20

»Die Tür öffnet sich, Herr!« sagte Lavinia leise.

»Ich werde mich zurückziehen«, erwiderte ich.

Wir standen in der Nähe eines der Hintereingänge des Großen Theaters. Lavinia kannte den Eingang gut. Es herrschte ein Kommen und Gehen, Leute waren unterwegs, Arbeiter, Träger und Sklavinnen, die Besorgungen zu erledigen hatten. Man fand auch ein paar Müßiggänger, die sich hier herumtrieben, darunter interessanterweise auch ein paar freie Frauen, deren Gewänder sie als Angehörige der verschiedensten Kasten kennzeichneten. In der Nähe standen auch zwei Sänften, deren Vorhänge ein Stück beiseite geschoben waren.

»Er ist es!« sagte Lavinia. Sie drückte sich gegen die Wand und hielt den Brief in ihrer Faust an die Brust gedrückt.

Ich spazierte unauffällig weiter. Ich wollte in der Nähe bleiben, aber nicht so nahe, daß ich hören konnte, was geschah.

Ein paar Meter weiter drehte ich mich um. Lavinia stand wie angewurzelt dort, wo ich sie zurückgelassen hatte. Ihr Herz mußte heftig schlagen. Ich konnte sehen, wie sich ihre Brust schnell hob und senkte, vermutlich vor Aufregung. Sie umklammerte den Brief. Ich verließ mich darauf, daß er von ihrer kleinen verschwitzten Hand nicht zerdrückt wurde.

Der Mann, um den es ging, war aus dem Hintereingang getreten. Zwei andere Männer begleiteten ihn.

Lavinia rührte sich nicht.

Ich war neugierig, diese Begegnung beobachten zu können, auch wenn ich hauptsächlich gekommen war, um Lavinia zu beschützen, falls sich das als notwendig erweisen sollte. Ich war mir nicht sicher, wie man auf sie reagieren würde. Schließlich war sie nur eine Sklavin, daran änderte auch die vorgebliche Kleidung einer Staatssklavin nichts. Außerdem war es möglich, daß man sich an sie aus den Tagen ihrer Freiheit erinnerte, als ihre Person unantastbar und unverletzlich, ihr Wille selbstsüchtig und anmaßend gewesen war, und das konnte ihr eine Tracht Prügel einbringen. Vielleicht um alte, unterdrückte Ressentiments aus der Welt zu schaffen oder um ihr einfach ihre derzeitige Verletzlichkeit und neue Stellung zu Bewußtsein zu bringen und sie daran zu erinnern, daß sie nicht mehr diejenige war, die man zufriedenstellen mußte, sondern sie die anderen zufriedenzustellen hatte.

Davon abgesehen war es möglich, daß man sich an sie aus ihren Tagen als Haussklavin im Haus des Appanius erinnerte. Dort war sie, vor allem als neue Sklavin, der Gnade der Männer des Hauses ausgeliefert gewesen, und vermutlich auch der der höhergestellten Sklavinnen. Möglicherweise hatten sich alle zusammengetan, um sie schlecht zu behandeln. Darum wollte ich in der Nähe bleiben. Ich hatte natürlich nichts dagegen, wenn sie jemand schlug. Das schadet einem Sklaven nicht, im Gegenteil. Aber ich wollte nicht, daß sie ernsthaft verletzt wurde.

Lavinia rührte sich nicht.

Das ärgerte mich, andererseits war es vielleicht nicht einmal das Schlechteste. Vier oder fünf der freien Frauen, die hier herumlungerten, eilten los, um sich um den Mann zu scharen. Andere hielten sich etwas zurück. In die Sänften kam keine Bewegung. Ich vermutete, daß etliche Schleier nicht so sorgfältig gerichtet waren, wie es sich schickte. Der Saum von mehr als nur einem Gewand wurde ein Stück angehoben, als die Frauen loseilten. Das war eine vielsagende Beobachtung, denn die Gasse war trocken. Das heißt, ich konnte weder Pfützen noch Schlamm entdecken. Zweifellos wollten die Frauen in ihrer Eile nur vermeiden, daß Staub aufwirbelte, in der Hoffnung, ihre Gewänder nicht zu beschmutzen. Es lungerten auch ein paar junge Burschen herum. Sie waren wohl gekommen, um zu sehen, welche Enthüllungen ein geschickt verrutschter Schleier zeigte, oder ob man, wenn man aufmerksam war und einem das Glück lachte, einen kurzen Blick auf einen aufblitzenden Knöchel erhaschen konnte.

