9 Silvanesti. Eintreten in den Traum

Am dritten Tag ihrer Reise flogen sie in den Sonnenaufgang. Sie hatten die Drachen anscheinend verloren, obwohl Tika, die weiterhin nach hinten Ausschau hielt, überzeugt war, schwarze Punkte am Horizont zu erkennen. An jenem Nachmittag, als die Sonne hinter ihnen unterging, näherten sie sich dem Fluß, der als Thon-Thalas – Herrscherfluß – bekannt war, und der die Grenze zwischen der Außenwelt und Silvanesti bildete.

In seinem ganzen Leben hatte Tanis von den Wundern und der Schönheit der uralten Elfenheimat gehört, obwohl die Elfen in Qualinesti von ihr ohne Bedauern sprachen. Sie vermißten nicht die verlorenen Wunder von Silvanesti, denn die Wunder an sich waren ein Symbol der Meinungsverschiedenheiten zwischen den Elfensippen.

Die Elfen in Qualinesti lebten in Harmonie mit der Natur, sie entwickelten und forderten ihre Schönheit. Sie errichteten ihre Häuser zwischen den Espen, verschönerten die Stämme mit Gold und Silber. Sie bauten ihre Häuser aus schimmerndem Rosenquarz und luden die Natur ein, mit ihnen zusammenzuwohnen.

Die Silvanesti jedoch liebten die Einzigartigkeit und Verschiedenartigkeit aller Dinge. Aber sie sahen nicht die Einzigartigkeit in der Natur, sondern formten die Natur nach ihren Idealen. Sie hatten Geduld, und sie hatten Zeit, denn was sind Jahrhunderte für Elfen, deren Leben sich über Hunderte von Jahren erstrecken? Und so formten sie ganze Wälder um, beschnitten die Bäume, setzten sie um und zwangen Gesträuch und Blumen zu phantastischen Gärten von unglaublicher Schönheit.

Sie ›bauten‹ keine Häuser, sondern meißelten und höhlten den Marmorstein aus, der in ihrem Land in solch seltsamen und wunderbaren Formen existierte, daß in den Jahren, bevor sich die Rassen entfremdeten, Zwergenmeister Tausende von Meilen zurücklegten, um sie zu besichtigen, und dann nicht anders konnten, als über ihre seltene Schönheit zu weinen. Und es hieß, daß ein Mensch, der in den Gärten von Silvanesti wandern würde, sie niemals wieder verlassen könnte, sondern für immer blieb – verzaubert, gefangen in einem wunderschönen Traum.

All dies wußte Tanis natürlich nur aus Legenden, denn keiner der Qualinesti in seiner uralten Heimat hatte seit den Sippenmord-Kriegen einen Fuß dorthin gesetzt. Kein Mensch – so glaubte man – durfte Silvanesti schon hundert Jahre vor den Kriegen mehr betreten.

»Was ist mit diesen Geschichten?« fragte Tanis Alhana, als sie auf dem Rücken des Greifs über Espen flogen, »diese Geschichten, daß Menschen von der Schönheit Silvanestis so gefesselt werden, daß sie es nicht mehr verlassen können? Können meine Freunde es wagen, dieses Land zu betreten?« Alhana warf ihm einen flüchtigen Blick zu.

»Ich weiß, daß Menschen schwach sind«, sagte sie kühl, »aber ich glaube nicht, daß sie so schwach sind. Es stimmt, daß Menschen nicht mehr nach Silvanesti kommen, aber das liegt daran, daß wir sie nicht hereinlassen. Und wir wollen sicherlich keine im Land behalten. Wenn diese Gefahr bestünde, hätte ich euch nicht mitgenommen.«

»Nicht einmal Sturm?« Er konnte sich diese Frage nicht verkneifen, verärgert über ihren verletzenden Ton.

Aber er war nicht auf ihre Antwort vorbereitet. Alhana drehte sich so schnell herum, daß ihr langes schwarzes Haar gegen seine Haut schlug. Ihr Gesicht war vor Zorn dermaßen blaß, daß es fast durchsichtig wirkte, und er konnte die Adern unter der Haut erkennen. Ihre dunklen Augen schienen ihn in ihre schwarzen Tiefen zu ziehen.

