Jandhi und ihre Drachen nur Spielzeuge einer anderen, weit höheren Macht waren.

Jandhi berührte sie beinahe sanft am Arm und deutete nach links. Tally blickte gehorsam in die Richtung und erkannte, daß der Weg noch nicht zu Ende war: eine schmale, sehr steile steinerne Treppe führte neben ihnen in die Tiefe und endete vor einer weiteren Tür aus Stahl, die vielleicht noch massiver war als die, durch die sie gerade getreten waren. Ganz instinktiv fragte sie sich, warum die Türen hier unten so massiv waren. Beschützten sie das, was dahinter lag, vor der Welt? Oder die Welt vor dem, was sie verbargen?

»Wohin... bringst du mich?« fragte sie zögernd. Plötzlich hatte sie Angst, ganz entsetzliche Angst, wenn auch aus völlig anderen Gründen, als Jandhi annehmen mochte.

Sie bekam auch diesmal keine direkte Antwort, aber zumindest spürte Jandhi ihre Erregung und ging nicht einfach wortlos weiter, wie die beiden Male zuvor, sondern drehte sich noch einmal zu ihr um und lächelte; auf eine Art, die Tally unter allen anderen denkbaren Umständen zur Weißglut getrieben hätte. Jetzt machte sie ihr Angst.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte sie, so sanft und nachsichtig, als redete sie mit einem verschüchterten Kind. »Ich habe mir nicht diese ganze Mühe gemacht, um dich jetzt zu töten, weißt du?«

»Wo sind Angella und Hrhon?« fragt Tally. »Ich möchte sie sehen.«

»Später«, antwortete Jandhi. »Sie sind in Sicherheit – keine Sorge. Niemand wird ihnen etwas tun. Du wirst sie sehen, aber nicht jetzt. Jetzt ist keine Zeit dazu. Sie wartet nicht gerne.«

»Sie?« Tally wich ganz instinktiv einen Schritt vor Jandhi zurück. »Wer ist das?«

»Komm mit, und du wirst es erfahren«, erwiderte Jandhi. In ihrer Stimme lag nun eine schwache, aber unüberhörbare Spur von Ungeduld – und der unausgesprochene Hinweis, daß sie Tally auch ebensogut zwingen konnte, ihr zu folgen.

Tally verstand beides. Nach einem letzten Blick auf die wimmelnde schwarzbraune Tiefe unter ihr folgte sie Jandhi. Die beiden Hornköpfe schlossen sich ihnen lautlos an.

Die Tür schwang auf, ehe sie sie erreicht hatten. Dahinter lag ein vielleicht zwanzig Schritt langer, sehr niedriger Gang.

Und hinter ihm der Pfuhl.

Es gab keinen anderen Ausdruck dafür, kein anderes Wort, das dem, was sich Tally bot, auch nur annähernd entsprochen hätte. Und auch er reichte nicht wirklich aus, den tödlichen Schrecken, das abgrundtiefe Entsetzen zu beschreiben, das Tally beim Anblick des Unbeschreiblichen überfiel.

Die Höhle war riesig – eine hundert Meter messende Halbkugel aus schwarzem Stein, deren Wände von Fäulnis und Schimmel zerfressen waren. Die Luft stank nach Aas und Verwesung und war von flackernder, irgendwie krank wirkender grüner Helligkeit erfüllt. Tausende von schwarzen, wimmelnden Insekten bedeckten die Wände wie ein lebender Teppich, unbeschreibliche Dinge herbei- und hinwegschleppend, hingen in großen lebenden Trauben von der Decke oder ballten sich auf dem Boden vor Tally zu pulsierenden Knäueln. Zwischen ihnen erhoben sich ganze Berge von halbverfaultem Aas, tierische – aber auch ein paar menschliche!! – Kadaver, verwest und abgenagt und mit einem widerlichen, grünlichschwarzem Schleim überzogen.

Und im Zentrum dieses Kreises aus Entsetzen und Ekel hockte das Ungeheuer.

Tally wollte schreien, aber sie konnte es nicht. Der bloße Anblick der Kreatur lähmte sie, zerschmetterte ihren Willen wie ein Hammerschlag dünnes Eis, löschte ihr Bewußtsein aus, ließ nichts übrig als ein winziges hilfloses Teil, in dem für nichts anderes Platz war als Ekel und Entsetzen und Abscheu und Angst, Angst, Angst, Angst...

Sie war eine Gigantin. Jedes einzelne ihre acht kalten, tausendfach gebrochenen Facettenaugen war größer als Tally, jedes einzelne der borstigen, halbverkümmerten Beine ein Baum, bedeckt mit drahtigem Fell, das wie schwarzer Stahl glänzte, der absurd aufgedunsene Hinterleib groß wie ein Schiff, von armdicken, rasch pulsierenden Adern überzogen, in denen selbst wiederum etwas Kleines, Dunkles, Körniges zu krabbeln schien. Ekel, unbeschreiblicher Ekel packte Tally, schüttelte sie wie Fieber und fegte für einen Moment selbst ihre Furcht hinweg. Sie taumelte, stöhnte, krümmte sich wie unter Schmerzen und versuchte mit aller Kraft, den Blick von der hundert Meter großen Scheußlichkeit zu lösen, weil sie spürte, daß allein der Anblick sie töten würde, mußte sie ihn noch lange ertragen.

Sie konnte es nicht. Der Blick der titanischen Kreatur lähmte sie, machte sie hilflos, bannte sie. Sie konnte sich nicht bewegen. Nicht atmen. Nicht denken. Ihr Herz schlug nicht.

Und dann spürte sie, wie irgend etwas in sie hineingriff, eine ungeheuerliche, unsichtbare Hand, kalt wie gefrorenes Glas und ebenso schneidend, in ihre Gedanken drang, sie sondierte und prüfte, tiefer glitt, sich mit der erbarmungslosen Präzision einer Maschine in ihr Bewußtsein wühlte, jeden einzelnen ihrer allergeheimsten Gedanken las und abwog...

