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Äste hatten den Sturz aufgehalten, die Bugraketen hatten ihn verlangsamt, und der Morast hatte wie ein Polster gewirkt. Trotzdem war es ein Absturz aus großer Höhe gewesen. Der verbeulte Zylinder versank langsam in dem sumpfigen Wasser. Der Bug war bereits untergegangen, bevor Jason endlich den Notausstieg am Heck geöffnet hatte.

Er hatte keine Ahnung, wie lange das Rettungsboot sich über Wasser halten würde, wollte sich aber auch nicht auf Vermutungen verlassen. Jason zwängte sich aus der Luke und watete durch das Wasser, bis er festen Boden unter den Füßen hatte. Dort sank er erschöpft nieder.

Hinter ihm ging das Rettungsboot endgültig unter. Einige Minuten lang stiegen noch Luftblasen auf, dann beruhigte sich das Wasser wieder. Nur an den entwurzelten Bäumen und abgerissenen Ästen war noch zu erkennen, daß hier die Absturzstelle lag.

Insekten summten über das Wasser. Das einzige Geräusch, das aus dem Urwald drang, war der erschreckte Aufschrei eines Tieres, das von einem anderen angefallen wurde. Dann herrschte wieder tiefes Schweigen.

Jason war noch immer halbwegs benommen und brauchte einige Minuten, bevor ihm einfiel, daß er den Medikasten bei sich hatte. Der Startknopf funktionierte nicht, aber er hielt den ganzen Arm unter das Gerät und preßte ihn gegen den Analysator. Die Maschine summte aufgeregt; obwohl Jason keine Nadelstiche spürte, nahm er an, daß sie wie immer gearbeitet hatte. Für kurze Zeit verschwamm alles vor seinen Augen, dann sah er wieder klar. Als die schmerzstillenden Mittel zu wirken begannen, konnte er zum erstenmal seit dem Absturz wieder folgerichtig denken.

Sein erster Gedanke galt der Einsamkeit, die ihn umgab. Er hatte nichts zu essen, wußte nicht, wo er sich befand, und war seiner feindseligen Umgebung hilflos ausgeliefert. Er mußte sich mühsam beherrschen, um der wachsenden Panikstimmung in seinem Innern nicht nachzugeben.

„Denken, Jason, nicht einfach die Flinte ins Korn werfen!“ sagte er laut vor sich hin und ärgerte sich sofort darüber, daß seine Stimme leise und hysterisch klang. Er war so wütend darüber, daß er zu fluchen begann. Zu seiner Überraschung klang seine Stimme dabei keineswegs mehr schwach. Schließlich schüttelte er sogar die Fäuste und schrie so laut er konnte. Dann fühlte er sich wieder besser.

Er freute sich über die Sonne, die seine nasse Kleidung trocknete. Wenn er sich flach auf den Boden legte, spürte er die hohe Schwerkraft fast nicht mehr. Plötzlich fiel ihm der alte Spruch ein, den er irgendwo gehört hatte: Wo Leben ist, ist auch Hoffnung. Obwohl er über diese abgedroschene Weisheit fast gelacht hätte, erkannte er doch, daß diese Feststellung ihre Berechtigung hatte.

Welche Vorteile hatte also seine Lage? Nun, er war wenigstens mit dem Leben davongekommen. Die vielen blauen Flecken zählten nicht, solange die Knochen nicht gebrochen waren. Seine Pistole funktionierte noch und reagierte auf jede kleinste Handbewegung, als Jason ziehen wollte. Die Pyrraner bauten eben keinen Schund. Wenn er seinen klaren Kopf behielt, die eingeschlagene Richtung nicht verlor und unterwegs genügend Nahrung fand, konnte er vielleicht die Stadt erreichen. Wie er dort empfangen werden würde, stand auf einem anderen Blatt. Darüber konnte er sich noch Sorgen machen, wenn er die Stadt erreicht hatte. Zunächst mußte er dorthin gelangen.

Die Nachteile bestanden aus dem Planeten Pyrrus, seiner kräftezehrenden Schwerkraft, dem rauhen Wetter und den todbringenden Tieren. Konnte er unter diesen Verhältnissen überleben? In diesem Augenblick begann der Himmel sich zu verfinstern, als wolle er damit Jasons Überlegungen bestätigen. Jason sprang auf und sah in die Richtung, die er einschlagen wollte, bevor der Regen ihm die Sicht nahm. Am Horizont war undeutlich eine Gebirgskette mit schroffen Gipfeln zu erkennen; er erinnerte sich daran, daß sie diese Berge auf dem ersten Flug zu den Inseln überquert hatten. Wenn er sie einmal erreicht hatte, konnte er sich über den folgenden Marschabschnitt Sorgen machen.