»Sprich nie mehr darüber mit mir!« sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen und weißen Lippen. »Sprich niemals von ihm!«

»Aber letzte Nacht...«, stammelte Tanis erstaunt und fuhr mit einer Hand über seine brennende Wange.

»In der letzten Nacht ist nichts passiert«, entgegnete Alhana.

»Ich war schwach, müde und verängstigt. Wie ich es auch war, als... als ich Stu... den Ritter traf. Ich bedaure, mit dir über ihn gesprochen zu haben. Ich bedaure, dir vom Sternenjuwel erzählt zu haben.«

»Bedauerst du auch, ihm den Juwel gegeben zu haben?« fragte Tanis.

»Ich bedaure den Tag, an dem ich meinen Fuß auf Tarsis' Boden gesetzt habe«, sagte Alhana mit leiser leidenschaftlicher Stimme. »Ich wünschte, ich wäre niemals dort gewesen! Niemals!« Sie drehte sich abrupt um und ließ Tanis in dunklen Gedanken zurück.

Die Gefährten hatten gerade den Fluß erreicht, von wo sie den hohen Sternenturm, der wie ein Perlenstrang in der Sonne funkelte, erblicken konnten, als die Greife plötzlich ihren Flug unterbrachen. Tanis konnte keinerlei Anzeichen von Gefahr erkennen. Aber die Greife ließen sich weiter schnell nach unten sinken.

Es schien in der Tat kaum glaubhaft, daß Silvanesti angegriffen worden war. Keine dicken Rauchwolken von Lagerfeuern erhoben sich in den Himmel, so wie es in anderen von den Drakoniern besetzten Gebieten der Fall gewesen war. Das Land war weder verbrannt noch irgendwie anders zerstört. Unter sich konnte Tanis die grünen Espen im Sonnenlicht strahlen sehen.

Hier und dort sprenkelten Marmorgebäude ihre weiße Pracht in den Wald.

»Nein!« Alhana redete mit den Greifen in der Elfensprache.

»Ich befehle euch! Fliegt weiter! Ich muß den Turm erreichen!«

Aber die Greife kreisten tiefer und tiefer und ignorierten sie.

»Was ist los?« fragte Tanis. »Warum fliegen wir nicht weiter? Der Turm ist in Sichtweite. Wo liegt das Problem?« Er sah sich um. »Ich kann nichts Besorgniserregendes erkennen.«

»Sie weigern sich, weiterzufliegen«, sagte Alhana mit sorgenvoller Miene. »Sie sagen mir nicht den Grund, nur, daß wir von hier allein Weiterreisen müssen. Ich verstehe es nicht.«

Tanis gefiel das nicht. Greife waren bekanntlich hitzige, unabhängige Lebewesen, aber sobald man ihre Loyalität gewonnen hatte, dienten sie ihren Meistern mit unverbrüchlicher Treue und Hingabe. Die königliche Familie in Silvanesti hatte schon immer Greife für ihre Zwecke gezähmt. Obwohl sie kleiner als Drachen waren, wurden die Greife von ihren Feinden wegen ihrer Schnelligkeit, ihrer scharfen Krallen, ihrer reißenden Schnäbel und ihrer löwenartigen Hinterfüße gefürchtet.

Und wie Tanis gehört hatte, gab es für sie auf Krynn nur wenig zu fürchten. Diese Greife, so erinnerte er sich, waren ohne jede Angst nach Tarsis durch einen Schwarm von Drachen geflogen.

Nun schienen die Greife verängstigt. Sie landeten am Flußufer, alle wütenden, herrischen Befehle Alhanas ignorierend.

Statt dessen putzten sie niedergeschlagen ihr Gefieder und weigerten sich standhaft weiterzufliegen.

Schließlich blieb den Gefährten nichts anderes übrig, als von den Rücken der Greife herunterzuklettern und ihr Gepäck abzuladen. Dann breiteten die vogel-löwenartigen Kreaturen mit heftiger, entschuldigender Würde ihre Flügel aus und stoben von dannen.

»Nun, das war's«, sagte Alhana scharf und wich den wütenden Blicken aus, die sie auf sich ruhen spürte. »Jetzt müssen wir einfach weitergehen. Wir brauchen nicht mehr lange.«

Die Gefährten standen am Ufer und starrten über das reißende Wasser zum Wald am anderen Ufer. Keiner sprach ein Wort.

