Gefahren im Busch

Am nächsten Tag gehe ich in der Früh zur hiesigen Bank und eröffne ein Konto, was nicht ohne diverse Erklärungen abgeht, weil ich weder einen Wohnort noch ein Postfach angeben kann. Als ich erkläre, in den Manyattas in Barsaloi zu wohnen, geraten sie völlig aus der Fassung. Wie ich dort hinkomme, wol en sie wissen. Ich erzähle von meinem Autokauf und bekomme endlich mein Konto. Meiner Mutter schreibe ich, damit der Geldnachschub nach Maralal erfolgt.

Mit Nahrungsmitteln beladen fahre ich los. Natürlich benütze ich den kürzeren Weg durch den Busch, da sonst mein Benzin nicht ausreichen wird, um hin- und später wieder zurückzufahren. Ich freue mich auf die Augen, die Lketinga machen wird, wenn ich mit dem Auto ins Dorf zurückkomme.

Der Landrover schlängelt sich den steilen, roten Naturweg hinauf. Kurz bevor der Wald beginnt, muß ich bereits den Vierradantrieb einschalten, um nicht steckenzubleiben. Ich bin stolz, daß ich das Vehikel so gut im Griff habe. Die Bäume kommen mir riesig vor, und man sieht an der zugewachsenen Spur, daß die Strecke längere Zeit nicht benutzt wurde. Dann fällt der Weg bergab, und ich fahre fröhlich drauflos.

Plötzlich sehe ich eine große Herde auf dem Weg stehen. Ich bremse sofort ab und wundere mich. Hatte mir nicht Lketinga erzählt, daß hier keine Kuhherden weiden? Doch als ich mich den Tieren auf etwa fünfzig Meter genähert habe, realisiere ich, daß die Kühe ausgewachsene Büffel sind.

Was hat Lketinga gesagt? Das gefährlichste Tier ist nicht der Löwe, sondern der Büffel. Und nun sind hier mindestens dreißig Stück, sogar mit Jungtieren. Es sind riesige Kolosse mit gefährlichen Hörnern und breiten Nasen. Während die einen friedlich weitergrasen, schauen einige zu meinem Auto. Zwischen der Herde dampft es. Oder ist es Staub? Gebannt starre ich auf die Tiere. Soll ich hupen oder nicht?

Kennen die ein Fahrzeug? Als sie die Straße nicht freigeben wol en, hupe ich nach längerem Warten doch. Sofort schauen al e Tiere hoch. Vorsichtshalber lege ich den Rückwärtsgang ein und hupe in kurzen Abständen weiter. Da ist es vorbei mit dem friedlichen Grasen. Einige der Kolosse beginnen zu bocken, schlagen mit gesenktem Kopf um sich. Gebannt sehe ich dem Schauspiel zu. Hoffentlich ziehen sie ab in den dichten Wald und kommen nicht den Weg hoch! Doch bevor meine Augen al es erfaßt haben, steht kein Tier mehr auf dem Weg. Der Spuk ist vorbei. Nur eine Staubwolke bleibt zurück.

Vorsichtshalber warte ich noch einige Minuten, bevor ich mit durchgetretenem Gaspedal den Weg hinunterrase. Der Landrover klappert, als würde er auseinanderbrechen. Nur weg hier, ist mein einziger Gedanke. Auf der Höhe der verschwundenen Tiere blicke ich kurz in den Wald, sehe aber kaum einen Meter weit. Lediglich den frischen Kot rieche ich. Das Lenkrad muß ich mit al er Kraft festhalten, damit es mir nicht aus der Hand gerüttelt wird. Nach fünf Minuten rasanter Fahrt werde ich langsamer, weil die Straße immer steiler wird. Ich stoppe und lege den Vierrad ein. Mit seiner Hilfe hoffe ich, dieses schräge Stück zu bewältigen, ohne zu kippen, da immer wieder Erdrisse oder Schlaglöcher auftauchen. Fieberhaft bete ich, daß das Fahrzeug auf seinen vier Rädern bleibt. Nur nie kuppeln, damit der Gang nicht herausfällt! Alles mögliche geht mir durch den Kopf, während ich Meter um Meter vorwärts fahre. Der Schweiß tropft mir in die Augen, doch wegwischen kann ich ihn nicht, denn ich muß mit beiden Händen das Steuerrad fest umklammern.

Nach zwei- bis dreihundert Metern ist das Hindernis überwunden. Der Wald lichtet sich langsam, und ich bin froh, daß es hel er um mich wird. Kurz darauf stehe ich vor der Geröllhalde. Auch diese hatte ich anders in Erinnerung. Als ich die Strecke das erste Mal mitfuhr, saß ich hinten, und meine Gedanken galten nur Lketinga.

Ich halte an und steige aus, um zu sehen, ob die Straße wirklich weitergeht. Die Steine sind an einigen Stellen halb so hoch wie das Rad des Landrovers. Jetzt packt mich doch das Entsetzen, und ich fühle mich allein und überfordert trotz meiner guten Fahrkenntnisse. Um die Stufen geringer zu halten, schichte ich Steine aufeinander. Die Zeit läuft, in zwei Stunden ist es dunkel. Wie weit ist es noch bis Barsaloi? In meiner Nervosität kann ich mich an nichts mehr erinnern. Ich lege den Vierrad ein und weiß, ich darf nicht bremsen oder kuppeln, sondern muß den Wagen im Vierrad darüberklettern lassen, obwohl es steil hinuntergeht. Die ersten Brocken nimmt der Wagen. Dabei reißt es mir fast das Steuer aus der Hand. Ich stemme den Oberkörper mit auf und hoffe, daß al es gutgeht. Der Wagen rumpelt und ächzt. Da er so lang ist, steht das Hinterteil meistens noch auf dem letzten Brocken, während das Vorderteil schon über den nächsten Stein schleicht. In der Mitte der Geröllhalde passiert es: Der Motor gluckert kurz auf und stirbt dann komplett ab. Ich hänge schräg über dem Steinbrücken, und der Motor ist verreckt. Wie bringe ich ihn nur wieder an? Ich drücke kurz die Kupplung, und schon rollt er krachend einen halben Meter weiter. Sofort lasse ich los, denn so geht es nicht. Ich steige aus und sehe, daß ein Hinterrad in der Luft hängt. Hinter das andere schleppe ich einen großen Stein. Inzwischen bin ich der Hysterie nahe. Als ich ins Fahrzeug steige, sehe ich zwei Krieger auf einem nahen Felsen, die mich interessiert beobachten. Zu helfen kommt ihnen anscheinend nicht in den Sinn, trotzdem fühle ich mich wohler, da ich nicht mehr so allein hier draußen bin. Nun versuche ich den Motor zu starten. Er blabbert kurz an, um gleich darauf zu verstummen. Immer und immer wieder probiere ich es. Ich will hier weg. Die zwei stehen stumm auf dem Felsen. Was sollen sie auch helfen, sie verstehen wahrscheinlich ohnehin nichts von Motoren.

Als ich schon nicht mehr daran glaube, springt er plötzlich wieder an, als wäre nichts gewesen. Ganz, ganz langsam lasse ich die Kupplung los und hoffe, daß der Wagen über den dazwischengelegten Stein klettern kann. Nach kurzem Spulen und Geduld mit der Kupplung schafft er es und schaukelt weiter von Stein zu Stein. Nach etwa zwanzig Metern ist das Gröbste vorbei, und ich kann meine Arme etwas lockern. Erst jetzt weine ich erschöpft und bin mir der Gefahr bewußt, in der ich mich befunden habe.

Der Weg verläuft nun ziemlich eben. Abseits des Weges erkenne ich einige Manyattas und Kinder, die aufgeregt winken. Ich verlangsame das Tempo, um ja keine Ziege zu überfahren, die hier so zahlreich sind. Etwa eine halbe Stunde später erreiche ich den großen Barsaloi-River. Auch er ist nicht gefahrlos zu überqueren, obwohl er im Moment kein Wasser führt, dafür hat er Treibsand. Noch mal schalte ich den Vierrad ein und rase mit Tempo durch den etwa hundert Meter breiten River. Der Wagen nimmt die letzte Steigung vor Barsaloi, und langsam und stolz fahre ich durch das Dörfchen. Überall bleiben die Menschen stehen, sogar die Somalis kommen aus ihren Geschäften. „Mzungu, Mzungu!“ höre ich von allen Seiten.

Plötzlich steht Lketinga mitten auf der Straße, zusammen mit zwei anderen Kriegern. Er ist im Fahrzeug, bevor ich richtig halten kann, und strahlt mich überglücklich an. „Corinne, you come back and with this car!“

Ungläubig schaut er mich an und freut sich wie ein Kind. Ich möchte ihn am liebsten umarmen. Die beiden Krieger steigen auf seine Aufforderung ein, und wir fahren zur Manyatta. Die Mama flüchtet, auch Saguna springt schreiend davon.

Innerhalb kurzer Zeit ist das abgestel te Fahrzeug umringt von Alt und Jung. Mama wil das Auto nicht neben dem Baum stehen lassen, da sie fürchtet, jemand könnte es mutwillig beschädigen. Lketinga öffnet das Dornengestrüpp, und ich parke den Wagen neben der Manyatta, die neben dem großen Fahrzeug noch kleiner wirkt. Der Gegensatz sieht wirklich grotesk aus.

Wir laden alles Eßbare aus und verstauen es in der Hütte. Ich freue mich auf Mamas Tee. Sie ist glücklich über den mitgebrachten Zucker. In den Geschäften gibt es wenigstens wieder Maismehl, wie ich erfahre, aber keinen Zucker. Lketinga bestaunt zusammen mit den beiden anderen den Wagen. Mama spricht dauernd mit mir. Ich verstehe zwar nichts, aber sie scheint glücklich zu sein, denn als ich hilflos lache, stimmt sie mit ein.

An diesem Abend schlafen wir erst spät, ich muß ausführlich berichten. Bei den Büffeln werden alle ernst, und Mama murmelt ständig „Enkai-Enkai“, was Gott heißt.

Als der ältere Bruder mit den Ziegen nach Hause kommt, staunt auch er nicht schlecht. Es wird viel besprochen. Man müsse das Fahrzeug bewachen, damit niemand etwas stiehlt oder gar böswillig beschädigt, wird beschlossen. Lketinga will die erste Nacht im Landrover schlafen. Das Wiedersehen habe ich mir anders vorgestel t, doch ich sage nichts, weil seine Augen vol er Stolz leuchten.

Am nächsten Tag möchte er bereits einen Ausflug machen und seinen Halbbruder besuchen, der in Sitedi seine Kühe hütet. Ich versuche Lketinga zu erklären, daß wir keine großen Ausflüge machen können, weil ich kein Ersatzbenzin habe. Die Benzinuhr zeigt nur noch halbvoll. Das reicht gerade, um wieder nach Maralal zu kommen. Er sieht es nur widerwil ig ein. Es tut mir ja auch leid, daß ich ihn nicht stolz durch die Gegend fahren kann, aber ich muß hart bleiben.

Drei Tage später steht der Hilfs-Chief vor unserer Manyatta. Er spricht mit Lketinga und Mama. Ich verstehe nur „Mzungu“ und „car“. Es geht um mich. In seiner schlecht sitzenden, grünen Uniform sieht er komisch aus. Nur das große Gewehr verleiht ihm etwas Autorität. Englisch kann er auch nicht. Später will er meinen Paß sehen. Ich zeige ihn und frage, was los sei. Lketinga übersetzt mir, ich müsse mich in Maralal im Office registrieren lassen, da Europäer nicht in den Manyattas leben dürften.

Zukunftspläne

An diesem Nachmittag beschließen Lketinga und ich gemeinsam mit der Mama, daß wir heiraten werden. Der Mini-Chief meint, wir müßten das in Maralal auf dem Office erledigen, denn die traditionelle Heirat im Busch reiche nicht aus. Als alles besprochen ist, will der Chief nach Hause gefahren werden. Für Lketinga ist es selbstverständlich, er ist schließlich eine „Respektsperson“. Daß er das schamlos ausnützt, merke ich schon jetzt. Als ich starte, schaue ich zufällig auf die Benzinuhr und stelle mit Schrecken fest, daß das Benzin geschwunden ist, obwohl der Wagen nicht benutzt wurde. Ich kann mir das nicht erklären. Wir fahren los, und der Chief setzt sich auf den Nebensitz, während Lketinga hinten Platz nimmt. Ich finde das zwar unverschämt, schließlich gehört uns der Wagen, sage aber nichts, weil es Lketinga anscheinend nicht stört. Am Ziel verkündet der Chief selbstgefällig, er müsse in zwei Tagen nach Maralal, und da ich das mit dem Office sowieso erledigen müsse, könnten wir ihn mitnehmen. Tatsächlich läuft mein Visum in einem Monat aus.

Zurück bei der Manyatta stel e ich fest, daß das restliche Benzin nicht reicht, um nach Maralal zu fahren, außerdem wil ich die längere, aber einfachere Strecke nehmen. Ich gehe zur Mission. Pater Giuliano öffnet und fragt diesmal eine Spur höflicher: „Yes?“ Ich erkläre ihm meine Benzinprobleme. Auf seine Frage, welchen Weg ich denn gekommen sei, antworte ich: „Den durch den Wald.“ Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, daß er mich genauer und mit etwas Respekt betrachtet. „This road is very dangerous, don't go there again.“

Dann meint er, ich solle den Wagen vorbeibringen, er schaue sich den Tank an. In der Tat hängt dieser an einer Seite etwa fünf Zentimeter herunter, so daß Benzin verdunstet. Jetzt weiß ich auch, warum ich an den Steinen hängengeblieben bin.

In den nächsten Tagen schweißt der Pater den Tank wieder an. Ich bin ihm sehr dankbar. Er erkundigt sich nebenbei, bei welchem Moran ich lebe, und wünscht mir viel Kraft und gute Nerven. Von ihm erfahre ich, daß es mit Benzin in Maralal immer ein Glücksfal sei und ich besser daran täte, ein oder zwei Fässer zu je zweihundert Litern zu besorgen und sie in der Mission zu deponieren, denn er könne mir nicht immer sein Benzin verkaufen. Ich bin froh über das Angebot, das sogar beinhaltet, meinen Landrover bei der Mission abstellen zu dürfen, weil sie auch nachts bewacht wird. Lketinga ist nur schwer zu überzeugen, den Wagen dort zu parken, denn er traut nicht einmal den Missionaren.

Die folgenden Tage verlaufen friedlich, außer daß täglich neue Menschen aufkreuzen, die fragen, wann wir nach Maralal fahren. Alle wol en mit. Endlich besitzt ein Samburu ein Fahrzeug, und alle betrachten es als ihr gemeinsames. Immer wieder muß ich erklären, daß ich nicht bereit bin, bei diesen Straßenverhältnissen zwanzig Leute in den Wagen zu setzen.

Die Fahrt geht los, selbstverständlich mit dem Mini-Chief, der bestimmen möchte, wer mitfahren darf. Natürlich nur Männer, die wartenden Frauen sol en zurückbleiben. Als ich eine darunter erblicke, die ein Kind mit stark vereiterten und verklebten Augen in ihrem Kanga hängen hat, frage ich, weshalb sie nach Maralal wil. Ins Hospital, weil hier keine Augenmedizin mehr erhältlich ist, antwortet sie, scheu auf den Boden blickend. So fordere ich sie auf einzusteigen.

Als der Chief sich auf den Beifahrersitz setzen will, nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und sage: „No, this place is for Lketinga.“

Dabei schaue ich ihm direkt in die Augen. Er gehorcht, doch ich weiß, daß ich von nun an bei ihm keine Sympathien mehr habe. Die Fahrt verläuft gut, und im Wagen wird viel geredet und gesungen. Für die meisten ist es die erste Autofahrt ihres Lebens.

Dreimal passieren wir einen Fluß, wobei ich den Vierrad benötige, sonst geht es ohne ihn. Trotzdem muß ich mich intensiv auf die Straße konzentrieren, da sie voller Löcher und Fahrrinnen ist. Der Weg erscheint mir unendlich lang, und das Benzin schwindet schnel.

Im Laufe des Nachmittags erreichen wir Maralal. Die Mitfahrer verlassen uns, und wir begeben uns gleich zur Tankstelle. Zu meiner großen Enttäuschung gibt es immer noch kein Benzin. Seit meinem Autokauf ist ganz Maralal offensichtlich ohne Benzin gewesen. Der Somali beteuert, heute oder morgen käme es. Ich glaube ihm kein Wort mehr. Lketinga und ich beziehen unser Lodging und verbringen dort die erste Nacht.

Inzwischen hat es in Maralal geregnet. Alles ist grün, fast als wären wir in einem anderen Land. Nachts ist es dafür um so kälter. Zum ersten Mal mache ich die Erfahrung, wie furchtbar Moskitos sein können. Schon beim Abendessen, das wir in unserem kalten Raum einnehmen, damit wir ja nicht beobachtet werden, stechen mich die Mücken am laufenden Band. Knöchel und Hände sind in kurzer Zeit angeschwol en. Ununterbrochen schlage ich Mücken tot, während unter dem Dach neue hereinschwirren. Komischerweise scheinen sie weiße Haut zu bevorzugen, denn mein Massai kriegt nicht mal die Hälfte der Stiche ab. Als wir im Bett liegen, surrt es dauernd um meinen Kopf. Lketinga zieht die Decke komplett übers Gesicht und merkt deshalb natürlich nichts.

Nach einiger Zeit schalte ich genervt das Licht an und wecke ihn. „I can't sleep with these mosquitoes“,

sage ich verzweifelt. Er steht auf und geht. Nach zehn Minuten kommt er zurück und stellt ein grünes, schneckenförmig geschwungenes Ding auf den Boden, eine Moskitokeule, die er an einem Ende anzündet. Tatsächlich verschwinden die Viecher nach kurzer Zeit, dafür stinkt es gräßlich. Irgendwann schlafe ich ein und erwache erst morgens um fünf, als mich erneut die Moskitos plagen. Die Keule ist völlig heruntergebrannt, sie reicht offensichtlich nur für sechs Stunden.

