22 Silvaras Geheimnis

»Wie hast du denn überlebt?« fragte Tolpan, während er Trockenfrüchte aus einem Beutel zog, um sie mit Fizban zu teilen.

Der alte Mann wirkte nachdenklich. »Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, daß ich es habe«, sagte er entschuldigend. »Leider habe ich nicht die geringste Ahnung. Aber wenn ich darüber nachdenke... ich kann seitdem keine Hähnchen mehr essen. Nun«, – er starrte den Kender scharfsinnig an -, »was treibst du überhaupt hier?«

»Ich bin mit einigen meiner Freunde hier. Die anderen wandern irgendwo herum, falls sie noch leben.« Wieder schniefte Tolpan.

»Das tun sie. Mach dir keine Sorgen.« Fizban klopfte ihm auf die Schulter.

»Glaubst du wirklich?« Tolpan strahlte auf. »Nun, jedenfalls sind wir mit Silvara hier...«

»Silvara?« Der alte Mann sprang auf seine Füße, sein weißes Haar flog wild herum. Der ausdruckslose Blick verschwand aus seinen Augen.

»Wo ist sie?« verlangte der alte Mann streng. »Und deine Freunde, wo sind sie?«

»U-unten«, stammelte Tolpan, erschrocken über die Verwandlung des alten Mannes. »Silvara hat einen Zauber über sie geworfen!«

»Ah, hat sie das, hat sie das?« murmelte der alte Mann. »Wir werden uns das mal ansehen. Komm!« Er begann so schnell den Balkon entlangzulaufen, daß Tolpan Mühe hatte, Schritt zu halten.

»Wo sind sie noch mal?« fragte der alte Mann und hielt an der Treppe an. »Sei genau«, schnappte er.

»Uh – das Grabmal! Humas Grabmal! Ich glaube, es ist Humas Grabmal. Das hat Silvara jedenfalls gesagt.«

»Pff. Nun, zumindest brauchen wir nicht zu laufen.«

Sie stiegen die Treppe hinunter zu dem Loch im Boden, durch das Tolpan gekommen war. Der alte Mann stellte sich mitten in dieses Loch. Tolpan schluckte ein wenig, dann stellte er sich zu ihm und klammerte sich an das Gewand des alten Mannes. Sie hingen schwebend über dem Nichts, nur Dunkelheit um sie und kühle Luft.

»Nach unten«, erklärte der alte Mann.

Sie begannen sich zu erheben und trieben zur Decke der oberen Galerie. Tolpans Haare standen zu Berge.

»Ich sagte nach unten!« schrie der alte Mann wütend und fuchtelte drohend das Loch unter ihm an.

Es folgte ein schlürfendes Geräusch, und beide wurden so schnell in das Loch gesogen, daß Fizbans Hut wegflog. Es ist derselbe Hut, den er in der Höhle des roten Drachen verloren hat, dachte Tolpan. Er war verbogen und formlos und besaß offenbar seinen eigenen Willen. Fizban griff wild nach ihm, verfehlte ihn aber. Der Hut jedoch schwebte hinter ihnen her.

Tolpan spähte fasziniert nach unten und wollte eine Frage stellen, aber Fizban hieß ihn schweigen. Er hielt seinen Stab umklammert, flüsterte leise und malte ein merkwürdiges Zeichen in die Luft.

Laurana öffnete ihre Augen. Sie lag auf einer kalten Steinbank und starrte auf die schwarze, glänzende Decke. Sie hatte keine Vorstellung, wo sie sich befand. Dann kehrte die Erinnerung zurück. Silvara!

Sie setzte sich schnell auf und warf einen Blick durch den Raum. Flint stöhnte und rieb sich den Nacken. Theros blinzelte und sah sich verwirrt um. Gilthanas, bereits auf den Füßen, stand am Fußende von Humas Totenbahre und starrte auf etwas an der Tür. Als Laurana zu ihm ging, wandte er sich um. Er legte seinen Finger auf seine Lippen und zeigte zur Tür.