Sie waren angespannt und wachsam, auf Ärger gefaßt. Aber sie sahen nur die Espen in den letzten Sonnenstrahlen glänzen. Der Fluß klatschte murmelnd an seine Ufer. Obwohl die Espen noch grün waren, lag bereits die Schweigsamkeit des Winters wie eine Decke über dem Land.

»Hattest du nicht gesagt, daß dein Volk geflohen ist, weil es unter Belagerung stand?« fragte Tanis schließlich Alhana.

»Wenn dieses Land von den Drachen kontrolliert wird, bin ich ein Gossenzwerg!« schnaubte Caramon verächtlich.

»Das stimmte auch!« antwortete Alhana, ihre Augen wanderten suchend durch den Wald. »Drachen füllten den Himmel wie in Tarsis! Drachenmänner drangen in unsere geliebten Wälder vor, verbrannten, zerstörten...« Ihre Stimme erstarb.

Caramon beugte sich zu Flußwind und murmelte ihm zu: »Wildgansjagd!«

Der Barbar knurrte. »Wenn es nichts weiter ist, haben wir ja Glück«, sagte er, die Augen auf das Elfenmädchen gerichtet.

»Warum hat sie uns hierhergebracht? Vielleicht ist es eine Falle.«

Caramon zog diesen Gedanken einen Moment in Erwägung, dann blickte er unruhig zu seinem Bruder, der weder gesprochen noch seine seltsamen Augen vom Wald abgewandt hatte, seitdem die Greife sie verlassen hatten. Der Krieger löste sein Schwert und trat näher zu Tika. Wie zufällig schienen sich ihre Hände zu begegnen. Tika warf Raistlin einen ängstlichen Blick zu, ließ Caramon aber nicht los.

Der Magier starrte einfach nur weiter in die Wildnis.

»Tanis!« sagte Alhana plötzlich, und in ihrer Freude vergaß sie sich und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Vielleicht hat es funktioniert! Vielleicht hat mein Vater sie besiegt, und wir können nach Hause zurückkehren! O Tanis...« Sie zitterte vor Aufregung. »Wir müssen den Fluß überqueren und es herausfinden! Kommt! Dort hinter der Flußbiegung ist der Landesteg der Fähre...«

»Alhana, warte!« rief Tanis, aber sie lief bereits am weichen, mit Gras bewachsenen Ufer entlang, ihr langes Gewand flatterte um ihre Knöchel. »Alhana! Verdammt! Caramon und Flußwind, lauft ihr nach. Goldmond, versuche, sie zur Vernunft zu bringen.«

Flußwind und Caramon tauschten unruhige Blicke, aber sie gehorchten Tanis' Befehl. Goldmond und Tika folgten etwas langsamer.

»Wer weiß, was in diesem Wald ist?« murmelte Tanis.

»Raistlin...«

Der Magier schien nicht zu hören. Tanis ging näher zu ihm.

»Raistlin?« wiederholte er.

Raistlin starrte ihn verständnislos an, als ob er aus einem Traum erwacht wäre. Dann wurde dem Magier bewußt, daß ihn jemand angesprochen hatte. Er senkte seinen Blick.

»Was ist, Raistlin?« fragte Tanis. »Was spürst du?«

»Nichts, Tanis«, erwiderte der Magier.

Tanis blinzelte. »Nichts?« wiederholte er.

»Es ist wie ein undurchdringlicher Nebel, eine weiße Mauer«, flüsterte Raistlin. »Ich sehe nichts, spüre nichts.«

Tanis musterte ihn aufmerksam, und plötzlich erkannte er, daß Raistlin log. Aber warum? Der Magier erwiderte den Blick des Halb-Elfs mit Gleichmut, ein kleines Lächeln kräuselte seine dünnen Lippen, als ob er wüßte, daß Tanis ihm nicht glaubte, ihn das aber nicht stören würde.

»Raistlin«, sagte Tanis leise, »nehmen wir an, daß Lorac, der Elfenkönig, versucht hat, die Kugel der Drachen zu benutzen was könnte passiert sein?«

Der Magier starrte wieder in den Wald. »Hältst du das für möglich?« fragte er.