... und zurückprallte!

Und im gleichen Augenblick erwachte das Ungeheuer in ihr. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber für Tally verging eine Ewigkeit:

Sie spürte, wie sich das Ungeheuer vor ihr aufbäumte, seinen entsetzlichen Leib vielleicht zum erstenmal seit einem Jahrtausend bewegte, in einer grauenerregenden, entsetzten Bewegung zurückprallte, als es begriff, was Tally mit sich brachte. Und sie spürte, wie irgend etwas in ihr barst, ein Kokon, unsichtbar und lauernd bisher, finsterpulsierende Energien, die sie unbemerkt in sich gehabt hatte, wie die Trägerin einer tödlichen Krankheit. Und im gleichen Moment, noch immer im selben, zeitlosen Augenblick, begriff sie.

Es war dieses... Ding, dessen Nähe sie gespürt hatte, die schwarze Riesin, deren Geist diesen Berg durchflutete wie stinkender Atem. Nicht Jandhi und ihre Drachen waren die wahren Herrscher dieser Insel – sondern sie! Jandhis Geschichte war wahr, und doch war sie so falsch, wie sie nur sein konnte. Und sie wußte es vermutlich selbst nicht einmal. Sie hatte von den Überlebenden gesprochen, von den Nachfahren des letzten Krieges, die nach tausend Jahren zurück ans Tageslicht gekrochen waren, um das Erbe der untergegangenen Menschen anzutreten.

Aber sie hatte Tally nicht gesagt, wer diese Überlebenden gewesen waren.

Sie waren keine Menschen gewesen.

Es waren die Insekten.

Hornköpfe. Schwarze chitingepanzerte Ungeheuer, die den Weltuntergang tief verborgen im Inneren der Erde überstanden hatten und hervorkrochen, lange bevor der erste Mensch es wagte, seinen Schutz zu verlassen. Mutierte Bestien, vielleicht durch die entfesselten Urgewalten menschlicher Waffen zu dem geworden, was sie jetzt waren, die antraten, den uralten Kampf um die Vorherrschaft auf dieser Welt zu entscheiden. Und sie hatten ihn entschieden. Sie waren es, die sich selbst zu Sklaven machten und doch herrschten. Sie waren es, die unerkannt unter den anderen Rassen und Völkern lebten, dumme Tiere, Lastenträger und Krieger, die doch in Wahrheit an den Fäden des Schicksales zogen. Sie waren es, die die Töchter des Drachen erschufen, die Drachen selbst und Männer wie Hraban. Besäen wie diese, titanische, unsterbliche Rieseninsekten, körperliche Monstrositäten mit den Gehirnen von Göttern, die wußten, daß sie den Menschen und die anderen Bewohner dieser Welt brauchten, um zu überleben, und die wußten, daß er sie vernichten würde, sollt er jemals ihr wahres Selbst erkennen. Und jemals die Macht dazu haben.

Bestien wie diese waren es, die den Befehl zur Vernichtung jeglichen menschlichen Fortschrittes gegeben hatten und ihn weiter geben würden. Die wahren Herrscher der Welt waren nicht die Menschen, nicht Jandhis Drachenreiterinnen und ihre fliegenden Giganten, sondern die Hornköpfe sein, ein riesiges Heer stumpfsinniger Kreaturen, das zusammen ein einziges, ungeheuerliches Bewußtsein bildete, vielleicht diese ganze Welt umspannend.

Tally krümmte sich, als all dieses Wissen über sie hereinbrach, mit der Gewalt einer Sturzflut und gesprochen von der Stimme eines Gottes. Der Stimme Gäas, des zweiten, ungeheuerlichen Monstrums, das draußen unter dem Schlund lag und wartete, so alt wie diese Welt, tausendmal älter als der Mensch und vom ersten Tag an der Erzfeind der Insekten. Sie schrie, als sie begriff, daß sie zum Spielball einer anderen, ebenso erbarmungslosen Macht geworden war, eine Waffe wie Jandhi und ihre Drachen, nur viel tödlicher. Vielleicht war es von Anfang an so geplant. Vielleicht war nichts Zufall gewesen, von allem, was geschehen war.

Das Ungeheuer hinter ihr begann zu toben. Die Höhle bebte, als es sich aufbäumte, zuckend, schreiend, schwarzen Schleim und Blut und Kot verspritzend wie ein lebender Geysir, während ihr aufgedunsener Hinterleib noch immer Eier ausspie, unfähig seit zehntausend Jahren, damit aufzuhören; eine boshafte Karikatur des Lebens, die nur noch zu zwei Dingen fähig war: Denken und Gebären. Eines der baumdicken Beine zerbrach wie Glas. Das Ungeheuer brüllte, neigte sich zur Seite und stürzte, kreischend vor Schmerz und Angst, als es begriff, was Tally war.

Und dann, für einen ganz kurzen Moment, fand sie noch einmal in die Wirklichkeit zurück. Das unsichtbare Etwas in ihr zog sich zurück, entließ ihren Geist noch einmal aus seinem Würgegriff, als es Kraft zum letzten, entscheidenden Hieb sammelte. Für Sekunden fand Tally die Kontrolle über ihren Körper zurück.

Taumelnd bewegte sie sich auf Jandhi zu, streckte die Hände nach ihr aus und fiel, als ihre Kräfte versiegten. Die beiden Hornköpfe neben ihr pfiffen vor Angst, begannen zu toben, wie außer Kontrolle geratene schreckliche Maschinen, als die Angst der Insektenkönigin in ihre Köpfe kroch, und auch Jandhi schrie auf, prallte gegen die Wand und schlug beide Hände gegen die Schläfen. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie Tally anstarrte.

Die Höhle verwandelte sich in ein Chaos. Der Teppich aus lebenden Insekten zerbarst, als wären tausend Vulkane unter dem Boden ausgebrochen. Die Insektenkönigin schrie, bäumte sich abermals auf und fiel hilflos zurück, Tausende ihrer Diener unter sich zermalmend. Etwas Schwarzes, ungeheuer Großes wogte auf sie zu.

