6

Auf der dritten Etage im südlichen Gebäude gab es einhundert Schlafplätze, allerdings trug keiner davon die Nummer einhundert. Der hundertste Platz befand sich ganz vorn am Eingang, in der linken Ecke, und trug die Zahl Null. Im Licht der wenigen Tharlarionöl-Lampen konnte man undeutlich große Zahlen ausmachen, die auf der linken und der hinteren Wand aufgemalt waren. Vom Eingang aus gesehen waren die Reihen von Null bis Neun durchnumeriert; die Reihen, die sich an der Rückwand entlangzogen, waren auf die gleiche Weise gekennzeichnet. Die Schnittstelle zweier Nummern zeigte dem Gast, wo sich sein Schlafplatz befand. Vom in der linken Ecke befand sich also der Platz ›Null‹, ganz hinten rechts Platz ›Neunundneunzig‹. Da in der goreanischen Schrift die erste Zeile von links nach rechts führt, mußte man folgerichtigerweise von den Zahlen auf der linken Wand ausgehen. Ein Beispiel: Die Schnittstelle der waagerechten Reihe sieben und der senkrechten Reihe drei ergab Platz dreiundsiebzig und nicht etwa siebenunddreißig. Der Platz in der hinteren linken Ecke war Platz neunzig; hier trafen sich die Reihen neun und null. Der vorderste Platz in der rechten Ecke trug die Zahl neun; hier stießen die Reihen null und neun zusammen. Diese Anordnung ermöglichte es einem, auf einen Blick zu sehen, welcher Schlafplatz einem zugeteilt worden war. Zu meiner Überraschung war mein Platz gar nicht so schlecht, wie der Verwalter gesagt hatte. Er befand sich zwar nicht in einer Ecke, lag aber zumindest an einer Wand. Hätte ein erhöhter Plankengang die Schlafplätze voneinander abgegrenzt, wäre alles kein Problem gewesen. Unglücklicherweise war dies nicht der Fall.

Plötzlich schrie jemand auf. »Es tut mir leid, Freund«, sagte ich. Ich hatte unweigerlich jemanden mit meinem Bündel getroffen. Das Licht war schlecht.

Ich beschloß, einen Augenblick lang dort stehenzubleiben, damit sich meine Augen besser an das Zwielicht gewöhnten. Jedoch begab ich mich vorsichtshalber außerhalb der Reichweite des Mannes, den ich gestört hatte. So konnte er mich nicht mehr erreichen, ohne das Risiko einzugehen, über ein paar andere Schlafende zu stolpern. Plankengänge wären wirklich keine schlechte Lösung gewesen. Sicher, man hätte aus einem Raum dieser Größe auch weniger Schlafplätze machen können. Der Verwalter hatte vermutlich die Vorzüge von guten Schlafplätzen, die eine einigermaßen vernünftige Breite von beispielsweise einem Meter aufwiesen und seiner Vorstellung von einer erstklassigen Herberge entsprachen, gegen die größte Anzahl von Schläfern abgewogen, die er in einen Raum packen konnte. Verwalter und Kaufleute sehen sich solch schwierigen Fragen gegenüber. Übrigens waren die zweite und dritte Etage durch schmale Treppen statt durch Leitern erreichbar, wie es in einigen Herbergen üblich ist. Zweifellos stärkte diese Annehmlichkeit das Argument des Verwalters, daß er ein erstklassiges Haus rührte – zumindest was diese Gegend anging. Ich wußte es nicht. Vielleicht hatte er ja recht. Genug Geld verlangte er jedenfalls. Außerdem hatte mein bärtiger Freund, der Krieger aus Artemidorus’ Kompanie, beschlossen, hier zu übernachten, und er machte nun wirklich den Eindruck eines Mannes, für den das Beste gerade gut genug war.