»Ja«, antwortete Tanis, »aus dem wenigen, was Alhana mir erzählt hat, sprach während der Prüfungen im Turm der Erzmagier von Istar eine Kugel der Drachen zu Lorac, sie bat ihn, sie aus einer drohenden Katastrophe zu retten.«

»Und er gehorchte?« fragte Raistlin, seine Stimme war so weich wie das murmelnde Wasser des uralten Flusses.

»Ja. Er brachte die Kugel nach Silvanesti.«

»Das ist also die Kugel der Drachen von Istar«, flüsterte Raistlin. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, dann seufzte er, es war ein sehnsüchtiges Seufzen. »Ich weiß nichts über die Kugeln der Drachen«, bemerkte er kühl, »außer dem, was ich euch bereits gesagt habe. Aber ich weiß, Halb-Elf, daß keiner von uns heil aus Silvanesti herauskommen wird, falls wir überhaupt herauskommen.«

»Wie meinst du das? Welche Gefahren liegen vor uns?«

»Was bedeutet es schon, welche Gefahr ich sehe?« fragte Raistlin. »Wir müssen Silvanesti betreten. Das weißt du genausogut wie ich. Oder willst du die Chance ungenutzt lassen, eine Kugel der Drachen zu finden?«

»Aber wenn du Gefahren siehst, dann sag es uns! Wir könnten zumindest vorbereitet...«, begann Tanis wütend.

»Dann bereite dich vor«, flüsterte Raistlin sanft, und er drehte sich um und ging langsam am sandigen Ufer seinem Bruder hinterher.

Die Gefährten überquerten den Fluß gerade als die letzten Sonnenstrahlen zwischen den Espenblättern auf dem gegenüberliegenden Ufer flackerten. Und dann wurde der legendäre Wald von Silvanesti allmählich in Dunkelheit eingetaucht.

Die Überfahrt verlief langsam. Die Fähre – ein kunstvoll geschnitztes Boot mit flachem Boden, das mit beiden Ufern durch ein ausgeklügeltes System von Seilen und Rollen verbunden war – schien auf den ersten Blick in gutem Zustand zu sein.

Aber kaum waren sie eingestiegen, entdeckten sie, daß die Seile am Vermodern waren. Das Boot begann vor ihren Augen zusammenzufallen. Auch der Fluß schien sich zu verändern. Rotbraunes Wasser sickerte durch den Rumpf, das schwach nach Blut roch.

Sie waren gerade am anderen Ufer aus dem Boot gestiegen und hatten ihr Gepäck ausgeladen, als die zerfransten Seile rissen und nachgaben. Der Fluß riß das Boot im Nu fort. Im gleichen Moment verschwand das Zwielicht, und die Nacht verschluckte sie. Obwohl der Himmel klar war und von keiner Wolke getrübt, waren keine Sterne sichtbar. Weder der rote noch der silberne Mond ging auf. Das einzige Licht kam vom Fluß, der in einer verdorbenen Brillanz wie ein Ghul zu strahlen schien.

»Raistlin, dein Stab«, sagte Tanis. Seine Stimme echote überlaut durch den stummen Wald. Selbst Caramon zuckte zusammen.

»Shirak«, befahl Raistlin, und die Kristallkugel leuchtete auf.

Aber es war ein kaltes, blasses Licht. Es schien nur die seltsamen Stundenglasaugen des Magiers zu beleuchten.

»Wir müssen in den Wald«, sagte Raistlin mit bebender Stimme. Er wandte sich um und stolperte auf die dunkle Wildnis zu.

Niemand sprach oder bewegte sich. Sie standen vor Angst gelähmt am Ufer. Es bestand kein Grund dazu, es war unlogisch, und das war noch beängstigender. Die Furcht kroch an ihnen hoch. Sie floß durch ihre Glieder, überschwemmte ihre Herzen und fraß sich in die Gehirne.

Furcht wovor? Es gab hier nichts, nichts! Nichts, keinen Grund, sich zu fürchten, dennoch waren alle durch dieses Nichts mehr verängstigt als je zuvor in ihrem Leben.