»Jandhi!« schrie Tally. »Lauf! Flieh! Nimm deine Drachen und flieh!«

Ihre Stimme ging im Kreischen der Insektenkönigin unter. Aber selbst, wenn Jandhi die Worte verstanden hätte, hätte sie kaum mehr darauf reagiert. Für den Bruchteil einer Sekunde war ihr Geist frei gewesen, und vielleicht hatte sie sogar begriffen, daß sie und die anderen nichts als Werkzeuge gewesen waren, willenlose Spielzeuge dieser schwarzen Abscheulichkeit, deren Gedanken ihren Willen und ihren Geist beherrschten. Aber der Augenblick verging, und Tally konnte sehen, wie der Funke von freiem Willen in ihrem Blick wieder erlosch. Ihre Hand kroch zum Gürtel und dem Laser, den sie darin trug.

Im gleichen Moment hörten auch die beiden Hornköpfe auf zu toben. Ihre gepanzerten Hände hoben sich. Tally sprang. Eine Klaue streifte ihren Rücken und riß ihn auf, eine andere grub sich in ihre Wade und biß ein Stück Fleisch heraus. Aber irgend etwas in ihr gab ihr Kraft, schaltete den Schmerz ab, übernahm das Kommando über ihren Willen. Ihre Hand schoß vor und schlug die Jandhis beiseite, einen Sekundenbruchteil, ehe sie gegen sie prallte und aus dem Gleichgewicht brachte. Jandhi schrie auf, taumelte gegen die Wand und schlug nach Tallys Gesicht.

Und das Ungeheuer in ihr erwachte erneut – und diesmal endgültig.

Es war nicht mehr Tally, die auf Jandhi zusprang und ihr mit einem einzigen Hieb wie eine zerbrochene Puppe zur Seite schleuderte. Sie war endgültig zu dem geworden, wozu Gäa sie ausersehen hatte, vielleicht schon vor ihrer Geburt: einer Waffe. Einem Spielball im ewigen Kampf der beiden Giganten, der zwischen ihnen zermalmt werden mußte.

Sie fing die Stürzende auf und riß den Laser aus ihrem Gürtel. Sie feuerte die Waffe ab, noch ehe sie Jandhi losließ. Der dünne, weiße Blitz schwenkte herum wie ein Schwert aus Licht, zerschnitt die beiden Hornköpfe säuberlich in zwei Teile und wanderte weiter, brannte eine rotglühende Schlackespur in den Boden und die Masse aus Millionen von Insekten, die auf Tally zuflutete, und näherte sich der Königin.

Das Rieseninsekt bäumte sich in irrsinniger Qual auf, als der Lichtblitz in sein rechtes Auge stach und es in einen Tümpel aus kochendem Fleisch und Blut verwandelte. Der Strahl tastete weiter, ließ auch das andere Auge erlöschen und sengte eine handbreite, rotglühende Spur in den Schädel, weiter über den Nacken und den absurd kleinen, dreifach untergliederten Leib, zerschnitt die beiden noch unversehrten Insektenbeine auf der Tally zugewandten Seite und näherte sich dem aufgequollenen Hinterleib des Ungeheuers, der noch immer Eier ausspie.

Dann hatte der lebende Teppich Tally erreicht und überflutete sie. Der Laser in ihrer Hand erlosch, als ihre Beine nachgaben und sie fiel.

Sie starb, und sie starb schnell, aber in der endlosen Sekunde, die sie noch lebte, sah sie, wie das Heer der Insekten an ihren Beinen emporkroch, schnell wie eine Springflut aus schwarzem Wasser, Fleisch und Knochen zermalmend mit Millionen winziger rasiermesserscharfer Kiefer. Sie sah, wie sich ihr Körper auflöste, zu rotem pulsierendem Schmerz wurde und verschwand, während die entsetzliche Flut höher kroch. Der Schmerz war unbeschreiblich, aber er dauerte nicht lange, und irgend etwas in ihr schützte sie auch davor; oder ließ ihn wenigstens unwichtig werden. Denn sie sah auch das, was sie gebracht hatte, den Keim der Vernichtung, der tief in ihr schlummerte, und der zu Ende bringen würde, was sie begonnen hatte.

Sie war tot, ehe sie nach vorne fiel und in der wirbelnden Masse aus Beinen und Kiefern und winzigen harten Leibern versank.

Aber ihr letzter Gedanke war, daß sie ihre Rache vollzogen hatte.

Und eigentlich hatte sie gerade erst damit begonnen.

8

Da waren Geräusche. Sonderbare Laute, die aus einer fremden Welt zu stammen schienen, die keinen Bezug zu der ihren hatte: ein Kratzen und Schaben und Scharren an der Tür, dann etwas wie eine Stimme, die etwas wie Worte produzierte, ohne daß sie sie verstand.

Angella hatte Fieber. Ihre Stirn glühte, und ihre Gedanken begannen sich jetzt immer öfter zu verwirren, auf Wegen zu wandeln, auf die sie keinen Einfluß mehr hatte. Manchmal schrak sie hoch und spürte, daß Zeit vergangen war, sehr viel Zeit, ohne daß sie sich auch nur an eine einzige Sekunde erinnern konnte. Sie wußte längst nicht mehr, wann sie das letzte Mal Licht gesehen hatte – oder gegessen oder getrunken. Sie wußte nur, daß man sie sterben lassen wollte. Ewige Nacht umgab sie, eine Dunkelheit, die in nicht mehr allzu ferner Zukunft in die Schwärze des Todes übergehen würde. Vielleicht wäre es weniger schlimm gewesen, wäre sie nicht gefesselt. Aber sie war es, ebenso wie Hrhon, dessen Stöhnen von Zeit zu Zeit durch die Dunkelheit drang und das einzige Geräusch war, das ihr vemet, daß sie noch lebte. Ihre Handgelenke steckten in eisernen Ringen, die mit einer kurzen Kette am Boden befestigt waren, so daß ihr gerade genug Platz blieb, sich von Zeit zu Zeit zu bewegen und ihren wundgelegenen Rücken zu entlasten; oder sich wenigstens einzureden, es zu tun.