Wir warten schon vier Tage, und immer noch gibt es kein Benzin. Vor Langeweile kaut Lketinga wieder Miraa. Dazu kippt er heimlich zwei bis drei Bier. Mir paßt das nicht, doch was sol ich sagen, die Warterei nervt auch mich. In der Zwischenzeit haben wir das Office aufgesucht, um unsere Heiratsabsichten bekanntzugeben. Wir werden von einem zum anderen geschickt, bis jemand gefunden wird, der sich mit standesamtlichem Heiraten auskennt. Hier kommt so etwas ganz selten vor, da die meisten Samburus mehrere Frauen haben können, wenn sie traditionel heiraten.

Geld für das Standesamt haben sie nicht, und niemand legt Wert darauf, weil die Mehrfrauen-Heirat dann nicht mehr möglich ist. Diese Erläuterung bringt uns durcheinander, Lketinga jedoch aus einem anderen Grund als mich, wie ich bald feststellen muß.

Im Moment aber kommen wir nicht dazu, viel nachzudenken. Als nämlich der Officer seine Identitätskarte und meinen Paß verlangt, um die Daten zu notieren, stel t sich heraus, daß Lketinga keine mehr hat. Sie ist ihm in Mombasa gestohlen worden. Der Officer macht ein betretenes Gesicht und meint, dann müsse er eine in Nairobi bestel en, was aber sicher zwei Monate dauern würde. Erst wenn er al e Daten habe, könne er uns ausschreiben und nach sechs Wochen trauen, falls kein Einspruch vorliegt. Das heißt für mich, daß ich spätestens in drei Wochen Kenia verlassen muß, da mein verlängertes Visum abläuft.

Während Lketinga wieder sein Kraut ißt, spreche ich ihn auf die Mehrfrauen-Ehe an. Er bestätigt mir, daß es ein Problem für ihn bedeute, wenn das nach unserer Hochzeit nicht mehr möglich sei. Diese Äußerung trifft mich hart, und ich versuche ruhig zu bleiben, da es für ihn ja normal und nichts Böses oder Falsches ist, aus meiner europäischen Sicht aber undenkbar. Ich versuche mir vorzustel en, wie er mit mir und noch ein oder zwei Frauen lebt. Bei diesem Gedanken schnürt es mir vor Eifersucht fast die Luft ab.

Während ich nachsinne, sagt er mir, daß es für ihn nicht möglich sei, mich in diesem Office zu heiraten, wenn ich ihm später nicht erlauben würde, noch eine Samburu-Frau traditionell zu heiraten. Das ist mir nun doch zuviel, und ich kann meine Tränen nicht zurückhalten. Erschrocken schaut er mich an und fragt: „Corinne, what's the problem?“

Ich versuche, ihm zu erklären, daß wir Weißen so etwas nicht kennen und ich mir das Zusammenleben so nicht vorstellen kann. Er lacht, nimmt mich in den Arm und küßt mich kurz auf den Mund. „No problem, Corinne. Now you wil get my first wife, pole, pole.“

Er wil viele Kinder, mindestens acht. Ich muß nun doch schmunzeln und erkläre, mehr als zwei wolle ich nicht. Eben, meint mein Krieger, dann sei es besser, wenn noch eine zweite Frau Kinder bekäme. Und überhaupt wisse er ja nicht, ob ich ihm Kinder schenken könne, und ohne Kinder sei ein Mann nichts wert. Dieses Argument akzeptiere ich, weil ich wirklich nicht weiß, ob ich Kinder kriegen kann. Vor Kenia hatte das keine Bedeutung für mich. Wir besprechen dies und jenes, bis ich zu folgendem bereit bin: Fal s ich in zwei Jahren noch kein Kind habe, darf er nochmals heiraten, anderenfalls muß er mindestens fünf Jahre warten. Er ist mit meinem Vorschlag einverstanden, und ich beruhige mich selbst, indem ich mir sage, fünf Jahre sind eine lange Zeit.

Wir verlassen den Schlafraum und spazieren durch Maralal in der Hoffnung, daß inzwischen der Benzinnachschub eingetroffen ist. Aber es gibt nach wie vor keines.

Dafür treffen wir auf meinen ewigen Retter Tom und seine junge Frau. Sie ist noch fast ein Kind und blickt scheu auf den Boden. Glücklich ist dieses Mädchen nicht. Wir erwähnen, daß wir schon vier Tage auf Benzin warten. Unser Freund fragt, warum wir nicht an den Lake Baringo führen, das sei nur etwa zwei Stunden von hier entfernt, und dort gäbe es immer Benzin.

Von diesem Vorschlag bin ich begeistert, da mir die Rumhängerei zuwider ist. Ich schlage ihm vor, mit seiner Frau mitzukommen, da ich ihm ja noch eine Safari schuldig bin. Er bespricht sich kurz mit ihr, doch das Mädchen fürchtet sich vor dem Auto. Lketinga lacht und kann sie schließlich überzeugen. Wir nehmen uns vor, gleich am Morgen loszufahren.

Nun suchen wir die hiesige Garage auf, deren Besitzer ebenfalls ein Somali ist. Bei ihm kann ich zwei leere Fässer kaufen, die gut hinten im Landrover Platz finden. Als wir sie mit Seilen befestigt haben, fühle ich mich für zukünftige Fahrten bestens gerüstet, und wir sind glücklich, daß es endlich losgeht. Nur das Mädchen ist noch kleiner und schweigsamer geworden. Ängstlich hält sie sich an den Fässern fest.

Endlos fahren wir auf der staubigen, holprigen Straße dahin, ohne jeglichen Gegenverkehr. Ab und zu sehen wir Zebraherden oder Giraffen, aber weit und breit ist kein Hinweisschild oder menschliches Leben zu sichten. Plötzlich kippt der Landrover vorne ab, und das Steuern wird schwierig, wir haben einen Platten. Vom Radwechsel verstehe ich nicht viel. Das ist mir in meiner zehnjährigen Fahrpraxis noch nie passiert. „No problem“,

meint Tom. Wir ziehen den Ersatzreifen, den Kreuzschlüssel und den uralten Wagenheber hervor. Tom kriecht unter den Landrover, um den Wagenheber richtig zu plazieren. Mit dem Kreuzschlüssel will er die Radmuttern lösen. Doch die Kanten des Werkzeugs sind abgeschliffen, so daß der Schlüssel an der Schraube keinen Halt findet. Deshalb versuchen wir, mit Sand, Hölzchen und Tüchern den Schlüssel zu fixieren. Bei drei Muttern klappt es, aber die anderen sitzen fest. Wir müssen aufgeben. Toms Frau beginnt zu weinen und rennt in die Steppe hinaus.

Tom beruhigt uns, wir sollten sie lassen, sie käme wieder, doch Lketinga holt sie zurück, da wir nun in einem anderen District, den Baringos, sind. Wir sind verschwitzt, dreckig und sehr durstig. Zwar haben wir genügend Benzin, aber nichts zum Trinken dabei, weil wir mit einer kurzen Fahrzeit gerechnet haben. So setzen wir uns in den Schatten und hoffen, daß bald ein Fahrzeug vorbeikommt, schließlich sieht die Straße befahrener aus als die nach Barsaloi.

Als nach Stunden nichts passiert und auch Lketinga nach einer Besichtigungstour zurückkommt, ohne den Baringo-See oder Hütten gefunden zu haben, beschließen wir, die Nacht im Landrover zu verbringen. Diese Nacht scheint unendlich lang. Wir schlafen kaum vor Hunger, Durst und Kälte. Am Morgen probieren es die Männer vergeblich noch einmal. Bis Mittag wollen wir noch warten, ob vielleicht doch Hilfe kommt. Meine Kehle ist ausgetrocknet, und die Lippen sind spröde. Das Mädchen weint schon wieder, und Tom verliert allmählich die Geduld.

Plötzlich lauscht Lketinga angestrengt und glaubt ein Fahrzeug zu hören. Es dauert noch Minuten, bevor auch ich Motorengeräusche wahrnehmen kann. Zu unserer großen Erleichterung sehen wir einen Safari-Bus. Der afrikanische Fahrer hält und läßt die Scheibe herunter. Die italienischen Touristen mustern uns neugierig.

Tom schildert dem Driver unser Problem, doch der bedauert, er dürfe keine Fremden aufnehmen. Er reicht uns seinen Kreuzschlüssel. Leider paßt er nicht, er ist zu klein.

Nun versuche ich, den Fahrer zu erweichen und biete sogar Geld an. Aber er kurbelt die Scheibe hoch und fährt einfach weiter. Die Italiener sagen die ganze Zeit nichts, mustern mich aber ziemlich distanziert. Anscheinend bin ich ihnen zu dreckig und die anderen zu wild. Wütend schreie ich dem davonfahrenden Bus die gräßlichsten Schimpfwörter hinterher. Ich schäme mich für die Weißen, weil sich nicht einer bemüht hat, den Fahrer zu überreden.

Tom ist überzeugt, daß wir wenigstens auf der richtigen Straße sind, und will gerade zu Fuß aufbrechen, als wir erneut Motorengeräusche vernehmen. Diesmal bin ich wild entschlossen, das Fahrzeug nicht ohne einen von uns weiterfahren zu lassen. Es ist ein ähnlicher Safari-Bus, ebenfal s mit Italienern besetzt.

Während Tom und Lketinga mit dem abweisenden Fahrer verhandeln und wieder nur Kopfschütteln ernten, reiße ich die hintere Bustüre auf und rufe verzweifelt hinein: „Do you speak English?“ „No, solo italiano“, tönt es zurück. Nur ein jüngerer Mann sagt: „Yes, just a little bit, what's your problem?“

Ich erkläre, daß wir schon seit gestern morgen hier stehen, ohne Wasser und Essen, und dringend Hilfe brauchen. Der Fahrer sagt: „It's not allowed“, und will die Türe schließen. Doch Gott sei Dank setzt sich der junge Italiener für uns ein und sagt, daß sie diesen Bus bezahlen und deshalb bestimmen können, ob jemand von uns mitfährt. Tom steigt vorne beim Fahrer ein, ob dieser wil oder nicht.

Erleichtert bedanke ich mich bei den Touristen. Wir müssen noch fast drei Stunden ausharren, bis wir in der Ferne eine Staubwolke sichten. Endlich kommt Tom in einem Landrover mit dessen Besitzer zurück. Zu unserem großen Glück bringt er Cola und Brot mit. Ich will mich gleich auf das Getränk stürzen, aber er mahnt mich, nur kleine Schlucke zu nehmen, sonst würde mir schlecht. Wie neu geboren schwöre ich mir, mit diesem Fahrzeug nie mehr ohne Trinkwasser loszufahren.


Tom kann die letzte Radmutter nur lösen, indem er sie mit Hammer und Meißel entzweischlägt. Dann geht der Radwechsel zügig vonstatten, und bald darauf fahren wir, mit einer Schraube weniger weiter. Nach gut eineinhalb Stunden erreichen wir endlich den Lake Baringo. Die Tankstelle befindet sich direkt neben einem pompösen Touristen-Gartenrestaurant. Nach den überstandenen Strapazen lade ich alle ins Restaurant ein. Das Mädchen staunt über diese neue Welt, fühlt sich aber nicht wohl. Wir setzen uns an einen schönen Tisch mit Blick auf den See, in dem sich Tausende rosa Flamingos tummeln. Als ich in die staunenden Gesichter meiner Begleiter sehe, bin ich doch stolz, ihnen außer Mühsal auch etwas Außergewöhnliches bieten zu können.

Zwei Kellner kommen an unseren Tisch, aber nicht etwa für die Bestel ung, sondern um uns mitzuteilen, daß wir hier nichts bekommen, weil dies nur für Touristen sei. Entsetzt antworte ich: „Ich bin Touristin und lade meine Freunde ein.“

Der schwarze Kellner beruhigt mich, ich könne bleiben, aber die Massai müßten das Gelände verlassen. Wir stehen auf und gehen. Fast körperlich spüre ich, wie gedemütigt sich diese sonst so stolzen Menschen fühlen.

Wenigstens bekommen wir Benzin. Als der Tankstellenbesitzer al erdings sieht, daß ich die zwei großen Fässer füllen wil, muß ich ihm zuerst mein Geld zeigen.

Lketinga hält den Schlauch in das Faß, und ich entferne mich einige Meter, um nach dem Ärger eine Zigarette zu rauchen. Plötzlich schreit er auf, und entsetzt sehe ich das Benzin wie aus einem Wasserschlauch in der Gegend herumspritzen. Schnell bin ich beim Wagen und hebe den weggeworfenen Hahn auf, um ihn abzustel en.

Der Riegel war eingehängt, und das Benzin floß weiter, als das Faß schon vol war.

Einige Liter sind auf den Platz und ein Teil ins Fahrzeug gelaufen. Als ich sehe, wie schlecht sich Lketinga fühlt, versuche ich mich zu beherrschen, während Tom mit seiner Frau abseits steht und vor Scham im Boden versinken möchte. Das zweite Faß dürfen wir nicht mehr füllen, wir müssen zahlen und verschwinden. Ich wäre am liebsten zu Hause in der Manyatta, und zwar ohne Auto. Bis jetzt hat es mir nur Ärger gebracht.

Im Dorf trinken wir schweigend Tee und brechen dann auf. Im Auto stinkt es fürchterlich nach Benzin, und es dauert nicht lange, bis sich das Mädchen übergeben muß. Dann wil sie nicht mehr in den Wagen steigen, sondern nach Hause laufen.

Tom wird wütend und droht ihr, sie in Mara-lal wieder zu ihren Eltern zu schicken und sich eine andere Frau zu nehmen. Das muß eine große Schande sein, denn sie steigt wieder ein. Lketinga hat noch nichts gesprochen. Er tut mir leid, und ich versuche ihn zu trösten. Es ist dunkel, als wir Maralal erreichen.

Die zwei verabschieden sich ziemlich schnel, und wir beziehen unser Lodging.

Obwohl es kühl ist, gehe ich noch unter die spärlich plätschernde Dusche, weil ich vor Dreck und Staub förmlich klebe. Auch Lketinga geht sich waschen. Dann verspeisen wir noch eine große Portion Fleisch im Zimmer. Diesmal schmeckt sogar mir das Fleisch ausgezeichnet, das wir mit Bier herunterspülen. Danach fühle ich mich richtig wohl, und wir verbringen eine schöne Liebesnacht, wobei ich zum ersten Mal mit ihm den Höhepunkt erreiche. Da dies nicht ganz geräuschlos abläuft, hält er mir erschrocken den Mund zu und fragt: „Corinne, what's the problem?“

Als ich wieder ruhiger atmen kann, versuche ich, ihm meinen Orgasmus zu erklären. Doch er versteht das nicht und lacht nur ungläubig. So etwas gibt es nur bei den Weißen, ist seine Erkenntnis. Glücklich und müde schlafe ich schließlich ein.

Am frühen Morgen kaufen wir richtig ein: Reis, Kartoffeln, Gemüse, Früchte, sogar Ananas. Auch das zweite Benzinfaß können wir auffül en, da es wie zum Hohn in Maralal wieder Benzin gibt. Voll beladen machen wir uns auf die Heimreise. Zwei Samburu-Männer nehmen wir auch noch mit.

Lketinga will den kürzeren Weg durch den Busch fahren. Ich habe meine Zweifel, doch in seiner Gegenwart schwinden sie schnell. Die Fahrt verläuft gut, bis wir an den schrägen Teil gelangen. Da die gefüllten Fässer das Schaukeln des Fahrzeugs verstärken, bitte ich die beiden Mitfahrenden, al es Eingekaufte und sich selber auf der Bergseite zu plazieren, denn ich habe Angst, der Wagen könnte kippen. Keiner spricht, als ich die zweihundert Meter in Angriff nehme. Wir schaffen es, und das Geschnatter im Auto geht weiter. Bei den Felsen müssen al e aussteigen, und Lketinga lotst mich gut über die großen Brocken. Als das ebenfalls gelungen ist, fühle ich mich erleichtert und stolz. Problemlos erreichen wir Barsaloi.

Alltagsleben

Die nächsten Tage können wir richtig genießen. Es ist genug Eßbares da und Benzin in Hülle und Fülle. Täglich besuchen wir Verwandte mit dem Auto oder gehen Feuerholz schlagen, das wir mit dem Wagen nach Hause bringen. Ab und zu fahren wir zum River, vol ziehen unser Waschritual und bringen für halb Barsaloi die Wasserkanister mit hoch, manchmal bis zu zwanzig Stück. Diese kleineren Ausflüge verbrauchen viel von unserem kostbaren Benzin, so daß ich Einspruch erhebe. Doch es entsteht jedesmal eine große Debatte.

Heute morgen, berichtet ein Moran, habe eine seiner Kühe gekalbt. Dieses Ereignis müssen wir besichtigen. Wir fahren nach Sitedi. Da dies keine offiziel e Straße ist, muß ich ständig aufpassen, daß wir nicht über Dornen fahren. Wir besuchen im Kral seinen Halbbruder. Hier sind die Kühe abends versammelt.

Deshalb stapfen wir durch Mengen von Kuhfladen, die Tausende von Fliegen anziehen. Lketingas Halbbruder zeigt uns das neugeborene Kalb. Die Mutterkuh bleibt am ersten Tag zu Hause. Lketinga strahlt, während ich mit den Fliegen kämpfe. Meine Plastiksandalen versinken im Kuhmist. Jetzt sehe ich den Unterschied zwischen unserem Kral ohne Kühe und diesem. Nein, hier wil ich nicht lange bleiben.

Wir werden zu Chai eingeladen, und Lketinga führt mich in die Hütte seines Halbbruders und dessen junger Frau, die ein zwei Wochen altes Baby hat. Sie scheint erfreut über unseren Besuch. Es wird viel geschwatzt, aber ich verstehe kein Wort. Die Scharen von Fliegen machen mich völlig fertig. Während des Teetrinkens halte ich ständig die Hand über den heißen Becher, damit ich wenigstens keine verschlucke. Das Baby hängt nackt in einem Kanga an der Mutter. Als ich mit der Hand auf den Kanga deute, da das Baby unbemerkt sein Geschäftchen erledigt, lacht die Frau, nimmt das Kind heraus und putzt es, indem sie auf den Po spuckt und ihn abreibt. Kanga und Rock werden ausgeschüttelt und mit Sand trocken gerieben.