Ich begab mich zu meinem Platz. Dort sah ich mich um. Nicht alle Schlafplätze waren belegt. Zum Beispiel war Platz achtundneunzig noch frei. Aber im Prinzip war die Etage voll belegt. Mir kam der Verdacht, daß die leeren Plätze von Leuten verlassen worden waren, die sehr frühzeitig aufgebrochen waren. Manche Reisende brachen mitten in der Nacht auf, um am frühen Nachmittag in der nächsten Herberge einzukehren. So können sie darauf vertrauen, stets die beste Unterbringung zu bekommen. Die meisten Herbergen verlangen, daß man seinen Raum spätestens bis zur zehnten Ahn, also mittags, verläßt.

Ich hatte gerade die Decken auf dem Boden meines Schlafplatzes ausgebreitet und mein Bündel so hingelegt, daß es als Kopfkissen diente, als ein Hausdiener den Raum betrat. Er trug eine an den Händen gefesselte Frau auf der Schulter. Ich winkte ihn heran, und er bahnte sich geschickt einen Weg zwischen den Schlafenden. »In einer Ahn komme ich wieder«, sagte er und setzte seine Last ab.

»Du!« sagte Lady Temione.

»Pst«, machte ich. »Die Leute hier wollen schlafen.«

Sie wollte sich auf die Füße kämpfen, aber ich setzte sie sanft auf die Decke und legte sie auf die Seite.

»Das ist ein schrecklicher Fehler«, flüsterte sie. »Du weißt, daß ich eine freie Frau bin.«

»Ja.«

Man hatte ihr die Fesseln abgenommen, ihr aber die Handgelenke auf den Rücken gebunden. Eine schwere Kette zierte nun ihren Hals, in drei engen, unverrückbaren Schleifen, Zwei Glieder dieser Kette waren mit schweren Vorhängeschlössern aneinandergeschlossen. Es handelte sich dabei aber nicht um die Endstücke; die ragten zu beiden Seiten vorn nach unten, in einer kleidsamen, krawattenähnlichen Anordnung. Natürlich hatte das auch praktische Aspekte. In der Nähe des Schlosses hing ein Anhänger aus Eisen. In der Dunkelheit wäre er mir beinahe entgangen. »Dann mach mich los!« flüsterte sie. »Ich verstehe nicht.«

»Du hast zugestimmt, daß es ein schrecklicher Fehler ist!«

»Nein, nein«, erwiderte ich. »Das Ja bezog sich auf die Tatsache, daß du eine freie Frau bist.«

»Ich begreife nicht, was ich hier soll, nackt und gefesselt an deiner Seite.«

»Tatsächlich nicht?«

»Das kann nicht dein Ernst sein!« Temione war fassungslos.

»Warum denn nicht?«

»Ich bin frei!«

»Aber du hast deine Rechnung noch nicht bezahlt.«

Sie schnaubte ärgerlich.

»Was willst du mit mir machen?«

»Was glaubst du?«

»Nicht das!«

»Genau das!«

»Ich bin kein Schankmädchen. Ich bin nicht für die Gäste da.«

»Hat man dir das gesagt?«

»Nein«, antwortete sie zögernd.

»Also?«

»Aber ich nahm an, da ich…«

»Bist du noch Jungfrau?«

»Das ist doch wohl eine persönliche Angelegenheit, die nur mich etwas angeht.«

»Es kostet mich nicht viel Mühe, das festzustellen«, sagte ich.

»Nein«, sagte sie und wich zurück. »Ich bin keine Jungfrau.«

»Also mußt du mindestens ein oder zweimal jemanden für seine Dienste bezahlt haben.«

»Das waren keine Ehrenmänner.«

»Ich glaube, du wirst entdecken, daß du von jetzt an in solchen Dingen nicht mehr handeln kannst.«

»Ich verstehe nicht.«

»Ich bin froh, daß du keine Jungfrau mehr bist«, sagte ich. »Das erleichtert unsere Beziehung.«

»Muß ich dir wirklich zur Verfügung stehen?«

»Ja. Ich habe für dich bezahlt.«

»Bezahlt?«

»Ja.«

»Das muß aber schrecklich teuer gewesen sein«, sagte sie beeindruckt. »Vielleicht sollte ich mir Mühe geben, dich zufriedenzustellen.«

»Warum?« fragte ich mit ehrlichem Interesse. Schließlich war sie noch immer eine freie Frau.