Ich knurrte ungehalten. Sicher, es wäre für Lavinia nicht klug gewesen, auf den besagten Mann zuzustürzen und mit freien Frauen um seine Aufmerksamkeit zu wetteifern. Sie trug einen Kragen, also wäre es außerordentlich unklug, ja sogar gefährlich gewesen.

Milo, der Sklave und Schauspieler – denn um ihn handelte es sich natürlich bei dem besagten Mann –, brachte den Frauen, die sich um ihn scharten, viel Geduld entgegen, was von seinem Standpunkt aus vermutlich auch klug war. Sie standen eng um ihn herum, und einige berührten ihn sogar. Ihre Augen leuchteten, als sie zu ihm hochsahen. Einige konnten kaum ein Wort hervorbringen. Milo war recht groß und überragte sie alle. Ich betrachtete sie in ihren Gewändern. Sie hätten eine Gruppe hübscher kleiner Sklavinnen abgegeben, dachte ich.

Ich blickte zu Lavinia, die so nahe an der Häuserwand stand, daß man hätte meinen können, sie sei dort angekettet.

Nach einer gewissen Zeit begannen Milos Begleiter mit – so wie es aussah – sanften Worten und sanft bestimmenden Gesten darauf zu drängen, daß man dem Schauspieler nun gestattete, seinen Weg fortzusetzen. Die Frauen schienen darüber wenig erfreut zu sein. Einige protestierten sogar leise und verzweifelt. Sicherlich standen ihnen doch noch ein paar Augenblicke zu, um sich um ihn zu scharen, ihn zu berühren und ihre Komplimente zu äußeren. Sollte man ihnen jetzt schon verwehren, sich schwärmend in der Wärme dieses hellen Lächelns zu sonnen? Dann gaben sie den Weg frei und schauten ihm voller Sehnsucht nach, als er weiterging. Ich blickte zu Lavinia hinüber. Sie rührte sich noch immer nicht!

Mehr als nur eine der zurückbleibenden Frauen richtete ihren Schleier und tat dabei so, als wäre es ihr peinlich. Wie hatte er nur so verrutschen können?

Dann setzten sich einige der schüchternen Frauen, die es nicht gewagt hatten, ihn zu bedrängen, in Bewegung und liefen ihm nach, um allein mit ihm zu sein, und wenn es nur ein Augenblick war. Er würde sie anlächeln und einer die behandschuhte Hand küssen.

Er kam genau in meine Richtung. Lavinia ließ den Abstand zu ihm immer größer werden. Ich blickte sie an. Glaubte sie etwa, an der Wand festgekettet zu sein? Ich machte eine winzige, kaum wahrnehmbare Geste. Sie rückte ein Stück von der Wand ab, als wollte sie Milo und den anderen folgen. Im selben Augenblick trat einer der Sänftenträger auf die kleine Gruppe zu, kniete vor ihr nieder und zeigte auf die Sänfte. Lavinia wich schnell zurück. Langsam wurde ich ungeduldig, aber ich wollte nicht, daß sie mit der Person konkurrierte, die in der Sänfte saß und bei der es sich zweifellos um eine reiche freie Frau handelte. Die Sänfte machte nämlich nicht den Eindruck, als wäre sie oder wären ihre Träger gemietet. Ich konnte es nun wirklich nicht brauchen, daß Lavinia von einem der Sklaven geschlagen wurde und der Brief irgendwo im Straßenstaub landete.

Ich scharrte mit dem Fuß über die Pflastersteine der Gasse. Die Frau in der Sänfte mußte in der Tat sehr reich sein, Milos Begleiter zogen sich sogar zurück, damit er sich mit ihr unterhalten konnte. Ich beobachtete sogar, wie er schließlich den Kopf beugte und die Finger einer kleinen, behandschuhten Hand küßte, die zwischen den Vorhängen durchgestreckt wurde.

Das fand nun die Frau in der anderen Sänfte alles andere als erfreulich. Sie hatte nicht nur ihre Träger dabei, sondern auch noch ein paar freie Männer. Unwillkürlich fragte ich mich, ob sich die Träger im Auftrag ihrer Herrinnen auf der Straße miteinander austauschten. Vermutlich war das nicht auszuschließen.

Als Milo schließlich weiterging, wandte sich die zweite Sänfte lautlos und anmutig und auf eine Art, die mich an die witternden Bewegungen des neunkiemigen goreanischen Sumpfhais erinnerten, in seine Richtung.

Ich gab Lavinia ein ungeduldiges Zeichen.

