5 Der Aufruhr. Tolpan verschwindet. Alhana Sternenwind

»Elender Ritter...«

Ein Stein traf Sturm an der Schulter. Der Ritter fuhr zusammen, obwohl der Stein durch die Rüstung nur wenig Schmerz verursacht haben konnte. Tanis, der sein blasses Gesicht und seinen zitternden Schnurrbart sah, wußte, daß der Schmerz tiefer ging, als eine Waffe erzeugen konnte.

Die Menschenmassen wurden dichter, als die Gefährten durch die Straße geführt wurden. Sturm ging mit Würde und stolz erhobenem Kopf und ignorierte den Spott und Hohn. Obwohl ihre Wachen die Menge zuweilen zurückschoben, taten sie es nur halbherzig, und die Zuschauer wußten es. Noch mehr Steine wurden geworfen, als wären andere Gegenstände weniger amüsant. Bald hatten alle Gefährten Wunden, bluteten und waren mit Abfall und Schmutz bedeckt.

Tanis wußte, daß Sturm sich niemals zur Rache hinreißen lassen würde, nicht bei diesem Pöbel, aber der Halb-Elf mußte Flint festhalten. Selbst dann befürchtete er ständig, daß der wütende Zwerg an den Wachen vorbeistürmen und sich auf die Menge stürzen würde. Aber durch seine Sorge um Flint hatte Tanis Tolpan ganz vergessen.

Außer einer gewissen Großzügigkeit in bezug auf das Eigentum anderer hatte Kender noch eine weitere unbeliebte Eigenschaft, das sogenannte »Spotten«. Alle Kender verfügten mehr oder weniger über dieses Talent. Auch damit hatte es zu tun, wie ihre winzige Rasse es geschafft hatte, in einer Welt der Ritter und Krieger, Trolle und Hobgoblins zu bestehen und zu überleben. Das »Spotten« ist die Fähigkeit, einen Feind zu beleidigen und ihn mit Worten in solch eine Raserei zu bringen, daß er durchdreht und anfängt, wild und ziellos zu kämpfen.

Tolpan war ein Meister im »Spotten«, obwohl er selten eine Gelegenheit fand, sein Talent anzuwenden, wenn er mit seinen Kriegerfreunden unterwegs war. Doch der Kender hatte nun entschieden, sein Talent voll auszuschöpfen.

Er begann also, Beleidigungen zurückzuschreien.

Zu spät bemerkte Tanis, was geschah. Vergeblich versuchte er, ihn zum Schweigen zu bringen. Tolpan befand sich vorn in der Reihe, der Halb-Elf hinten, und es gab keine Möglichkeit, den Kender zur Ruhe zu veranlassen.

Tolpan war der Meinung, daß Beleidigungen wie »elender Ritter« und »Elfenabschaum« jeglicher Phantasie entbehrten. Er entschloß sich, diesen Leuten genau zu zeigen, welche Variationen in der Umgangssprache da zur Verfügung standen.

Tolpans Beleidigungen waren Meisterwerke der Kreativität und Erfindungsgabe. Unglücklicherweise neigten sie auch dazu, äußerst persönlich zu sein und gelegentlich ziemlich ungehobelt, vorgetragen mit einem Hauch bezaubernder Unschuld.

»Ist das deine Nase oder eine Krankheit? Können diese Fliegen, die da auf deinem Körper krabbeln, auch Dienste leisten? War deine Mutter ein Gossenzwerg?« war nur der Anfang. Die Wachen begannen, die wütende Menge beunruhigt zu beäugen, während der Wachtmeister den Befehl gab, schneller zu gehen. Das, was er anfangs für eine siegreiche Prozession hielt, bei der Trophäen zur Schau gestellt werden, schien sich zu einem großangelegten Aufruhr zu entfalten.

»Bringt den Kender zum Schweigen!« schrie er zornig.

Tanis versuchte verzweifelt, Tolpan zu erreichen, aber die sich durchkämpfenden Wachen und die drängende Menschenmenge machten es unmöglich. Gilthanas wurde zu Boden geschlagen. Sturm beugte sich über den Elfen, um ihn zu schützen. Flint trat und schlug wild um sich in einem Anfall rasender Wut. Tanis hatte Tolpan fast erreicht, als er von einer Tomate getroffen wurde und einen Moment lang nichts sehen konnte.

»He, Wachtmeister, weißt du, was du mit deiner Pfeife machen könntest? Du könntest...«

Tolpan bekam nie die Gelegenheit, dem Wachtmeister zu erzählen, was er mit der Pfeife tun könnte, denn in diesem Moment zog ihn eine riesige Hand aus dem Tumult, eine andere legte sich über seinen Mund, während weitere Hände die wild um sich tretenden Füße des Kenders packten. Ein Sack wurde über seinen Kopf gestülpt, und von diesem Augenblick an sah und roch Tolpan nur noch Sackleinwand und merkte, daß er weggetragen wurde.

Tanis, der sich die Tomate aus den Augen gewischt hatte, hörte Stiefeltritte und noch mehr Schreie und Gekreische. Als der Halb-Elf endlich wieder sehen konnte, blickte er sich schnell um, um sicherzugehen, daß alle in Ordnung waren.

Sturm half Gilthanas beim Aufstehen und wischte ihm Blut von einer Schnittwunde an der Stirn weg. Flint, der nur noch fluchte, zupfte Abfall aus seinem Bart.