»Du mußt doch mindestens eine goldene Tarnscheibe bezahlt haben, damit ich dir eine ganze Ahn zur Verfügung stehe.«

Es war nur ein Tarnstück gewesen. Ich würde es ihr später erzählen. Ich berührte sie, ihr Körper reagierte. Ich ließ mir Zeit mit ihr.

Danach klammerte sie sich an mich. »Oh«, schluchzte sie leise. Sie schien verwirrt darüber zu sein, was man mit ihr gemacht hatte, was sie gefühlt hatte. Der Hausdiener würde bald kommen.

»Du schuldest einen Silbertarsk und fünf«, sagte ich nachdenklich.

»Denkst du daran, mich auszulösen?« fragte Temione.

»Vielleicht.« Ich mußte mir auf irgendeine Weise Zugang zu Ar-Station verschaffen. Es wurde von den Cosianern und ihren Söldnern belagert. Möglicherweise konnte sie mir von Nutzen sein.

»Ich hätte Angst, von dir ausgelöst zu werden«, sagte sie.

»Warum?«

»Wenn du meine Schulden bezahlst, besäßest du völlige Macht über mich. Du würdest mich praktisch besitzen.«

»Dir ist natürlich bewußt, daß du überhaupt keinen Einfluß darauf hast, wer dich auslöst, genausowenig wie eine Sklavin eine Wahl hat, wer sie kauft.«

»Ich weiß«, sagte Temione.

Ich lag dort und dachte nach. Ja, eine Frau wie sie könnte ich gebrauchen. Sogar mehrere von ihrer Sorte.

»Du hast mich wie ein Tarskweibchen genommen«, sagte sie schmollend.

»Du hast mit aller Leidenschaft darauf reagiert«, sagte ich. »Vielleicht muß man dich so behandeln.«

»Du respektierst mich nicht.«

»Du willst doch gar nicht respektiert werden«, erwiderte ich. »Du willst verehrt, geschätzt, beherrscht, besessen werden. Du willst gezwungen werden, zu dienen und zu lieben.«

Temione schwieg.

»Da kommt jemand«, sagte ich. »Hörst du die Schritte auf der Treppe?«

»Nein«, sagte sie.

»Er ist auf dem ersten Treppenabsatz.« Ich setzte mich auf. »Es ist ein Mann.«

»Jetzt höre ich ihn auch«, sagte sie einen Augenblick später. »Was soll das?«

Ich hatte sie auf den Bauch gedreht.

»Meine Handgelenke!« Ich hatte sie nach hinten gezogen, übereinandergelegt und hielt sie nun mit der linken Hand fest. Mit der Rechten hatte ich die Schnur von ihrem linken Handgelenk gelöst. Einen Augenblick später war sie gefesselt. Eigentlich hatte ich mit dem Hausdiener gerechnet, aber der Schritt schien viel schwerer zu sein. Lady Temione stemmte sich auf den rechten Ellbogen, die Hände auf den Rücken gefesselt. Ich konnte mir denken, wer da kam. Unwillkürlich blickte ich auf den Schlafplatz neben mir. Allem Anschein nach war er später als ich in der Herberge eingetroffen, da er auch später zum Essen gekommen war. Falls meine Annahme zutraf, hatte man ihm auch nach mir einen Schlafplatz zugeteilt. Das würde alles vereinfachen. Ich müßte nicht einmal in der Dunkelheit nach ihm suchen müssen. Auf Platz neunundneunzig in der Ecke schlief ein Mann. Er mußte ziemlich früh in der Herberge eingetroffen sein, um einen der begehrten Eckplätze zu erringen. Falls tatsächlich derjenige die Treppe heraufkam, mit dem ich rechnete, und er sich neben mir zum Schlafen hinlegte, konnte ich die Hilfe des Reisenden in der Ecke gebrauchen. Der zweite Teil meines Plans erforderte einen Verbündeten.