»Raistlin hat recht. Wir... müssen... in den Wald – Schutz suchen...« Tanis hatte Mühe, zu sprechen, seine Zähne klapperten. »F...Folgen wir Raistlin.«

Zitternd taumelte er vorwärts, wußte nicht, ob ihm überhaupt jemand folgte. Hinter sich hörte er Tika wimmern, und Goldmond versuchte zu beten. Er hörte Caramon nach seinem Bruder rufen, und Flußwind schrie voller Entsetzen, aber es war egal. Er mußte laufen, von hier wegkommen! Sein einziger Führer war das Licht von Raistlins Stab.

Verzweifelt stolperte er hinter dem Magier in den Wald. Aber als Tanis die Bäume erreichte, verließen ihn seine Kräfte. Er war zu verängstigt, um weiterzugehen. Zitternd sank er auf die Knie, dann fiel er nach vorn, seine Hände klammerten sich in den Boden.

»Raistlin!« Seine Kehle wurde von einem scharfen Aufschrei zerrissen.

Aber der Magier konnte nicht helfen. Tanis konnte nur noch sehen, wie das Licht von Raistlins Stab langsam auf den Boden sank, losgelassen von der mageren, fast leblosen Hand des jungen Magiers.

Die Bäume. Die wunderschönen Bäume von Silvanesti. Über Jahrhunderte geformte und geschnittene Bäume, bis es Wälder des Wunders und der Verzauberung waren. Überall um Tanis waren Bäume. Aber diese Bäume hatten sich von ihren Meistern abgewandt und sich in lebende Wälder des Entsetzens verwandelt. Ein grünes Licht des Verderbens filterte durch die bebenden Blätter.

Tanis blickte sich entsetzt um. In seinem Leben hatte er schon viel Seltsames und Schreckliches gesehen, aber das war nichts gewesen im Vergleich zu dem hier. Das hier, dachte er, könnte mich in den Wahnsinn treiben. Er wandte sich panisch in die eine und die andere Richtung und stellte fest, daß es kein Entkommen gab. Überall waren Bäume – die Bäume von Silvanesti. Auf grauenhafte Weise verändert.

Die Seele jedes Baumes schien im eigenen Stamm gefangen und entstellt. Die verbogenen Zweige waren die Glieder seines Geistes, im Todeskampf verrenkt. Die Wurzeln griffen in den Boden im hoffnungslosen Versuch zu fliehen. Der Saft der Bäume floß in Strömen. Das Rascheln der Blätter waren Aufschreie des Schmerzes und des Entsetzens. Die Bäume von Silvanesti weinten Blut. vanesti weinten Blut.

Tanis hatte keine Vorstellung, wo er war, oder wie lange er schon da war. Er erinnerte sich, zum Sternenturm gelaufen zu sein, den er hoch über den Zweigen der Espen erkennen konnte.

Er war gelaufen und gelaufen, und nichts hatte ihn aufgehalten.

Dann hörte er den Kender vor Entsetzen aufkreischen, ein Schrei wie der eines kleinen Tieres, das gefoltert wird. Als er sich umdrehte, sah er Tolpan auf die Bäume zeigen. Tanis starrte verängstigt auf die Bäume, nur um schließlich zu begreifen, daß Tolpan nicht hiersein konnte. Und da war Sturm, aschgrau vor Angst, und Laurana, vor Verzweiflung weinend, und Flint mit aufgerissenen, starren Augen.

Tanis umarmte Laurana, und seine Arme schlossen sich um Fleisch und Blut, aber trotzdem wußte er, daß sie nicht da war -und dieses Wissen war grauenerregend.

Der Wald war wie ein Gefängnis der Verdammnis. Tanis' Entsetzen nahm zu. Tierwesen lösten sich von den entstellten Bäumen und stürzten auf die Gefährten.

Tanis zog sein Schwert, um sich zu verteidigen, aber die Waffe zitterte in seiner Hand, und er war gezwungen, seine Augen abzuwenden, denn die lebenden Tiere waren auf gräßliche Weise entstellt, sie waren Untote.

Unter den grauenvollen Wesen befanden sich Legionen von Elfenkriegern, ihre Schädelfratzen waren schrecklich anzusehen. In ihren Augenhöhlen funkelten keine Augen, kein Fleisch bedeckte die zierlichen Knochen ihrer Hände. Sie kamen mit hell brennenden Schwertern, an denen Blut hing, auf die Gefährten zu. Aber wenn sie mit einer Waffe berührt wurden, lösten sie sich in Nichts auf.