»Wo ist der verfluchte Kender!« brüllte der Zwerg. »Ich werde...« Er hielt inne, und drehte sich nach allen Seiten um. »Wo ist dieser verfluchte Kender? Tolpan? So hilf mir...«

»Pssst!« befahl Tanis, dem klarwurde, daß Tolpan es geschafft hatte, zu entkommen.

Flint lief rot an. »Warum dieser kleine Bastard!« fluchte er.

»Er war es schließlich, der uns in diese Sache hineingerissen hat, und jetzt verschwindet er...«

»Pssst!« wiederholte Tanis und sah den Zwerg wütend an.

Flint unterdrückte eine Bemerkung und schwieg.

Der Wachtmeister drängte seine Gefangenen in die Halle der Gerechtigkeit. Erst als sie sich in dem häßlichen Ziegelsteingebäude in Sicherheit befanden, bemerkte er das Fehlen eines Gefangenen.

»Sollen wir ihn suchen?« fragte eine Wache.

Der Wachtmeister dachte einen Moment lang nach, dann schüttelte er wütend den Kopf. »Verschwende nicht deine Zeit«, antwortete er säuerlich. »Weißt du, wie es ist, zu versuchen, einen Kender zu finden, der nicht gefunden werden will? Nein, laßt ihn ruhig. Wir haben immer noch die wichtigsten. Sie sollen hier warten, während ich den Rat informiere.«

Der Wachtmeister trat durch eine schlichte Holztür und ließ die Gefährten und ihre Wachen in einem dunklen stinkenden Hur zurück. Die Wachen wischten Kürbisschalen von ihren Uniformen und säuberten sich gegenseitig von den Abfällen.

Gilthanas tupfte das Blut in seinem Gesicht ab. Sturm versuchte, seinen Umhang, so gut es ging, zu säubern.

Der Wachtmeister kam zurück und rief sie hinein.

»Bringt sie her!«

Als die Wachen ihre Gefangenen vorwärtsschoben, konnte Tanis näher an Sturm kommen. »Wer hat hier das Kommando?« flüsterte er.

»Wenn wir Glück haben, dann hat der Lord immer noch die Kontrolle über die Stadt«, erwiderte der Ritter leise. »Die tarsianischen Lords standen immer in dem Ruf, großmütig und ehrenhaft zu sein.« Er zuckte die Schultern. »Und davon abgesehen, welche Anklage wollen sie gegen uns erheben? Wir haben nichts getan. Schlimmstenfalls wird uns eine bewaffnete Eskorte aus der Stadt führen.«

Tanis schüttelte zweifelnd den Kopf, als er den Gerichtssaal betrat. Seine Augen brauchten einige Zeit, um sich an die Trübheit des schäbigen Saales zu gewöhnen, in dem es noch schlimmer stank als im Flur. Zwei der tarsianischen Ratsmitglieder hielten mit Gewürznelken gespickte Orangen an ihre Nasen.

Die sechs Ratsmitglieder saßen auf einer Bank, jeweils drei links und rechts von ihrem Lord, dessen hoher Lehnstuhl sich in der Mitte erhob. Der Lord blickte auf, als sie eintraten. Seine Augenbrauen hoben sich leicht bei Sturms Anblick, und es schien Tanis, daß sein Gesicht weicher wurde. Der Lord nickte dem Ritter sogar in einer Geste höflichen Grußes zu. Tanis' Hoffnungen wuchsen. Die Gefährten traten zur Bank vor. Es gab keine Stühle. Bittsteller wie Gefangene mußten vor dem Rat stehend ihren Fall darlegen.

»Was liegt gegen diese Männer vor?« fragte der Lord.

Der Wachtmeister warf den Gefährten einen haßerfüllten Blick zu.

»Anstiftung zum Aufruhr, mein Herr«, antwortete er.

»Aufruhr!« explodierte Flint. »Mit diesem Aufruhr hatten wir nichts zu tun! Es war dieser hohlköpfige...«

Eine Gestalt in weiten Roben trat aus dem Schatten, um dem Lord etwas zuzuflüstern. Keiner der Gefährten hatte sie beim Eintreten bemerkt.

Flint hustete, fiel in Schweigen und warf Tanis einen bedeutungsvollen grimmigen Blick zu. Der Zwerg schüttelte den Kopf, seine Schultern sackten zusammen. Tanis seufzte müde. Gilthanas wischte mit einer zitternden Hand das Blut aus seinem Elfengesicht, das vor Haß blaß war. Nur Sturm stand nach außen hin ruhig und unbeweglich da, als er in das verzerrte, halb menschliche, halb reptilische Gesicht eines Drakoniers sah.

Die im Wirtshaus zurückgebliebenen Gefährten saßen noch fast eine Stunde in Elistans Zimmer, nachdem die anderen von den Wachen weggebracht worden waren. Caramon stand mit gezogenem Schwert an der Tür. Flußwind hielt am Fenster Wache. Aus der Ferne konnten sie den Lärm des wütenden Mobs hören und sahen sich mit angespannten Gesichtern an. Dann verblaßte der Lärm. Niemand störte sie. Das Wirtshaus war tödlich ruhig.