Ein paar Meter entfernt schrie jemand auf. Der Krieger hatte einigen Paga getrunken, vielleicht einen zweiten oder dritten Kantharos. Ich fragte mich, ob er dafür bezahlt hatte. Ein weiterer wütender Aufschrei ertönte, gefolgt von einem dumpfen Schlag. Der Krieger ging etwas unsicher auf den Beinen weiter. Ein weiterer Gast wurde unsanft geweckt und kam auf die Beine. Als er jedoch sah, daß er seinem Gegenüber nicht einmal bis zur Schulter reichte, trat er einen Schritt zurück. Der Krieger winkte ihn heran. Ängstlich gehorchte er. Ohne Vorwarnung schlug der Krieger ihm die Faust in den Magen, und er sank stöhnend in die Knie. Sein Nachbar sagte etwas zu dem Krieger; der zog das Schwert zur Hälfte aus der Scheide, und der Mann rollte sich schnell auf die andere Seite und tat so, als schliefe er. Das Schwert wurde zurück in die Scheide gerammt. Das Geräusch reichte aus, daß die nächsten beiden Männer zur Seite rückten. Im nächsten Augenblick hatte der Krieger Schlafplatz achtundneunzig erreicht. Er sah wütend nach unten. Ich bemerkte erfreut, daß er noch immer die Tasche trug.

Er stellte sie an der Wand ab, der Helm folgte.

»Oh!« stieß Lady Temione aus, als sie hochgezerrt wurde.

Die Tasche wies ein Schloß auf. Es wäre also nicht einfach, sie ohne weiteres zu öffnen, um den Inhalt zu begutachten oder zu entfernen. Natürlich war ich weniger am Inhalt der Tasche als an etwas anderem interessiert. Da er offensichtlich eine Art Kurier war, würde sie die Verkleidung vervollständigen.

Er hielt Lady Temione fest, ihr Kopf lag im Nacken, sein Bart berührte fast ihren Hals.

»Sie ist eine freie Frau«, sagte ich trocken.

Mit einem abfälligen Grunzen stieß er sie von sich. Ich weiß nicht, ob er sie aus dem Pagaraum wiedererkannte oder nicht. Er war betrunken. Es war dunkel.

Er blickte sich um. Wie erwartet fiel ihm der Eckplatz ins Auge. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß er sich daran stören würde, daß er belegt war.

»He!« rief der Mann, der dort geschlafen hatte, als er plötzlich in die Höhe gestemmt und gegen die Wand geschleudert wurde.

Der Krieger hielt ihn dort fest und beugte sich vor, bis sich ihre Gesichter fast berührten. »Warum liegst du auf dem falschen Platz?« fragte er.

»Ich habe nicht den falschen Platz!« keuchte der Bursche.

Er wurde erneut gegen die Wand gestoßen.

»Warum?« wollte der Krieger wissen.

»Es muß sich um ein Mißverständnis handeln!« sagte der Mann. Wie ich zu meiner Freude feststellte, handelte es sich doch tatsächlich um denselben Mann, den der Krieger zuvor aus der Wanne vertrieben und zum unfreiwilligen Dienst als Badediener gezwungen hatte. Zweifellos gehörte er zu der Art von Mensch, die alles in ihrem Leben von den Gesetzen der Vernunft bestimmen lassen und alles sorgfältig planen, die frühzeitig in der Herberge eintreffen und dergleichen mehr. Keine Frage, Kerle wie der Krieger sind der Fluch solcher Leute. Er krachte wieder gegen die Wand. Es war ziemlich laut, aber ich schlief ja nicht.

»Ich habe den Ostrakon für diesen Platz!« stammelte der Mann.