Die Schönheit war aufgewühlt und völlig von ihren Gefühlen gefangen!

Aber das war auch nicht verwunderlich. Sie hatte sich hilflos in Milo verliebt! Was auch der eigentliche Grund dafür war, daß sie ihm in die Falle gegangen war. Als sie ihm dann kurz nach ihrer Versklavung in Appanius’ Haus begegnet war und ihn am Tisch hatte bedienen sollen, hatte sie ihm in ihrer Panik Paga über das Gewand gekippt und ihn dann auch noch berührt! Obwohl Milo nur ein Sklave war, durfte er am Tisch seines Herrn essen! Diese Information hatte mich nicht überrascht. Appanius schien viel von seinem Lieblingssklaven zu halten. Sehr viel sogar. Daß ihn eine Sklavin berührte, war ihm unerträglich. Das war auch der Grund gewesen, daß er Lavinia wutentbrannt aus seinem Haus verbannt und aufs Feld geschickt hatte. Der Grund, warum ich sie so billig erwerben konnte.

Milo und seine Begleiter gingen an mir vorbei. Unsere Blicke trafen sich kurz, dann sahen sie schnell beiseite. Einen Augenblick später war auch die zweite Sänfte vorbei und hielt weiter auf die kleine Gruppe zu. Zögernd verließ Lavinia den Schutz der Wand und nahm die Verfolgung auf. Als sie an mir vorbeikam, ergriff ich sie am Arm und zog sie auf die Seite.

»Was ist los mit dir?«

»Ich warte auf meine Gelegenheit, Herr!« erwiderte sie, ohne mich anzusehen, da ihr Blick der Gruppe folgte. Ich ließ sie los. Es war sinnlos, auf sie wütend zu sein. Die Sklavin hatte bis jetzt noch keine passende Gelegenheit gehabt, um sich dem Schauspieler zu nähern. Ich glaube, meine leichte Gereiztheit lag eher in der Furcht begründet, daß sie diese im Prinzip so einfache Angelegenheit verpatzte, und zwar aus irgendwelchen unerklärlichen Gefühlsaufwallungen. Vielleicht konnte ich es auch einfach nicht erwarten, daß das Unternehmen erfolgreich abgeschlossen wäre.

Lavinia eilte los und ging der Sänfte und ihrem Zielobjekt hinterher. Und ich setzte mich auch wieder in Bewegung.

Ein paar Ehn später, auf der Straße des Aulus in der Nähe des Tarnhofs, sah ich dann, wie einer der freien Männer, die die Sänfte begleiteten, loseilte, um Milo und seine Begleiter zu veranlassen stehenzubleiben. Lavinia befand sich etwa dreißig oder vierzig Meter hinter der Sänfte. Ich wiederum ging zehn Meter hinter ihr. Die kleine Gruppe wartete nun auf die Ankunft der Sänfte, die sich ihr auf würdevolle Weise näherte; die Träger waren eindrucksvoll in ihren gemessenen Bewegungen, wie es sich für die zweifellos hohe Stellung der in ihr sitzenden Frau auch schickte. Sie stellten die Sänfte auf der schattigen Straßenseite ab, in Nähe einer Wand, die mit Theaterplakaten übersät war. Dann zogen sich alle zurück, die Träger, die freien Männer und Milos Begleiter. Das versetzte den Schauspieler in die Lage, sozusagen tête-à-tête mit der Frau zusammenzukommen, und zwar in einer Ungestörtheit, von der sie vermutlich erwartete, daß sie gesichert war.

Ich fragte mich, ob Milo auf seinem Rückweg vom Theater zum Haus seines Besitzers Appanius immer soviel Rummel über sich ergehen lassen mußte. Als die Sänfte anhielt, blieb Lavinia auch stehen, und ich folgte ihrem Beispiel. Während Milo mit der Besitzerin der Sänfte beschäftigt war, bemerkte der Mann, der vorausgeeilt war, um den Schauspieler zum Stehenbleiben zu veranlassen, plötzlich Lavinia und ging auf sie zu. Sie muß ihn kommen gesehen haben, denn sie reagierte voller Angst und drehte sich um. Sie warf mir einen verzweifelten Blick zu, aber ich tat so, als würde ich sie nicht sehen. Sie ging, die Straße des Aulus in meine Richtung zurück, aber der Mann rief: »Bleib stehen, Sklavin!«

Einen Augenblick lang fürchtete ich, daß sie von Panik übermannt loslaufen würde, woraufhin er sie schnell eingeholt haben und sie schlagen würde, denn freien Personen hatte man zu gehorchen. Aber zu meiner Zufriedenheit war sie trotz ihrer panischen Angst klug genug, sich umzudrehen und niederzuknien. Und da er ein Mann war, hatte sie die Knie auch in der richtigen Stellung. Einer der Vorteile dieser Stellung – neben ihrer allgemeinen Schicklichkeit – besteht darin, daß sie einen beschwichtigenden Wert hat.