Der Morgen verlief ohne weitere Zwischenfälle. Die blasse kalte Sonne kletterte am Himmel hoch und tat wenig, um den Wintertag zu wärmen. Caramon steckte sein Schwert in die Scheide und gähnte. Tika schob einen Stuhl hinüber, um neben ihm zu sitzen. Flußwind ging zu Goldmond, die leise mit Elistan Pläne für die Flüchtlinge besprach.

Nur Laurana blieb am Fenster stehen, obwohl es nichts zu sehen gab. Die Wachen hatten es offenbar leid, die Straße auf und ab zu marschieren, und hatten sich in die Türeingänge gekauert und versuchten, sich zu wärmen. Hinter sich konnte sie Tika und Caramon leise lachen hören. Laurana warf ihnen einen schnellen Blick zu. Caramon beschrieb ihr eine Schlacht.

Tika hörte aufmerksam zu, ihre Augen strahlten vor Bewunderung.

Das junge Mädchen hatte bei ihrer Reise auf der Suche nach dem Streitkolben von Kharas viel Kampfpraxis gehabt, und obwohl sie mit einem Schwert nicht perfekt umgehen konnte, so hatte sie das Zuschlagen mit dem Schild zu einer Kunst entwickelt. Das Sonnenlicht fiel auf ihr Kettenhemd und ihr rotes Haar. Caramons Gesicht war angeregt und entspannt, als er mit der jungen Frau sprach. Sie berührten sich nicht – nicht unter den auf sie gerichteten goldenen Augen von Caramons Zwillingsbruder.

Laurana seufzte und drehte sich um. Sie fühlte sich sehr einsam, und wenn sie an Raistlins Worte dachte, sehr verängstigt.

Sie hörte ein anderes Seufzen, aber es war kein Seufzen des Bedauerns. Nein, es war ein Seufzen der Verärgerung. Sie wandte sich um und sah auf Raistlin. Der Magier hatte sein Zauberbuch geschlossen, in dem er zu lesen versucht hatte, und sich näher ans Fenster gesetzt, um etwas mehr Tageslicht zu erhalten. Er mußte jeden Tag in seinem Zauberbuch lernen. Es ist der Fluch jedes Magiers, immer wieder seine Zaubersprüche auswendig zu lernen, denn die Worte der Magie flackerten und starben wie die Funken eines Feuers. Jeder Zauber unterhöhlt die Kraft des Magiers, läßt ihn körperlich schwächer werden, bis er schließlich so erschöpft ist, daß er keine Magie mehr ohne Erholungspausen anwenden kann.

Raistlins Stärke und seine Macht waren seit dem Treffen der Freunde in Solace gewachsen. Er hatte mehrere neue Zauber gemeistert, die Fizban, der in Pax Tharkas verstorbene senile Magier, ihm beigebracht hatte. So wie seine Macht wuchs, so wuchsen auch die bösen Ahnungen seiner Gefährten. Niemand hatte einen offensichtlichen Grund, ihm zu mißtrauen, in der Tat hatte seine Magie ihnen schon mehrere Male das Leben gerettet. Aber um ihn war etwas Beunruhigendes – geheimnisvoll, schweigsam, zurückhaltend und verschlossen wie eine Auster.

Er strich geistesabwesend über den nachtblauen Einband des seltsamen Zauberbuches aus Xak Tsaroth und starrte auf die Straße. Seine goldenen Augen mit den dunklen Stundenglaspupillen glitzerten kalt.

Obwohl Laurana nicht gern mit dem Magier sprach, mußte sie es wissen! Was hatte er gemeint – ein langes Wiedersehen?

»Was siehst du, wenn du so wie jetzt in die Ferne blickst?« fragte sie leise. Sie setzte sich zu ihm, spürte, wie eine plötzliche Schwäche von Angst sie überfiel.

»Was ich sehe?« wiederholte er. In seiner Stimme lagen großer Schmerz und tiefe Traurigkeit, nicht die Verbitterung, die sie von ihm gewohnt war. »Ich sehe die Zeit, wie sie auf alle Dinge einwirkt. Menschliches Fleisch verfällt und stirbt vor meinen Augen. Blumen blühen, nur um zu verwelken. Bäume lassen grüne Blätter fallen, niemals erhalten sie sie zurück. Aus meiner Sicht ist es immer Winter, immer Nacht.«

»Und – das hat man dir in den Türmen der Erzzauberer angetan?« fragte Laurana bestürzt. »Warum? Zu welchem Zweck?«

Raistlin lächelte sein seltenes, verzerrtes Lächeln. »Um mich an meine Sterblichkeit zu erinnern. Um mich Mitgefühl zu lehren.« Seine Stimme wurde leiser. »In meiner Jugend war ich stolz und hochmütig. Der Jüngste, der sich der Prüfung unterziehen sollte, ich wollte es ihnen allen zeigen!« Seine zerbrechliche Faust ballte sich zusammen. »O ja, ich habe es ihnen gezeigt. Sie zerstörten meinen Körper und verzehrten meinen Geist, bis ich schließlich in der Lage war...« Er hielt abrupt inne, seine Augen wanderten zu Caramon.

»Wozu?« fragte Laurana atemlos.

»Nichts!« flüsterte Raistlin und senkte seine Augen. »Mir ist verboten worden, darüber zu reden.«

Laurana sah seine Hände zittern. Seine Stirn war schweißnaß.