»Was hat das denn damit zu tun?« fragte der Krieger und stieß ihn gegen die Wand.

»Nichts!« sagte der Mann und rang nach Atem. »Es tut mir leid, daß ich auf dem falschen Platz war! Ich entschuldige mich! Vergib mir! Das war sehr dumm von mir!«

Der Krieger ließ ihn los, und der Mann suchte auf allen vieren schnell seine Habseligkeiten zusammen.

»Du hast doch nicht etwa vor, jetzt aufzubrechen oder dich beim Verwalter zu beschweren, wie?« fragte der Krieger.

»Nein, natürlich nicht«, murmelte der Mann hastig und breitete seine Sachen auf Platz achtundneunzig aus, genau neben mir.

Ich konnte mir nicht vorstellen, daß es der Verwalter eilig gehabt hätte, sich auf einen derartigen Wortwechsel einzulassen, besonders nicht mit einem bewaffneten Soldaten, der Artemidorus’ Kompanie angehörte.

»Du bist auch ein großer Bursche«, sagte der Mann und sah mich an. »Kann ich davon ausgehen, daß du diesen Platz nicht haben willst?«

Ich nickte.

»Falls doch, könnte ich mich selbst gegen die Wand werfen. Ich habe Übung darin.«

»Sei nicht verbittert«, sagte ich.

»Scharf die Schlampe aus meinen Augen«, sagte der bärtige Krieger und sah Lady Temione an. Sie lag noch immer dort, wo er sie zu Boden geworfen hatte, die Hände auf den Rücken gefesselt, den Kopf neben meinen Füßen, zu ängstlich, um sich zu bewegen.

»Ich habe sie für eine Ahn gemietet«, sagte ich. »Die müßte gleich um sein. Der Hausdiener wird sie holen.«

»Was hat sie gekostet?« fragte der Krieger.

»Ein Tarskstück.«

»Das ist mehr, als sie wert ist.«

»Schon möglich.«

»In vielen Städten könnte man dafür ein Münzenmädchen haben.«

»Das stimmt.« Münzenmädchen waren eine Art Straßensklavinnen, die von ihren Herren, die gewöhnlich mehrere von ihre Sorte besaßen, gegen Sonnenuntergang auf die Straße geschickt wurden. Von den Ketten um ihren Hals baumelten Glöckchen, die ihren Standort verrieten, sowie ein verriegeltes Münzkästchen, Und wehe dem Mädchen, das nach Hause kommt, ohne daß ein paar Münzen in dem Kästchen klimpern! Andererseits bekam man an manchen Orten für ein Tarskstück bereits eine Pagasklavin.

»Für eine freie Frau ist das zuviel«, sagte der Krieger.

»Vielleicht.«

»Vor allem für so eine«, sagte er verächtlich.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht ist es ja doch angemessen, ein Tarskstück für ein fettes Tarskweibchen.«

»Eigentlich ist sie gar nicht so fett«, meinte ich. Sicher, ihre Figur war verbesserungswürdig, und sobald sie eine Sklavin wurde, was zweifellos sehr bald geschah, würde man sich darum kümmern.

»Ich habe Tharlarion gesehen, die besser aussahen.«

Lady Temione versteifte sich vor Wut. Ich konnte ihre Reaktion nicht verstehen.

»Man hätte kaum weniger als ein Tarskstück für sie verlangen können«, sagte ich irgendwie gereizt. Ich durfte die Beherrschung nicht verlieren. In den meisten Städten ist das Tarskstück die Münze mit dem kleinsten Geldwert, die in Umlauf ist.

»Für soviel hatte man sie dir einen Monat überlassen müssen.«

»Vielleicht.«

»Du mußt ein seltsamer Kerl sein, um es mit einer freien Frau zu treiben«, meinte er.

»Sie muß ja nicht für alle Zeiten frei bleiben.«

Lady Temione zitterte vor Furcht. Die Kette an ihrem Hals und das Vorhängeschloß klirrten leise.