Mich würgt es bei der Vorstellung, daß dies täglich mehrmals passiert und so das Säuberungsritual vor sich geht. Ich spreche Lketinga darauf an, doch er meint, das sei normal. Jedenfalls helfen die Fliegen mit, die Überreste verschwinden zu lassen.

Als ich nun endlich nach Hause will, teilt Lketinga mir mit: „Das geht nicht, heute schlafen wir hier!“ Er will bei der Kuh bleiben, und sein Halbbruder möchte für uns eine Ziege schlachten, da auch seine Frau dringend Fleisch benötige nach der Geburt. Der Gedanke, hier zu übernachten, läßt mich fast in Panik geraten.

Einerseits darf ich die Gastfreundschaft nicht verletzen, andererseits fühle ich mich hier wirklich verloren.


Lketinga ist die meiste Zeit mit anderen Kriegern bei den Kühen, und ich sitze währenddessen mit drei Frauen in der dunklen Hütte und kann kein Wort sprechen.

Sie reden ganz offensichtlich über mich oder kichern komisch. Eine prüft meine weiße Haut am Arm, die andere greift mir in die Haare. Die langen, hellen Haare verunsichern sie sehr. Alle haben rasierte Schädel, dafür sind sie geschmückt mit farbigen Perlenstirnbändern und langen Ohrringen.

Die Frau stil t wieder ihr Baby und hält es mir kurz darauf entgegen. Ich nehme es in den Arm, kann mich aber nicht recht erwärmen, da ich befürchte, daß es mir bald ähnlich ergehen wird wie vorher der Mama. Es ist mir schon klar, daß es hier keine Windeln gibt, doch kann ich mich im Moment noch nicht daran gewöhnen. Nachdem ich es eine Weile bestaunt habe, reiche ich es erleichtert zurück.

Lketinga schaut in die Hütte. Ich frage ihn, wo er so lange war. Lachend erklärt er mir, er trinke mit den Kriegern Milch. Nachher wol en sie die Ziege töten und uns gute Stücke bringen. Er muß wieder im Busch essen. Ich will mitkommen, doch diesmal geht es nicht. Der Kral ist riesig, und es sind zu viele Frauen und Krieger hier. Also warten wir ungefähr zwei Stunden, bis unser Fleischanteil gebracht wird.

Mittlerweile ist es dunkel, und die Frau kocht unser Fleisch. Wir sind drei Frauen und vier Kinder, die sich eine halbe Ziege teilen. Die andere Hälfte hat Lketinga mit seinem Halbbruder verzehrt. Als ich satt bin, krieche ich aus der Hütte und geselle mich zu meinem Massai und den anderen Kriegern, die abseits bei den Kühen hocken. Ich frage Lketinga, wann er schlafen kommt. Er lacht: „O no, Corinne, here I cannot sleep in this house together with ladies, I sleep here with friends and the cows.“

Mir bleibt nichts anderes übrig, als zurück zu den fremden Frauen zu kriechen. Es ist die erste Nacht ohne Lketinga, und seine Wärme fehlt mir sehr. An meinem Kopfende in der Hütte sind drei kleine neugeborene Ziegen befestigt, die immer wieder meckern. In dieser Nacht schlafe ich nicht. Am frühen Morgen ist das Treiben viel größer als bei uns in Barsaloi. Hier müssen nicht nur die Ziegen gemolken werden, sondern auch die Kühe. Überal meckert und muht es ungeduldig. Das Melken besorgen die Frauen oder Mädchen. Nach dem Chai brechen wir endlich auf.

Mich überkommt geradezu ein Hochgefühl, wenn ich an unsere saubere Manyatta mit dem vielen Essen und an den River denke. Unser Landrover ist voll besetzt mit Frauen, die ihre Milch in Barsaloi verkaufen wollen. Sie sind froh, daß sie heute nicht den weiten Weg laufen müssen. Es dauert nicht lange, bis Lketinga drängt, er wolle auch mal steuern. Mit allen Mitteln versuche ich ihn davon abzubringen. Bald finde ich keine überzeugenden Worte mehr, da die Frauen Lketinga anscheinend anstacheln. Er greift mir ständig ins Steuer, bis ich entnervt anhalte. Stolz steigt er auf den Fahrersitz, und al e Frauen klatschen. Mir ist elend zumute, und verzweifelt versuche ich, ihm wenigstens noch Gas und Bremse zu erklären. Er wehrt ab: „I know, I know“,

rumpelt los und strahlt vor Glück. Ich kann dieses Glück nur für Sekunden teilen, denn schon nach etwa hundert Metern rufe ich: „Slowly, slowly!“

Lketinga jedoch wird schnel er statt langsamer und steuert geradewegs auf einen Baum zu. Er scheint alles zu verwechseln. Ich schreie: „Langsam, mehr links!“ In meiner Panik reiße ich kurz vor dem Baum das Steuer nach links. So entkommen wir zwar einer Frontalkol ision, aber der Wagen hängt mit dem Kotflügel am Baum, der Motor stirbt ab.

Jetzt kann ich mich nicht mehr beherrschen. Ich steige aus, schaue mir den Schaden an und schlage auf das verdammte Fahrzeug ein. Die Frauen kreischen, aber nicht wegen des Unfalls, sondern weil ich einen Mann anschreie. Lketinga steht neben mir und ist völlig fertig. Das wollte er nicht. Verstört packt er seine Speere und wil zu Fuß nach Hause. Nie mehr will er in dieses Auto steigen. Als ich ihn so sehe, nachdem er zwei Minuten zuvor noch so lustig war, tut er mir leid. Ich fahre den Landrover rückwärts, und da al es noch funktioniert, bringe ich Lketinga soweit, daß er wieder einsteigt. Der Rest der Fahrt verläuft schweigend, und ich male mir schon jetzt die Blamage in Maralal aus, wenn die Mzungu mit dem verbeulten Fahrzeug ankommt.

In Barsaloi wartet die Mama schon freudig auf uns. Sogar Saguna begrüßt mich fröhlich. Lketinga legt sich in unsere Hütte. Ihm ist schlecht, und er macht sich Gedanken wegen der Polizei, da er ja nicht fahren darf. Er ist in einem so schlimmen Zustand, daß ich Angst habe, er könnte wieder verrückt werden. Ich beruhige ihn und verspreche, niemandem etwas zu sagen. Es sei mir passiert, und wir würden es in Maralal reparieren.

Ich wil an den River, um mich zu waschen. Lketinga kommt nicht mit, er will die Hütte nicht verlassen. So gehe ich al ein, obwohl die Mama schimpft. Sie hat Angst, mich ohne Begleitung zum River zu lassen. Sie selbst ist schon jahrelang nicht mehr dort gewesen. Trotzdem mache ich mich auf den Weg und nehme den Wasserkanister mit. An unserer üblichen Stelle wasche ich mich. Doch allein fühle ich mich nicht so wohl und wage nicht, mich ganz auszuziehen. Ich beeile mich. Als ich zurück bin und in die Hütte krieche, fragt er mich neugierig, was ich so lange am River gemacht und wen ich getroffen hätte. Überrascht antworte ich, daß ich die Leute gar nicht kenne und mich sehr beeilt habe. Er erwidert nichts.

Mit ihm und der Mama bespreche ich meine Heimreise, da mein Visum bald abläuft und ich in zwei Wochen Kenia verlassen muß. Die beiden sind nicht gerade glücklich. Lketinga fragt ängstlich, was denn passiert, falls ich nicht wiederkomme, wo wir doch bereits auf dem Office unsere Heiratsabsichten bekannt gegeben haben.

„I come back, no problem!“

antworte ich. Weil ich kein gültiges Ticket habe und keinen reservierten Flug, plane ich, in einer Woche loszufahren. Die Tage verfliegen. Abgesehen von unseren täglichen Waschzeremonien bleiben wir zu Hause und besprechen unsere Zukunft.

Am vorletzten Tag liegen wir faul in der Hütte, als draußen lautes Frauengeschrei zu hören ist. „What's that?“

frage ich erstaunt. Lketinga lauscht angespannt nach draußen. Sein Gesicht verfinstert sich. „What's the problem?“

frage ich nochmals und spüre, daß etwas nicht in Ordnung ist. Kurz darauf kommt Mama aufgebracht in die Hütte. Sie schaut Lketinga verärgert an, während sie zwei oder drei Sätze mit ihm wechselt. Er geht nach draußen, und ich höre eine laute Auseinandersetzung. Ich will ebenfalls hinauskriechen, doch Mama hält mich kopfschüttelnd zurück. Während ich mich wieder hinsetze, klopft mein Herz wie verrückt. Es muß etwas Schlimmes sein. Endlich kommt Lketinga zurück und setzt sich noch ganz aufgewühlt neben mich. Draußen wird es ruhiger. Nun will ich wissen, was passiert ist. Nach längerem Schweigen erfahre ich, daß die Mutter seiner langjährigen Freundin mit zwei Begleiterinnen vor der Hütte steht.

Mir wird elend vor Angst. Daß eine Freundin existiert, höre ich zum ersten Mal. In zwei Tagen reise ich ab, ich will Klarheit, und zwar jetzt: „Lketinga, you have a girlfriend, maybe you must marry this girl?“

Lketinga lacht gequält und sagt: „Yes, many years I have a little girlfriend, but I cannot marry this girl!“


Ich verstehe nichts. „Why?“ Nun erfahre ich, daß fast jeder Krieger eine Freundin hat. Er schmückt sie mit Perlen und ist bedacht, ihr im Laufe der Jahre viel Schmuck zu kaufen, damit sie möglichst schön aussieht, wenn sie heiratet. Doch heiraten darf ein Krieger seine Freundin niemals. Sie dürfen freie Liebe machen bis einen Tag vor ihrer Hochzeit, dann wird sie von den Eltern an einen anderen verkauft. Das Mädchen erfährt erst an ihrem Hochzeitstag, wer ihr Ehemann sein sol.

Erschüttert über das soeben Erfahrene, sage ich, daß das sehr schlimm sein muß.

„Why?“ fragt mich Lketinga. „This is normal for everybody!“

Er erzählt mir, das Mädchen habe sich den ganzen Schmuck vom Hals gerissen, als es erfuhr, daß ich bei ihm lebe, noch bevor sie geheiratet wurde. Es sei schlimm für sie. Langsam steigt in mir die Eifersucht hoch, und ich frage ihn, wann er sie zuletzt besucht habe und wo sie überhaupt wohne. Weit weg von hier in Richtung Baragoi, und seit ich hier bin, habe er sie nicht mehr gesehen, ist seine Antwort. Ich überlege hin und her und schlage ihm vor, wenn ich weg bin, zu ihr zu gehen, um alles zu klären. Falls nötig soll er ihr Schmuck kaufen, doch wenn ich zurück bin, sollte diese Angelegenheit erledigt sein. Er antwortet nicht, und so weiß ich auch am Tag meines Aufbruchs nicht, was er tun wird. Doch ich vertraue ihm und unserer Liebe.

Ich verabschiede mich von der Mama und von Saguna, die mich offensichtlich ins Herz geschlossen haben. „Hakuna, matata, keine Probleme“, lache ich ihnen entgegen, und dann fahren wir mit unserem Landrover nach Maralal, weil ich ihn in der Garage zwischenzeitlich reparieren lassen möchte. Lketinga will zu Fuß zurückgehen. Im Busch treffen wir auf eine kleine Gruppe von Büffeln, die aber sofort das Weite suchen, als sie den Motor hören. Trotzdem nimmt Lketinga sofort seine Speere zur Hand und gibt ein grunzendes Geräusch von sich. Lachend schaue ich ihn an, und er beruhigt sich wieder.

Wir parken gleich in der Garage, damit nicht noch mehr Leute auf den verbeulten Kotflügel aufmerksam werden. Der Chef-Somali kommt und schaut sich den Schaden an.

Etwa sechshundert Franken würde es schon kosten, sagt er. Ich bin bestürzt, daß dieser Schaden ein Viertel des Kaufpreises kosten soll. Hartnäckig verhandle ich, und schließlich bleibt es bei dreihundertfünfzig Franken, was immer noch viel zu hoch ist. Die Nacht verbringen wir in unserem Stamm-Lodging. Geschlafen wird nicht viel, zum einen wegen meiner Abreise, zum anderen wegen der vielen Moskitos. Der Abschied ist schwer, und Lketinga steht etwas verloren neben dem abfahrenden Bus. Ich vermumme mein Gesicht, um nicht völ ig verstaubt in Nairobi anzukommen.

Fremde Schweiz

Im Rucksack-Hotel Igbol finde ich ein Zimmer und esse mich erst einmal richtig satt. Ich checke jede Fluggesel schaft durch, bis ich endlich bei Allitalia einen Flug bekomme. Nach mehreren Monaten telefoniere ich wieder nach Hause. Die Aufregung ist groß, als ich meiner Mutter mitteile, daß ich für kurze Zeit nach Hause komme. Die bis zum Abflug verbleibenden zwei Tage in Nairobi empfinde ich als Plage. Kreuz und quer streune ich durch die Straßen, um die Zeit totzuschlagen. An jeder Ecke stehen Krüppel und Bettler, denen ich mein Kleingeld gebe. Abends im Igbol unterhalte ich mich mit Weltenbummlern oder halte mir mühsam Inder und Afrikaner vom Leib, die mir ihre Dienste als Boyfriend offerieren.


Endlich sitze ich im Taxi zum Flughafen. Als das Flugzeug abhebt, kann ich mich nicht so recht freuen auf „zu Hause“, weil ich weiß, wie verzweifelt Lketinga und der Rest der Familie auf meine Rückkehr warten.

In Meiringen im Berner Oberland, wo meine Mutter mit ihrem Mann lebt, fühle ich mich nach der ersten Wiedersehensfreude nicht wohl. Alles läuft wieder nach europäischem Zeitplan. In den Lebensmittelgeschäften wird es mir bei all dem Überfluß fast schlecht, und auch die Kühlschrankkost bekommt mir nicht mehr.

Ständig habe ich Magenbeschwerden.

Bei der Gemeinde besorge ich mir eine Bescheinigung auf Deutsch und Englisch, daß ich noch ledig bin. Wenigstens sind nun meine Papiere in Ordnung. Meine Mutter kauft für „meinen Krieger“ als Hochzeitsgeschenk eine wunderschöne Kuhglocke. Auch ich besorge einige kleinere Glöckchen für meine Ziegen. Immerhin besitze ich schon vier eigene. Für Mama und Saguna nähe ich je zwei neue Röcke und erwerbe für Lketinga und mich zwei wunderschöne Wolldecken, eine knallrote für ihn, eine gestreifte für uns beide zum Zudecken.

Das Packen gestaltet sich nicht einfach. Ganz unten in der Reisetasche verstaue ich mein langes, weißes Hochzeitskleid, das ich zum Abschluß meiner Geschäftstätigkeit von einem Lieferanten geschenkt bekam. Damals versprach ich ihm, fal s ich jemals heiraten sollte, es zu tragen, also muß es unbedingt mit, samt dem dazugehörigen Kopfschmuck. Auf das Brautkleid packe ich Puddingbeutel, Saucen und Suppen. Darauf lege ich die Geschenke. Die Zwischenräume fül e ich mit Arzneimitteln, Pflaster, Verband, Wundsalben und Vitamintabletten. Obenauf kommen die Decken. Beide Taschen sind gestopft vol.

Die Abreise rückt näher. Meine gesamte Familie bespricht eine Kassette für Lketinga zu unserer Hochzeit. Deshalb muß auch noch ein kleines Radio-Kassettengerät in die Reisetasche. Mit zweiunddreißig Kilo Gepäck stehe ich am Flughafen Kloten zum Abflug bereit. Ich freue mich riesig auf die Heimreise. Ja, wenn ich in mein Innerstes horche, weiß ich jetzt, wo mein wirkliches Zuhause ist. Natürlich fäl t mir der Abschied von meiner Mutter schwer, doch mein Herz gehört bereits Afrika. Ich weiß nicht, wann ich wiederkomme.

Heimat Afrika

In Nairobi fahre ich mit einem Taxi zum Igbol-Hotel. Der Fahrer bemerkt den Massai-Schmuck an meinen Armen und fragt, ob ich die Massai gut kenne. „Yes, I go to marry a Samburu-man“,

ist meine Antwort. Der Driver schüttelt den Kopf und versteht anscheinend nicht, warum eine Weiße ausgerechnet einen Mann aus der, wie er es nennt, primitiven Volksgruppe heiraten will. Ich verzichte auf ein weiteres Gespräch und bin froh, endlich im Igbol angekommen zu sein. Doch heute habe ich kein Glück. Alle Zimmer sind besetzt. Ich suche nach einem anderen, günstigen Lodging und finde zwei Straßen weiter eine Möglichkeit.

Das Schleppen meiner Tasche bereitet mir trotz der kurzen Strecke enorme Mühe.

Dann muß ich noch drei Stockwerke hoch, bis ich in meinem Verschlag bin. Es ist bei weitem nicht so gemütlich wie im Igbol, und ich bin hier die einzige Weiße. Das Bett hängt durch, und unter dem Bettgestell liegen zwei gebrauchte Kondome.

Wenigstens sind die Bettlaken sauber. Ich gehe noch schnel ins Igbol, weil ich nach Maralal in die Mission telefonieren möchte. Von dort könnten sie morgen beim üblichen Radio-Funk in der Barsaloi-Mission melden, daß ich in zwei Tagen in Maralal eintreffe. Somit wüßte auch Lketinga von meiner Ankunft. Diese Idee kam mir im Flugzeug, und ich wil es ausprobieren, obwohl ich die Maralal-Missionare nicht kenne. Ob es gelingt, weiß ich nach dem Gespräch nicht. Mein Englisch ist besser geworden, doch gab es während des Gesprächs mehrere Mißverständnisse, denn der gute Missionar begriff meine Botschaft nur zögernd.