Der Wind wirbelte Staub und trockene Blätter auf, dann brach das Gewitter los. Jason war im Nu völlig durchnäßt und spürte schon nach wenigen Schritten, wie sehr ihn die vorhergegangenen Anstrengungen erschöpft hatten.

Als die Dunkelheit hereinbrach, regnete es noch immer in Strömen. Jason konnte keine bestimmte Richtung mehr einhalten, deshalb hatte es keinen Sinn, wenn er auf gut Glück weitermarschierte. Außerdem machte seine Erschöpfung sich allmählich so stark bemerkbar, daß er nur noch vorwärtstaumelte. Er hatte eine nasse Nacht vor sich, denn unter umgestürzten Bäumen und unter dichten Büschen war der Boden ebenfalls feucht. Schließlich kauerte er sich im Windschatten eines Baumes zusammen und schlief, erschöpft ein, obwohl von überall Wasser auf ihn herabtropfte.

Als der Regen gegen Mitternacht aufhörte, sank die Temperatur rasch ab. Jason erwachte aus einem Traum, in dem er fast erfroren wäre, und stellte fest, daß die Wirklichkeit dem sehr nahe kam. Feine Schneekristalle wirbelten durch die Luft und bedeckten den Boden. Jason zitterte vor Kälte und fühlte ein Stechen in der Brust, als er husten mußte. Sein Körper verlangte nach Ruhe, aber Jason richtete sich trotzdem mühsam auf, denn sein Verstand sagte ihm, daß er auf keinen Fall weiterschlafen durfte. Er stützte sich mit einer Hand gegen den Baum und lief um den Stamm herum, bis das erstarrte Blut wieder rascher durch die Adern kreiste. Er ging weiter, obwohl ihm gelegentlich die Augen zufielen, und wachte nur dann völlig auf, wenn er sich nach einem Sturz an dem Stamm emporziehen mußte, um wieder auf die Füße zu kommen.

Gegen Morgen brach die Sonne durch die Wolken. Jason lehnte sich mit dem Rücken gegen den Baum und rieb sich die entzündeten Augen. Nach allen Richtungen hin war der Boden mit Schnee bedeckt, aber um den Baum herum bezeichnete ein dunkler Kreis die Stellen, an denen Jasons Füße den Schnee niedergetreten hatten. Jason rutschte zu Boden und ließ sich von der Sonne wärmen.

Er war vor Erschöpfung benommen, und seine Lippen waren aufgesprungen. Ein Hustenanfall nach dem anderen schüttelte seinen geschwächten Körper. Obwohl die Sonne eben erst aufgegangen war, brannte sie heiß auf ihn nieder. Seine Haut fühlte sich heiß und trocken an.

Irgend etwas stimmte nicht. Dieser Gedanke drängte sich ihm immer wieder auf, bis er sich schließlich damit befaßte. Er drehte und wendete ihn nach allen Seiten. Was war nicht in Ordnung? Seine körperliche Verfassung.

Lungenentzündung. Die Symptome waren alle da.

Seine ausgetrockneten Lippen sprangen auf, als er grimmig lächelte, so daß ihm Blut über das Kinn lief. Nachdem er die gefährlichsten Raubtiere auf Pyrrus zu besiegen gelernt hatte, war er schließlich den kleinsten unter ihnen zum Opfer gefallen. Aber so schnell gab er nicht auf. Er rollte den linken Ärmel nach oben und drückte den Medikasten gegen den bloßen Arm. Das Gerät summte kurz, dann leuchtete eine rote Lampe auf. Jason konnte sich im Augenblick nicht mehr daran erinnern, was die Lampe zu bedeuten hatte. Dann hielt er den Kasten in die Höhe und sah, daß eine der Nadeln aus ihrer Halterung hervorragte. Natürlich. Das in der Ampulle enthaltene Mittel war aufgebraucht. Der Medikasten mußte wieder gefüllt werden.