Sein Atem kam pfeifend, und er begann zu husten. Sie fühlte sich schuldig, daß sie unbeabsichtigt solche Qual verursacht hatte, errötete und biß sich auf die Lippe. »Es... es tut mir leid, es war nicht meine Absicht.« Verwirrt sah sie zu Boden und ließ ihr Haar über ihr Gesicht fallen – eine mädchenhafte Angewohnheit.

Raistlin lehnte sich unwillkürlich nach vorn, streckte zitternd seine Hand aus, um das wundervolle Haar zu berühren, das über ein eigenes Leben zu verfügen schien, doch dann zog er seine Hand schnell wieder zurück und sank in seinen Stuhl, mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen. Denn Laurana wußte nicht, konnte nicht wissen, daß Raistlin, wenn er sie anschaute, die einzige Schönheit sah, die er je in seinem Leben sehen würde. Nach Elfenmaßstab war sie jung und von Tod oder Zerfall unberührt, selbst aus der verfluchten Sicht des Magiers.

Laurana wußte nichts von alldem. Sie hatte nur wahrgenommen, daß Raistlin sich ein wenig bewegt hatte. Sie wollte fast aufstehen und gehen, aber sie fühlte sich jetzt zu ihm hingezogen, und er hatte immer noch nicht ihre Frage beantwortet.

»Ich... ich meine... kannst du in die Zukunft sehen? Tanis erzählte mir, daß deine Mutter... wie heißt das... eine Seherin war. Ich weiß, daß Tanis dich um Rat fragt...«

Raistlin musterte Laurana nachdenklich. »Der Halb-Elf kommt nicht zu mir, weil ich in die Zukunft sehen kann. Ich kann es nicht. Ich bin kein Seher. Er kommt zu mir, weil ich denken kann, was den meisten Narren hier anscheinend nicht vergönnt ist.«

»Aber... was du gesagt hast. Einige von uns werden sich nicht wiedersehen.« Laurana sah zu ihm hoch. »Du mußt etwas vorausgesehen haben! Ich muß wissen... was! War es... Tanis?«

Raistlin dachte nach. Als er antwortete, schien er mehr zu sich als zu Laurana zu sprechen. »Ich weiß es nicht«, flüsterte er. »Ich weiß nicht einmal, warum ich das gesagt habe. Es ist einfach so – einen Moment lang – wußte ich...« Er schien mit sich zu kämpfen, sich zu erinnern, dann zuckte er plötzlich die Achseln.

»Wußte was?« drängte Laurana.

»Nichts. Meine überreizte Phantasie, würde der Ritter sagen, wenn er hier wäre. Tanis hat dir also über meine Mutter erzählt«, sagte er ausweichend.

Laurana, enttäuscht, aber in der Hoffnung, mehr herauszufinden, wenn sie weiter mit ihm sprach, nickte. »Er sagte, sie hatte die Gabe der Vorsehung. Sie konnte in die Zukunft sehen und Bilder künftiger Ereignisse erkennen.«

»Das stimmt«, flüsterte Raistlin, dann lächelte er sardonisch.

»Es hat ihr sehr viel Gutes eingebracht. Der erste Mann, den sie heiratete, war ein gutaussehender Krieger aus dem Norden. Ihre Leidenschaft erstarb innerhalb von einigen Monaten, und danach machten sie sich gegenseitig das Leben schwer. Meine Mutter hatte eine sehr zarte Gesundheit, und wenn sie sich in ihre seltsamen Trancezustände versetzte, kam sie oft für Stunden nicht heraus. Sie waren arm, lebten davon, was ihr Mann mit seinem Schwert verdienen konnte. Obwohl er eindeutig von adeligem Blut war, sprach er niemals über seine Familie. Ich glaube nicht einmal, daß er ihr jemals seinen richtigen Namen genannt hat.«

Raistlins Augen verengten sich. »Aber er hat es Kitiara gesagt. Da bin ich mir sicher. Darum ist sie in den Norden gereist, um seine Familie zu finden.«

»Kitiara...«, sagte Laurana angespannt. Es tat ihr weh, den Namen zu hören, und zugleich wollte sie mehr über die Frau, die Tanis liebte, erfahren. »Dann war dieser Mann – dieser adelige Krieger – Kitiaras Vater?« fragte sie heiser.

Raistlin bedachte sie mit einem durchdringenden Blick. »Ja«, flüsterte er. »Sie ist meine ältere Halbschwester. Sie ist acht Jahre älter als Caramon und ich. Ich glaube, sie ist ihrem Vater sehr ähnlich. So schön, wie er gutaussehend war. Resolut und ungestüm, kriegerisch, stark und furchtlos. Ihr Vater brachte ihr das einzige bei, was er konnte – die Kunst der Kriegsführung. Er unternahm immer längere Reisen, und eines Tages verschwand er völlig. Meine Mutter überzeugte die Sucherfürsten, ihn für tot zu erklären. Dann heiratete sie den Mann, der unser Vater wurde. Er war ein einfacher Mann, Holzfäller. Wieder einmal hatte ihre Weitsicht ihr nichts eingebracht.«

»Warum?« fragte Laurana sanft, gefesselt von der Geschichte, erstaunt, daß dieser sonst so verschlossene Magier so redselig war, nicht wissend, daß er mehr von ihr hatte, indem er einfach ihr ausdrucksvolles Gesicht betrachtete, als daß er ihr gab.