Der Mann hatte sie vermutlich in der Nähe des Theaters gesehen, und dann war ihm aufgefallen, daß sie der Gruppe folgte. Vielleicht wollte er sich auch nur das Warten verkürzen und sie für ein kurzes Vergnügen gegen die Häuserwand drücken oder in einen Türeingang führen. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß es mich stören würde, solange es dabei blieb. Außerdem paßte das zu ihrer Rolle als Staatssklavin, die allgemein gegen derartige Aufmerksamkeiten nichts einzuwenden haben, sogar in dem Ruf stehen, sie zu provozieren. Der Staat kümmert sich nicht um die sexuellen Bedürfnisse seiner Sklaven.

Aber der Mann machte einen ärgerlichen Eindruck, darum näherte ich mich den beiden unauffällig. Er stand jetzt vor Lavinia, die mit weit aufgerissenen Augen vor ihm am Boden kniete. Ich begriff, daß er die Interessen seiner Arbeitgeberin schützen und sie verscheuchen wollte. Das war nicht hinnehmbar. Er hob die Hand, um die Sklavin zu schlagen. Ich ergriff sie mitten in der Luft am Handgelenk und hielt sie fest. »Ai!« rief er überrascht und von Schmerzen erfüllt aus. Als er aufhörte sich zu wehren, ließ ich die Hand los. Er zog sie zurück und rieb sie wütend.

»Was hat diese Einmischung zu bedeuten?« knurrte er.

»Was hattest du denn vor?« fragte ich neugierig.

Er trat einen Schritt zurück. »Ich?«

»Sich einer Staatssklavin in den Weg zu stellen«, sagte ich kopfschüttelnd.

»Sie verfolgt uns!«

»Warum?«

»Nun«, sagte er, »nicht uns, aber eine andere Person.«

»Wen denn?«

»Na, sie«, erwiderte er und zeigte in Richtung der Sänfte.

»Und was geht das dich an?« fragte ich.

»Meine Arbeitgeberin würde das nicht besonders schätzen.«

»Deine Arbeitgeberin ist also eine eifersüchtige Sklavin?«

»Nein!« sagte er. »Es ist Lady …«

»Ja?«

»Das spielt keine Rolle«, sagte er gereizt.

»Vielleicht hat ihr Herr ihr ja nur noch keinen Namen verliehen«, meinte ich.

Der Mann wies auf Lavinia. »Du siehst doch, daß sie eine Botschaft trägt.«

»Gib mir den Brief«, befahl ich Lavinia.

»Er ist privat«, antwortete sie.

Ich streckte die Hand aus, und sie gab ihn mir.

»Unwichtig«, sagte ich nach einem flüchtigen Blick auf das Papier und gab es ihr zurück.

»Laß mich ihn sehen«, verlangte der Mann.

»Du stellst mein Wort in Frage?« fragte ich lauernd.

»Nein!«

»Zieh!« sagte ich und griff in meine Tunika.

»Ich bin unbewaffnet!« sagte er entsetzt. »Das ist das Gesetz! Wir Arer dürfen keine Waffen tragen.«

»Dann laß uns unsere Meinungsverschiedenheit mit den Fäusten austragen«, schlug ich vor.

»Du bist ja betrunken!« Er trat einen Schritt zurück.

»Sollte das so sein, hast du einen Vorteil.«

»Es schickt sich nicht für freie Männer, sich vor einer Sklavin zu streiten.«

»Ich schicke sie fort«, bot ich an.

»Nein, nein«, sagte er nervös. »Sie stört nicht.«

»Du würdest sie von ihren Pflichten abhalten?« fragte ich lauernd.

»Nein«, erwiderte er. »Nein!«

»Ruhm und Ehre für Talena, die Ubara von Ar«, sagte ich.

»Ja, Ruhm und Ehre für Talena, natürlich!« beeilte er sich zu erwidern.