Jason warf das Gerät fluchend von sich. Es fiel klatschend in eine Pfütze und verschwand. Das war das Ende aller Medizinen, das Ende des Medikastens — und Jason dinAlts Ende. Der einsame Kämpfer gegen die Gefahren eines todbringenden Planeten. Der mutige Fremde, der es mit allen Pyrranern aufnehmen konnte. Dabei hatte er nicht einmal zwanzig Stunden lang durchhalten können.

Hinter seinem Rücken ertönte plötzlich ein verhaltenes Knurren. Jason warf sich herum und schoß im gleichen Augenblick. Die Gefahr war vorüber, bevor er sie richtig wahrgenommen hatte. Er starrte die häßliche Bestie an, die nur einen Meter von ihm entfernt verendet war, und erkannte, daß er eine gute Ausbildung genossen hatte.

Das Tier schien mit den Hunden verwandt zu sein, die er bei den Wilden gesehen hatte. Etwa so, wie ein Wolf mit Hunden verwandt ist. Jason fragte sich, ob dieser Vergleich auch auf andere Punkte zutraf. Jagten diese Tiere ebenfalls in Rudeln?

Bei diesem Gedanken sah er auf — keine Sekunde zu früh. Die großen Bestien schlichen von allen Seiten näher heran. Als er zwei erschossen hatte, knurrten die übrigen wütend und zogen sich in den Wald zurück. Aber sie flohen nicht. Der Tod der anderen schien sie nicht zu erschrecken, sondern nur in noch größere Wut zu versetzen.

Jason erkannte, daß das Fieber seine Vorteile hatte. Er wußte, daß er nur noch bis Sonnenuntergang zu leben hatte — oder bis er seine Munition verschossen hatte. Aber trotzdem berührte diese Tatsache ihn nur wenig. Das alles spielte keine Rolle mehr. Er lehnte sich gegen den Baumstamm und hob nur ab und zu eine Hand, um zu schießen. Von Zeit zu Zeit mußte er hinter den Baum sehen, weil auch von dort Angreifer heranschlichen. Ein dünnerer Baum wäre besser gewesen, aber die Anstrengung war nicht der Mühe wert.

Irgendwann am Nachmittag gab er seinen letzten Schuß ab. Er erlegte damit eines der Tiere, das ziemlich nahe herangekommen war. Zuvor hatte er festgestellt, daß er auf größere Entfernungen meistens danebentraf. Das Tier fletschte die Zähne und verendete; die anderen wichen zurück und heulten wütend. Eines von ihnen war deutlich zu sehen, und Jason betätigte den Abzug seiner Waffe.

Diesmal ertönte nur ein leises Klicken. Er drückte nochmals ab, weil er an eine Ladehemmung dachte, aber der erwartete Schuß fiel nicht. Das Pistolenmagazin war leer, die Reservegeschosse in der Tasche an seinem Gürtel verbraucht. Jason erinnerte sich undeutlich daran, daß er mehrmals nachgeladen hatte, obwohl er nicht mehr genau wußte, wie oft er das Magazin aufgefüllt hatte.

Das war also das Ende. Die Pyrraner hatten recht gehabt, er war ihrem Planeten nicht gewachsen. Aber sie selbst brauchten sich nicht darüber zu freuen, denn auch sie würden ihm eines Tages unterliegen. Pyrraner starben nicht in ihrem Bett. Alte Pyrraner starben nicht, sondern wurden einfach aufgefressen.

Nachdem er jetzt nicht mehr wach bleiben mußte, um schießen zu können, wurde das Fieber übermächtig. Er wollte schlafen und wußte, daß er nie wieder aufwachen würde. Seine Augen schlossen sich halb, während er die Raubtiere beobachtete, die auf ihn zukrochen. Das erste setzte bereits zum Sprung an; Jason sah, wie es seine Beinmuskeln anspannte.

Es sprang. Dann wirbelte es durch die Luft und fiel schwer zu Boden, bevor es Jason erreicht hatte. Ein kurzer Metallbolzen ragte neben einem Auge aus dem häßlichen Kopf.

Zwei Männer traten aus dem Wald und sahen auf Jason herab. Ihre bloße Gegenwart schien die Raubtiere zu erschrecken, denn sie waren alle verschwunden.

Grubber. Jason hatte sich so sehr auf die Stadt konzentriert, daß er die Wilden ganz vergessen hatte. Jetzt war er froh, daß sie rechtzeitig gekommen waren. Er konnte nicht gut sprechen, deshalb wollte er lächeln. Aber dann taten ihm die Lippen weh, deshalb fiel er lieber in Ohnmacht.

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