»Beispielsweise die Geburt von meinem Bruder und mir«, sagte Raistlin. Dann wurde er plötzlich von einem Hustenanfall überwältigt, hörte zu sprechen auf und wandte sich an seinen Bruder. »Caramon! Es ist Zeit für mein Getränk«, sagte er in einem zischenden Flüstern, das die lauteste Unterhaltung durchdringen konnte. »Oder hast du mich bei dem Vergnügen einer anderen Gesellschaft vergessen?«

Caramon verstummte mitten im Lachen. »Nein, Raist«, sagte er schuldbewußt, erhob sich eilig und hängte einen Wasserkessel über das Feuer. Tika senkte den Kopf, um dem Blick des Magiers nicht zu begegnen.

Nachdem er sie einen Moment angestarrt hatte, wandte sich Raistlin wieder Laurana zu, die alles mit einem eisigen Gefühl im Magen beobachtet hatte. Er begann wieder zu sprechen, als ob nichts geschehen wäre. »Meine Mutter hatte sich von der Geburt niemals richtig erholt. Die Hebamme hatte mich aufgegeben, und ich wäre auch gestorben, wenn Kitiara nicht dagewesen wäre. Sie pflegte zu sagen, ihre erste Schlacht war gegen den Tod mit mir als Beute. Sie zog uns groß. Meine Mutter war nicht in der Lage, auf Kinder aufzupassen, und mein Vater war gezwungen, Tag und Nacht zu arbeiten, um uns zu ernähren. Er starb nach einem Unfall, als Caramon und ich zehn Jahre alt waren. An jenem Tag ging meine Mutter in eine ihrer Trancen«, Raistlins Stimme wurde leiser, »aus der sie nie mehr herauskam. Sie verhungerte.«

»Wie schrecklich!« murmelte Laurana bebend.

Raistlin sprach lange Zeit nicht, seine seltsamen Augen starrten hinaus in den eisig-grauen Winterhimmel. Dann verzog sich sein Mund. »Das war für mich eine wichtige Lektion – ich lernte, daß man die Macht unter Kontrolle halten muß und nicht umgekehrt.«

Laurana schien ihn nicht gehört zu haben. Sie spielte nervös mit ihren Händen. Jetzt war die Möglichkeit, ihm die Frage zu stellen, die sie gern stellen wollte, aber sie würde damit einen Teil ihres Selbst diesem Mann ausliefern, den sie fürchtete und dem sie nicht vertraute. Aber ihre Neugierde – und ihre Liebe waren zu groß. Niemals erfuhr sie, daß sie in eine listig vorbereitete Falle gefallen war. Denn Raistlin erfreute sich daran, die intimen Geheimnisse von Menschen herauszufinden, um sie für seine Zwecke benutzen zu können.

»Was hast du dann gemacht?« fragte sie. »Hat Kit... – Kitiara...« Sie versuchte, natürlich zu wirken, stolperte aber über den Namen und errötete vor Verlegenheit.

Raistlin beobachtete Lauranas inneren Kampf mit Interesse.

»Kitiara war da schon nicht mehr zu Hause«, antwortete er.

»Sie hat das Haus mit fünfzehn verlassen, verdiente sich ihren Lebensunterhalt mit dem Schwert. Da sie eine Expertin ist wie mir Caramon erzählte -, hatte sie keine Schwierigkeiten, Söldnerarbeiten zu finden. Oh, sie besuchte uns oft, um nach uns zu sehen. Als wir älter und geübter waren, nahm sie uns mit. In jener Zeit lernten Caramon und ich, zusammen zu kämpfen – ich mit meiner Magie, mein Bruder mit seinem Schwert. Dann, als sie Tanis kennengelernt hatte«, Raistlins Augen glitzerten bei Lauranas Unbehagen, »reiste sie häufiger mit uns.«

»Mit wem? Wohin seid ihr gegangen?«

»Sturm Feuerklinge, der damals schon vom Ritterstand träumte, der Kender, Tanis, Caramon und ich. Wir sind mit Flint gereist, bevor er seine Arbeit aufgab. Und zu der Zeit hatten wir alles voneinander gelernt, was möglich war. Wir wurden unruhig. Es war Zeit, sich zu trennen, wie Tanis sagte.«

»Und das habt ihr getan? War er damals schon euer Anführer?« Sie erinnerte sich, wie sie ihn kannte, bevor er Qualinesti verlassen hatte, ohne Bart und ohne die Sorgenfalten, die er jetzt hatte. Aber schon damals war er zurückgezogen und nachdenklich gewesen, gequält von seinen Gefühlen, zwei Welten anzugehören – und doch keiner. Sie hatte ihn damals nicht verstanden. Erst jetzt begann sie zu verstehen, seitdem auch sie in der Welt der Menschen lebte.