Dort saß Silvara und weinte bitterlich.

Laurana zögerte, die wütenden Worte, die sie auf der Zunge hatte, erstarben ihr. Das war sicherlich nicht das, was sie erwartet hatte. Was hatte sie dann erwartet? fragte sie sich.

Höchstwahrscheinlich nie mehr wach zu werden. Es mußte eine Erklärung geben. Sie ging nach vorn.

»Silvara...«, begann sie.

Das Mädchen sprang auf, ihr verweintes Gesicht war blaß vor Angst.

»Wieso seid ihr wach? Wie habt ihr euch von meinem Zauber befreien können?« keuchte sie und taumelte gegen die Wand.

»Mach dir darüber keine Gedanken!« antwortete Laurana, obwohl sie es selbst nicht wußte. »Sag uns...«

»Es war mein Tun!« verkündete eine tiefe Stimme. Laurana und die anderen drehten sich um und sahen einen weißbärtigen alten Mann in mausgrauen Gewändern feierlich aus dem Loch im Boden emporsteigen.

»Fizban!« flüsterte Laurana ungläubig.

Es klirrte und schepperte. Flint war ohnmächtig zu Boden gestürzt. Niemand sah nach ihm. Sie starrten einfach nur ehrfürchtig den alten Magier an. Dann warf sich Silvara flach auf den kalten Steinboden und zitterte und wimmerte.

Fizban ignorierte die Blicke der anderen und ging zu Silvara. Hinter ihm krabbelte Tolpan aus dem Loch.

»Seht mal, wen ich gefunden habe«, sagte der Kender stolz. »Fizban! Und ich bin geflogen, Laurana. Ich sprang in das Loch und flog dann direkt nach oben. Und da ist ein Gemälde mit goldenen Drachen, und dann setzte sich Fizban auf und schrie mich an und – ich muß zugeben, eine Zeitlang war ich ganz schön durcheinander. Meine Stimme war weg und... Was ist mit Flint passiert?«

»Pssst, Tolpan«, sagte Laurana, ihre Augen waren auf Fizban gerichtet. Er kniete neben der Wild-Elfe und schüttelte sie.

»Silvara, was hast du getan?« fragte Fizban streng.

Laurana dachte in diesem Moment, daß sie sich vielleicht geirrt hätte – daß es ein anderer alter Mann in den Kleidern des alten Magiers sei. Dieser ernste, mächtig wirkende Mann war sicherlich nicht der verwirrte alte Magier, an den sie sich erinnerte. Aber nein, sie kannte das Gesicht von irgendwoher, um nicht zu sagen, den Hut.

Als sie die beiden – Silvara und Fizban – beobachtete, spürte Laurana eine große und furchteinflößende Macht, wie ein stummes Gewitter, das zwischen den beiden anstieg. Sie hatte das schreckliche Verlangen, von diesem Ort wegzurennen und weiterzurennen, bis sie vor Erschöpfung umfallen würde. Aber sie konnte sich nicht bewegen. Sie konnte nur starren.

»Was hast du getan, Silvara?« wiederholte Fizban. »Du hast deinen Eid gebrochen!«

»Nein!« Das Mädchen krümmte sich stöhnend vor den Knien des alten Magiers. »Nein, habe ich nicht. Noch nicht...«

»Du bist in der Welt in einem anderen Körper herumgelaufen, hast dich in die Angelegenheiten der Menschen gemischt. Das allein reicht schon aus. Aber du hast sie hierhergebracht!«

Silvaras verweintes Gesicht war vor Qual verzerrt. Laurana spürte ihre eigenen Tränen über ihre Wangen laufen.

»Na schön!« schrie Silvara trotzig. »Ich habe meinen Eid gebrochen, zumindest hatte ich die Absicht. Ich habe sie hierhergebracht. Ich mußte es! Ich habe das Elend und das Leiden gesehen. Außerdem«, ihre Stimme versagte, ihre Augen starrten in die Ferne, »hatten sie eine Kugel...«

»Ja«, sagte Fizban leise. »Eine Kugel der Drachen. Aus dem Schloß von Eismauer. Sie fiel in deinen Besitz. Was hast du damit gemacht, Silvara? Wo ist sie jetzt?«

»Ich habe sie weggeschickt...«, sagte Silvara kaum hörbar.