Wie lange lag sie schon hier? Tage? Sie wußte es nicht, und je mehr sie versuchte, sich zu erinnern, desto stärker wurde die Verwirrung. Sie hatte Fieber, Hunger, und Durst vor allem. Sie wußte nichts mehr, außer diesen beiden Tatsachen: Daß sie Hunger und Durst hatte und sterben würde. Und daß man sie offensichtlich hierhergebracht hatte, um sie elend zugrunde gehen zu lassen.

Während des ersten Tages – nein, verbesserte sie sich in Gedanken: eigentlich nur während der ersten Stunden – hatte man dem Waga und ihr zu essen und zu trinken gebracht, aber schon nach der zweiten Mahlzeit war die Tür verschlossen geblieben; und sie hatte sich auch nicht mehr geöffnet, bis jetzt. Kurz darauf hatte sie geglaubt, Lärm zu hören: Schreie und dumpfe Explosionen, das helle Peitschen von Lasern und die spitzen Pfeiflaute kämpfender Hornköpfe. Irgend etwas war sogar gegen die Tür ihrer Zelle gepoltert. Aber sehr bald darauf war wieder Ruhe eingekehrt.

Angella hatte die Möglichkeit sehr lange erwogen, daß es im Berg zu einem Kampf gekommen sein könnte, in dessen Verlauf man sie und Hrhon einfach vergessen hatte. Aber so verlockend der Gedanke war – er konnte nicht richtig sein. Wogegen sollten sie kämpfen? Es gab niemanden, der stark genug gewesen wäre, ihnen die Stirn zu bieten, erst recht nicht hier, in diesem verfluchen Berg. Es gab ja nicht einmal jemanden, der närrisch genug gewesen wäre, es zu versuchen, ausgenommen vielleicht Idioten wie sie selbst oder Tally, die Eine dumpfe Wut ergriff von Angella Besitz, als sie an Tally dachte. Wut auf sie, aber auch auf sich selbst, daß sie nicht auf ihre innere Stimme gehört und ihr die Kehle durchgeschnitten hatte, als noch Zeit dazu war. Jetzt war es zu spät. Der Tod hatte bereits bei ihr angeklopft; mehr noch – er hatte bereits einen Fuß in der Tür, und Angella war nicht sicher, daß sie sie noch einmal zuschlagen konnte. Der dumpfe Druck, die Fieberphantasien und die Vision waren Anzeichen des beginnenden Deliriums, und sie wehrte sich nicht einmal mehr dagegen. Ganz im Gegenteil – sie sehnte es herbei, denn egal wie schrecklich es sein mochte, es wäre zu Ende, danach.

Wahrscheinlich wäre sie längst gestorben, wäre da nicht dieser Riß in der Decke über ihr gewesen, durch den von Zeit zu Zeit Wasser floß, wenige, bitter schmeckende Tropfen, die wie durch Zufall genau auf ihr Gesicht fielen, so daß sie immer wieder Lippen und Zunge damit benetzen konnte. Angella war sich des Umstandes vollkommen bewußt, daß sie ihre Qual dadurch nur verlängerte – aber der Durst war stärker als das bißchen Vernunft, das ihr geblieben war. Jedesmal, wenn die Tropfen auf ihr Gesicht fielen, leckte sie sie gierig auf; obgleich jeder einzelne davon nicht die Rettung, sondern nur eine weitere Stunde voller entsetzlicher Pein bedeutete.

Wieder glaubte sie diese Geräusche zu hören; näher diesmal, gleichzeitig undeutlicher, als gäbe es da einen Filter, der sich zwischen die Wirklichkeit und sie geschoben hatte. Ihre Sinne begannen sich stärker und stärker zu verwirren: für einen Moment glaubte sie Tallys Stimme zu hören, dann gar sie selbst zu sehen, aber es war nicht Tally, sonder etwas ganz anderes, ein entsetzliches Ungeheuer, das nur in Tallys Körper geschlüpft war, und...

Der Gedanke entglitt ihr, bevor sie ihn zu Ende denken konnte. Die Vision wurde stärker. Sie glaubte Licht zu sehen, ein wunderschönes, sanftes Licht, das ihren Augen aber weh tat, weil sie so lange nichts als Dunkelheit gesehen hatte. Dann glitt sie wieder hinein in den schwarzen Abgrund, der sich dort aufgetan hatte, wo ihre Gedanken sein sollten. Das nächste, was sie wahrnahm, war die Berührung sanfter Hände, die irgend etwas mit ihrem Gesicht taten. Es schmerzte; gleichzeitig tat es unglaublich gut.

Kaltes Metall berührte ihre Lippen, dann ergoß sich ein Strom unglaublich wohlschmeckenden Wassers in ihren Mund. Sie trank; so gierig, daß sie sich verschluckte und die kostbare Flüssigkeit fast zur Gänze wieder erbrach. Aber sofort war das Metall wieder da, und das Wasser, das das Leben in ihren Körper zurückspülte.

Sie versuchte die Lider zu heben. Zwei gleißende Dolche aus Licht stachen in ihre Augen. Sie stöhnte, preßte die Lider wieder zusammen und trank weiter. Seltsam – sie hatte immer gedacht, der Tod brächte die große Dunkelheit. Wieso war es hell?

Es war diese Frage, die sie zum erstenmal auf den Gedanken brachte, daß es vielleicht nicht der Tod war. Und daß die Vision wahr sein konnte. Sie hatte Tallys Stimme gehört!

Mit einem Ruck öffnete sie die Augen.

Das Licht tat weh, aber sie konnte sehen.