»Ruhm und Ehre für Seremides, den ersten Minister der Ubara, den Befehlshaber der Taurentianer, für Myron, den Polemarkos von Temos, für Lurius von Jad!«

»Ja, ja, Ruhm und Ehre für sie alle!«

»Ruhm und Ehre für ein fettes Tharlarion!«

»Wenn du meinst«, erwiderte er. »Auch das, selbstverständlich!«

»Du stimmst aber auch allem zu«, stellte ich fest.

»Ich versuche nur, höflich zu sein.«

»Ich glaube, ich sollte deine Lady kennenlernen.«

»Nein, tu das nicht!«

»Um sich bei ihr über deine Behinderung der Pflichten einer Staatssklavin zu beschweren.«

»Sie unterhält sich gerade.«

»Das spielt keine Rolle.«

»Stör sie nicht!«

»Vielleicht möchtest du mich ja aufhalten?«

»Nein!« Er drehte sich ruckartig um und eilte auf die Sänfte zu.

»Ich schlage vor, du fängst unsere Zielperson am Tarnhof ab, unterhalb der Schattenspaliere. Meines Wissens ist das seine übliche Strecke. Außerdem wird es dann so aussehen, als hätte ich dich fortgeschickt, damit du deinen Auftrag erledigen kannst.«

»Ja, Herr.«

»Und steck den Brief unter die Tunika«, sagte ich. »Gib ihn ihm, wenn der richtige Augenblick gekommen ist.«

»Ja, Herr.« Sie küßte den Brief und schob ihn unter den Stoff.

»Es ist ein sehr gut geschriebener Brief«, sagte ich.

»Danke, Herr.« Sie hatte den Brief verfaßt, nach meinen Vorgaben. Marcus und ich hatten uns einige Zeit damit abgemüht, schließlich dann aber aufgegeben. Lavinia hatte es geschafft. Die Botschaft war wie ein Gedicht, zart und rührend, ein verzweifelter, flehentlicher Brief einer hochintelligenten, durch und durch weiblichen, außerordentlich verletzlichen, sich vor Sehnsucht verzehrenden Frau, die sich hoffnungslos verliebt hatte, die bereit war, sich auf- und ihrem Geliebten hinzugeben. Sowohl Marcus als auch ich waren erstaunt gewesen, daß Lavinia so gute Arbeit geleistet hatte. Es war fast so, als schriebe sie den Brief um ihrer selbst willen und nicht als Teil eines Planes. Nur Phoebe war nicht überrascht gewesen, sondern hatte bloß gelächelt.

»Und nun geh.« Ich blickte zur Sänfte, die noch immer an Ort und Stelle stand. »Unser Mann wird gleich weitergehen.«

Da schluchzte Lavinia plötzlich auf. »Herr, was ist, wenn ich es nicht tun kann?«

»Ich verstehe nicht.«

»Was ist, wenn ich vor Furcht sterbe, es nicht einmal wage, mich ihm zu nähern?«

»Dieses Risiko gehe ich ein«, sagte ich.

»Herr!« erwiderte sie. »Ich meine es ernst!«

»Ich bezweifle, daß es möglich ist, in dieser Angelegenheit vor Angst zu sterben«, sagte ich, »aber sollte dir dies tatsächlich gelingen, werde ich eben ein anderes Mädchen finden müssen.«

»Ich verstehe.«

»Also mach dir keine Sorgen. Wie du siehst, ist das völlig unnötig.«

»Das beruhigt mich sehr.«

Ich ging neben ihr in die Hocke. »Was bist du?« fragte ich.

»Eine Sklavin.«

»Und was noch?«

»Nur das«, erwiderte sie verwundert. »Eine Sklavin.«

»Daran mußt du immer denken«, sagte ich sanft zu ihr. »Ruf dir das ins Gedächtnis zurück, wenn du ihm gegenübertrittst, und die Wahrheit, die darin steckt.«

»Ich verstehe, Herr.« Sie lächelte durch ihre Tränen hindurch.

»Ich glaube nicht, daß du versagst.«

Sie lächelte. »Das glaube ich auch nicht.«

Ich streckte den Arm aus. »Vertrödel hier nicht deine Zeit, Sklavin«, sagte ich laut. »Geh! Erfüll deine Pflicht!«

»Ja, Herr.« Lavinia sprang auf und eilte die Aulus zurück.

Die Entscheidung, daß sie den Brief unter ihrer Tunika tragen sollte, hatte ich getroffen, damit er keine Aufmerksamkeit erregte. Der freie Mann zum Beispiel hatte ihn sofort gesehen.

Ich drehte mich um und sah, wie die Träger die Sänfte anhoben. Das war mein Zeichen. Ich eilte Lavinia hinterher, nahm aber nicht ihren Weg, sondern eine ähnliche Route, die mich zum Tarnhof brachte.