Er ging neben ihr in die Hocke. Sie wandte ängstlich den Blick ab.

»Du bist keine Frau, du bist ein Tarskweibchen«, stieß er höhnisch hervor.

Sie schluchzte auf.

»Misch dich nicht ein«, beschwor mich der Mann auf Schlafplatz achtundneunzig, der so unsanft von seinem Eckplatz vertrieben worden war. »Er ist gefährlich.«

»Das habe ich auch nicht vor.« Ich protestierte nicht gegen seine Beschimpfungen, denn auch wenn sie vielleicht etwas übertrieben waren, waren sie nicht ganz ungerechtfertigt. Die Gefahr bei jemanden mit meinem Temperament bestand natürlich darin, daß ich plötzlich meine Ehre beleidigt sah. Falls ich dann meiner Wut freien Lauf ließe und den Kerl mit dem Schwert auf den Boden nagelte, brächte das meine Pläne ernsthaft durcheinander. Ich mußte so gelassen sein wie ein Larl, der so tat, als schliefe er, so gelassen sein wie Dietrich von Tarnburg.

Der Krieger fuhr herum. »Was hast du da gesagt?«

»Ich? Nichts.«

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Lady Temione zu.

»Du bist wertlos.« Er starrte sie verächtlich an. »Schaff sie mir aus den Augen. Ich will mir nicht den Appetit fürs Frühstück versauen.«

Ich hatte bestimmt keine Zeit fürs Frühstück. Der Plan sah einen sehr frühen Aufbruch vor.

»Hast du nicht gehört?«

»Der Hausdiener wird gleich da sein.«

»Willst du mich hinhalten?«

»Das fiele mir im Traum nicht ein.« Ich fand den Schwertgriff. Es war zwar nicht unbedingt ehrenhaft, einen betrunkenen Krieger im Dunkeln mit dem Schwert zu durchbohren, aber alles in allem ist es besser, als selbst durchbohrt zu werden.

»Ich bringe sie weg«, sagte der Mann neben mir hastig.

»Das ist nicht deine Angelegenheit«, sagte ich. Ich fürchte, mein Tonfall war etwas ungehalten, zog man die Großzügigkeit seines Angebots in Betracht.

»Sieh mal«, sagte er, »ich habe jetzt große Übung darin, Wände mit meinem Rücken abzuklopfen, aber ich verstehe mich nicht darauf, in der Dunkelheit in einen Schwertkampf hineinzugeraten und Klingen auszuweichen, verstehst du?«

»Ein Schwertkampf?« fragte der Krieger.

»Also brächte ich sie gern zum Verwalter zurück.«

Der Krieger griff nach dem Schwert, tastete aber daneben. Zumindest sah es so aus.

Meine Klinge glitt aus der Scheide. Ich stand auf.

Der Mann in der Mitte zwischen uns stöhnte auf und bereitete sich darauf vor, schnell in Sicherheit zu kriechen.

»Oh!« sagte Lady Temione, die von den starken Händen des Hausdieners hochgehoben wurde, der unbemerkt herangekommen war. »Die Zeit ist um«, verkündete er.

»Nimm sie weg«, verlangte der Krieger mit einer Handbewegung.

»Das habe ich vor«, sagte der Hausdiener. Er drehte uns den Rücken zu, und ich sah Lady Temiones Gesicht.

»Steck sie in einen Tarsk-Käfig«, lachte der Krieger. »Da gehört sie hin.«

Lady Temione kämpfte kurz gegen den Griff des Hausdieners an, wobei sie sich sicherlich verführerischer bewegte, als ihr bewußt war, und zerrte vergeblich an ihren Handfesseln. Sie sah zurück, wobei sie dem Krieger einen Blick voller Wut und Angst zuwarf.

»Wer will einen Kampf?« fragte der Krieger. Er schwankte. Seine Hand lag auf dem Schwertgriff.

»Niemand«, sagte der Mann in der Mitte hastig.

