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Das Zelt war winzig. Ich hockte mit überkreuzten Beinen auf dem Boden. Ich hatte die notdürftige Behausung am Rand des cosischen Feldlagers aufgeschlagen. Ringsum gab es unzählige kleine Zelte und Unterstände. Einige wurden von Soldaten bewohnt, doch die meisten gehörten Zivilisten, Marketendern, Kaufleuten, Sklavenhändlern und dergleichen. Der nächste Belagerungsgraben befand sich etwa einen halben Pasang entfernt. Von unserem Standort aus konnte man die Mauern von Ar-Station sehen. Das Lager bot ein friedliches Bild. Es war schwer zu glauben, daß jeden Tag in der Nähe der Stadtmauer Kämpfe stattfanden; tatsächlich gab es manchmal sogar Nachtangriffe. Vor mir kochte Haferbrei in einem kleinen Topf. Es war kein großartiges Mahl. In den meisten Häusern von Ar-Station gab es vermutlich noch weniger zu essen.

Der erste Teil meines Plans hatte vorgesehen, Ar-Station so schnell wie nur möglich zu erreichen; die Voraussetzung dafür war der Flug auf dem Rücken eines Tarns gewesen, der aber keinesfalls die Aufmerksamkeit cosischer Tarnpatrouillen erregen durfte. Das war mir gelungen. Die Patrouillen, von denen es in dieser Gegend nur so wimmelte, hatten mich wegen meiner Uniform, der Ausrüstung und der deutlich sichtbaren Kuriertasche für einen Kurier gehalten.

Natürlich hatte ich die Hoffnung gehabt, einfach mit dem Tarn in Ar-Station einfliegen zu können. Doch wie befürchtet hatte sich das als unmöglich erwiesen. Nicht einmal die Kurierkleidung hatte mir den Zugang zu dem Luftraum über Ar-Station ermöglicht. Cosische Tarnkämpfer hatten sofort die Verfolgung aufgenommen und auf mich geschossen.

Ich hatte es sofort am Nachmittag meiner Ankunft versucht und dann noch einmal am Abend. Ohne die Stärke meines Vogels und meine Flugkünste wäre ich über der Stadt abgeschossen worden. Beim zweiten Versuch war mir die Flucht nur unter beträchtlichen Schwierigkeiten gelungen, die Verfolger hatten mich über die Zitadelle und den Hafen gejagt, vorbei an den aneinandergeketteten Flößen, die den Hafen blockierten, und über den Vosk selbst, wo ich sie im Schutz der Dunkelheit endlich abschütteln konnte.

Die Tage, die ich danach im Feldlager verbracht hatte, waren nicht unnütz gewesen. Ich hatte vieles in Erfahrung bringen können. Zuerst hatte ich gedacht, bei einem der morgendlichen Angriffe die Mauern von Ar-Station auf einer Sturmleiter überwinden zu können, aber diesen Gedanken hatte ich bald wieder verworfen. Die Gegenwehr war noch immer so heftig, daß nur wenige Cosianer es bis zu den Zinnen schafften, und die Soldaten, denen es gelang, wurden für gewöhnlich zurückgedrängt. Obwohl es meiner Meinung nach durchaus möglich war, auf diese Weise in die Stadt zu gelangen, schien mir diese Methode bei näherer Betrachtung doch eher zweifelhaft. Ich konnte nicht so richtig einsehen, wie es meinen Plänen dienen sollte, wenn man mich bei dem Versuch, mich zu identifizieren und meine Mission zu erklären, mit einem Bootshaken aufschlitzte. Genausowenig verlangte es mich danach, inmitten meiner Ansprache einen Eimer kochendes Öl ins Gesicht geschüttet zu bekommen oder von einer aus der Stadt in die Tiefe geschleuderten Dachschindel von der Leiter gestoßen zu werden. Ich hatte auch in Betracht gezogen, Ar-Station einfach durch das Haupttor zu betreten, indem ich mir das Chaos eines von den Verteidigern gestarteten Ausfalls zunutze machte. Doch seit zwanzig Tagen hatte es keinen Ausfall mehr gegeben. Das allein zeigte deutlich die Not der Verteidiger, ihre Willenskraft und ihre Zahl.

Der Versuch, die Stadt während des Tages von der Hafenseite aus zu betreten, war mir wegen der Belagerer ebenfalls als nicht durchführbar erschienen. Doch während der Nacht waren wiederum die Verteidiger vermutlich außerordentlich aufmerksam.