Ein paar Ehn später hatte ich ihn erreicht. Trotz des Namens handelt es sich in Wirklichkeit um eine breite Straße, das heißt, eine für eine goreanische Stadt breite Straße. Einige Blocks östlich der Aulus ist sie der Standort eines Gemüse- und Obstmarktes, der hier immer am Vormittag abgehalten wird. Auf seiner Höhe wird die Straße von ihrer nördlichen bis fast zur südlichen Seite von einer großen Anzahl schlingpflanzenbewachsener Spaliere beschattet, die den Waren Schutz bieten und später am Tag den Fußgängern Schatten spenden. Viele goreanische Straßen liegen ständig im Schatten, was an ihrer Enge und den umstehenden Gebäuden liegt. Daraus resultiert, daß man sich nicht immer nach dem Stand der Sonne richten kann und leicht die Orientierung verliert. Daß nicht alle Straßen allgemeingültige Namen tragen, sorgt für ein zusätzliches Durcheinander. Jemand, der sich in der Gegend auskennt, hat da keine Schwierigkeiten, aber für einen Fremden kann das sehr verwirrend sein. Schließlich entdeckte ich die kleine Gruppe von drei Männern, die langsam in östlicher Richtung gingen. Ich war etwa fünfzig Meter hinter ihnen. Von Lavinia war zuerst nichts zu sehen, aber dann, etwa siebzig Meter weiter vorn, vor dem östlichen Ende des mit Spalieren abgezäunten Gebietes, auf dem der Morgenmarkt abgehalten wurde, entdeckte ich sie in einem schachbrettartigen Fleck aus Licht und Schatten. Offensichtlich war sie ein Stück vorausgeeilt, damit sie auch sicherging, Milo und seine Begleiter nicht zu verpassen. Außerdem hatte sie so genug Zeit gewonnen, um die Fassung wiederzuerlangen. Sie lag vor einer Wand auf den Knien, in Nähe eines Sklavenrings. Nicht nur, daß es sich so gehörte, es verstärkte die Wirkung, die sie mit ihrer Schönheit, ihrem Kragen und dem Sklavenring auf alle vorbeigehenden Männer ausüben mußte. An solchen Ringen kann ein Herr ein Mädchen anketten, während er sich mit ihr beschäftigt. Es freute mich, daß sie klug genug gewesen war, nicht den Eindruck zu erwecken, daß ihr Herr sie dort abgesetzt hatte, denn dann hätte ihr Aufspringen unnötiges Erstaunen hervorgerufen.

Als die drei Männer nur noch wenige Meter von Lavinia entfernt waren, stand sie anmutig auf. Natürlich entging ihnen das nicht, denn zweifellos hatten sie sie schon eine ganze Weile beobachtet. Ihre Blicke trafen sich, und sie senkte demütig den Kopf. Dieser Kontakt, so kurz er auch gewesen sein mochte, veranlaßte die Männer stehenzubleiben. Lavinia hatte damit zum Ausdruck gebracht, daß sie auf sie gewartet hatte und nun näher kommen würde. Milos Begleiter blickten einander an. Dieses Mädchen, das da auf sie gewartet hatte, trug die Tunika einer Staatssklavin. War es möglich, daß sie eine Botschaft vom Zentralzylinder überbrachte, möglicherweise von einer der vielen freien Frauen aus dem Gefolge der Ubara? Oder gar von der Ubara selbst? Möglicherweise erinnerten sie sich auch daran, daß die Sklavin schon in der Nähe des Theaters gewartet hatte. Sie hatte auf eine diskrete Gelegenheit zur Kontaktaufnahme gewartet. Ging hier etwas Geheimes vor? Der Markt war geschlossen. Die Straße so gut wie verlassen. Der Tag war heiß, selbst im Schatten der Spaliere.

Ich drückte mich neben einem Türeingang an die Wand. Wegen den vielfältigen Schattenmustern und den Schlingpflanzen hielt ich es für unwahrscheinlich, daß man mich bemerken würde. Außerdem ragten zwischen uns mehrere der Pfähle in die Höhe, die das große Dachspalier trugen.

Milo sagte etwas zu seinen Begleitern. Die beiden Männer zogen sich sofort zurück. Das fand ich interessant. Es hatte den Anschein, als wenn diese Begegnung inoffiziell stattfinden oder zumindest der Anschein einer Privatsphäre gewahrt bleiben sollte.

Das Mädchen ging auf den Sklaven zu.