In der Nacht schlafe ich schlecht. Anscheinend bin ich in einem Stundenhotel der Einheimischen gelandet, denn links und rechts in den Räumen wird gequietscht, gestöhnt oder gelacht. Türen schlagen auf und zu. Aber auch diese Nacht geht vorüber.

Die Busfahrt nach Nyahururu verläuft ohne Hindernisse. Ich schaue aus dem Fenster und erfreue mich an der Landschaft. Mein Zuhause rückt immer näher. In Nyahururu regnet es, und es ist kalt. Ich muß noch einmal übernachten, bevor ich am nächsten Morgen den vergammelten Bus nach Maralal nehmen kann. Die Abfahrt verzögert sich um anderthalb Stunden, weil das Gepäck auf dem Busdach mit Plastikplanen zugedeckt werden muß. Auch meine große, schwarze Reisetasche befindet sich dort oben. Die kleinere behalte ich bei mir.

Nach der kurzen Asphaltstraße biegen wir in die Naturstraße ein. Aus rotem Staub ist rotbrauner Schlamm geworden. Der Bus fährt noch langsamer als sonst, um ja nicht in die großen Löcher zu geraten, die jetzt mit Wasser gefüllt sind. Er schlängelt sich vorwärts, steht manchmal fast quer und spult sich wieder auf die Fahrbahn. Wir werden die doppelte Fahrzeit benötigen. Die Straße wird immer schlimmer. Ab und zu steckt ein Fahrzeug im Schlamm fest, und verschiedene Menschen versuchen es wieder flott zu kriegen. Zum Teil liegt die Fahrspur dreißig Zentimeter tiefer als der Schlamm daneben. Durch die Fenster sieht man kaum etwas, so verspritzt sind sie.

Nach etwa der Hälfte der Strecke gerät der Bus ins Wanken und dreht mit dem Hinterteil so ab, daß er quer steht. Die hinteren Räder stecken im Straßengraben.

Nichts geht mehr, die Räder drehen durch. Zuerst müssen alle Männer raus. Der Bus rutscht zwei Meter zur Seite und steckt wieder fest. Nun müssen al e aussteigen.

Kaum habe ich den Bus verlassen, stecke ich bis zu den Knöcheln im Schlamm. Wir stehen auf einer erhöhten Wiese und beobachten die vergeblichen Bemühungen.

Viele, auch ich, schlagen Äste von den Büschen, die dann unter die Räder geschoben werden. Aber es nützt al es nichts. Der Bus steht immer noch quer.

Einige packen ihre Habseligkeiten und gehen zu Fuß weiter. Ich frage den Fahrer, was jetzt passiert. Er zuckt mit den Schultern und meint, wir müßten bis morgen warten. Viel eicht höre es auf zu regnen, dann trockne die Straße schnel.

Verzweifelt stecke ich wieder einmal mitten im Busch fest ohne Wasser und Eßwaren, nur mit Puddingpulver, das mir nichts nützt. Es wird schnell kalt, und ich friere in meinen nassen Sachen. Ich begebe mich wieder zu meinem Sitz.

Wenigstens habe ich eine warme Wol decke bei mir. Falls Lketinga die Nachricht überhaupt bekommen hat, wartet er jetzt vergebens in Maralal. Vereinzelt packen die Leute Eßbares aus. Jeder, der etwas hat, teilt es mit seinen Nachbarn. Auch mir werden Brot und Früchte angeboten. Ich nehme dankend, aber beschämt an, denn ich habe nichts anzubieten, obwohl ich am meisten Gepäck dabei habe. Alle richten sich im Sitzen zum Schlafen ein, so gut es geht. Die wenigen freien Plätze gehören den Frauen mit Kindern. In der Nacht kommt nur noch ein Landrover vorbei, der jedoch nicht hält.

Um etwa vier Uhr morgens ist es so kalt, daß der Chauffeur für fast eine Stunde den Motor laufen läßt, um zu heizen. Die Zeit schleicht dahin. Langsam färbt sich der Himmel rötlich, und die Sonne zeigt sich zögernd. Es ist kurz nach sechs. Die ersten verlassen den Bus, um ihre Notdurft hinter den Büschen zu verrichten. Auch ich steige aus und strecke meine steifen Glieder. Vor dem Bus ist es genauso schlammig wie tags zuvor. Wir müssen warten, bis die Sonne richtig scheint, dann wollen wir es noch mal probieren. Von zehn Uhr bis mittags wird geschoben und versucht, den Bus aus dem Graben zu fahren. Doch weiter als dreißig Meter kommt er nicht. Eine weitere Nacht hier draußen wäre schrecklich.

Plötzlich sehe ich einen weißen Landrover, der sich durch den Morast schlängelt und teils neben der Straße fährt. In meiner Verzweiflung renne ich auf den Wagen zu und stoppe ihn. In ihm sitzt ein älteres, englisches Paar. Ich erkläre kurz meine Situation und flehe die Leute an, mich mitzunehmen. Die Frau willigt sofort ein.

Freudig springe ich zum Bus und lasse mir meine Tasche herunterholen. Im Landrover hört sich die Lady entsetzt meine Geschichte an. Mitleidig hält sie mir ein Sandwich hin, das ich gierig verzehre.

Wir sind noch keinen Kilometer gefahren, als uns ein grauer Landrover entgegenkommt. Jetzt gilt es, höllisch aufzupassen, daß keiner der Wagen ins Schlängeln kommt, da die Straße sehr schmal ist. Wir fahren langsam, und der andere Wagen kommt schnel näher. Als er noch zwanzig Meter von uns entfernt ist, glaube ich, eine Fata Morgana zu sehen. „Stop, please, stop your car, this is my boyfriend!“

Am Steuer des Wagens sitzt Lketinga und fährt auf dieser Horrorstraße.

Wie verrückt winke ich aus dem Fenster, um auf mich aufmerksam zu machen, da Lketinga nur starr auf die Straße blickt. Ich weiß nicht, was größer ist: Meine riesige Freude und der Stolz auf ihn oder die Angst, wie er den Wagen zum Stehen bringen wird. Jetzt erkennt er mich und lacht uns stolz durch die Scheiben an. Nach etwa zwanzig Metern steht der Wagen. Ich stürze hinaus und renne zu Lketinga. Unser Wiedersehen ist phantastisch. Er hat sich besonders schön bemalt und geschmückt.

Ich kann meine Freudentränen kaum zurückhalten. Er hat zwei Begleiter bei sich und gibt mir freiwillig die Schlüssel, jetzt solle lieber ich zurückfahren. Wir holen mein Gepäck und laden um. Ich bedanke mich bei meinen Gastgebern, und der Engländer meint, jetzt verstehe er, bei so einem schönen Mann, warum ich hier sei.

Während der Rückfahrt erzählt Lketinga, daß er auf den Bus gewartet habe. Er hatte die Nachricht von Pater Giuliano erhalten und war sofort nach Maralal marschiert. Erst gegen zweiundzwanzig Uhr erfuhr er, daß der Bus steckengeblieben war und eine Weiße dabei sei. Als am Morgen der Bus wieder nicht kam, war er in die Garage gegangen, hatte unser repariertes Auto geholt und war einfach losgefahren, um seine Frau zu retten. Ich kann es nicht fassen, wie er das geschafft hat. Die Straße ist zwar ziemlich gerade, aber ganz und gar schlammig. Er fuhr alles im zweiten Gang und mußte ab und zu den abgestorbenen Motor wieder anlassen, aber sonst „hakuna matata, no problem“.

Wir erreichen Maralal und beziehen unser Lodging. Alle drei sitzen auf dem einen Bett und ich ihnen gegenüber. Lketinga wil natürlich wissen, was ich mitgebracht habe, und auch die Krieger schauen erwartungsvol. Ich öffne die Taschen und hole zuerst die Decken heraus. Beim Anblick der weichen, knallroten Decke strahlt Lketinga, ich habe es vol getroffen. Die gestreifte wil er gleich seinem Freund geben, doch da protestiere ich, weil ich sie selber in der Manyatta haben möchte, die kenianischen kratzen. Ich habe Lketinga ja noch drei Kanga-Tücher genäht, und die kann er meinetwegen verschenken, weil die anderen so große Augen machen. Beim Radio-Kassettengerät mit den Stimmen meiner Familie ist Lketinga wirklich platt, vor allem als er Eric und Jel y wiedererkennt. Seine Freude ist grenzenlos, und ich freue mich mit, weil ich so viel Staunen und ehrliche Freude über normale europäische Dinge bisher nicht erlebt habe. Mein Darling wühlt in der Reisetasche, um zu schauen, was noch alles kommt. Als er die Kuhglocke, das Hochzeitsgeschenk meiner Mutter, entdeckt, ist er begeistert. Nun werden auch die zwei anderen munter, und jeder schüttelt an der Glocke, die hier, so scheint es mir, viel lauter und schöner klingt. Die beiden wollen auch so eine, doch ich habe nur diese, und so gebe ich ihnen zwei kleine Ziegenglöckchen, über die sie sich auch freuen. Als ich erkläre, das sei alles, räumt mein Darling trotzdem weiter aus und staunt über meine Puddingbeutel und die Medikamente.

Jetzt endlich versuchen wir, einander zu erzählen. Zu Hause sei alles gut, da der Regen gekommen sei, doch gebe es viele Moskitos. Saguna, Mamas Mädchen, sei krank und esse nichts mehr, seit ich weg bin. Ach, ich freue mich so, morgen nach Hause zu fahren.

Erstmal gehen wir al e zum Essen, natürlich wieder zähes Fleisch, Brotfladen sowie eine Art Blattspinat, und nach kurzer Zeit liegen Knochen auf dem Boden verstreut. Die Welt sieht wieder ganz anders aus als noch vor drei Tagen, hier fühle ich mich wohl. Spät abends gehen die zwei, und wir sind endlich allein im Lodging.

Durch den ständigen Regen ist es kalt in Maralal, und das Duschen im Freien kann ich vergessen. Lketinga besorgt mir ein großes Waschbecken mit heißem Wasser, so kann ich mich wenigstens im Zimmer waschen. Ich bin glücklich, wieder so nahe bei meinem Darling zu sein. Schlafen kann ich jedoch fast nicht, das Bett ist so schmal und durchhängend, daß ich mich erst wieder daran gewöhnen muß.

Am frühen Morgen gehen wir zuerst ins Office, ob sich schon etwas in Hinblick auf Lketingas Identitätskarte ergeben hat. Leider nein! Weil wir die Nummer nicht angeben können, verzögere sich alles, meint der Beamte. Diese Nachricht entmutigt mich sehr, da ich bei meiner Einreise nur ein Visum für zwei Monate erhalten habe.

Wie ich unter diesen Umständen in so kurzer Zeit verheiratet sein soll, ist mir schleierhaft.

Wir beschließen, erst mal nach Hause zu fahren. Wegen der Nässe können wir die Regenwaldstraße nicht benutzen und müssen den Umweg fahren. Diese Straße hat sich schwer verändert. Überall liegen große Steine und Äste, oder größere Gräben queren den Weg. Dennoch kommen wir gut voran. Die Halbwüste blüht, und stel enweise ist sogar Gras gewachsen. Unglaublich schnell geht das hier. Ab und zu grasen Zebras friedlich, oder Straußenfamilien fliehen in großem Tempo vor dem Motorenlärm. Wir müssen einen kleineren und kurz darauf auch den größeren Fluß durchqueren. Beide führen Wasser, aber Gott sei Dank kommen wir mit Hilfe des Vierrads durch, ohne im Treibsand steckenzubleiben.

Wir sind noch gut eine Stunde von Barsaloi entfernt, als ich ein leises Zischen vernehme, und kurz darauf steht der Wagen schief. Ich schaue nach, ein Platten!

Zuerst müssen wir alles ausladen, um an das Reserverad zu gelangen, dann krieche ich unter das völ ig verdreckte Auto, um den Wagenheber zu platzieren. Lketinga hilft, und nach einer halben Stunde haben wir es geschafft, es geht weiter. Endlich erreichen wir die Manyattas.

Mama steht lachend vor dem Häuschen. Saguna fliegt mir in die Arme. Es ist ein herzliches Wiedersehen, und sogar der Mama drücke ich einen Kuß auf die Wange.

Wir schleppen alles in die Manyatta, die dadurch fast voll ist. Mama kocht Chai, und ich gebe ihr und Saguna die selbstgenähten Röcke. Alle sind glücklich. Lketinga läßt das Radio mit der Kassette laufen, was ein großes Geschnatter in Gang setzt. Als ich Saguna die braune Puppe, die meine Mutter für sie gekauft hat, übergebe, stehen alle Münder offen, und Saguna springt schreiend aus der Hütte. Ich verstehe die Aufregung überhaupt nicht. Auch die Mama schaut die Puppe nur mit Abstand an, und Lketinga fragt mich tatsächlich, ob es ein totes Kind sei. Nach der ersten Verblüffung muß ich loslachen: „No, this is only plastic.“

Aber der Puppe mit den Haaren und vor allem den Augen, die auf- und zuklappen, trauen sie erst nach einiger Zeit. Immer mehr staunende Kinder kommen, und erst als ein anderes Mädchen die Puppe aufheben will, springt Saguna dazwischen und drückt sie an sich. Von diesem Moment an darf niemand mehr die Puppe anfassen, nicht einmal die Marna. Saguna schläft nur noch mit ihrem „Baby“.

Bei Sonnenuntergang fallen die Mücken über uns her. Da al es feucht ist, scheinen sie sich richtig wohl zu fühlen. Obwohl das Feuer in der Hütte brennt, schwirren sie um unsere Köpfe. Ständig wedle ich mit der Hand vor meinem Gesicht. So kann ich nicht schlafen! Sogar durch die Socken werde ich gestochen. Meine Freude, zu Hause zu sein, ist getrübt. Ich schlafe in Kleidern und ziehe die neue Decke über mich. Doch den Kopf kann ich nicht zudecken, im Gegensatz zu den anderen. Fast hysterisch geworden schlafe ich gegen Morgen ein. In der Früh bringe ich ein Auge nicht auf, so zerstochen bin ich. Ich wil mir keine Malaria einfangen. Deshalb möchte ich ein Moskitonetz kaufen, obwohl das in der Manyatta mit dem offenen Feuer nicht ungefährlich ist.

In der Mission frage ich den Pater, ob er eventuell den Reifen flicken kann. Er hat keine Zeit, gibt mir jedoch einen Ersatzreifen und rät mir, ein zweites Reserverad zu kaufen, denn es könne vorkommen, daß man zwei Pannen auf einmal hat. Bei der Gelegenheit frage ich ihn, was er gegen die Moskitos unternimmt. Er hat in seinem guten Haus keine großen Probleme und hilft sich mit Spray. Am besten wäre es, möglichst schnell ein Haus zu bauen, das koste nicht viel. Der Chief könne uns einen Platz zuweisen, den wir in Maralal registrieren lassen müßten.

Der Hausbau läßt mich nicht mehr los. Es wäre großartig, eine richtige Blockhütte zu haben! Beschwingt von der Idee kehre ich in die Manyatta zurück und erzähle alles Lketinga. Er ist nicht so begeistert und weiß nicht, ob er sich in einem Haus überhaupt wohl fühlt. Wir können es uns ja noch überlegen. Trotzdem wil ich nach Maralal, denn ohne Moskitonetz möchte ich keine Nacht mehr verbringen.

Innerhalb kurzer Zeit stehen wieder mehrere Menschen um den Landrover. Alle wollen nach Maralal. Einige kenne ich vom Sehen, andere sind mir völlig fremd.

Lketinga bestimmt die Mitfahrer. Wieder dauert es fast fünf Stunden, bis wir am späten Nachmittag ohne Pannen unser Ziel erreichen. Zuerst lassen wir den Reifen flicken, was sich als langwierige Unternehmung herausstellt. Währenddessen schaue ich mir die Reifen an meinem Fahrzeug genauer an und muß feststellen, daß sie fast kein Profil mehr haben. Bei der Garage erkundige ich mich nach neuen Reifen. Es haut mich fast um, als ich die horrenden Preise vernehme.

Umgerechnet wollen sie fast 1 000 Franken für vier Pneus. Das sind Preise wie in der Schweiz! Hier entspricht das drei Monatslöhnen. Aber ich brauche sie, wenn ich nicht ständig steckenbleiben will.

In der Zwischenzeit bin ich wegen des Moskitonetzes in einem der Shops fündig geworden und besorge außerdem schachtelweise Moskitokeulen. Abends lerne ich in der Lodging-Bar den großen Chief vom Samburu-District kennen. Er ist ein angenehmer Mensch und spricht gut Englisch. Er hat bereits von meiner Existenz gehört und wollte uns ohnehin bald besuchen. Meinem Massai gratuliert er zu einer so mutigen Frau. Ich erzähle ihm vom Plan des Hausbaus, unserer Hochzeit und dem Problem mit der Identitätskarte. Er verspricht uns zu helfen, wo er kann, doch der Hausbau sei schwierig, da es fast kein Holz mehr gebe.


Wenigstens wird er sich um die Identitätskarte kümmern. Am nächsten Tag kommt er gleich mit ins Office. Es wird viel geredet, Formulare werden ausgefüllt und diverse Namen genannt. Da er alles über Lketingas Familie weiß, kann der Ausweis in zwei bis drei Wochen auch in Maralal ausgestel t werden. Den Heiratsantrag fül en wir gleich aus. Wenn innerhalb von drei Wochen niemand Einspruch erhebe, könnten wir heiraten. Nur zwei schreibkundige Trauzeugen müßten wir mitbringen. Ich weiß gar nicht, wie ich diesem Chief danken soll, so froh bin ich. Hie und da muß ich etwas bezahlen, aber nach einigen Stunden ist alles in die Wege geleitet. Wir sollen in vierzehn Tagen wieder vorbeikommen und die Bescheinigungen mitbringen. Gut gelaunt laden wir den Chief zum Essen ein. Er ist der erste, der uns wirklich von Herzen geholfen hat. Lketinga schiebt ihm auch großzügig etwas Geld zu.