Fizban schien zu altern. Sein Gesicht wurde müde. Er seufzte tief und stützte sich schwer auf seinen Stab. »Wohin hast du sie geschickt, Silvara? Wo ist die Kugel der Drachen jetzt?«

»St-Sturm hat sie«, unterbrach ihn Laurana ängstlich. »Er bringt sie nach Sankrist. Was bedeutet das? Ist Sturm in Gefahr?«

»Wer?« Fizban spähte über seine Schulter. »O hallo, meine Liebe.« Er strahlte sie an. »Nett, dich wiederzusehen. Wie geht es deinem Vater?«

»Mein Vater...« Laurana schüttelte verwirrt den Kopf. »Bitte, alter Mann, erwähne niemals meinen Vater! Wer...«

»Und dein Bruder.« Fizban reichte Gilthanas seine Hand.

»Gut, dich wiederzusehen, Sohn. Und du.« Er verbeugte sich vor dem erstaunten Theros. »Silberarm? Ja, ja« – er warf Silvara einen schnellen Blick zu -, »was für ein Zufall. Theros Eisenfeld, nicht wahr? Habe eine Menge von dir gehört. Mein Name ist...«

Der alte Magier stockte und zog seine Augenbrauen hoch.

»Mein Name ist...«

»Fizban«, ergänzte Tolpan hilfsbereit.

»Fizban.« Der alte Mann nickte lächelnd.

Laurana hatte den Eindruck, daß der alte Magier Silvara einen warnenden Blick zuwarf. Das Mädchen neigte ihren Kopf, als ob sie ein stummes, geheimes Signal bestätigen wollte.

Aber bevor Laurana darüber weiter nachdenken konnte, wandte sich Fizban wieder ihr zu. »Und nun, Laurana, du fragst dich, wer Silvara ist. Es liegt bei Silvara, es dir zu erzählen. Denn ich muß jetzt aufbrechen. Ich habe eine weite Reise vor mir.«

»Muß ich es ihnen erzählen?« fragte Silvara leise. Sie lag immer noch auf den Knien, und als sie sprach, fuhren ihre Augen zu Gilthanas. Fizban folgte ihrem Blick. Als er das verzweifelte Gesicht des Elfenlords sah, wurden seine Gesichtszüge weicher. Dann schüttelte er traurig den Kopf.

Silvara streckte ihm ihre Hände bittend entgegen. Fizban ging zu ihr. Er nahm ihre Hände und zog sie auf die Füße. Sie warf ihre Arme um ihn, und er hielt sie fest an sich gedrückt.

»Nein, Silvara«, sagte er, seine Stimme war freundlich und sanft, »du mußt es ihnen nicht erzählen. Es ist deine Entscheidung, so wie es die deiner Schwester war. Du kannst sie vergessen lassen, daß sie überhaupt hier waren.«

Plötzlich war die einzige Farbe, die noch in Silvaras Gesicht blieb, das tiefe Blau ihrer Augen. »Aber das würde bedeuten...«

»Ja, Silvara«, sagte er. »Es liegt bei dir.« Er küßte das Mädchen auf die Stirn. »Leb wohl, Silvara.«

Er drehte sich um und sah zu den anderen. »Auf Wiedersehen. Auf Wiedersehen. Nett, euch wiedergesehen zu haben. Ich bin ein wenig beleidigt über die Hühnerfedern, aber – keine bösen Gefühle.« Er wartete ungeduldig eine Minute, dann blickte er zu Tolpan. »Kommst du jetzt? Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit!«

»Kommen? Mit dir?« schrie Tolpan und ließ Flints Kopf mit einem Knall auf den Steinboden fallen. Der Kender stand auf.