»Er verfügt über die Eigenschaften, die für eine Führerschaft offenbar notwendig sind. Er denkt schnell, ist intelligent und schöpferisch. Aber die meisten von uns verfügen mehr oder weniger über diese Merkmale. Warum folgen die anderen Tanis? Sturm ist von adeliger Herkunft, Angehöriger eines Ordens, dessen Ursprünge bis in uralte Zeiten zurückreichen. Warum gehorcht er einem Bastard? Und Flußwind? Er mißtraut allen, die nicht menschlich sind und denen, die es sind, nur halb. Dennoch würden er und Goldmond Tanis bis in den Abgrund und zurück folgen. Warum?«

»Ich habe darüber nachgedacht«, begann Laurana, »und ich glaube...«

Aber Raistlin ignorierte sie und beantwortete seine Frage selbst. »Tanis horcht auf seine Gefühle. Er unterdrückt sie nicht wie der Ritter oder versteckt sie nicht wie der Barbar. Tanis weiß, daß ein Führer manchmal mit dem Herzen denken muß und nicht mit dem Kopf.« Raistlin warf ihr einen kurzen Blick zu. »Denk daran.«

Laurana war einen Moment verwirrt, dann spürte sie eine Spur von Überheblichkeit bei dem Magier, die sie wütend machte, und sie sagte hochmütig: »Mir ist aufgefallen, daß du in der Aufzählung nicht vorkamst. Wenn du so intelligent und mächtig bist, wie du behauptest, warum folgst du dann Tanis?«

Raistlins Stundenglasaugen verdunkelten sich, und er kniff sie zu. Caramon brachte ihm einen Becher und goß vorsichtig Wasser hinein. Der Krieger warf Laurana einen Blick zu, er wirkte wie immer verlegen und unruhig, wenn sein Bruder sich so benahm.

Raistlin schien es nicht zu bemerken. Er zog einen Beutel aus seinem Gepäck und streute einige grüne Blätter in das heiße Wasser. Beißender Geruch erfüllte den Raum. »Ich folge ihm nicht.« Der junge Magier blickte Laurana an. »Zur Zeit reisen Tanis und ich zufälligerweise in dieselbe Richtung.«

»Die Ritter von Solamnia sind in unserer Stadt nicht willkommen«, sagte der Lord streng. Sein düsterer Blick wanderte über den Rest der Gruppe. »Noch Elfen, Kender und Zwerge und alle, die mit ihnen reisen. Wie ich verstanden habe, gehört auch ein Magier zu euch, einer mit roten Gewändern. Ihr tragt Rüstungen. Eure Waffen sind blutverklebt und schnell und sicher zur Hand. Offensichtlich seid ihr erfahrene Krieger.«

»Zweifellos Söldner, mein Herr«, bemerkte der Wachtmeister.

»Wir sind keine Söldner«, entgegnete Sturm stolz. »Wir kommen von den nördlichen Ebenen Abanasinias. Wir haben achthundert Männer, Frauen und Kinder aus der Gewalt des Drachenfürsten Verminaard in Pax Tharkas befreit. Wir flohen vor dem Zorn der Drachenarmeen und ließen die Leute in einem Tal im Gebirge zurück und reisten weiter südlich in der Hoffnung, Schiffe in der legendären Stadt Tarsis zu finden. Wir wußten nicht, daß sie inzwischen landumschlossen ist, sonst wären wir nicht gekommen.«

Der Lord runzelte die Stirn. »Du sagst, ihr kommt aus dem Norden? Das ist unmöglich. Niemand ist je ungeschoren durch das Bergkönigreich der Zwerge in Thorbadin gekommen.«

»Wenn du irgend etwas über die Ritter von Solamnia weißt, dann müßtest du auch wissen, daß wir eher sterben würden, als zu lügen – selbst unseren Feinden gegenüber«, sagte Sturm.

»Wir haben das Zwergenreich betreten und konnten sicher passieren, da wir als Gegenleistung den verlorenen Streitkolben von Kharas gefunden und übergeben haben.«

Der Lord bewegte sich unruhig und warf dem hinter ihm sitzenden Drakonier einen Blick zu. »Ich weiß einiges über die Ritter«, sagte er widerstrebend. »Und darum muß ich deine Geschichte glauben, obwohl sie eher wie ein Märchen klingt als...«

Plötzlich wurden die Türen aufgestoßen, und zwei Wachen traten ein und zogen einen Gefangenen hinter sich her. Sie schoben die Gefährten beiseite, als sie ihren Gefangenen auf den Boden warfen. Es war eine Frau. Sie war fast völlig verschleiert und trug einen langen Rock und einen dicken Umhang. Einen Moment blieb sie auf dem Boden liegen, als ob sie zu müde oder zu geschwächt wäre, sich zu erheben. Dann schien sie mit äußerster Willensanstrengung zu versuchen, hochzukommen. Niemand wollte ihr offenbar helfen. Der Lord starrte sie mit grimmigem und drohendem Gesicht an. Der Drakonier war aufgestanden und sah interessiert zu ihr hin. Dann war Sturm an ihrer Seite.

Der Ritter hatte voller Entsetzen zugesehen, erschreckt über diese gefühllose Behandlung einer Frau. Er blickte zu Tanis, sah den immer vorsichtigen Halb-Elf den Kopf schütteln, aber der Anblick der Frau, die sich mühte, aufzustehen, war zuviel für den Ritter. Er trat einen Schritt nach vorn. Vor ihm tauchte ein Speer auf.

»Töte mich, wenn du willst«, sagte der Ritter zu der Wache, »trotzdem werde ich dieser Dame helfen.«

Die Wache blinzelte und trat zurück, seine Augen wandten sich dem Lord zu. Dieser schüttelte leicht den Kopf. Tanis hielt den Atem an, als er ihn beobachtete. Dann schien es ihm, als würde der Lord lächeln, der gleich darauf schnell seine Hand auf den Mund legte.

»Meine Dame, erlaubt mir, Euch zu helfen«, sagte Sturm mit seiner altmodischen Höflichkeit. Seine starken Hände hoben sie sanft auf die Füße.