Natürlich kannte ich weder die nötigen Erkennungszeichen noch die Parolen. Vermutlich stürzten sie sich auf einen, sobald man auch nur den Versuch unternahm, eine der Anlegestellen zu erklimmen. Mit Sicherheit patrouillierten sie das Pfahlwerk mit Ruderbooten. Ein zusätzliches Problem für einen Schwimmer stellten die Voskaale dar, wie ich bei einer Unterhaltung mit einigen Soldaten erfahren hatte. Diese Fische lauern oft in dunklen Ecken unterhalb der Piers. Für gewöhnlich ernähren sie sich von Abfällen und kleinen Fischen, doch es ist auch schon vorgekommen, daß sie Schwimmer angreifen. Die Kämpfe der vergangenen Wochen an den Flößen und im Hafen selbst hatten – wie zu erwarten gewesen war – Flußhaie angelockt, die normalerweise viel weiter im Westen anzutreffen sind.

Mein zweiter Plan – beziehungsweise der zweite Teil meines Plans – schloß die Frauen aus dem Krummen Tarn ein. Wie erwartet waren sie am späten Nachmittag in der Begleitung von Ephialtes dem Marketender eingetroffen. Ich war abseits seines Wagens mit ihm zusammengetroffen und hatte ihm befohlen, den Frauen mit Ausnahme von Liadne, dem ersten Mädchen und der einzigen richtigen Sklavin, eine Augenbinde anzulegen, bevor ich sie mir ansah. Liadne, die ihren neuen Namen entzückend fand, zeigte sie mir stolz. Sie hatte gute Arbeit mit ihnen geleistet, wenn man bedachte, daß sie nur drei Tage Zeit gehabt hatte. Die freien Frauen knieten ausgesprochen gerade, die Bäuche eingezogen, die Schultern nach hinten, die Brüste nach vorn gereckt. Außerdem hockten sie auf den Fersen, die Beine gespreizt, wie Sklavinnen. Es waren alle da, Lady Temione, Lady Amina aus Venna, Lady Elene aus Tyros und Klio, Rimice und Liomache, die alle aus Cos kamen. Sie alle hatten Männer ausnutzen wollen oder es zumindest versucht. Nun knieten sie vor mir, ohne zu wissen, vor wem sie knieten. Ich betrachtete sie. Einst waren sie hochmütige, stolze freie Frauen gewesen. Nun knieten sie am Rande eines Feldlagers, verängstigte, verwirrte, in Ketten gelegte Gefangene, denen man die Augen verbunden hatte. Sie wußten nicht, in wessen Macht sie sich befanden oder wie ihr Schicksal aussehen würde. Ich hatte Pläne für sie oder zumindest für einige von ihnen. Und sie würden bald erfahren, wie diese Pläne aussahen.

Temione und Klio wiesen ein paar blaue Flecken auf. Vermutlich hatten sie es gewagt, zu Anfang widerspenstig zu sein. Vielleicht hatten sie sogar Einwände dagegen gehabt, daß man sie nackt an einen Wagen kettete oder daß sie ohne Widerspruch den Befehlen eines Sklavenmädchens gehorchen sollten, daß sie vor Liadne, dem ersten Mädchen, knien und sie als Herrin ansprechen sollten. Sie hatten geglaubt – zumindest im ersten Augenblick –, als freie Frauen stünden sie über solchen Dingen. Sie hatten dazugelernt.

In Anbetracht der Größe der Belagerungsarmee hielten sich bedeutend weniger Frauen im Lager auf als erwartet. Ich hoffte, dies zu meinem Vorteil ausnützen zu können. Die meisten Frauen fand man bei den ankommenden und abfahrenden Sklaventransportern, die die meisten der Gefangenen fortbrachten. Das waren in der Hauptsache Frauen aus Ar-Station, die sich für etwas zu essen in die Sklaverei verkauft hatten und die man nun zu Märkten wie Ven, Besnit, Port Olni und Harfax brachte. Die Frauen aus der Herberge hatten eine ansprechende Figur gemacht. Wie bereits gesagt, Liadne hatte gute Arbeit mit ihnen geleistet. Zwar hatten sie in der Zeit bestimmt nicht gerade viel von der Kunst gelernt, wie man Männer erfreute, aber für meine Zwecke würde es wohl reichen. Die Cosianer in den Frontgräben und hinter den Schanzen und Hindernissen, die in der Vergangenheit die Hauptwucht der Ausfälle hatten erdulden und ohne jeden Zweifel einen großen Beitrag zu den Angriffen geleistet hatten, wären sicherlich nicht abgeneigt eine Frau zu sehen, vor allem dann, wenn sie nackt und in Ketten war.

In der Ferne ertönten Fanfaren. Ich trat aus dem Zelt. Weit voraus waren kleine Lichtpunkte zu sehen. Nach einiger Zeit kehrten die Umstehenden einer nach dem anderen in ihre Zelte zurück. Es war nur ein weiterer Angriff. Ich ging ebenfalls zurück ins Zelt und beendete mein Abendessen.

Es war Zeit zum Schlafengehen.

Morgen wäre die Zeit gekommen, meinen Plan durchzuführen.

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