Sie näherte sich ihm mit schnellen, kleinen Schritten und gesenktem Kopf, die Hände an den Seiten, die Handflächen nach hinten. In seiner Nähe hob sie den Kopf ein Stück, wagte es aber kaum, seinen Blick zu erwidern, sie kniete vor ihm nieder, wie vor einem Herrn, und erwies ihm ihren Gehorsam, indem sie die Stirn zwischen seinen goldenen Sandalen auf das Pflaster legte und die Handflächen folgen ließ, die sie zu beiden Seiten des Kopfes auf den Boden drückte. Das war natürlich keineswegs ungehörig; obwohl sie beide den Sklavenstatus hatten, war sie doch eine Frau und er ein Mann, also konnte man ihre Gehorsamsgeste, die in diesem Augenblick zwischen Sklaven erfolgte, einfach als die zwischen Frauen und Männern ansehen.

Dann sah Lavinia zu ihm auf, mit Tränen in den Augen. Von seiner Reaktion glaubte ich ablesen zu können, daß er sie in diesem Moment deutlich erkannte, sich an sie von ihrer Gefangennahme im Metellanischen Bezirk erinnerte, als er sie, die freie Frau, als Verführungssklave für seinen Herrn Appanius in die Falle gelockt hatte. Er machte ein verblüfftes Gesicht. Ich weiß nicht, ob es daran lag, daß er sie so unerwartet in ihrem Kragen wiedersah, oder ob seine Verblüffung eher darin begründet lag, daß er die unglaubliche Verwandlung erkannte, durch die die freie Frau, die er gefangen genommen hatte, nun in ihrem Sklavinnentum so erstaunlich faszinierend und wunderschön geworden war. Vielleicht war es von beidem etwas.

Lavinia richtete sich wieder auf und zog mit bebenden Lippen den Brief unter der Tunika hervor, wo sie ihn in der Nähe ihres Herzens aufbewahrt hatte, und streckte ihn Milo entgegen.

Die beiden Begleiter hatten sich das in aller Ruhe angesehen, aber jetzt, da die Staatssklavin dem Schauspieler etwas geben wollte, setzte sich einer von ihnen in Bewegung, um ihr den Brief abzunehmen, aber Lavinia packte ihn mit ihrer kleinen Faust, drückte ihn an den Körper und schüttelte entschieden den Kopf. Der Brief war offensichtlich nur für den Sklaven bestimmt.

Der Mann versuchte es erneut, aber sie rutschte zurück, legte wieder die Stirn auf den Boden, als wollte sie die Demutshaltung einnehmen, und hielt das Stück Papier unter ihrem Körper verborgen. »Nein, Herr!« sagte sie. »Es tut mir leid, Herr!«

»Miststück!« rief der Mann und versetzte ihr einen Tritt.

»Warte«, mischte sich sein Gefährte ein. »Hat man dir einen genauen Befehl gegeben?« fragte er Lavinia.

»Ja, Herr!« erwiderte sie. »Ich darf den Brief nur einer Person aushändigen, nur ihr allein!«

»Also gut«, sagte der Mann.

Lavinia stand dankbar auf, ging zu dem Sklaven und kniete vor ihm nieder. Wie anmutig sie vor ihm auf die Knie ging! Wie gut sie zu seinen Füßen aussah, auch wenn er nur ein Sklave war! Sie reichte ihm den Brief, den sie mit beiden Händen hielt, während sie dabei den Kopf senkte, bot ihn ihm an, wie eine Sklavin ihrem Herrn Wein reicht. Milo schien dieser Anblick vollkommener Schönheit richtiggehend zu erschüttern. Ich vermute, daß nie zuvor eine solche Frau auf diese Weise vor ihm gekniet hatte. In diesem Augenblick erahnte er vermutlich zum erstenmal die Macht und die Vollkommenheit, die in der Herrschaft lag.

Ich sah zu, wie Lavinia ihm den Brief gab. Es war beinahe so, als wäre es ihr Brief, den sie ihm flehentlich um ihrer selbst willen darbot, und nicht die vermeintlichen Zeilen einer anderen, die sie nur als Kurierin überbrachte. Ihr Benehmen überraschte mich. Außerdem beeindruckte es mich. Mir war noch gar nicht aufgefallen, daß sie so schön war.

»Du hast deinen Brief abgegeben, Miststück!« knurrte der eine Mann ärgerlich. »Verschwinde!«

»Ja, Herr!«

Er holte wütend mit der Hand aus, als wollte er sie schlagen. Lavinia stolperte nun alles andere als anmutig auf die Füße und lief an mir vorbei die Straße entlang.