»Du hättst mich lieber liegenlassen sollen, Ritter«, sagte die Frau, ihre Worte waren hinter ihrem Schleier kaum zu hören.

Aber bei ihrer Stimme stöhnten Tanis und Gilthanas auf und blickten sich an. »Du weißt nicht, was du tust«, fuhr sie fort.

»Du riskierst dein Leben...«

»Es ist mir eine Ehre«, sagte Sturm und verbeugte sich. Dann stellte er sich beschützend neben sie, seine Augen auf die Wachen gerichtet.

»Sie ist eine Silvanesti-Elfe!« flüsterte Gilthanas Tanis zu.

»Weiß Sturm das?«

»Natürlich nicht«, erwiderte Tanis. »Wie sollte er? Ich selbst habe ja kaum ihren Akzent erkannt.«

»Was macht sie wohl hier? Silvanesti ist weit entfernt...«

»Ich...«, begann Tanis, aber einer der Wachen stieß ihn an. Er verstummte, als der Lord zu sprechen anfing.

»Lady Alhana«, sagte er mit kalter Stimme, »Ihr wurdet aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Beim letzten Mal war ich gnädig, weil Ihr im Auftrag Eures Volkes hier wart, und das Protokoll wird immer noch in Tarsis geschätzt. Ich sagte Euch aber damals schon, daß Ihr keine Hilfe von uns erwarten könnt, und gab Euch vierundzwanzig Stunden Zeit, die Stadt zu verlassen. Jetzt finde ich Euch hier wieder.« Er sah zu den Wachen. »Wie lautet die Anklage?«

»Der Versuch, Söldner zu kaufen, mein Herr«, erwiderte der Wachtmeister. »Man hat sie in einem Wirtshaus an der alten Küste aufgegriffen, Herr.« Der Wachtmeister warf Sturm einen vernichtenden Blick zu. »Gut, daß sie nicht mit diesem Gesindel zusammengetroffen ist. In Tarsis würde sonst niemand einer Elfe helfen.«

»Alhana«, murmelte Tanis. Er rückte vorsichtig zu Gilthanas.

»Warum ist mir dieser Name so vertraut?«

»Bist du von deinem Volk so lange weggewesen, daß du dich nicht einmal mehr an diesen Namen erinnerst?« fragte der Elf leise in der Elfensprache. »Unter unseren Silvanesti-Kusinen gab es nur eine Alhana. Alhana Sternenwind, Tochter des Sternensprechers, Prinzessin, Herrscherin nach dem Tode ihres Vaters, da sie keine Brüder hat.«

»Alhana«, sagte Tanis, die Erinnerungen kamen zurück. Das Elfenvolk war vor Jahrhunderten gespalten worden, als Kith-Kanan viele Elfen nach den bitteren Sippenmord-Kriegen in das Land Qualinesti geführt hatte. Aber die Elfenführer blieben immer noch auf seltsame Weise in Verbindung mit den Elfenlords, die angeblich Botschaften im Wind lesen und die Sprache des Silbermondes verstehen können. Jetzt erinnerte er sich an Alhana. Von allen Elfenmädchen sollte sie die schönste gewesen sein und so distanziert wie der Silbermond, der bei ihrer Geburt geleuchtet hatte.

Der Drakonier lehnte sich zurück, um etwas mit dem Lord zu besprechen. Tanis sah, wie sich das Gesicht des Mannes verdüsterte, und es schien, als ob er nicht einverstanden wäre. Dann biß er sich auf die Lippe und nickte seufzend. Der Drakonier verschwand wieder in den Schatten.

»Ihr steht unter Arrest, Lady Alhana«, sagte der Lord mit schwerer Stimme. Sturm trat einen Schritt näher zu der Frau, als auch die Wachen näher kamen. Der Ritter warf seinen Kopf zurück und warf ihnen einen warnenden Blick zu. Er wirkte so überzeugend und edel, selbst unbewaffnet, daß die Wachen zögerten. Doch sie hatten ihren Befehl.

»Du solltest etwas unternehmen«, knurrte Flint. »Ich bin sehr für Ritterlichkeit, aber alles zu seiner Zeit und an seinem Ort!«

»Hast du vielleicht einen Vorschlag?« knurrte Tanis.

Flint antwortete nicht. Sie konnten überhaupt nichts machen, und das wußten sie. Sturm würde sterben, bevor eine Wache auch nur eine Hand an die Frau gelegt hätte, obwohl er überhaupt nicht wußte, für wen er da eigentlich sein Leben gab. Es spielte keine Rolle. Tanis fühlte sich zwischen Niedergeschlagenheit und Bewunderung für seinen Freund hin- und hergerissen und maß die Entfernung zwischen sich und der am nächsten stehenden Wache. Wenigstens einen würde er außer Gefecht setzen können. Er sah Gilthanas die Augen schließen, seine Lippen bewegten sich. Der Elf war ein Magier, obwohl er die Magie nie ernsthaft betrieben hatte. Als er in Tanis' Gesicht sah, seufzte Flint tief und wandte sich der anderen Wache zu, den behelmten Kopf gesenkt.