Nach einer Nacht in Maralal wol en wir wieder los. Kurz bevor wir den Ort verlassen, treffe ich Jutta. Natürlich müssen wir noch einen Chai trinken und uns alles erzählen. Sie wil bei unserer Hochzeit dabei sein. Momentan wohnt sie bei Sophia, einer anderen Weißen, die vor kurzem mit ihrem Rasta-Freund nach Maralal gezogen ist. Ich soll sie doch gelegentlich besuchen. Wir Weißen müßten zusammenhalten, meint sie lachend. Lketinga schaut finster, er versteht nichts, weil wir dauernd Deutsch sprechen und viel lachen. Er wil nach Hause, deshalb brechen wir auf. Diesmal wagen wir den Dschungelweg. Die Straße ist miserabel, und am schlüpfrigen Schräghang traue ich mich kaum noch zu atmen. Meine Stoßgebete werden diesmal erhört, und wir erreichen Barsaloi ohne Schwierigkeiten.

Die nächsten Tage verlaufen ruhig, das Leben geht den gewohnten Gang. Die Leute haben genug Milch, und in den halb zerfallenen Shops gibt es Maismehl und Reis zu kaufen. Die Mama ist mit der Vorbereitung für das größte Samburu-Fest beschäftigt. Bald sol die Endzeit der Krieger, der Altersklasse meines Darlings, gefeiert werden. Nach dem Fest, das in einem guten Monat stattfindet, dürfen diese Krieger offiziell auf Brautsuche gehen und heiraten. Ein Jahr später folgt die Aufnahme der nächsten Generation, der jetzigen Boys, in den Kriegerstatus, die mit einem großen Beschneidungsfest begangen wird.

Das kommende Fest, das an einem besonderen Ort stattfindet, an dem sich alle Mütter mit ihren Kriegersöhnen treffen, ist sehr wichtig für Lketinga. Schon in zwei oder drei Wochen werden Mama und wir unsere Manyatta verlassen und an jenen Ort ziehen, an dem die Frauen nur für dieses Fest neue Hütten aufbauen werden.

Den genauen Zeitpunkt dieses Dreitagefestes erfahren alle erst kurz vorher, denn der Mond spielt eine große Rolle. Ich rechne mir aus, daß wir ungefähr vierzehn Tage vorher das Standesamt aufsuchen müssen. Fal s etwas schiefgeht, bleiben mir nur wenige Tage bis zum Ablauf meines Visums.

Lketinga ist nun viel unterwegs, da er einen schwarzen Bullen von einer bestimmten Größe auftreiben muß. Das erfordert viele Besuche bei den Verwandten, um notwendige Tauschgeschäfte vorzuschlagen. Ab und zu gehe ich mit, doch schlafe ich nur zu Hause unter dem Moskitonetz, das mich gut schützt. Tagsüber erledige ich die gewohnte Arbeit. Morgens gehe ich mit oder ohne Lketinga zum Fluß. Manchmal nehme ich Saguna mit, die einen Riesenspaß hat, wenn sie baden darf. Es ist das erste Mal für das kleine Mädchen. In der Zwischenzeit wasche ich unsere rauchigen Kleider, was meinen Knöcheln nach wie vor nicht gut bekommt.

Dann schleppen wir Wasser nach Hause, und danach geht es auf Feuerholzsuche.


Behördenstreß

Die Zeit vergeht, und wir müssen nach Maralal, um zu heiraten. Mama ist ungehalten, daß Lketinga so kurz vor der Zeremonie wegfährt. Doch wir denken, daß eine Woche wirklich mehr als genug ist. Mama bricht am selben Tag alles ab und zieht mit den anderen Müttern und den bepackten Eseln los. Mitfahren will sie auf keinen Fal. Sie ist noch nie in einem Auto gesessen und will dies auch nicht mehr ausprobieren. So packe ich lediglich meine Taschen in den Wagen, den Rest erledigt Mama.

Lketinga nimmt Jomo mit, einen älteren Typ, der etwas Englisch kann. Er ist mir unsympathisch und drängt sich unterwegs dauernd auf, unser Trauzeuge zu sein oder zumindest zu assistieren. Dann sprechen sie über das bevorstehende Fest. Von überall kommen aus diesem Anlaß die Mütter zusammen. Es werden sicher vierzig bis fünfzig Manyattas gebaut, und es soll viel getanzt werden. Ich freue mich sehr auf dieses große Fest, dem ich beiwohnen darf. Nach dem Stand des Mondes dauert es noch ungefähr zwei Wochen, meint unser Fahrgast.

In Maralal gehen wir zuerst zum Meldeamt. Der diensthabende Beamte ist nicht da, wir sollen morgen mittag noch mal kommen. Ohne Ausweis können wir keinen Heiratstermin beantragen. Wir ziehen durch Maralal, um zwei Trauzeugen zu finden.

Doch das ist nicht so einfach. Diejenigen, die Lketinga kennt, können nicht schreiben oder verstehen kein Suaheli oder Englisch. Sein Bruder ist zu jung, wieder andere haben Angst, in das Office zu kommen, weil sie nicht verstehen, wofür das alles gut ist. Erst am nächsten Tag treffen wir zwei Morans mit Mombasa-Erfahrung, die außerdem einen Ausweis besitzen. Sie versprechen, in den nächsten Tagen in Maralal zu bleiben.

Als wir nachmittags wieder im Office erscheinen, liegt dort tatsächlich Lketingas Ausweis bereit. Er muß nur noch seinen Fingerabdruck daruntersetzen, und wir begeben uns zum „Standesamt“, um einen Termin zu bekommen. Der Beamte prüft meinen Paß sowie die Bescheinigung, daß ich noch ledig bin. Ab und zu stel t er Lketinga auf Suaheli einige Fragen, die er anscheinend nicht immer versteht. Er wird nervös. Ich wage zu fragen, wann der Termin nun sei und gebe auch gleich die Namen der Trauzeugen bekannt. Der Beamte meint, wir müßten beim District-Officer direkt vorsprechen, denn nur dieser könne die Trauung vornehmen.

Wir setzen uns in die Reihe der wartenden Menschen, die al e diesen wichtigen Mann sprechen wol en. Nach gut zwei Stunden können wir hinein. Hinter einem mondänen Schreibtisch sitzt ein massiger Mensch, dem ich unsere Papiere auf den Tisch lege und erkläre, daß wir um einen Heiratstermin ersuchen. Er blättert in meinem Paß und fragt, weshalb ich einen Massai heiraten wolle und wo wir leben würden. In der Aufregung fällt es mir schwer, richtige englische Sätze zu bilden.

„Weil ich ihn liebe und wir uns in Barsaloi ein Haus bauen wol en.“ Seine Blicke wandern eine Weile zwischen Lketinga und mir hin und her. Endlich sagt er, wir sollten in zwei Tagen um vierzehn Uhr mit den Trauzeugen hier sein. Freudig bedanken wir uns und gehen hinaus.

Alles läuft auf einmal so normal, wie ich es mir nicht im Traum erhofft hätte.

Lketinga kauft Miraa und setzt sich mit einem Bier ins Lodging. Ich rate ihm ab, doch er meint, er brauche dies nun. Gegen neun Uhr klopft es an die Tür. Draußen steht unser Begleiter. Auch er kaut Miraa. Wir sprechen alles noch mal durch, doch je länger der Abend dauert, desto unruhiger wird Lketinga. Er zweifelt, ob es richtig ist, so zu heiraten. Er kenne niemand, der dies auf dem Office macht. Jetzt bin ich froh, daß ihm der andere alles erklärt. Lketinga nickt nur. Wenn nur die zwei Tage gut vergehen, ohne daß er durchdreht! Solche Officebesuche erträgt er sehr schlecht.

Am nächsten Tag suche ich Jutta und Sophia auf und treffe beide an. Sophia lebt richtig feudal in einem Zwei-Zimmer-Haus mit elektrischem Licht, Wasser und sogar einem Kühlschrank. Beide freuen sich über unsere Hochzeit und versprechen, morgen um vierzehn Uhr beim Office zu sein. Sophia leiht mir eine hübsche Haarspange und eine tol e Bluse. Für Lketinga kaufen wir zwei schöne Kangas. Wir sind bereit.

Am Morgen unseres Hochzeitstages werde ich doch etwas nervös. Unsere Trauzeugen sind bis zwölf Uhr immer noch nicht hier und wissen nicht einmal, daß in zwei Stunden ihre Anwesenheit erforderlich ist. Deshalb müssen wir zwei andere finden. Jomo kommt nun doch zum Zug, was mir mittlerweile egal ist, wenn wir nur eine zweite Person finden. In meiner Verzweiflung frage ich unsere Lodging-Wirtin, die sofort begeistert zustimmt. Um vierzehn Uhr stehen wir vor dem Office. Sophia und Jutta sind zur Stelle, sogar mit Fotoapparaten. Wir sitzen auf der Bank und warten mit einigen anderen Leuten. Die Stimmung ist etwas gespannt, und Jutta foppt mich ständig. Tatsächlich habe ich mir die Minuten vor meiner Hochzeit etwas feierlicher vorgestellt.

Eine halbe Stunde ist bereits vergangen, wir werden nicht aufgerufen. Leute gehen hinein und kommen heraus. Einer fäl t mir besonders auf, da er schon zum dritten Mal hineingeht. Die Zeit verstreicht, und Lketinga regt sich auf. Er befürchtet, ins Gefängnis zu müssen, falls mit den Papieren etwas nicht in Ordnung ist. So gut es geht, versuche ich, ihn zu beruhigen. Wegen des Miraakonsums hat er fast nicht geschlafen. „Hakuna matata, wir sind in Afrika, pole, pole“, sagt Jutta, als plötzlich die Tür aufgeht und Lketinga und ich hereingebeten werden. Die Trauzeugen müssen warten. Jetzt wird auch mir etwas mulmig.

Der District-Officer sitzt wieder an seinem feudalen Pult, und am langen Tisch vor ihm befinden sich zwei weitere Männer. Einer von ihnen ist derjenige, der ständig rein- und rausgegangen ist. Wir sollen uns den beiden gegenüber hinsetzen. Die zwei Männer stellen sich als Polizisten in Zivil vor und verlangen meinen Paß sowie den Ausweis von Lketinga.

Mein Herz klopft bis in die Schläfen. Was ist hier los? Ich habe Angst, in der Aufregung das Beamtenenglisch nicht mehr zu verstehen. Viele Fragen prasseln auf mich nieder. Seit wann ich im Samburu-Gebiet lebe, wo ich Lketinga kennengelernt habe, seit wann, wie und wovon wir hier lebten, was mein Beruf sei, wie wir uns verständigen, usw. Die Fragen nehmen kein Ende.

Lketinga will ständig wissen, wovon wir sprechen, doch ich kann ihm das hier nicht auf unsere Art, uns miteinander zu verständigen, erklären. Bei der Frage, ob ich schon mal verheiratet war, platzt mir langsam der Kragen. Erregt antworte ich, daß meine Geburtsurkunde und mein Paß denselben Namen tragen und ich auch eine Bescheinigung der Schweizer Gemeinde auf Englisch habe. Diese wird nicht anerkannt, da die Botschaft in Nairobi das nicht bestätigt hat, sagt der eine. „Aber mein Paß“, entgegne ich aufgebracht. Doch weiter komme ich nicht. Der könnte ja ebenfal s gefälscht sein, antwortet der Officer. Nun bin ich außer mir vor Wut. Der Officer fragt Lketinga, ob er schon eine Samburu-Frau geheiratet habe. Er antwortet wahrheitsgetreu mit nein. Wie er das beweisen kann, will der Officer wissen. Ja, in Barsaloi wissen das alle. Wir sind aber hier in Maralal, ist die Antwort. In welcher Sprache wir denn getraut werden wollen? Ich denke in Englisch, gedolmetscht in Massai. Der Officer lacht dreckig und meint, für solche Spezialfälle habe er keine Zeit und übrigens könne er die Massai-Sprache nicht. Wir sollen wiederkommen, wenn wir dieselbe Sprache, Englisch oder Suaheli, sprechen, ich in Nairobi mein Papier gestempelt habe und Lketinga einen vom Chief unterzeichneten Brief bringt, daß er noch nicht verheiratet ist.

Vor Wut über diese Schikane raste ich völlig aus und schreie den Officer an, warum er das al es nicht schon beim ersten Mal erwähnt habe. Hochmütig erklärt er, hier bestimme immer noch er, wann er was mitteilt, und wenn es mir nicht paßt, könne er dafür sorgen, daß ich morgen das Land verlassen muß. Das sitzt! „Come, darling, we go, they don't want give the marriage.“

Wütend und heulend verlasse ich das Office, Lketinga hinter mir. Draußen zucken die Kameras von Sophia und Jutta, da sie glauben, wir hätten es hinter uns.

In der Zwischenzeit haben sich mindestens zwanzig Leute hier versammelt. Am liebsten würde ich im Boden versinken. Jutta bemerkt es als erste: „Was ist los, Corinne, Lketinga, what's the problem?“ „I don't know“, antwortet er verwirrt. Ich stürze zu meinem Landrover und rase zum Lodging. Ich wil allein sein. Dort falle ich aufs Bett und kann nur noch heulen, es schüttelt mich am ganzen Körper. „Diese verdammten Schweine!“ denke ich.

Irgendwann sitzt Lketinga neben mir und versucht mich zu beruhigen. Obwohl ich weiß, daß er mit Tränen wenig anfangen kann, schaffe ich es nicht, aufzuhören. Jutta schaut ebenfalls herein und bringt mir einen Kenia-Schnaps. Widerwil ig stürze ich ihn hinunter, und al mählich löst sich der Weinkrampf. Ich fühle mich müde und wie taub. Irgendwann geht Jutta, Lketinga trinkt Bier und kaut sein Miraa.

Eine Weile später klopft es an der Tür. Ich liege im Bett und starre die Decke an.

Lketinga öffnet, und die zwei zivilen Polizisten schleichen herein. Sie entschuldigen sich höflich und wollen ihre Hilfe anbieten. Da ich nicht reagiere, spricht der eine, ein Samburu, mit Lketinga. Als mir klar wird, daß diese Schweine nur viel Geld wollen, damit sie uns heiraten lassen, platzt mir noch mal der Kragen. Ich schreie sie an, unser Zimmer zu verlassen. Ich werde diesen Mann eben in Nairobi oder sonstwo heiraten, und zwar ohne ihre dreckigen Angebote. Betreten verlassen sie unseren Raum.

Morgen werden wir nach Nairobi fahren, um mein Formular bestätigen und vorsorglich mein Visum verlängern zu lassen. Jetzt, mit den Heiratsantragsformularen, sollte das gehen. Dann haben wir wieder drei Monate Zeit, um das Papier vom Chief zu bekommen. Es wäre ja gelacht, wenn es nicht ohne Schmiergeld ginge! Der unsympathische Jomo schaut herein, als ich gerade schlafen wil. Lketinga erzählt ihm unseren Plan, und er möchte uns begleiten, da er Nairobi bestens kenne, wie er versichert. Weil die Straße nach Nyahururu immer noch in sehr schlechtem Zustand ist, beschließen wir, über Wamba nach Isiolo zu fahren und von dort mit den öffentlichen Bussen nach Nairobi. Wegen des bevorstehenden Festes haben wir nur vier bis fünf Tage Zeit.

Die Strecke ist neu für mich, doch verläuft alles problemlos. Nach etwa fünf Stunden erreichen wir Isiolo. Ich frage mich zur Mission durch, um dort mit etwas Glück unseren Wagen zu parken. Vom Missionar bekomme ich die Erlaubnis. Würde man das Fahrzeug einfach irgendwo abstellen, wäre es mit Sicherheit nicht sehr lange dort.

Da es von hier nochmals drei bis vier Stunden bis Nairobi sind, beschließen wir, zu übernachten, um frühmorgens loszufahren und nachmittags das Office aufzusuchen.

Nun erklärt mir unser Begleiter, daß er kein Geld mehr habe. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als sein Zimmer, Essen und Trinken zu bezahlen. Ich mache es nicht gern, da er mir immer noch nicht sympathisch ist. Im Zimmer falle ich ins Bett und schlafe ein, bevor es dunkel ist. Die beiden trinken Bier und reden. Am Morgen fühle ich mich sehr durstig. Wir frühstücken und steigen in einen Bus nach Nairobi. Nach mehr als einer Stunde ist er endlich vol, so daß die Reise losgeht. Kurz vor Mittag erreichen wir Nairobi.

Wir suchen zuerst die Schweizer Botschaft auf, um mein Gemeindepapier beglaubigen zu lassen. Doch so etwas machen sie nicht, und überhaupt müsse ich zur deutschen Botschaft mit meinem deutschen Paß. Ich bezweifle, daß die Deutschen die Schweizer Gemeindestempel kennen, aber sie lassen sich nicht überzeugen. Die deutsche Botschaft liegt in einem anderen Stadtteil. Mühsam schleppe ich mich durch das schwüle, stickige Nairobi. Bei den Deutschen ist viel Betrieb, man muß anstehen. Als ich endlich an die Reihe komme, schüttelt der Sachbearbeiter den Kopf und will mich an die Schweizer Botschaft verweisen. Als ich entnervt sage, daß wir gerade von dort kommen, greift der Mann zum Hörer und fragt bei den Schweizern nach. Kopfschüttelnd kommt er zurück und meint, er mache jetzt etwas völlig Sinnloses. Aber für Maralal reiche es, wenn nur möglichst viele Stempel und Unterschriften auf dem Papier sind. Dankend verlasse ich die Botschaft.

Lketinga will wissen, warum al e meine Papiere nicht gut finden. Mir fällt keine Antwort ein, und so wächst sein Mißtrauen gegen mich. Nun trotten wir wieder in einen anderen Bezirk zum Nyayo-Gebäude für mein Visum, das in zehn Tagen abläuft. Meine Beine sind wie bleischwere Klumpen, aber ich will das Visum in den verbleibenden anderthalb Stunden bekommen. Im Nyayo-Gebäude heißt es wieder Formulare auszufüllen. Jetzt bin ich froh um unsere Begleitung, denn mein Kopf schwirrt, und ich kapiere nur jede zweite Frage einigermaßen. Lketinga, der von al en angestarrt wird in seiner Aufmachung, hat seinen Kanga tief ins Gesicht gezogen.