Sie befand sich noch immer in der Zelle, in die man Hrhon und sie vor einer Million Jahren eingesperrt hatte, aber sie war nicht mehr gefesselt. Die Tür stand weit offen, und gelbes warmes Licht fiel herein. Die stählernen Ringe, die ihre Hand- und Fußgelenke gebunden hatten, waren durch saubere weiße Verbände ersetzt worden, ihr Kopf lag auf frischem Stroh, und ein schwarzer Mantel bedeckte ihren fiebergeschüttelten Körper. Tally saß neben ihr, eine metallene Schale mit Wasser in der linken und einen sauberen Lappen in der rechten Hand, mit dem sie von Zeit zu Zeit ihre Stirn betupfte. Hinter ihr, schon wieder halb von der Dunkelheit verschlungen, erhob sich ein gepanzerter massiger Schatten: Hrhon. Sie mußte sehr lange so dagelegen haben, seit ihre Fesseln gelöst worden waren.

Angella versuchte zu sprechen, aber es gelang ihr erst, nachdem Tally abermals die Schale an ihre Lippen gesetzt und ihr zu trinken gegeben hatte. Sie fühlte sich schwach. So unendlich schwach. Selbst zu schwach, um Erleichterung zu empfinden.

»Du... verdammte... Närrin«, stöhnte sie. Die wenigen Worte kosteten ihre ganze Kraft. Ihre Lippen platzten. Salziges Blut mischte sich in das kalte Wasser auf ihrer Zunge. Trotzdem sprach sie weiter. »Bist... du... jetzt ... zufrieden?«

Tally blickte sie sehr ernst an. Sie lächelte, aber es war nur ein bloßes Verziehen der Lippen. Der Ausdruck in ihren Augen war Sorge. Und – ja, und noch etwas. Etwas, das Angella nicht verstand. Aber es machte ihr Angst.

»Wie fühlst du dich?« fragte sie.

»Gut, das... das siehst du doch.« Angella versuchte zu lachen, aber ihre Schwäche ließ ein qualvolles Husten daraus werden. »Wieso lebst du noch?« stöhnte sie. »Und wo warst du die ganze Zeit, verdammt noch mal?«

»Welche Frage soll Tally zuerst beantworten?« fragte Tally ruhig.

Angela blickte sie irritiert an. Das schwache Licht zauberte Schatten auf Tallys Züge, wo keine sein durften, und Angellas eigene Schwäche fügte Linien des Schreckens hinzu: für einen kurzen, aber entsetzlichen Moment war es nicht mehr Tally, die neben ihr saß, sondern ein abscheuliches Ding mit Tallys Zügen, ein grinsender Totenschädel, eingesponnen in ein Netz feiner weißer Fäden, die pulsierten und sich wanden wie Milliarden haarfeiner lebender Würmer. Dann drehte Tally das Gesicht wieder ins Licht, und die entsetzliche Vision verschwand. Aber die Angst blieb.

»Die Schwäche wird bald vergehen«, fuhr Tally fort. »Du bist erschöpft, aber nicht ernsthaft verletzt.«

»Was zum Teufel ist passiert?« murmelte Angella. »Wo warst du die ganze Zeit?«

»Tally hat getan, wozu sie hergekommen ist«, antwortete Tally geheimnisvoll. »Es tut ihr leid, wenn ihr leiden mußtet. Aber es hat lange gedauert, Hrhon und dich zu finden.«

Und es dauerte auch lange, bis Angella den Sinn von Tallys Worten begriff. Und als sie es tat, da war der Gedanke ein solcher Schock, daß sie sich aufsetzte und für einen kurzen Moment selbst ihre Schwäche vergaß. Aber wirklich nur für einen kurzen Moment. Dann wurde ihr übel und schwindelig zugleich, und sie brach in Tallys Armen zusammen.

»Hab Geduld«, sagte sie. »Dein Körper braucht Zeit, die verlorenen Kräfte zu regenerieren. Er ist sehr verwundbar, weißt du? Aber du bist auch stark. Gib dir selbst ein wenig Zeit, und Tally wird dich hier herausbringen.«

Irgend etwas war falsch, dachte Angella. Entsetzlich falsch. Aber sie wußte nicht, was.

»Rausbringen?« murmelte sie. Aber wieso? Es war nicht möglich. »Jandhi. Was... was ist mit Jandhi... und ihren Drachen?«

»Sie sind tot«, antwortete Tally, und plötzlich war eine Kälte in ihrer Stimme, die Angella trotz allem erschauern ließ. Und ein entsetzlicher Triumph.

»Tot?«

»Tally hat sie vernichtet«, bestätigte Tally. »Sie kam, um es zu tun. Und sie hat es getan.« Sie hob rasch die Hand als Angella eine Frage stellen wollte, und schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht. Du wirst alles erfahren, aber jetzt mußt du deine Kräfte schonen. Glaubst du, daß du gehen kannst?«

Angella glaubte es – aber sie konnte es nicht. Sie hatte nicht einmal die Kraft, sich auf Hände und Knie hochzustemmen. Tally fing sie abermals auf, als sie zusammenbrach.

»Dann wird Hrhon dich tragen«, bestimmte Tally. »Du mußt hier heraus. Dieser Ort ist kalt und gefährlich.« Sie stand auf und hob die Hand. Beinahe lautlos näherte sich der Waga Angella, hob sie hoch und wandte sich zur Tür.

Sein Griff war sehr hart, und er tat weh, und trotz ihrer Schwäche empfand Angella es als unwürdig, wie ein Kind getragen zu werden. Sie protestierte schwach, aber natürlich ignorierte Hrhon ihre Worte.

Gelbes Licht nahm sie auf, als sie die Zelle verließen und den Weg zurückgingen, den sie vor so vielen Tagen gekommen waren. Angella verlor ein paarmal das Bewußtsein, während Hrhon sie weiter nach oben trug, und die übrige Zeit dämmerte sie auf der schmalen Trennlinie zwischen Wachsein und Schlaf dahin; alles um sie herum war unwirklich, unwichtig, irreal. Und trotzdem fiel ihr auf, wie sehr der Drachenfels sich verändert hatte: er war still geworden. Still und dunkel.