Dann sprach plötzlich der Lord, seine Stimme klang krächzend. »Halte ein, Ritter!« sagte er mit der Autorität, die seine Familie seit langen Generationen genoß. Sturm entspannte sich, und Tanis seufzte erleichtert auf. »In diesem Saal soll kein Blut vergossen werden. Diese Dame hat ein Gesetz dieses Landes gebrochen, Gesetze, die du, Ritter, in früheren Zeiten geschworen hast, einzuhalten. Aber ich meine auch, es besteht kein Grund, sie respektlos zu behandeln. Wachen, ihr werdet die Dame ins Gefängnis bringen, aber mit der gleichen Höflichkeit, die ihr mir erweist. Und du, Ritter, wirst sie begleiten, da du an ihrem Wohlbefinden so interessiert bist.«

Tanis stieß Gilthanas an, der zusammenschrak, als er aus seiner Trance kam. »Dieser Lord kommt wahrhaftig, wie Sturm schon sagte, aus einer gütigen und ehrenwerten Familie«, flüsterte Tanis.

»Ich verstehe nicht, warum du so vergnügt bist, Halb-Elf«, murrte Flint, der die Worte gehört hatte. »Zuerst bringt uns der Kender dazu, daß wir wegen Anstiftung zum Aufruhr angeklagt werden, dann verschwindet er. Und jetzt bringt uns der Ritter ins Gefängnis. Beim nächsten Mal erinnere mich bitte, daß ich mich an den Magier halte. Bei ihm weiß ich wenigstens, daß er verrückt ist!«

Als die Wachen ihre Gefangenen von der Bank wegtreiben wollten, schien Alhana etwas in den Falten ihres Rocks zu suchen.

»Ich bitte Euch um einen Gefallen, Ritter«, sagte sie zu Sturm. »Anscheinend habe ich etwas fallen gelassen. Eine Kleinigkeit, aber sehr wertvoll. Könntet Ihr nachsehen...«

Sturm kniete sich geschwind und fand sofort den Gegenstand auf dem Boden liegen, verborgen unter den weiten Falten ihres Kleides. Es war eine sternenförmige, mit Diamanten besetzte Nadel. Er hielt den Atem an. Eine Kleinigkeit! Ihr Wert mußte unschätzbar sein. Kein Wunder, daß sie es vor den Wachen verborgen halten wollte. Schnell schloß er seine Finger um das Schmuckstück, dann tat er so, als würde er weitersuchen. Immer noch kniend sah er schließlich zu der Frau auf.

Sturm hielt den Atem an, als die Frau die Kapuze ihres Umhangs wegschob und ihren Schleier vom Gesicht zog. Zum ersten Mal erblickten menschliche Augen das Gesicht von Alhana Sternenwind.

Muralasa, wie die Elfen sie nannten – Prinzessin der Nacht. Ihr Haar, schwarz und weich wie der Nachtwind, wurde von einem Netz, das noch feiner als Spinnenweben war, und mit kleinen Juwelen, die wie Sterne funkelten, zusammengehalten. Ihre Haut war so blaß wie der Silbermond, ihre Augen hatten das tiefe dunkle Purpur des Abendhimmels und ihr Mund die Farbe der Schatten des roten Mondes.

Der erste Gedanke des Ritters war, daß er Paladin dankte, bereits auf den Knien zu sein. Sein zweiter Gedanke war, daß der Tod ein erbärmlicher Preis dafür war, ihr zu dienen. Sein dritter Gedanke war, daß er irgend etwas sagen mußte, aber er schien die Worte aller ihm bekannten Sprachen vergessen zu haben.

»Vielen Dank für Eure Suche, edler Ritter«, sagte Alhana leise und sah aufmerksam in Sturms Augen. »Wie ich schon sagte, es war nur eine Kleinigkeit. Bitte erhebt Euch. Ich bin sehr müde, und da wir anscheinend zum selben Ort gebracht werden, wäre ich sehr dankbar, wenn Ihr mir helfen würdet.«

»Zu Eurer Verfügung«, sagte Sturm leidenschaftlich und erhob sich, dabei verstaute er schnell den Juwel in seinem Gürtel. Er hielt ihr seinen Arm hin, und Alhana legte ihre schmale weiße Hand hinein. Sein Arm zitterte bei ihrer Berührung. Dem Ritter war, als hätte sich eine Wolke über das Licht der Sterne gelegt, als sie wieder ihr Gesicht verschleierte. Sturm sah, wie sich Tanis hinter ihnen aufstellte, aber der Ritter war so hingerissen von dem wunderschönen Gesicht, das sich in seine Erinnerung gebrannt hatte, daß er den Halb-Elf ohne ein Anzeichen des Erkennens anstarrte.

Tanis hatte Alhanas Gesicht gesehen, und ihre Schönheit hatte auch ihn bewegt. Aber er hatte auch Sturms Gesicht gesehen. Er hatte die Schönheit der Frau in das Herz des Ritters eintreten sehen. Und das würde mehr Schaden bringen als ein vergifteter Pfeil eines Goblins. Denn er wußte, diese Liebe würde sich in Gift verwandeln. Die Silvanesti waren eine stolze und hochmütige Rasse. Da sie ihr Blut reinhalten und sogar ihre Lebensweise vor fremden Einflüssen bewahren wollten, lehnten sie sogar oberflächlichsten Kontakt mit Menschen ab. Das war auch der Grund für die Sippenmord-Kriege gewesen. Nein, dachte Tanis traurig, für Sturm konnte der Silbermond nicht unerreichbarer sein als diese Elfe. Der Halb-Elf seufzte. Das hatte zu allem noch gefehlt.

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