Wir warten, daß ich aufgerufen werde. Die Zeit vergeht. Schon über eine Stunde sitzen wir in der stickigen Halle. Das Geschwätz der Menschenmenge kann ich kaum mehr ertragen. Ich schaue auf die Uhr. In fünfzehn Minuten schließt das Office, und morgen fängt die Warterei von vorne an.

Endlich jedoch wird mein Paß in die Höhe gehalten. „Miß Hofmann!“ ertönt eine resolute Frauenstimme. Ich zwänge mich zum Schalter. Die Frau schaut mich an und fragt, ob ich einen Afrikaner heiraten wolle.

„Yes!“ ist meine knappe Antwort. „Where is your husband?“

Ich zeige in die Richtung, wo Lketinga steht. Die Frau fragt belustigt, ob ich tatsächlich die Frau eines Massai werden wol e. „Yes, why not?“

Sie geht und kommt mit zwei Kolleginnen zurück, die ebenfal s auf Lketinga und dann auf mich starren. Alle drei lachen. Ich stehe stolz da und lasse mich von ihren Unverschämtheiten nicht kränken. Endlich klatscht der Stempel auf eine Seite des Passes, ich habe mein Visum. Höflich bedanke ich mich, und wir verlassen das Gebäude.

Malaria

Draußen ist die Luft stickig, und die Autoabgase sind mir noch nie so unangenehm aufgefallen wie heute. Es ist sechzehn Uhr, alle meine Papiere sind in Ordnung. Ich möchte mich so gerne freuen, aber ich bin zu erschöpft. Wir müssen zurück in die Gegend, wo wir ein Lodging finden können. Schon nach einigen hundert Metern wird mir schwindlig. Meine Beine drohen wegzusacken. „Darling, help me!“

Lketinga fragt: „Corinne, what's the problem?“


Alles dreht sich. Ich muß mich setzen, doch es gibt kein Restaurant in der Nähe.

Ich lehne mich an ein Schaufensterbrett und fühle mich elend und enorm durstig.

Lketinga ist es peinlich, denn die ersten Passanten bleiben stehen. Er will mich weiterziehen, doch ich schaffe es nicht, ohne gestützt zu werden. Sie schleppen mich in Richtung Lodging. Plötzlich bekomme ich Platzangst. Die Leute, die mir entgegenkommen, verschwimmen vor meinen Augen. Und diese Gerüche! An jeder Ecke brät jemand Fisch, Maiskolben oder Fleisch. Mir ist schlecht. Wenn ich nicht sofort von dieser Straße wegkomme, muß ich mich auf der Stelle übergeben. Eine Bierbar ist in der Nähe. Wir gehen hinein. Ich will ein Bett. Zuerst wollen sie mir keines geben, doch als unser Begleiter sagt, daß ich nicht mehr gehen kann, führen sie uns in den oberen Stock in ein Zimmer.

Es ist ein typisches Stundenhotel. Im Zimmer hört man das Gedudel der Kikuyu-Musik fast so laut wie im unteren Stock an der Bar. Ich lasse mich auf das Bett fal en, und augenblicklich ist mir übel. Ich deute an, daß ich erbrechen muß. Lketinga stützt mich und schleppt mich zur Toilette. Doch ich schaffe es nicht mehr. Schon im Gang stürzt die erste Fontäne aus meinem Mund. Auf der Toilette geht es weiter. Ich würge, bis nur noch gelbe Galle kommt. Mit schlotternden Beinen kehre ich ins Zimmer zurück. Mir ist die Schweinerei peinlich. Ich lege mich ins Bett und habe das Gefühl zu verdursten. Lketinga besorgt mir Schweppes. Ich leere die Flasche in einem Zug, dann noch eine und noch eine. Plötzlich friere ich. Ich friere, als säße ich in einem Kühlschrank. Es wird immer schlimmer. Meine Zähne klappern so sehr, daß mein Kiefer schmerzt, aber ich kann es nicht abstel en. „Lketinga, I feel so cold, please give me blankets!“

Lketinga gibt mir die Decke, doch es nützt nichts. Jomo geht und bringt zwei weitere Decken vom Lodging. Trotz der vielen Decken hebt sich mein steifer, klappernder Körper vom Bett ab. Ich will Tee, ganz, ganz heißen Tee. Ich habe das Gefühl, es vergehen Stunden, bis ich ihn endlich bekomme. Weil ich so zittere, kann ich ihn kaum trinken. Nach zwei, drei Schlucken dreht sich mein Magen schon wieder um. Doch aus dem Bett kann ich nicht mehr. Lketinga eilt und holt eines der Waschbecken, die überall in den Duschen stehen. Ich erbreche al es, was ich getrunken habe.

Lketinga ist verzweifelt. Er fragt mich dauernd, was los sei, doch ich weiß es auch nicht. Ich habe Angst. Der Schüttelfrost hört auf, und ich falle wie Pudding in die Kissen. Mein ganzer Körper schmerzt. Ich bin so erschöpft, als wäre ich Stunden um mein Leben gerannt. Jetzt spüre ich, wie ich heiß werde. Nach kurzer Zeit bin ich am ganzen Körper patschnaß. Meine Haare kleben am Kopf. Ich habe das Gefühl, ich verglühe. Nun will ich kaltes Cola. Wieder stürze ich das Getränk hinunter. Ich muß auf die Toilette. Lketinga bringt mich hin, und schon geht der Durchfal los. Ich bin froh, daß Lketinga bei mir ist, obwohl er völlig verzweifelt ist. Wieder im Bett will ich nur schlafen. Ich kann auch nicht sprechen. Vor mich hindösend lausche ich den Stimmen der beiden, die leiser sind als das Gedudel unten an der Bar.

Ein neuer Anfall bahnt sich an. Die Kälte schleicht in meinen Körper, und kurz darauf klappere ich schon wieder. Voller Panik halte ich mich so gut es geht am Bett fest. „Darling, help me!“

flehe ich. Lketinga legt sich mit seinem halben Körper auf mich, und ich zittere weiter. Unser Begleiter steht daneben und meint, ich hätte wohl Malaria und müsse in ein Spital. In meinem Kopf dröhnt es: Malaria, Malaria, Malaria! Von einer Sekunde zur anderen höre ich auf zu zittern und schwitze aus al en Poren. Die Bettlaken sind richtig naß. Durst, Durst! Ich muß trinken. Die Lodging-Vermieterin steckt den Kopf ins Zimmer. Als sie mich sieht, höre ich „Mzungu, Malaria, Hospital“.


Doch ich schüttle den Kopf. Hier in Nairobi will ich nicht in ein Spital. Ich habe soviel Schlimmes gehört. Und dann Lketinga! Er ist verloren al ein in Nairobi.

Die Zimmerwirtin geht und kommt mit Malariapulver zurück. Ich trinke es mit Wasser und bin müde. Als ich wieder erwache, ist al es dunkel. Mein Kopf brummt.

Ich rufe Lketinga, doch niemand ist hier. Nach weiteren Minuten oder Stunden, ich weiß es nicht, kommt Lketinga ins Zimmer. Er war unten an der Bar. Ich rieche die Bierfahne, und schon dreht sich mein Magen von neuem. Während der Nacht löst ein Schüttelfrost den anderen ab.

Als ich am Morgen aufwache, höre ich die beiden diskutieren. Es geht um das Fest zu Hause. Jomo kommt ans Bett und fragt, wie es mir geht. Einfach schlecht, erwidere ich.

Ob wir denn heute nicht zurückfahren? Für mich ist das unmöglich. Ich muß auf die Toilette. Meine Beine wackeln, ich kann kaum stehen. Ich sol te essen, geht es mir durch den Kopf.

Lketinga geht hinunter und kommt mit einem Tel er Fleischbrocken zurück. Als ich das Essen rieche, verkrampft sich mein Magen, der inzwischen höl isch schmerzt. Ich übergebe mich schon wieder. Außer etwas gelber Flüssigkeit kommt nichts mehr, aber gerade diese Art von Brechen schmerzt gräßlich. Durch die Würgerei setzt auch noch der Durchfall ein. Mir ist hundeelend, und ich habe das Gefühl, meine letzten Stunden sind gezählt.

Am Abend des zweiten Tages schlafe ich während der Hitzewellen ständig ein und verliere jegliches Zeitgefühl. Das Gedudel geht mir so auf den Geist, daß ich heule und mir die Ohren zuhalte. Jomo wird wohl alles zuviel, denn er meint, er gehe Verwandte besuchen, sei aber in drei Stunden zurück. Lketinga zählt unser Bargeld, und mir ist, als würde einiges fehlen. Aber es ist mir gleichgültig. Mir wird langsam klar, wenn ich jetzt nichts unternehme, werde ich Nairobi, ja nicht einmal dieses schreckliche Lodging überleben.

Lketinga geht los, um Vitamintabletten und das einheimische Malariamittel zu holen. Die Tabletten würge ich hinunter. Wenn ich breche, schlucke ich sofort wieder eine. Mittlerweile ist es Mitternacht, und Jomo ist immer noch nicht zurück. Wir machen uns Sorgen, da Nairobi in dieser Gegend gefährlich ist. Lketinga schläft fast nicht und kümmert sich liebevoll um mich.

Meine Anfälle haben durch das Mittel etwas nachgelassen, doch bin ich so schwach, daß ich nicht einmal meine Arme heben kann. Lketinga ist verzweifelt. Er wil unseren Begleiter suchen gehen, doch das ist Irrsinn in dieser Stadt, in der er sich nicht auskennt. Ich flehe ihn an, bei mir zu bleiben, sonst bin ich ganz al ein. Wir müssen Nairobi, sobald es geht, verlassen. Wie Bonbons verschlinge ich die Vitamintabletten. Langsam wird mein Kopf etwas klarer. Wenn ich hier nicht verrecken will, muß ich meine letzte Kraft zusammennehmen. Ich schicke meinen Darling los, mir Früchte und Brot zu kaufen. Nur nichts, das nach Essen riecht! Ich zwinge mich, Stück für Stück hinunterzuschlucken. Meine gesprungenen Lippen brennen höl isch beim Essen der Früchte, doch muß ich Kraft sammeln, um weggehen zu können. Jomo hat uns im Stich gelassen.

Allein die Angst, Lketinga könnte durchdrehen, läßt mich stärker werden. Ich wil versuchen, mich zu waschen, damit ich mich besser fühle. Mein Darling bringt mich zur Dusche, und ich schaffe es mit Müh und Not, mich zu duschen. Dann verlange ich nach drei Tagen endlich neue Bettwäsche. Bis al es frisch bezogen ist, will ich ein paar Schritte laufen. Auf der Straße ist mir schwindlig, doch ich will es schaffen. Wir gehen vielleicht fünfzig Meter, und mir scheint, es wären fünf Kilometer. Ich muß zurück, denn der Gestank der Straße läßt meinem Magen keine Ruhe. Dennoch bin ich stolz auf meine Leistung. Ich verspreche Lketinga, daß wir morgen Nairobi verlassen werden. Als ich wieder erschöpft im Bett liege, wünsche ich mir, zu Hause bei meiner Mutter in der Schweiz zu sein.

Morgens bringt uns ein Taxi zur Busstation. Lketinga ist beunruhigt, weil er glaubt, wir ließen den anderen zurück. Aber nach zwei Tagen Wartezeit ist es wohl unser Recht abzureisen, da auch Lketingas Fest immer näherrückt. Die Fahrt nach Isiolo dauert ewig. Lketinga muß mich stützen, damit ich in den Kurven nicht kraftlos vom Sitz falle. In Isiolo schlägt Lketinga vor, hier zu übernachten, doch ich will nach Hause. Wenigstens nach Maralal möchte ich, vielleicht sehe ich Jutta oder Sophia.

Ich schleppe mich zur Mission und steige ins Fahrzeug, während sich Lketinga bei den Missionaren verabschiedet. Er will ans Steuer, aber das kann ich nicht verantworten. Wir sind in einer kleineren Stadt, und es wimmelt von Straßenkontrollen.

Ich fahre los und schaffe kaum, das Kupplungspedal durchzudrücken. Die ersten paar Kilometer sind noch asphaltiert, dann beginnt die Naturstraße. Unterwegs halten wir an und nehmen drei Samburus mit, die nach Wamba wol en. Beim Fahren denke ich an nichts mehr und konzentriere mich nur auf die Straße. Die Schlaglöcher erkenne ich schon von weitem. Was im Fahrzeug geschieht, nehme ich nicht wahr.

Erst als jemand eine Zigarette anzündet, verlange ich, sie sofort zu löschen, sonst muß ich brechen. Ich spüre, wie mein Magen rebelliert. Nur jetzt nicht anhalten und kotzen, das kostet zu viel Energie. Der Schweiß läuft mir am Körper herunter.

Ständig wische ich mir mit dem Handrücken über die Stirn, damit er mir nicht in die Augen tropft. Endlos dahinfahrend wende ich meine Augen keine Sekunde von der Straße ab.

Es wird Abend, und Lichter tauchen auf, wir sind in Maralal. Ich kann es kaum glauben, denn ich fuhr ohne jedes Zeitgefühl, und parke sofort bei unserem Lodging.

Ich stelle den Motor ab und schaue Lketinga an. Dabei merke ich, wie leicht mein Körper wird, und dann ist al es dunkel.

Im Spital

Ich öffne die Augen und glaube, aus einem bösen Traum zu erwachen. Doch um mich blickend, merke ich, daß das Schreien und Stöhnen Wirklichkeit ist. Ich liege im Spital und befinde mich in einem riesigen Raum, in dem Bett an Bett steht. Links von mir liegt eine alte, ausgemergelte Samburu-Frau. Rechts von mir steht ein rosarotes Kinderbett mit Gitter. Darinnen schlägt etwas ständig ans Holz und schreit. Wo ich hinschaue, nichts als Elend. Warum bin ich im Spital? Ich verstehe nicht, wie ich hierher gekommen bin. Wo ist Lketinga? Panik ergreift mich. Wie lange bin ich schon hier? Draußen ist es hell, die Sonne scheint. Mein Bett ist ein Eisengestel mit dünner Matratze und schmuddligen, gräulichen Bettlaken.

Zwei junge Mediziner in weißen Kitteln gehen vorbei. „Hello!“ Ich winke. Meine Stimme ist nicht laut genug. Das Gestöhne übertönt mich, und aufrichten kann ich mich nicht. Mein Kopf ist zu schwer. Tränen schießen mir in die Augen. Was soll das hier? Wo ist Lketinga?

Die Samburu-Frau spricht mit mir, doch ich verstehe nichts. Dann endlich sehe ich Lketinga auf mich zukommen. Sein Anblick beruhigt mich und macht mich sogar etwas froh. „Hello, Corinne, how you feel now?“

Ich versuche zu lächeln und sage, nicht schlecht. Er berichtet mir, daß ich gleich nach unserer Ankunft ohnmächtig geworden bin. Unsere Zimmerwirtin hat sofort den Krankenwagen alarmiert. Und nun sei ich seit gestern abend hier. Er sei die ganze Nacht bei mir gewesen, doch ich sei nicht aufgewacht. Ich kann kaum glauben, daß ich von al em nichts mitbekommen habe. Der Arzt hat mir eine Spritze gegeben.

Nach einer Weile stehen die beiden einheimischen Mediziner neben dem Bett. Ich habe eine akute Malaria, doch machen können sie nicht viel, da es an Medikamenten fehlt. Lediglich Pil en geben sie mir. Ich solle viel essen und schlafen. Allein bei dem Wort Essen wird mir übel, und schlafen bei diesem Gestöhne und Kindergeschrei scheint mir auch unmöglich. Lketinga sitzt am Bettrand und schaut mich hilflos an.

Plötzlich steigt mir ein penetranter Geruch von Kohl in die Nase. Mein Magen dreht sich. Ich brauche irgendeinen Behälter. In meiner Verzweiflung greife ich zum Wasserkrug und erbreche mich. Lketinga hält den Krug und stützt mich, al ein würde ich es kaum schaffen. Sogleich steht eine dunkle Krankenschwester neben uns, reißt mir den Krug weg und ersetzt diesen durch einen Kübel. „Why you make this? This is for drinking water!“

schnauzt sie mich an. Ich fühle mich elend. Der Geruch kommt vom Essenswagen.

Auf diesem stehen Blechnäpfe, in die eine Reis-Kohlmasse gefüllt wird. An jedem Bett wird ein Napf abgestellt.

Völ ig erschöpft vom Erbrechen, liege ich auf der Pritsche und halte mir mit dem Arm die Nase zu. Ich kann unmöglich essen. Vor etwa einer Stunde habe ich die ersten Tabletten bekommen, und langsam juckt es mich am ganzen Körper. Wie wild kratze ich überall. Lketinga bemerkt in meinem Gesicht Flecken und Pickel. Ich hebe meinen Rock, und wir entdecken, daß die Beine ebenfalls mit Pusteln übersät sind.

Er holt einen Arzt.

Offensichtlich reagiere ich auf das Medikament allergisch.

Doch er kann mir im Moment nichts anderes geben, da alles verbraucht ist und sie täglich auf Nachschub aus Nairobi hoffen.

Gegen Abend verläßt mich Lketinga. Er will etwas essen gehen und schauen, ob er jemanden von zu Hause trifft, um zu erfahren, wann sein großes Fest beginnt.