Jedoch die Wunden, die sie zufügten, waren echt. Caramon, der gegen einen Wolf, aus dessen Körper Schlangen wuchsen, kämpfte, sah auf, als einer der Elfenkrieger mit einem glänzenden Speer in seiner fleischlosen Hand auf ihn losstürmte. Er schrie nach seinem Bruder um Hilfe.

Raistlin sprach: »Ast kiranann kair Soth-aran/Suh kali Jalaran.« Eine Flammenkugel blitzte aus den Händen des Magiers und flog direkt auf den Elfen zu – ohne Wirkung. Er schleuderte seinen Speer mit solch unglaublicher Kraft, daß er Caramons Rüstung durchschlug, durch seinen Körper trat und ihn an einen Baum nagelte.

Der Elfenkrieger riß seine Waffe wieder aus der Schulter des Mannes. Caramon fiel zu Boden, sein Blut vermischte sich mit dem Blut des Baumes. Raistlin mit einer Wut, die ihn selbst überraschte, zog seinen silbernen Dolch aus dem Lederriemen, den er verborgen an seinem Arm trug, und schleuderte ihn auf den Elfen. Die Klinge fuhr in seinen untoten Geist, und der Elfenkrieger löste sich auf. Caramon jedoch lag auf dem Boden, ein Arm hing nur noch an einer dünnen Muskelfaser am Körper.

Goldmond kniete neben ihm, um ihn zu heilen, aber sie verhaspelte sich bei ihrem Gebet, ihr Glaube versagte bei all dem Entsetzen.

»Hilf mir, Mishakal«, betete Goldmond. »Hilf mir, damit ich meinem Freund helfen kann.«

Die fürchterliche Wunde schloß sich. Obwohl das Blut immer noch aus Caramons Arm sickerte, nahm der Tod seine Hand von dem Krieger. Raistlin kniete sich zu seinem Bruder und wollte mit ihm sprechen. Doch plötzlich verstummte der Magier. Er starrte an Caramon vorbei in die Bäume, seine seltsamen Augen weiteten sich ungläubig.

»Du!« flüsterte Raistlin.

»Wer ist es?« fragte Caramon schwach, vernahm ein Beben des Entsetzens und der Angst in Raistlins Stimme. Der Krieger spähte in das grüne Licht, konnte aber nichts erkennen. »Wen meinst du?«

Aber Raistlin, der in eine andere Unterhaltung vertieft war, antwortete nicht.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagte der Magier. »Jetzt, so wie zuvor auch.«

Caramon sah seinen Bruder die Hand ausstrecken, als ob er über einen großen Spalt griff, und wurde von Angst geschüttelt, obwohl er nicht wußte, was da vor sich ging.

»Nein, Raist!« schrie er und umklammerte voller Entsetzen seinen Bruder. Raistlin ließ seine Hand sinken.

»Unser Handel steht. Was? Du willst noch mehr von mir?«

Raistlin schwieg einen Moment, dann seufzte er. »Was willst du noch!«

Lange Zeit lauschte der Magier, ganz in Anspruch genommen. Caramon, der ihn mit liebender Sorge beobachtete, sah das magere metallische Gesicht seines Bruders leichenblaß werden. Raistlin schloß seine Augen und schluckte. Schließlich senkte er seinen Kopf.

»Ich nehme an.«

Caramon schrie vor Entsetzen auf, als sich Raistlins Robe, die rote Robe, die für Neutralität in der Welt stand, zu einem Tiefrot verdunkelte, sich dann in ein Blutrot verwandelte und dann noch dunkler wurde – bis zum Schwarz.

»Ich nehme an«, wiederholte Raistlin ruhiger, »unter der Bedingung, daß die Zukunft geändert werden kann. Was müssen wir tun?«

Er lauschte. Caramon umklammerte seinen Arm und stöhnte vor Schmerzen auf.