Die Zauberlampen, die den Weg hier herunter erhellt hatten, waren zum größten Teil erloschen. Einige von ihnen flackerten wie große blinzelnde Augen, und in manchen glomm noch ein gelbes Licht, aber die meisten waren blind. Dafür brannten Fackeln in den Gängen, die sie nahmen, um weiter nach oben zu gelangen.

Der Berg war tot. Vielleicht war dies der einzig wirklich klare Eindruck, den Angella hatte, während Hrhon sie trug: der Berg hatte sich in ein gigantisches Grab verwandelt.

Endlich wich der bleiche Schein der Fackeln dem helleren, wenn auch kälteren Licht der Sonne. Vor ihnen lag noch ein kurzes Tunnelstück, hinter dem sich eine der gewaltigen Drachenhöhlen erhob, durch die sie den Berg betreten hatten. Angellas Herz begann schneller zu schlagen.

»Erschrick jetzt nicht«, sagte Tally. »Was du siehst, wird dir schlimm vorkommen, von deinem Standpunkt aus. Aber es mußte sein.«

Ihre Warnung machte es eher schlimmer. Angella wußte nicht genau, womit sie rechnete – mit Toten, mit Spuren eines Kampfes, mit verstümmelten Menschen und Hornköpfen und vielleicht Drachen. Vor ihr war nichts dergleichen. Und trotzdem hatte die Höhle sich verändert; auf entsetzliche Weise verändert.

Sie bekam noch eine kurze Gnadenfrist: draußen über dem Schlund herrschte später Nachmittag, und die Sonne stand wie ein loderndes rotes Auge direkt vor der Höhlenöffnung. Ihr grelles Licht blendete Angella, so daß sie im ersten Moment nichts als scharf voneinander getrennte Flächen absoluter Schwärze und blendender Helligkeit wahrnahm, ein Ozean aus Licht, aus dem die Einzelheiten nur allmählich auftauchten. Plötzlich war sie sicher, daß Tally die Höhle aus genau diesem Grund ausgesucht hatte. Und es war gut so, denn wahrscheinlich hätte sie den Verstand verloren, hätte sie der Anblick unvorbereitet getroffen.

Das matte Schwarz des Höhlenbodens war unter einer hellen, sonderbar organisch wirkenden Schicht verborgen, einem weißlich schimmerndem Pilzgeflecht, in dem es hier und da brodelte und zuckte. Ein seltsamer, gleichzeitig fremder wie auf erschreckende Weise bekannter Geruch hing in der Luft, und nach einer Weile hörte sie ein leises Wispern und Raunen, das von überallher zugleich zu kommen schien. Es war warm, viel wärmer, als sie diesen Teil der Festung in Erinnerung hatte, und es war eine Wärme, die auf schwer in Worte zu fassender Weise lebendig wirkte.

Neue Einzelheiten tauchten aus dem verschwommenen Bild auf: Der Boden war nicht eben. Hier und da wuchsen große, assymmetrische Umrisse aus der weißlichen Masse, zuckend und fließend wie sie selbst, aber von etwas dunklerer Färbung, und sie sah jetzt, daß sich das dünne Pilzgeflecht auch über die Wände erstreckte, nicht so dicht wie auf dem Boden, sondern wie ein Netz, großen tausendfingrigen Händen gleich, die sich nach dem schwarzen Fels ausgestreckt hatten und bereits die Decke berührten, sich aber noch nicht ganz berührten.

»Großer Gott!« stammelte sie. »Was... laß mich herunter, Hrhon.«

Der Waga tauschte einen fragenden Blick mit Tally, ehe er gehorchte. Sehr behutsam stellte er sie auf die Füße, ließ die Hände aber an ihrer Taille liegen, um sie aufzufangen, sollte sie stürzen.

Aber Angella stürzte nicht. Was sie sah – und vor allem, was es bedeutete! – ließ selbst ihre Schwäche unwichtig werden. Ihre Augen gewöhnten sich schneller und schneller an das helle Licht, und mit jeder Sekunde erblickte sie weiter, entsetzliche Einzelheiten. Der helle Belag auf dem Boden lebte. Und die dunklen Einschlüsse darin waren...

»Du... du hast es hierhergebracht? stammelte sie.

»Großer Gott, Tally, du hast... du hast Gäa hergebracht – das Ungeheuer aus dem Schlund!«

»Tally hat getan, was getan werden mußte«, antwortete Tally ruhig. »Sie allein wäre zu schwach gewesen, den Kampf zu entscheiden.«

»Sie?« Angellas Augen weiteten sich entsetzt. Langsam, als kämpfe sie gegen unsichtbare Fesseln, drehte sie sich herum und sah Tally an. »Sie?« wiederholte sie.

»Tally, du... du sprichst wie...«

Sie brach ab. Eine eisige Hand schien nach ihrem Herzen zu greifen und es zusammenzupressen, langsam, aber mit unbarmherziger Kraft. Zum ersten Male sah sie Tallys Gesicht im hellen Licht des Tages. Und sie erkannte, daß es nicht Tally war. Nicht mehr. Es war etwas, das wie Tally aussah, sich wie sie bewegte und – fast – wie sie sprach, aber es bestand nicht mehr aus Fleisch und Blut, sondern aus einer weißlichen, pulsierenden Masse, auf den ersten Blick, gleich hellglitzerndem Schleim, die sich bei genauerem Hinsehen jedoch als eine Zusammenballung von Milliarden und Milliarden haardünner, glänzender Fäden erwies. Würmer oder Wurzeln, oder vielleicht eine entsetzliche Mischung aus beidem.

Entsetzt fuhr sie herum und starrte Hrhon an. Aber er war noch er selbst – ein gepanzerter Gigant, dessen geschlitzte Schildkrötenaugen scheinbar ausdruckslos auf Tallys Gesicht ruhten. Angella brauchte all ihre Kraft, sich wieder herumzudrehen und das Etwas anzusehen, das einmal Tally gewesen war.