Ich konnte mir nicht vorstellen, daß ein Angriff besonders erfolgreich sein würde, solange der unschuldige Reisende zwischen uns stand, zumindest nicht ohne ihn vorher mit dem ersten Hieb zu entfernen. Damit hätte sein Tag, der ohnehin nicht besonders ertreulich gewesen war, einen traurigen Abschluß gefunden. Ich schob das Schwert zurück in die Scheide. Ich war nicht einmal davon überzeugt, daß der Krieger in der Dunkelheit überhaupt mitbekommen hatte, daß ich es gezogen hatte. Er war nicht weiter gegangen, als die Hand an die Klinge zu legen. Ich glaube, er hatte überhaupt nicht bemerkt, daß er sich in Gefahr befand.

»Bist du es, der kämpfen will?« fragte er.

»Ich nicht«, erwiderte ich.

»Dann mußt du derjenige sein!« rief der Krieger und wandte sich an den Reisenden.

»Nein!«

Seine Erwiderung kam schnell. Sie klang von ganzem Herzen überzeugt und ließ keinen Zweifel an ihrer Ehrlichkeit aufkommen.

»Ich bin müde«, verkündete der Krieger.

»Dann ist es Zeit, sich schlafen zu legen.«

Der Krieger blieb einen Augenblick lang stehen und überdachte seine Möglichkeiten. »Vielleicht«, sagte er dann.

Ich war mittlerweile zu dem Schluß gelangt, daß es nicht nötig wäre, den Krieger zu töten. Zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt. In seiner augenblicklichen Verfassung wäre es nicht besonders ehrenhaft gewesen, ihm eine Klinge in den Leib zu rammen. Außerdem ist es schwierig, ein Schwert in der Dunkelheit auf fachmännische Weise zu handhaben, und ich neige dazu, auf solche Dinge großen Wert zu legen. Das Schwert ist weniger für die Dunkelheit geeignet als Verstohlenheit und ein Dolch. Unter diesen Umständen hätte ihn ein Rekrut töten können.

»Es ist Zeit, um schlafenzugehen«, verkündete der Krieger.

»Ja, da hast du recht«, sagte der Mann.

Das war das zweite Mal, daß der Krieger in dieser Nacht in beträchtlicher Gefahr geschwebt hatte. Vermutlich würde ihm das am nächsten Morgen nicht einmal bewußt sein.

»Setz dich«, sagte der Krieger zu mir.

»Sicher«, erwiderte ich und setzte mich. Der Mann schloß sich mir an.

Der Krieger sah in die Runde. Er war der einzige im Raum, der auf den Beinen war.

Er hatte im Bad die Erste Wanne in Beschlag genommen. Er hatte im Pagaraum für Aufruhr gesorgt. Er hatte dafür gesorgt, daß man ihm eine ausgezeichnete Sklavin schickte, vermutlich sogar gratis. Ich war sogar davon überzeugt, daß man ihm eine viel größere Auswahl an Speisen angeboten hatte als mir. Er war wie ein Wirbelsturm in den Schlafraum eingefallen. Es war zu bezweifeln, daß er sich bei den anderen Gästen besonders beliebt gemacht hatte, schließlich hatte er mehr als nur einen Mann geschlagen. Er war sogar auf dem schrägen, direkten Weg zu seinem Schlafplatz gegangen, statt wie die anderen Gäste den rücksichtsvolleren längeren Weg am Rand entlang zu nehmen. Außerdem hatte er mir nicht den gebotenen Respekt erwiesen, von dem Mann neben mir ganz zu schweigen, dessen bezahlten Platz er belegt hatte.

Er ließ sich auf dem Eckplatz mit der Nummer neunundneunzig nieder, dem sichersten Platz im ganzen Raum.

»Schnarchst du?« fragte er meinen neuen Nachbarn.

»Niemals«, versicherte ihm der Mann.