»Wie kommen wir lebend in den Turm?« fragte Raistlin seinen unsichtbaren Gesprächspartner. Wieder hörte er aufmerksam zu, dann nickte er. »Und ich werde das erhalten, was ich brauche? Nun gut. Dann leb wohl, falls so etwas für dich auf deiner dunklen Reise möglich ist.«

Raistlin erhob sich, seine schwarze Robe raschelte. Er ignorierte Caramons Schluchzen und Goldmonds verängstigtes Keuchen, als sie ihn sah, und machte sich auf die Suche nach Tanis. Er fand den Halb-Elf mit dem Rücken an einem Baum gegen eine Schar von Elfenkriegern kämpfend.

Ruhig und gelassen griff Raistlin in seinen Beutel und holte ein Stück Hasenfell und eine Bernsteinspange hervor. Er rieb beide Gegenstände in seiner linken Handfläche, während er seine rechte Hand ausstreckte und sprach: »Ast kiranann kair Gadurm Soth-arn/Suh kali Jalaran

Aus seinen Fingerspitzen schossen Blitze durch die grüngetönte Luft und trafen die Elfenkrieger. Sie verschwanden. Tanis taumelte erschöpft zurück.

Raistlin stand mitten auf einer Lichtung zwischen den verzerrten und entstellten Bäumen.

»Kommt alle her!« befahl der Magier seinen Gefährten.

Tanis zögerte. Elfenkrieger hielten sich am Rand der Lichtung auf. Sie wollten gerade angreifen, als Raistlin seine Hand hob. Sie hielten inne, als wären sie auf eine unsichtbare Mauer getroffen.

»Kommt näher zu mir.« Die Gefährten waren erstaunt, Raistlin sprechen zu hören, denn zum ersten Mal seit seinen Prüfungen sprach er mit seiner normalen Stimme. »Beeilt euch«, fügte er hinzu, »sie werden euch jetzt nicht angreifen. Sie fürchten sich vor mir. Aber ich kann sie nicht ewig aufhalten.«

Tanis trat heran, sein Gesicht war leichenblaß, Blut tropfte aus einer Wunde am Kopf. Goldmond half Caramon beim Gehen. Er umklammerte seinen blutenden Arm, sein Gesicht war schmerzverzerrt. Langsam krochen die anderen Gefährten näher. Schließlich stand nur Sturm außerhalb des Kreises.

»Ich wußte es schon immer, daß es so weit kommen würde«, sagte der Ritter langsam. »Lieber sterbe ich, als mich unter deinen Schutz zu begeben, Raistlin.«

Und damit drehte sich der Ritter um und schritt tiefer in den Wald. Tanis sah den Anführer der untoten Elfen eine Geste machen, und einige aus seiner Gruppe folgten dem Ritter. Der Halb-Elf wollte hinterhergehen, aber hielt inne, als eine erstaunlich starke Hand seinen Arm ergriff.

»Laß ihn gehen«, sagte der Magier ernst, »oder wir sind alle verloren. Ich habe euch etwas mitzuteilen, und meine Zeit ist begrenzt. Wir müssen durch diesen Wald zum Sternenturm gelangen. Wir müssen den Weg der Toten begehen, denn jede gräßliche Kreatur, die jemals in den verzerrten, gequälten Träumen von Sterblichen erschienen ist, wird sich erheben, um uns aufzuhalten. Aber wisset – wir laufen in einem Traum, in Loracs Alptraum und in unseren Alpträumen. Visionen über die Zukunft können kommen, um uns zu helfen – oder uns zu behindern. Vergeßt nicht, daß unser Bewußtsein schläft, auch wenn unser Körper wach ist. Der Tod existiert nur in unserem Bewußtsein – sofern wir nicht etwas anderes glauben.«

»Warum können wir dann nicht aufwachen?« fragte Tanis wütend.

»Weil Loracs Glaube im Traum so stark und unser Glaube zu schwach ist. Wenn du fest überzeugt bist, über jeden Zweifel hinaus, daß dies ein Traum ist, wirst du in die Wirklichkeit zurückkehren.«

»Wenn das stimmt«, sagte Tanis, »und du überzeugt bist, daß das ein Traum ist, warum erwachst du dann nicht?«

»Vielleicht«, sagte Raistlin lächelnd, »habe ich mich entschieden, es nicht zu tun.«

»Ich verstehe nicht!« Tanis weinte vor bitterer Enttäuschung.

»Du wirst es müssen«, sagte Raistlin grimmig voraus, »oder du wirst sterben. Wie auch immer, es spielt keine Rolle.«

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