»Du bist nicht Tally«, sagte sie. Es war eine reichlich überflüssige Feststellung, aber sie mußte es einfach sagen.

Das Ding in Tallys Gestalt rührte sich nicht, und nach einer Weile wandte Angella wieder den Blick und zwang sich, die Höhle noch einmal anzusehen. Irgend etwas in ihr revoltierte gegen das entsetzliche Bild, das sich ihr bot, aber sie zwang sich, es zu ertragen; denn trotz allem war es nicht so schlimm wie der Anblick Tallys. Die weiße Masse aus Wurzelgeflecht war überall, hatte Felsen und Stein und Metall überwuchert und sich zu knotigen, glänzenden Gebilden zusammengefunden, die sanft pulsierten, alle im gleichen Rhythmus, als gäbe es da irgendwo ein gewaltiges Herz, in dessen Takt sie schlugen.

Es gab nichts, wovor sie Halt gemacht hatte, und es mußte sehr schnell gegangen sein; denn manche der Gestalten, die sie eingewoben hatten, waren in bizarren Haltungen erstarrt, als hätte der Tod sie mitten in der Bewegung überrascht. Bei den meisten war nicht mehr zu erkennen, ob sie Mensch oder Tier gewesen waren: ihre Körper waren aufgelöst, zum Teil bereits absorbiert von der gewaltigen, fressenden Pflanzenmasse, zum Teil aber noch intakt, unbeschädigt, aber eingesponnen, wie in das Netz einer gewaltigen Spinne. Einige schienen sogar noch zu leben...

Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es gewesen sein mußte, aber ihre Phantasie reichte nicht, es in Bilder umzusetzen. Der Kampf mußte entsetzlich gewesen sein und von vornherein aussichtslos. Sie hatte gesehen, wie schnell und rücksichtslos dieses Ding zuschlug, draußen im Sumpf unter dem Wald, und hier mußte es schlimmer gewesen sein, tausendfach schlimmer.

»Was hast du mit Tally getan?« flüsterte sie.

»Nichts«, antwortete das entsetzliche Wesen. »Es war ihr eigener Wunsch.«

»Ihr –«

»Sssie wollte esss«, mischte sich Hrhon ein. Angella drehte sich verblüfft herum und starrt den Waga an.

»Sie wollte was? keuchte sie. »Das hier?!«

Hrhon versuchte ein menschliches Nicken nachzuahmen. »Sssie whussste esss«, behauptete er. »Sssie sssagte esss mir, in der Nacht, bhevhor sssie sssich Jandhi erghab. Dher Ssschlund vherlanghte ein Ohpfer, uhnd sssie whollte nisst, dasss isss es bin. Oder dhu.« Angella stand wie gelähmt da. »Sie hat es... freiwillig getan?« murmelte sie. »Sie ... sie hat dieses... dieses Ding absichtlich hierher gebracht?«

»Einen Teil«, bestätigte Tally. »Das Ganze ist im kleinsten meiner Teile, so wie der geringste meiner Teile das Ganze ist. Du trauerst um sie, Angella, aber das ist nicht nötig. Tally lebt, wenn auch auf andere Weise.«

»Oh ja«, sagte Angella. »Gleich wirst du mir erzählen, daß sie die Unsterblichkeit erlangt hat, wie?«

Ihr Spott prallte von dem Wesen an ihrer Seite ab, weil es so etwas wie Spott oder Sarkasmus nicht kannte. Es nickte.

»In gewisser Weise, ja. Tally wußte, was sie erwartete. Sie wurde nicht gezwungen. Das Wesen, das ihr Gäa nennt, mag euch grausam erscheinen, aber es ist es nicht. Nur erbarmungslos. Und auch das nur zu seinen Feinden. Den Feinden des Lebens.«

»Und wir?« flüsterte Angella. »Gehören wir... auch dazu? Willst du Hrhon und mir auch die Unsterblichkeit verleihen?«

»Wenn ihr es wünscht, wird Tally es tun«, antwortete Tally mit großem Ernst. »Doch wenn ihr es nicht wünscht, könnt ihr gehen. Ihr seid frei. Tally wird euch den Weg zeigen, wie ihr von hier entkommen könnt. Wenn ihr bereit seid, den Kampf fortzuführen.«

»Welchen Kampf?« flüsterte Angella. »Hier... hier lebt doch nichts mehr!«

»Hier nicht«, bestätigte Tally. »Dieser Ort gehört jetzt mir, und so wird es auf ewig bleiben. Aber es gibt viele Orte wie diese.«

Angella erschrak. »Soll das heißen, es ist noch nicht vorbei?« keuchte sie.

»Esss hat noch nissst einmal rissstig beghonnen«, zischte Hrhon.

»Der Waga wird dir die Geschichte erzählen, die er von Tally hörte«, sagte Tally. »Doch jetzt müßt ihr gehen. Rasch, solange Tally euch noch zu schützen vermag.« Angella starrte sie an, und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie noch einmal die alte Tally im Blick des Pflanzenmonsters vor ihr zu erkennen, eine winzige Spur von ihr, die noch nicht Teil des monströsen Kollektivbewußtseins dort draußen im Sumpf geworden war. Jenes winzige Etwas, das sie und Hrhon noch schützte. Aber es schwand, und wenn es völlig fort war, dann würde dieser gigantische lebende Krebs auch sie verschlingen, so erbarmungslos und kalt, wie er die Hornköpfe verschlungen hatte, Jandhis Kriegerinnen und die Drachen.

»Wir werden es tun«, flüsterte sie. »Wir werden deine Rache beenden. Ich verspreche es dir, Tally.«

Noch einmal blickte Tally sie an, und ein ganz kurzes, unendlich erleichtertes Lächeln glomm in ihren Augen auf.

Dann erlosch ihr Blick.

Für immer.


»Das... ist aber eine sehr traurige Geschichte«, sagte das Mädchen.