»Wenn doch, schläfst du heute im Sitzen!«

»Das hatte ich sowieso vor!«

Ich war fest davon überzeugt, daß der Mann vorhatte, in dem Moment aufzubrechen, in dem der Krieger einschlief. Denn konnte man sich darauf verlassen, daß er in angenehmer Laune war, wenn er aufwachte? Und was, wenn er unter Alpträumen litt und mitten in der Nacht um sich schlug, mit einem Messer in der Hand?

Mein Nachbar setzte sich mit dem Rücken an die Wand. Der Krieger sah verächtlich zu mir herüber. »Liebhaber von Tarskweibchen«, lachte er.

Mir entging nicht, daß er den Riemen der Kuriertasche drei- oder viermal um den linken Arm schlang. Vermutlich war der Lederriemen mit Draht verstärkt, wie es bei Diplomatenpost häufig vorkam; in der Tasche selbst waren wahrscheinlich zwischen Leder und Futter zusammengeschmiedete Eisenringe eingearbeitet. Solche Vorkehrungen machten die Tasche sicher gegen die üblichen Methoden von Beutelschneidern.

Augenblicke später schnarchte der Krieger.

Ich streckte die Hand aus und packte meinen Nachbarn auf Platz achtundneunzig, der offenbar aufbrechen wollte, am Arm.

Er stöhnte. »Woran liegt es, daß ich niemals von kleinen Männern belästigt werde?«

»Was ist dein Beruf?«

»Ich bin Marketender.«

»Ausgezeichnet.«

»Das dachte ich auch einmal.«

Das verwunderte mich nicht. Diesem Beruf gingen hauptsächlich ehemalige Kutscher oder Flüchtlinge nach. Das schien aber auf ihn nicht zuzutreffen. Zum Beispiel hatte er weder Kinder noch eine Gefährtin dabei. Davon abgesehen hätten sich nur die wenigsten Flüchtlinge die Herberge leisten können. Ihm fehlte sowohl die Raffinesse eines Kaufmanns als auch die Grobheit eines Viehhändlers. Ein Viehhändler, der hier übernachtete, hätte die Taschen voller Geld gehabt und befände sich auf der Rückreise von Ar-Station. Auf der Hinreise wäre er bei seiner Herde geblieben, die hauptsächlich aus Verr oder Tarsk bestehen.

»Du bist auf dem Weg zum Heerlager der Cosianer vor Ar-Station«, wagte ich eine Vermutung.

Er nickte.

Es war eine naheliegende Vermutung gewesen, da er in der Herberge übernachtete. Er vertraute auf den Schutz, den sie bot. Geld und Kreditbriefe kann man in einem Wagen verbergen, aber bei großen Mengen Mehl, Salz, Dörrfleisch, Paga und dergleichen mehr ist das nicht möglich, ganz zu schweigen von den unzähligen Dingen, die man im Feld braucht und für die die Marketender sorgen, Dinge wie Haarbürsten, Kerzen, Lampenöl, kleine Messer, Werkzeuge, Pfannen, Eßgeschirr, Wetzsteine, Feuersteine, Daumenfesseln, Handund Fußschellen, Nasenringe, Lederfesseln, Sklavenkragen und Peitschen.

»Ich habe einen Auftrag für dich«, sagte ich.

»Du willst, daß ich unseren Freund auf neunundneunzig umbringe?« fragte er.

»Nein.«

»Das ist vielleicht auch besser so«, entgegnete er. »Falls ich es nicht schaffen sollte, die Angelegenheit sauber zu erledigen, er aufwacht und ich mit dem blutigen Messer in der Hand über ihm knie, kann man sich nicht darauf verlassen, daß er die Sache aus unserer Sicht sieht.«

»Du hast recht.«

»Sein Temperament ist ungezügelt«, sagte er, »und unter diesen Umständen könnte man es kaum jemandem verübeln, wenn er gereizt reagiert.«

»Dem stimme ich vorbehaltlos zu«, sagte ich.

»Was also kann ich für dich tun?«

»Hör genau zu.«

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