»Sie ist hübsch«, sagte der Mann, der sie befragt hatte, und sah ihr hinterher.

»Aber sie ist nur eine Frau!« sagte sein Gefährte, der sie bedroht hatte.

»Und eine Sklavin.«

»Ja.«

Milo, der mitten auf der Straße im Licht und Schatten des Spaliers stand, sah ihr versonnen nach. In der Hand hielt er den Brief, an dem er anscheinend alles Interesse verloren hatte. Offenbar konnte er den Blick nicht von der forteilenden Gestalt Lavinias abwenden. War es möglich, daß sie ihn interessierte, und zwar auf die natürlichste Weise, in der ein Mann eine Frau interessant findet – nämlich in sexueller Hinsicht? Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Ich ging davon aus, daß so etwas keine Auswirkung auf meinen Plan haben würde.

»Lies den Brief«, befahl einer der Männer.

Abwesend, so als wäre er sich außer der immer kleiner werdenden Gestalt der Sklavin seiner Umgebung nicht mehr bewußt, entfaltete er das Blatt Papier. Anscheinend konnte er lesen. Darauf hatte ich mich verlassen. Er war ein hochrangiger Sklave. Außerdem wäre es ihm sonst wohl schwergefallen, seine Rollentexte zu lernen.

»Was steht drin?« fragte der eine Begleiter.

Der Sklave drückte den Brief an den Leib. »Es ist privat«, antwortete er, »und ich fürchte auch persönlich.«

»Laß mich sehen«, beharrte der Begleiter.

»Es ist besser, wenn nur Appanius und ich das zu Gesicht bekommen«, sagte Milo. Er sah regelrecht erschüttert aus.

»Gut, wie du willst«, sagte der Begleiter und trat einen Schritt zurück. Milos’ Reaktion hatte ihm wohl verraten, daß die Angelegenheit zu ernst war, um jedermann anzugehen.

»Ist es wichtig?« fragte der andere Begleiter.

»Ich furchte ja.«

»Dann laß uns zum Haus zurückkehren.«

Sie gingen weiter und begaben sich, nachdem sie das Spalier hinter sich gelassen hatten, auf die rechte Straßenseite, wo es nun, am späten Nachmittag, wesentlich schattiger war. Normalerweise benutzen die Goreaner lieber die linke Straßenseite, da die meisten Männer Rechtshänder sind. So befindet sich der Schwertarm immer auf der Seite der entgegenkommenden Fremden.

Ich sah ihnen nach. Tatsächlich war ich nicht einmal hundertprozentig davon überzeugt gewesen, daß der Sklave Appanius den Brief auch zeigen würde, andererseits bestand dafür jedoch eine hohe Wahrscheinlichkeit, vor allem jetzt, da er ihn unter Zeugen entgegengenommen hatte, womit ich nicht hatte rechnen können. Meine Pläne erforderten natürlich nicht, daß Appanius über den Brief Bescheid wußte. Obwohl er darin eine große Rolle spielte. Der Brief konnte jedoch seinen Zweck erfüllen, auch ohne daß er ihn kannte.

Ich ging nach Westen.

Ein paar Ehn später hatte ich unseren Treffpunkt auf der Straße von Verrick erreicht. Ich stellte mich neben einen Hauseingang und wartete. Lavinia würde sich hüten, in der Gegend herumzulungern, da dies Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. Sie sollte mehrmals an dieser Stelle vorbeigehen. Und da kam sie auch schon.

Wie schön sie gewesen, wie verführerisch sie nun war.

»Herr«, sagte sie.

»Hier hinein.« Ich zeigte auf den Eingang.

Sie trat in den Eingang, der Sie allen Blicken entzog. »Ich habe den Brief überbracht«, sagte sie.

»Ich weiß.«

»Du hast zugesehen?«

»Ja.«

Sie blickte zu Boden.

»Hab keine Angst«, sagte ich. »Es war alles in Ordnung. Du bist eine Sklavin.«

»Ja, Herr«, erwiderte sie überrascht, als wäre es ihr erst jetzt aufgefallen. »Und es gefällt mir.«

»Du hast deine Arbeit sehr gut gemacht«, sagte ich. »Ich bin zufrieden mit dir.«

»Vielen Dank, Herr.«

Ich legte ihr den Umhang um die Schultern. »Wir kehren zum insula zurück. Du darfst vorausgehen.«

Lavinia lächelte. »Ja, Herr«, sagte sie.

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