»Natürlich, laß mich nur mein Gepäck...« Dann hielt er inne und blickte auf den ohnmächtigen Zwerg. »Flint...«

»Ihm ist nichts geschehen«, versprach Fizban. »Du wirst nicht lange von deinen Freunden getrennt sein. Wir werden sie sehen«, er runzelte die Stirn und murmelte, »sieben Tage, füge drei hinzu, noch den einen, wieviel sind sieben mal vier? Na gut, zur Zeit des Hungers. Wenn das Treffen stattfindet. Jetzt komm schon. Ich habe viel Arbeit. Deine Freunde sind in guten Händen. Silvara wird auf sie aufpassen, nicht wahr, meine Liebe?« Er wandte sich zu der Wild-Elfe.

»Ich werde es ihnen erzählen«, sagte sie traurig, während sie Gilthanas ansah.

Der Elfenlord starrte sie an und dann Fizban, sein Gesicht war blaß, Furcht breitete sich in ihm aus.

Silvara seufzte. »Du hast recht. Ich habe meinen Eid vor langer Zeit gebrochen. Ich muß zu Ende führen, was ich begonnen habe.«

»So, wie du es für das Beste hältst.« Fizban legte seine Hand auf Silvaras Kopf und streichelte ihr silbernes Haar. Dann drehte er sich um.

»Werde ich bestraft werden?« fragte sie, gerade als der alte Mann in den Schatten trat.

Fizban hielt inne. Er schüttelte den Kopf und sah über die Schulter zurück. »Einige würden sagen, daß du gerade bestraft wirst, Silvara«, sagte er leise. »Aber was du tust, das tust du aus Liebe. So wie die Entscheidung bei dir lag, so auch deine Bestrafung.«

Der alte Mann trat in die Dunkelheit. Tolpan rannte hinterher, seine Beutel hüpften auf und ab. »Auf Wiedersehen, Laurana! Auf Wiedersehen, Theros! Paßt auf Flint auf!« In der darauffolgenden Stille konnte Laurana die Stimme des alten Mannes hören.

»Wie war noch einmal der Name? Fizbut, Furball...«

»Fizban!« sagte Tolpan schrill.

»Fizban... Fizban...«, murmelte der alte Mann.

Alle Augen waren auf Silvara gerichtet.

Sie war jetzt ruhig, mit sich im Frieden. Obwohl ihr Gesicht traurig war, war es doch nicht die zerquälte, bittere Traurigkeit, die sie zuvor gesehen hatten. Es war die Traurigkeit, zu verlieren, die ruhige, akzeptierende Traurigkeit einer Person, die nichts zu bedauern hat. Silvara ging auf Gilthanas zu. Sie nahm seine Hände und sah ihn mit so viel Liebe an, daß Gilthanas sich gesegnet fühlte, obwohl er wußte, daß sie sich von ihm verabschieden würde.

»Ich verliere dich, Silvara«, murmelte er gebrochen. »Ich sehe es in deinen Augen. Aber ich verstehe den Grund nicht! Du liebst mich...«

»Ich liebe dich, Elfenlord«, sagte Silvara leise. »Ich liebe dich, seitdem ich dich verwundet auf dem Sand liegen sah. Als du aufgesehen und mich angelächelt hast, wußte ich, daß das Schicksal meiner Schwester auch meines sein würde.« Sie seufzte. »Aber es ist ein Risiko, wenn wir uns für diese Gestalt entscheiden. Denn obwohl wir unsere Stärke mit einbringen, so führt diese Gestalt zu Schwächen. Oder ist es keine Schwäche, zu lieben...?«

»Silvara, ich verstehe nicht!« schrie Gilthanas.

»Das wirst du«, versprach sie mit leiser Stimme. Sie senkte ihren Kopf.

Gilthanas nahm sie in seine Arme und hielt sie fest. Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. Er küßte ihr wunderschönes Silberhaar, dann umklammerte er sie mit einem Schluchzen.