Todmüde möchte ich nur noch schlafen. Mein ganzer Körper ist in Schweiß gebadet, und das Fieberthermometer zeigt einundvierzig Grad. Vom vielen Wassertrinken verspüre ich das Bedürfnis nach einer Toilette. Aber wie komme ich nur dahin? Das Toilettenhäuschen befindet sich etwa dreißig Meter vom Eingang entfernt. Wie soll ich diese Strecke schaffen? Langsam stel e ich die Beine auf den Boden und steige in meine Plastiksandalen. Dann ziehe ich mich am Bettgestel hoch. Meine Beine zittern, ich kann kaum stehen. Ich reiße mich zusammen, denn ich will auf keinen Fal jetzt zusammenbrechen. Von Bett zu Bett Halt suchend, erreiche ich den Ausgang. Die dreißig Meter erscheinen mir unendlich weit, und ich bin versucht, die letzten Meter zu kriechen, da ich mich nirgends festhalten kann. Ich beiße die Zähne zusammen und erreiche mit letzter Kraft das Klo. Doch hier kann man nicht sitzen, im Gegenteil, ich muß in die Hocke. So gut es geht, halte ich mich an den Steinwänden fest.

Die ganze Tragik dieser Malaria wird mir bewußt, als ich realisiere, wie schwach ich bin, ich, die ich noch nie richtig krank war. Vor der Tür steht eine hochschwangere Massai-Frau. Als sie bemerkt, daß ich die Türe nicht loslasse, weil ich sonst hinfal en würde, hilft sie mir wortlos bis zum Eingang zurück. Ich bin ihr so dankbar, daß mir Tränen übers Gesicht laufen. Mühsam schleppe ich mich zurück ins Bett und heule vor mich hin. Die Schwester kommt und fragt, ob ich Schmerzen habe. Ich schüttle den Kopf und fühle mich noch elender. Irgendwann schlafe ich ein.

In der Nacht erwache ich. Das Kind im Gitterbett schreit furchtbar und schlägt mit dem Kopf an das Gitter. Es kommt niemand, und ich werde fast verrückt. Nun bin ich schon vier Tage hier, und mir geht es miserabel. Lketinga kommt häufig vorbei. Auch er sieht schlecht aus, er wil nach Hause, aber nicht ohne mich, da er Angst hat, ich sterbe. Außer Vitamintabletten habe ich immer noch nichts gegessen. Die Schwestern schimpfen ständig mit mir, doch jedesmal übergebe ich mich, wenn ich etwas in den Mund stecke. Mein Bauch schmerzt wahnsinnig. Einmal bringt mir Lketinga ein ganzes Ziegenbein, schön gebraten, und bittet verzweifelt, es zu essen, dann würde ich wieder gesund. Doch ich kann nicht. Enttäuscht geht er.

Am fünften Tag kommt Jutta. Sie hat gehört, eine Weiße sei im Spital. Sie ist entsetzt, als sie mich sieht. Sofort müsse ich hier raus, in das Missionsspital nach Wamba. Doch ich begreife nicht, warum ich in ein anderes Spital soll, es ist doch alles dasselbe. Viereinhalb Stunden Autofahrt halte ich sowieso nicht durch. „Wenn du dich sehen könntest, würdest du begreifen, daß du weg mußt. Fünf Tage, und die haben dir nichts gegeben? Da bist du weniger wert als eine Ziege draußen. Viel eicht wollen sie dir gar nicht helfen“, meint sie. „Jutta, bitte bring mich in ein Lodging. Hier wil ich nicht sterben, und nach Wamba schaffe ich es nicht bei diesen Straßen, ich kann mich ja nicht einmal festhalten!“ Jutta spricht mit den Ärzten. Sie wollen mich nicht gehen lassen. Erst als ich einen Zettel unterschreibe und al e Verantwortung übernehme, machen sie meine Entlassungspapiere bereit.

In der Zwischenzeit sucht Jutta Lketinga, damit er hilft, mich bis zum Lodging zu bringen. Sie nehmen mich in die Mitte, und so gehen wir langsam ins Dorf. Überal bleiben die Menschen stehen und starren uns an. Ich schäme mich, so hilflos durch das Dorf geschleppt zu werden.

Aber ich will kämpfen und überleben. Deshalb bitte ich die beiden, mich zum Somali-Restaurant zu bringen. Dort werde ich versuchen, eine Portion Leber zu essen. Das Restaurant ist mindestens zweihundert Meter entfernt, und mir sacken die Beine weg. Ununterbrochen rede ich mir zu: „Corinne, du schaffst es! Du mußt es erreichen!“ Erschöpft, aber stolz setze ich mich. Der Somali ist ebenfalls entsetzt, als er mich sieht. Wir bestellen Leber. Mein Magen rebelliert, als ich auf den Teller blicke. Mit aller Kraft überwinde ich mich und beginne, langsam zu essen. Nach zwei Stunden habe ich meinen Teller fast leer gegessen und rede mir ein, mich phantastisch zu fühlen. Lketinga ist zufrieden. Wir gehen zu dritt ins Lodging, wo sich Jutta verabschiedet. Sie will morgen oder übermorgen wieder vorbeikommen. Den Rest des Nachmittags sitze ich vor dem Lodging in der Sonne. Es ist schön, die Wärme zu spüren. Am Abend liege ich im Bett, esse langsam eine Karotte und bin stolz auf meinen Fortschritt. Mein Magen hat sich beruhigt, und ich kann al es behalten. „Corinne, jetzt geht es aufwärts!“ denke ich zuversichtlich und schlafe ein.

In der Früh erfährt Lketinga, daß die Zeremonie bereits begonnen hat. Er ist aufgebracht und möchte sofort nach Hause, zum Festplatz. Ich kann aber unmöglich so weit fahren, und wenn er zu Fuß geht, ist er auch erst am nächsten Tag dort.

Er denkt viel an seine Mama, die verzweifelt wartet und nicht weiß, was passiert ist. Morgen, verspreche ich meinem Darling, werden wir losfahren. So habe ich noch einen vollen Tag, um Kräfte zu sammeln, damit ich wenigstens das Steuer halten kann. Wenn wir aus Maralal raus sind, kann Lketinga weiterfahren, aber hier, mit der Polizei, ist es zu gefährlich.

Wir gehen wieder zum Somali, und ich bestel e mir dasselbe Essen. Heute habe ich fast die ganze Strecke ohne Hilfe geschafft. Mit dem Essen geht es schon viel leichter. Langsam spüre ich wieder Leben in meinem Körper. Mein Bauch ist flach und nicht mehr hohl eingefal en. Im Lodging betrachte ich mich zum ersten Mal wieder in einem Spiegel. Mein Gesicht hat sich sehr verändert. Die Augen kommen mir riesengroß vor, meine Backenknochen stechen kantig ab. Bevor wir aufbrechen, hat Lketinga noch einige Kilo Kautabak und Zucker gekauft, ich besorge Reis und Früchte. Die ersten Kilometer bereiten mir enorme Mühe, da ich ständig vom ersten in den zweiten Gang schalten muß und viel Kraft für die Kupplung benötige.

Lketinga, der neben mir sitzt, hilft, indem er meinem Schenkel mit dem Arm zusätzlichen Druck verleiht. Wieder fahre ich wie in Trance, und wir erreichen nach mehreren Stunden den Festplatz.

Die Zeremonie

Völ ig erschöpft bin ich dennoch überwältigt vom Anblick des riesigen Krals. Aus dem Nichts haben die Frauen ein neues Dorf erbaut. Es sind weit mehr als fünfzig Manyattas. Überal ist Leben. Aus jeder Hütte quil t Rauch. Lketinga sucht zuerst die Manyatta von Mama, während ich beim Landrover warte. Meine Beine zittern, und meine dünnen Arme schmerzen. Innerhalb kurzer Zeit haben sich Kinder, Frauen und Alte um mich versammelt und starren mich an. Ich hoffe, Lketinga kommt bald zurück. Tatsächlich erscheint er in Begleitung von Mama. Sie macht ein finsteres Gesicht, als sie mich mustert. „Corinne, jambo… wewe Malaria?“ Ich nicke und unterdrücke die aufsteigenden Tränen.

Wir packen alles aus und lassen den abgeschlossenen Wagen vor dem Kral stehen. An etwa fünfzehn Manyattas müssen wir vorbeigehen, bevor wir die von Mama erreichen. Der ganze Weg ist mit Kuhfladen übersät. Natürlich haben al e ihre Tiere mitgebracht, die momentan unterwegs sind und erst abends heimkehren. Wir trinken Chai, und Mama unterhält sich aufgeregt mit Lketinga. Später erfahre ich, daß wir zwei von den drei Festtagen verpaßt haben. Mein Darling ist enttäuscht und wirkt verstört. Er tut mir leid. Es wird einen Ältestenrat geben, bei dem die wichtigsten Alten bestimmen, ob er noch zugelassen wird und wie es weitergeht. Mama, die auch zu diesem Rat gehört, ist viel unterwegs, um die wichtigsten Männer aufzusuchen.

Die Festlichkeiten beginnen erst, wenn es dunkel wird und die Tiere zurück sind.

Vor der Manyatta sitzend schaue ich dem Treiben zu. Lketinga läßt sich von zwei Kriegern berichten, während sie ihn schmücken und kunstvoll bemalen. Es liegt eine enorme Spannung über dem Kral. Ich fühle mich ausgeschlossen und vergessen.

Seit Stunden hat niemand auch nur ein Wort an mich gerichtet. Bald werden die Kühe und Ziegen nach Hause kommen, und kurz darauf wird es Nacht sein. Mama kehrt zurück und bespricht die Situation mit Lketinga. Sie scheint etwas betrunken zu sein. Alle Alten trinken selbstgebrautes Bier in großen Mengen.

Ich wil endlich wissen, wie es weitergeht. Lketinga erklärt mir, daß er einen großen Ochsen oder fünf Ziegen für die Alten schlachten muß. Dann seien sie bereit, ihn zu der Zeremonie zuzulassen. Sie würden vor Mamas Manyatta heute nacht den Segen sprechen, und er dürfe den Tanz der Krieger anführen, damit alle offiziell erfahren, daß ihm diese krasse Verspätung, die normal den Ausschluß bedeutet, verziehen wird. Ich bin erleichtert. Doch er meint, im Moment besitze er keine fünf großen Ziegen. Höchstens zwei, die anderen seien schwanger und die dürfe man nicht töten.

Ich schlage vor, den Verwandten welche abzukaufen. Dabei ziehe ich ein Bündel Geld hervor und gebe es ihm. Er wil erst nicht, da er weiß, daß heute jede Ziege das Doppelte kosten wird. Aber Mama spricht energisch auf ihn ein. Er steckt das Geld ein und verläßt beim ersten Klingeln der Glöckchen, das die Rückkehr der Tiere ankündigt, die Hütte.

Unsere Manyatta füllt sich nach und nach mit weiteren Frauen. Mama kocht Ugali, ein Maisgericht, und es wird viel geredet. Die Hütte ist vom Feuer nur spärlich erhellt.

Ab und zu versucht eine Frau ein Gespräch mit mir. Eine jüngere Frau mit Kleinkind sitzt neben mir und bestaunt zuerst meine Arme, die vol er Massai-Schmuck sind, und später wagt sie auch, in meine langen glatten Haare zu fassen. Wieder wird gelacht, und sie zeigt auf ihren kahlen Kopf, der nur mit einem Perlenband geschmückt ist. Ich schüttle den Kopf. Mich mit einer Glatze vorzustellen, fällt mir schwer.

Draußen ist es bereits stockdunkel, als ich ein grunzendes Geräusch vernehme.

Es ist das typische Geräusch der Männer, wenn sie in erregtem Zustand sind, sei es bei Gefahr oder auch beim Sex. Augenblicklich ist es still in der Hütte. Mein Krieger streckt den Kopf herein, verschwindet aber beim Anblick der vielen Frauen gleich wieder. Ich höre Stimmen, die immer lauter werden. Plötzlich ertönt ein Schrei, und sofort fallen mehrere Personen in eine Art Summen oder Gurren ein. Neugierig krieche ich hinaus und bin überrascht, wie viele Krieger und junge Mädchen vor unserer Hütte zum Tanz versammelt sind. Die Krieger sind schön bemalt und tragen ein rotes Hüfttuch. Ihre Oberkörper sind frei und mit gekreuzten Perlenketten geschmückt. Die rote Bemalung ist vom Hals bis zur Mitte der Brust im Spitz zulaufend. Mindestens drei Dutzend Krieger bewegen ihre Körper im gleichen Rhythmus. Die Mädchen, zum Teil sehr jung, vielleicht neun- bis etwa fünfzehnjährig, tanzen in einer Reihe, den Männern zugewandt, im Rhythmus den Kopf bewegend mit. Nur ganz allmählich wird der Rhythmus gesteigert. Nach gut einer Stunde springen die ersten Krieger in die Höhe, die typischen Massai-Sprünge.

Mein Krieger sieht wunderbar aus. Er springt wie eine Feder höher und höher. Die langen Haare flattern bei jedem Sprung. Die nackten Oberkörper glänzen vor Schweiß.

Man sieht alles nur undeutlich in der sternenklaren Nacht, dafür spürt man förmlich die Erotik, die sich durch das stundenlange Tanzen verbreitet. Die Gesichter sind ernst und die Augen starr. Ab und zu ertönt ein wilder Schrei, oder ein Vorsprecher singt, und die anderen fal en mit ein. Es ist phantastisch, und für Stunden vergesse ich meine Krankheit und Müdigkeit.

Die Mädchen suchen sich immer wieder andere Krieger aus, denen sie mit ihren nackten Brüsten und dem riesigen Halsschmuck entgegenwippen. Bei ihrem Anblick überkommt mich Traurigkeit. Mir wird bewußt, daß ich mit meinen siebenundzwanzig Jahren hier schon alt bin. Vielleicht nimmt Lketinga später so ein junges Mädchen als Zweitfrau. Von Eifersucht geplagt, fühle ich mich deplaziert und ausgeschlossen.

Die Gruppe formiert sich zu einer Art Polonaise, und Lketinga führt stolz die Kolonne an. Er sieht wild und unnahbar aus. Langsam geht der Tanz zu Ende. Die Mädchen begeben sich kichernd etwas abseits. Die Alten sitzen in ihre Wolldecken gehüllt im Kreis am Boden. Die Morans bilden ebenfal s einen Kreis. Nun wird der Segen von den Alten gesprochen. Einer spricht einen Satz, und alle sagen „Enkai“, das Massai-Wort für Gott. Dies wiederholt sich eine halbe Stunde lang, dann ist das gemeinsame Fest für heute beendet. Lketinga kommt zu mir und meint, ich solle nun mit Mama schlafen gehen. Er gehe mit den anderen Kriegern in den Busch, um eine Ziege zu schlachten. Geschlafen wird nicht, sondern von alten und kommenden Zeiten gesprochen. Ich kann das gut verstehen und wünsche ihm eine wunderbare Nacht.


In der Manyatta richte ich mich zwischen den anderen, so gut es geht, ein. Ich liege lange wach, weil überall Stimmen zu hören sind. In der Ferne brül en Löwen, vereinzelt meckern Ziegen. Ich bete, daß ich bald wieder zu Kräften komme.

Morgens um sechs Uhr beginnt die Tagwache. So viele Tiere auf einem Platz verursachen großen Lärm. Mama geht hinaus, um unsere Ziegen und Kühe zu melken. Wir machen Chai. Ich sitze eingehül t in meine Decke, weil es kühl ist.

Ungeduldig warte ich auf Lketinga, da ich seit längerem auf die Toilette muß, es aber bei so vielen Menschen nicht wage, den Kral zu verlassen. Jeder würde mir nachschauen, besonders die Kinder, die mir ständig hinterherlaufen, wenn ich ohne Lketinga ein paar Schritte umhergehe.

Endlich kommt er. Strahlend streckt er den Kopf in die Hütte: „Hel o, Corinne, how are you?“

Dabei wickelt er seinen zweiten Kanga auf und streckt mir, in Blätter eingepackt, ein gebratenes Schafbein entgegen: „Corinne, now you eat slowly, after Malaria this is very good.“

Es ist schön, daß er an mich gedacht hat, denn normal ist es nicht, daß ein Krieger seiner Braut fertig gebratenes Fleisch bringt. Als ich das Bein unschlüssig in der Hand halte, setzt er sich neben mich und schneidet mit seinem großen Buschmesser kleine, mundgerechte Teile ab. Lust auf Fleisch habe ich überhaupt nicht, doch etwas anderes gibt es nicht, und essen muß ich, wenn ich kräftiger werden will. Mit Überwindung verzehre ich ein paar Stücke, und Lketinga ist zufrieden. Ich frage, wo wir uns waschen können. Da lacht er und meint, der River sei sehr weit weg und mit dem Auto nicht erreichbar. Die Frauen holen nur das nötige Teewasser, für mehr reicht es nicht. Also müssen wir mit Waschen noch ein paar Tage warten. Dieser Gedanke ist mir unangenehm. Dafür gibt es fast keine Moskitos, aber um so mehr Fliegen. Beim Zähneputzen vor der Manyatta werde ich neugierig beobachtet. Als ich den Schaum ausspucke, sind die Zuschauer in hel er Aufregung. Nun muß auch ich wieder lachen.

An diesem Tag wird ein Ochse geschlachtet, mitten auf dem Platz. Es ist ein schauriges Schauspiel. Sechs Männer versuchen den Ochsen seitlich auf den Boden zu drücken. Das ist nicht einfach, da das Tier in seiner Todesangst mit dem Kopf wild um sich schlägt. Erst nach mehreren Versuchen gelingt es zwei Kriegern, den Ochsen an den Hörnern zu packen und den Kopf zur Seite zu drücken. Der Ochse sinkt langsam zu Boden. Sofort werden die Beine gefesselt. Drei Leute sind damit beschäftigt, ihn zu ersticken, während die anderen die Beine festhalten. Es ist grauenhaft, für die Massai aber die einzige Form, ein Tier zu töten. Als es sich nicht mehr regt, wird dem Tier die Schlagader geöffnet, und alle umstehenden Männer wollen von dem Blut schlürfen. Es muß eine Delikatesse sein, denn es entsteht ein richtiges Gedränge. Dann beginnt die Zerlegung. Alte Männer, Frauen und Kinder stehen bereits an, um ihre Teile zu bekommen. Die besten Stücke gehen an die alten Männer, dann erst kommen die Frauen- und Kinderanteile. Nach vier Stunden ist außer einer Blutlache und dem aufgespannten Fel nichts mehr übrig. Die Frauen haben sich in ihre Hütten zurückgezogen und kochen. Die alten Männer sitzen unter den Bäumen im Schatten, trinken Bier und warten auf ihre gekochten Stücke.