Seit langer Zeit waren es die ersten Worte, die einer von ihnen sprach. Die Frau hatte geredet, mit sehr ruhiger, sehr sanfter Stimme, in der etwas von der Trauer mitklang, die das Mädchen selbst verspürte; ein Schmerz, der viel zu gewaltig war, als daß es sein wahres Ausmaß jetzt schon begreifen konnte. Danach hatten sie beide geschwiegen, fast ebenso lange, und auch dieses Schweigen war voller Trauer gewesen. Jetzt nickte die fremde Frau. Wieder hob sie die Hand und berührte die des Mädchens, und diesmal fuhr das Kind nicht unter der Berührung zusammen, sondern erwiderte den Händedruck der Fremden sogar. Sie hatte das Gefühl, weinen zu müssen, aber sie konnte es nicht.

»Das ist es«, bestätigte die Frau. Sie lächelte. Das Mondlicht zauberte Schatten auf ihre Züge, die sie älter erscheinen ließen, als das Mädchen sie bisher eingeschätzt hatte. Vielleicht so alt, wie sie war. »Sie ähnelt deiner, bis hierhin wenigstens. Auch du bist die letzte Überlebende.«

»Die Letzte?« Das Mädchen blinzelte, drehte den Kopf und blickte zu den Ruinen der brennenden Stadt zurück. Über den Trümmern hing noch immer ein roter Hauch, und mit dem Wind wehte Brandgeruch herbei.

»Was geschah mit den anderen?« fragte es nach einer Weile, und ohne die Frau anzublicken. »Mit dem Blinden und der verrückten Frau?« .

»Hrabans Männer haben sie getötet«, antwortete die Fremde.

»Sie waren natürlich keine Söldner, und sie kamen auch nicht zufällig vorbei. Aber das alles hat Talianna erst später erfahren.« Sie zögerte fast unmerklich, und als sie weitersprach, war in ihrer Stimme ein bitterer Klang. »Sehr viel später.«

»Was geschah mit ihr?« fragte das Mädchen.

»Mit Talianna?« Die Fremde lächelte traurig. »Es gibt sie nicht mehr, Kleines.«

»Hat Hraban sie auch getötet?« fragte das Mädchen erschrokken. Sie wußte nicht, warum, aber der Gedanke machte ihr Angst. Sie wollte es nicht.

»Getötet?« Die Fremde lächelte. »Nein. Aber er... machte eine andere aus ihr. Er nahm sie mit zu sich, zu seinen Leuten, weißt du? Und später hat er sie geheiratet.«

»Geheiratet?« wiederholte das Mädchen ungläubig. »Er?«

»Warum nicht? Talianna war ein hübsches Mädchen, und sehr klug. Und sie hatte ja niemanden mehr, zu dem sie gehörte.«

Es fiel dem Mädchen schwer, die Worte der Frau zu glauben, und sie sagte es.

Wieder lächelte die Fremde auf diese sonderbare, fast unheimliche Art. »Du verstehst nicht, warum sie es tat«, sagte sie.

»Dabei ist die Antwort sehr einfach. Sie hatte etwas, das ihr Kraft gab. Ihren Haß.«

»Haß?« Das Mädchen verstand nun gar nichts mehr. Wie konnte jemand jemanden aus Haß heiraten?

»Haß«, bestätigte die Frau. »Den gleichen Haß, den auch du jetzt spürst, Kind. Haß auf die, die ihre Familie getötet hatten. Die ihre Heimat verbrannten, ihr Leben vernichteten. Vielleicht spürst du es jetzt noch nicht, aber er wird kommen. Du mußt dich dagegen wehren, hörst du? Er ist eine große Kraft, aber er ist nicht gut. Lasse nicht zu, daß er Gewalt über dich erlangt.«

»Aber Talianna –«

»Talianna existierte schon bald nicht mehr«, unterbrach sie die Frau. »Sie heiratete Hraban und wurde eine andere. Sie änderte sogar ihren Namen und nannte sich nur noch Tally.«

»Tally.« Das Mädchen wiederholte den Namen ein paarmal in Gedanken, ehe sie zu dem Schluß kam, daß er ihr nicht gefiel. Nicht so gut wie Talianna. Sie sagte es.

»Ich weiß«, sagte die Fremde. »Er klingt... härter. Gnadenloser. Und so wurde sie auch. Der Haß zerfraß sie, ohne daß sie es selbst merkte, und wenn, wäre es ihr gleich gewesen, denn er gab ihr auch Kraft. Die Kraft, alles zu erreichen, was sie wollte.«

»Und was war das?« fragte das Mädchen.

»Rache«, antwortete die Frau. »Macht. Die Macht, die zu finden, die für den Tod ihrer Stadt verantwortlich waren, und zu bestrafen. Sie heiratete Hraban, und fünf Jahre später tötete sie ihn und wurde selbst zur Anführerin der Sippe.« Die Augen des Mädchens wurden groß vor Staunen, als sie dies hörte, aber die Frau nickte, um ihre Worte zu bekräftigen.

»Sie nahm Hrabans Stelle eine, sagte sie. »Oh, es war nicht leicht, denn sie war eine Frau, und eine Fremde dazu. Aber der Haß gab ihr die Kraft, ihr Ziel zu erreichen.« Sie schwieg einen Moment, nahm die Hand vom Arm des Mädchens und blickte in den Himmel empor, als suche sie etwas.

»Und was hat sie getan?« fragte das Mädchen, als die fremde Frau nicht von selbst weitersprach, Seine Neugier war geweckt, und die Geschichte der Fremden half ihr, den entsetzlichen Schmerz in ihrem Inneren wenigstens für eine kurze Weile zu vergessen. Und sie hat te das Gefühl, daß das, was sie hörte, von großer Wichtigkeit war, wenn sie auch nicht wußte, warum.

»Ihre Geschichte ist noch nicht zu Ende«, sagte die Frau. »Sie dachte es, damals, nach Hrabans Tod, aber das stimmte nicht. Sie haßte noch immer, mehr als zuvor, und als es Hraban nicht mehr gab, da suchte sie sich etwas Neues, was sie hassen und bekämpfen konnte...«

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