Am späten Nachmittag höre ich ein Motorengeräusch, und kurz darauf erscheint Giuliano auf seinem Motorrad. Ich begrüße ihn freudig. Er hat gehört, daß ich hier bin und Malaria habe, deshalb wol e er nach mir schauen. Er hat selbstgebackenes Brot und Bananen mitgebracht. Ich bin froh und fühle mich wie vom Weihnachtsmann beschenkt.


Nun erzähle ich ihm die ganze Misere von der geplatzten Hochzeit bis zur Malaria.

Er rät mir dringend, nach Wamba zu fahren oder zurück in die Schweiz, bis ich wieder kräftiger bin. Mit Malaria sei nicht zu spaßen. Bei diesen Worten schaut er mich eindringlich an, und mir wird klar, daß ich noch lange nicht über den Berg bin.

Dann steigt er auf sein Motorrad und braust davon.

Ich denke an zu Hause, an meine Mutter und an ein warmes Bad. Ja, im Moment wäre das wirklich schön, obwohl es nicht al zu lange her ist, daß ich in der Schweiz war. Allerdings kommt es mir wie eine Ewigkeit vor. Beim Anblick meines Darlings vergesse ich die Gedanken an die Schweiz. Er erkundigt sich nach meinem Befinden, und ich erzähle ihm vom Besuch des Paters. Von ihm habe ich erfahren, daß heute die Schüler von Maralal nach Hause kommen. Zum Teil bringt Pater Roberto einige mit seinem Fahrzeug her. Als Mama davon erfährt, hofft sie inständig, daß James dabei ist. Auch ich freue mich auf die Möglichkeit, mich zwei Wochen Englisch unterhalten zu können. Ab und zu esse ich ein paar Stücke Fleisch, die ich allerdings erst von einem Fliegenschwarm befreien muß. Das Trinkwasser sieht nicht wie Wasser aus, sondern eher wie Kakao. Mir bleibt nichts anderes übrig, als es zu trinken, wenn ich nicht verdursten will. Milch bekomme ich keine, denn Mama meint, nach einer Malaria sei diese sehr gefährlich, es könne einen Rückfall geben.

Die ersten Burschen aus der Schule treffen ein, und James ist mit zwei Freunden dabei. Sie sind gleich angezogen, kurze graue Hosen, ein hellblaues Hemd und ein dunkelblauer Pullover. Er begrüßt mich freudig, seine Mutter dagegen eher respektvol. Beim gemeinsamen Teetrinken beobachte ich diese Generation und bemerke, wie sehr sie sich von Lketinga und seinen Altersgenossen unterscheidet.

Irgendwie paßt sie nicht in diese Manyattas. James betrachtet mich und sagt, er hätte in Maralal gehört, daß ich Malaria habe. Er bewundere mich, wie ich in Mamas Manyatta als Weiße leben könne. Er als Samburu habe anfangs immer große Mühe, wenn er in den Schulferien nach Hause komme. Alles sei schmutzig und eng.

Die Jungen bringen Abwechslung, der Tag vergeht wie im Flug. Schon kommen die Kühe und Ziegen nach Hause. Abends findet ein großes Tanzfest statt. Heute tanzen sogar die alten Frauen, al erdings ganz unter sich. Auch die Burschen tanzen außerhalb des Krals, zum Teil in ihrer Schuluniform. Es sieht lustig aus. Später in der Nacht sammeln sich erneut die Könige des Festes, die Krieger. James steht daneben und nimmt den Gesang mit unserem Kassettenrecorder auf. Diese Idee war mir gar nicht gekommen. Nach zwei Stunden ist die Kassette vol. Die Krieger tanzen immer wilder. Einer der Morans fällt plötzlich in eine Art Rausch. Er schüttelt sich ekstatisch, bis er zu Boden sinkt und laut brüllend um sich schlägt. Zwei Krieger lösen sich aus dem Tanzritual und halten ihn mit Gewalt am Boden fest. Aufgeregt trete ich zu James und frage, was los sei. Dieser Moran habe vermutlich zuviel Blut getrunken und sei durch den Tanz in eine Art Trance gefallen. Nun kämpfe er in seinem Wahn mit einem Löwen. Es sei nicht so schlimm, da er bewacht und irgendwann auch wieder normal würde. Der Mann wälzt sich schreiend am Boden.

Die Augen sind starr gegen den Himmel gerichtet, er hat Schaum vor dem Mund. Es sieht grauenhaft aus. Ich hoffe nur, daß so etwas nicht Lketinga passiert. Außer den zwei Bewachern kümmert sich niemand um ihn, das Fest geht weiter. Auch ich schaue bald wieder Lketinga zu, wie er elegant in die Höhe schnel t. Noch einmal genieße ich diesen Anblick, denn offiziel ist das Fest heute nacht beendet.

Mama sitzt angetrunken in der Manyatta. Die Burschen lassen den Recorder laufen, und al es ist in heller Aufregung. Neugierig versammeln sich die Krieger um das Gerät, das James auf den Boden stellt. Lketinga erfaßt es als erster und strahlt über das ganze Gesicht, als er die einzelnen Morans am Schrei oder am Gesang erkennt. Während es die einen reglos mit aufgerissenen Augen anstarren, tasten andere das Gerät ab. Lketinga schultert stolz den Recorder, und einige Morans beginnen von neuem zu tanzen.

Langsam wird es kühl, und ich gehe in die Manyatta zurück. James wird bei einem Freund schlafen, und mein Darling zieht mit den anderen in den Busch. Wieder höre ich von überall Geräusche. Der Eingang der Hütte ist nicht zugedeckt, so daß ich noch ab und zu Beine vorbeihuschen sehe. Ich freue mich, wieder nach Barsaloi zu ziehen. Meine Kleider sind rauchig und schmutzig. Auch mein Körper sol te mit Wasser in Berührung kommen, von meinen Haaren ganz zu schweigen.

Die Burschen sind morgens früher als Lketinga in der Manyatta. Mama kocht Chai, als Lketinga den Kopf zur Hütte hereinstreckt. Beim Anblick der Burschen spricht er zornig auf sie ein. Mama erwidert etwas, und die Burschen verlassen unsere Manyatta ohne Chai. Dafür setzen sich Lketinga und ein zweiter Moran in die Hütte.

„What's the problem, darling?“

frage ich etwas verstört. Nach einer längeren Pause erklärt er mir, daß dies eine Kriegerhütte sei, und die unbeschnittenen Jungen hier nichts zu suchen hätten.

James müsse Essen und Trinken in einer anderen Hütte einnehmen, wo die Mama keinen Sohn im Moranalter, sondem in seinem Alter hat. Mama schweigt verbissen.

Ich bin enttäuscht, auf die englische Unterhaltung verzichten zu müssen, und empfinde gleichzeitig Mitleid mit den vertriebenen Burschen. Aber ich muß diese Gesetze akzeptieren.

Wie lange wir noch hier bleiben, frage ich. Etwa zwei bis drei Tage, ist die Antwort, dann geht jede Familie an ihren alten Platz zurück. Ich bin entsetzt, hier so lange aushalten zu müssen ohne Wasser, mit lästigen Kuhfladen und den Fliegen. Erneut beschleicht mich der Gedanke an die Schweiz. Ich fühle mich nach wie vor sehr schwach. Weiter als ein paar Meter in den Busch, um meine Notdurft zu verrichten, gehe ich nie. Auch möchte ich wieder ein normales Leben mit meinem Freund führen.

Nachmittags schaut Giuliano vorbei und bringt mir einige Bananen und einen Brief von meiner Mutter. Der Brief richtet mich auf, obwohl sich meine Mutter große Sorgen macht, weil sie lange nichts mehr von mir gehört hat. Der Pater und ich wechseln ein paar Worte, dann ist er schon wieder weg. Ich nutze die Zeit, einen Antwortbrief zu schreiben. Meine Krankheit erwähne ich nur beiläufig und verharmlose sie, um meine Mutter nicht zu beunruhigen. Allerdings deute ich an, daß ich eventuell bald in die Schweiz kommen werde. Den Brief wil ich bei unserer Rückkehr in der Mission abgeben. Meine Mutter wird drei Wochen auf ihn warten müssen.

Endlich brechen wir auf. Alles ist schnell verpackt. Möglichst viel wird im Landrover verstaut, den Rest bindet Mama auf die zwei Esel. Wir sind natürlich lange vor Mama in Barsaloi, und so fahre ich direkt zum Fluß. Da Lketinga den Wagen nicht unbewacht abstellen will, fahren wir im ausgetrockneten Bachbett weiter, bis wir ungestört sind. Ich entledige mich der rauchigen Kleider, und wir waschen uns ausgiebig. Der Seifenschaum läuft mir schwarz am Körper herunter. Auf meiner Haut hatte sich eine richtige Rußschicht gebildet. Geduldig wäscht mir Lketinga die Haare in mehreren Gängen.

Lange habe ich mich nicht mehr nackt betrachtet, deshalb fallen mir jetzt meine dünnen Beine auf. Nach dem Waschen fühle ich mich wie neu geboren. Ich wickle mich in einen Kanga und beginne mit dem Waschen der Kleider. Wie immer ist es mühsam, den Schmutz mit kaltem Wasser auszuwaschen, doch mit genügend Omo gelingt es einigermaßen. Lketinga hilft mir dabei und beweist, wie sehr er mich liebt, indem er meine Röcke, T-Shirts und sogar Unterwäsche mitwäscht. Kein anderer Mann würde die Kleider einer Frau waschen.

Unsere Zweisamkeit genieße ich sehr. Die nassen Kleider hängen wir über Büsche oder auf die heißen Felsen. Wir setzen uns in die Sonne, ich im Kanga, Lketinga völlig nackt. Er holt seinen kleinen Taschenspiegel hervor und beginnt sein gewaschenes Gesicht kunstvoll in orangefarbenem Ocker mit einem kleinen Hölzchen zu bemalen. Er macht dies mit seinen langen, eleganten Fingern so exakt, daß es für mich eine Freude ist, ihn zu beobachten. Er sieht phantastisch aus.

Endlich fühle ich wieder ein aufsteigendes Begehren. Er schaut zu mir und lacht:

„Why you look always to me, Corinne?“ „Beautiful, it's very nice“, erkläre ich. Doch Lketinga schüttelt den Kopf und meint, so etwas darf man nicht sagen, das bringt einem Menschen Unglück.

Die Kleider trocknen schnell, wir packen alles zusammen und brechen auf. Im Dorf halten wir an und besuchen das Chaihaus, in dem es neben Tee auch Mandazi, kleine Maisfladen, gibt. Das Gebäude ist eine Mischung zwischen Baracke und einer großen Manyatta. Am Boden befinden sich zwei Feuerstel en mit kochendem Chai.

Entlang den Wänden dienen Bretter als Bänke. Drei alte Männer und zwei Morans sitzen dort. Man begrüßt sich: „Supa Moran!“ „Supa“, ist die Antwort. Wir bestellen Tee, und während mich die zwei Krieger mustern, beginnt Lketinga das Gespräch mit den immer gleichen Anfangssätzen, die ich inzwischen verstehen kann. Man fragt hier jeden Unbekannten nach dem Geschlechtsnamen, dem Wohngebiet, wie es seiner Familie und seinen Tieren geht, woher man gerade kommt und wohin man wil. Dann bespricht man Begebenheiten, die stattgefunden haben. So funktioniert im Busch, was in der Stadt die Zeitung oder das Telefon leisten. Wenn wir zu Fuß unterwegs sind, wird mit jeder entgegenkommenden Person auf diese Weise gesprochen. Die beiden Morans wol en al erdings noch wissen, wer diese Mzungu sei. Dann ist das Gespräch beendet, und wir verlassen das Teehaus.

Mama ist angekommen und mit dem Flicken und Ausbessern unserer alten Manyatta beschäftigt. Das Dach wird wieder mit Pappkarton oder Sisalmatten zugestopft. Kuhmist ist momentan nicht vorhanden. Lketinga geht mit James in den Busch, um weitere Dornenbüsche zu schlagen. Sie wollen die Umzäunung ausbessern und erhöhen. Die Menschen, die in Barsaloi geblieben waren, wurden vor ein paar Tagen von zwei Löwen heimgesucht, die Ziegen gerissen haben. Sie kamen nachts und sprangen über den Dornenzaun. Dann schnappten sie die Ziegen und verschwanden spurlos in der Finsternis. Da keine Krieger hier waren, wurde die Verfolgung nicht aufgenommen. Doch die Zäune wurden daraufhin erhöht. Die ganze Gegend spricht von diesem Vorfal. Man muß auf der Hut sein, denn sie werden wiederkommen. In unserem Kral werden sie es schwieriger haben, denn wir beschließen, den Landrover neben der Hütte stehenzulassen, so ist der halbe Platz schon versperrt.

Gegen Abend kehren unsere Tiere zurück. Wegen der Schweizer Kuhglocke hören wir sie von weitem, und Lketinga und ich gehen ihnen entgegen. Es ist ein schönes Schauspiel, wenn die Tiere nach Hause drängen. Vorab die Ziegen, hinter ihnen die Kühe.

Unser Nachtessen besteht aus Ugali, das Lketinga erst spät in der Nacht ißt, wenn alles schläft. Endlich können wir uns lieben. Es muß geräuschlos vor sich gehen, da Mama und Saguna anderthalb Meter von uns entfernt schlafen. Trotzdem ist es schön, seine seidige Haut und sein Begehren zu spüren. Nach diesem Liebesspiel flüstert Lketinga: „Now you get a baby.“


Ich muß lachen über seine überzeugten Worte. Gleichzeitig wird mir bewußt, daß meine Regel seit längerem ausgeblieben ist. Doch schreibe ich das eher meinem angeschlagenen Zustand als einer Schwangerschaft zu. Mit dem Gedanken an ein Baby schlafe ich glücklich ein.

In der Nacht erwache ich und fühle ein Ziehen im Magen. Im nächsten Augenblick spüre ich, daß ich Durchfall bekomme. Panik erfaßt mich. Vorsichtig stupse ich Lketinga an, doch er schläft tief. Mein Gott, die Zaunöffnung finde ich nie! Außerdem sind vielleicht die Löwen in der Nähe. Lautlos krieche ich aus der Manyatta und spähe kurz um mich, ob jemand in der Nähe ist. Dann kauere ich mich hinter den Landrover, und schon geht es los. Es wil kein Ende nehmen. Ich schäme mich sehr, da ich weiß, daß es ein grobes Vergehen ist, wenn man diese Art von Notdurft innerhalb des Krals erledigt. Papier darf ich auf keinen Fall benutzen, und so reinige ich mich mit meiner Unterwäsche, die ich unter dem Landrover im Fahrgestell verstecke. Meine angerichtete Misere schütte ich mit Sand zu und hoffe, daß am Morgen von diesem Alptraum nichts mehr zu sehen ist. Ängstlich krieche ich zurück in die Manyatta. Niemand wacht auf, lediglich Lketinga grunzt kurz.

Wenn nur kein weiterer Schub kommt! Bis zum Morgen geht es gut, dann muß ich schnel im Busch verschwinden. Mein Durchfall hält an, und meine Beine zittern von neuem. Zurück im Kral schaue ich unauffällig neben den Landrover und stel e erleichtert fest, daß von meinem nächtlichen Mißgeschick nichts mehr sichtbar ist.

Ein streunender Hund hat wahrscheinlich den Rest erledigt. Ich erzähle Lketinga, daß ich Probleme habe und gedenke, bei der Mission nach Medizin zu fragen. Doch trotz der Kohletabletten hält der Durchfal den ganzen Tag an. Mama bringt mir selbstgemachtes Bier, von dem ich einen Liter trinken soll. Es sieht scheußlich aus und schmeckt auch so. Nach zwei Tassen zeigt sich zumindest die alkoholische Wirkung, den halben Tag döse ich vor mich hin.

Irgendwann kommen die Burschen vorbei. Lketinga ist im Dorf, und ich kann die Unterhaltung unbeschwert genießen. Wir sprechen über Gott und die Welt, über die Schweiz, meine Familie und über die hoffentlich baldige Heirat. James bewundert mich und ist stolz, daß der in seinen Augen nicht einfache Bruder eine weiße, gute Frau bekommt. Sie berichten viel aus der strengen Schule und wie anders das Leben wird, wenn man eine Schule besuchen kann. Viele Dinge zu Hause verstehen sie nun nicht mehr. Sie erzählen Beispiele, über die wir gemeinsam lachen.

Während der Unterhaltung fragt James, warum ich kein Geschäft mit meinem Auto betreibe. Ich könnte doch für die Somalis Mais oder Zuckersäcke bringen, Leute transportieren etc. Wegen der Straßen bin ich von dieser Idee nicht begeistert, erwähne aber, nach der Hochzeit irgend etwas zu machen, was Geld bringt. Am liebsten hätte ich einen Laden, in dem man alles Eßbare kaufen könnte. Dies ist jedoch zunächst ein Wunsch. Im Moment bin ich zu schwach, und erst muß die Heirat genehmigt werden, bevor ich arbeiten darf. Die Burschen sind von der Idee eines Shops fasziniert. James beteuert, daß er mir in knapp einem Jahr, wenn er seine Schule beendet hat, helfen will. Der Gedanke ist verlockend, doch ein Jahr ist eine lange Zeit.

Lketinga kommt zurück, und kurz darauf verziehen sich die Burschen respektvol.

Er will wissen, worüber wir uns unterhalten haben. Ich erzähle ihm von der vagen Idee mit einem Laden. Zu meiner Überraschung läßt auch er sich mitreißen von dieser Vorstel ung. Es wäre der einzige Massai-Laden weit und breit, und die Somalis hätten keine Kunden mehr, denn alle Leute kämen nur zu gerne zu einem Stammesbruder. Dann schaut er mich an und sagt, dies werde viel Geld kosten, ob ich denn soviel habe. Ich beruhige ihn, in der Schweiz sei noch etwas. Aber alles muß gut überlegt werden.

Загрузка...