Laurana drehte sich um. Diese Trauer erschien ihr zu heilig, um sie mit ihren Augen zu stören. Sie schluckte ihre Tränen hinunter, sah sich um und erinnerte sich an den Zwerg. Mit Wasser aus seinem Wasserschlauch besprenkelte sie Flints Gesicht.

Seine Augenlider flatterten, dann öffneten sie sich. Der Zwerg starrte Laurana einen Moment an, dann streckte er eine zitternde Hand aus.

»Fizban!« flüsterte der Zwerg heiser.

»Ich weiß«, sagte Laurana und fragte sich, wie der Zwerg die Neuigkeiten über Tolpans Weggang aufnehmen würde.

»Fizban ist tot!« keuchte Flint. »Tolpan sagte das! In einem Haufen von Hühnerfedern!« Der Zwerg versuchte sich aufzusetzen. »Wo ist dieser hohlköpfige Kender?«

»Er ist gegangen, Flint«, sagte Laurana. »Er ist mit Fizban weggegangen.«

»Gegangen?« Der Zwerg sah sich sprachlos um. »Du hast ihn gehen lassen? Mit dem alten Mann?«

»Leider...«

»Du hast ihn mit einem toten alten Mann gehen lassen?«

»Mir blieb nicht viel anderes übrig.« Laurana lächelte. »Es war seine Entscheidung. Es geht ihm gut...«

»Wo sind sie hingegangen?« Flint erhob sich und schulterte sein Gepäck.

»Du kannst ihnen nicht folgen«, sagte Laurana. »Bitte, Flint.« Sie legte ihren Arm um die Schultern des Zwerges. »Ich brauche dich. Du bist Tanis' ältester Freund, mein Ratgeber...«

»Aber er ist ohne mich gegangen«, sagte Flint klagend. »Wie konnte er einfach gehen? Ich habe ihn nicht weggehen sehen.«

»Du bist ohnmächtig geworden...«

»So etwas passiert mir nicht!« brüllte der Zwerg.

»Es – es hat dich umgehauen«, stammelte Laurana.

»Ich werde nie ohnmächtig!« stellte der Zwerg beleidigt klar.

»Es muß ein Rückfall dieser tödlichen Krankheit gewesen sein, die ich mir an Bord des Bootes...« Flint ließ sein Gepäck fallen und sich daneben. »Dummer Kender. Rennt mit einem toten alten Mann davon.«

Theros gesellte sich zu Laurana und zog sie beiseite. »Wer war dieser alte Mann?« fragte er neugierig.

»Das ist eine lange Geschichte.« Laurana seufzte. »Und ich bin mir nicht sicher, ob ich die Frage überhaupt beantworten könnte.«

»Er kommt mir bekannt vor.« Theros runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Aber ich kann mich nicht erinnern, wo ich ihn gesehen habe, obwohl es mich an Solace und an das Wirtshaus Zur letzten Bleibe denken läßt. Und er kannte mich...« Der Schmied starrte auf seine silberne Hand. »Ich spürte einen Schock, als er mich ansah, wie ein Blitz, der in einen Baum einschlägt.«

Der große Schmied erzitterte, dann blickte er zu Silvara und Gilthanas. »Und was ist damit?«

»Ich denke, wir werden es endlich erfahren«, sagte Laurana.

»Du hattest recht«, sagte Theros. »Du hast ihr nicht vertraut...«

»Aber nicht aus den richtigen Gründen«, gab Laurana schuldschuldbewußt zu.

Mit einem Seufzer löste sich Silvara aus Gilthanas' Umarmung. Der Elfenlord ließ sie nur widerstrebend los.

»Gilthanas«, sagte sie, nachdem sie zitternd Atem geholt hatte, »nimm eine Fackel von der Wand und halte sie vor mich.«

Gilthanas zögerte. Dann befolgte er fast wütend ihre Anweisung.

»Halt die Fackel hierher...«, befahl sie und führte seine Hand, so daß das Licht direkt auf sie fiel. »Jetzt – schau auf meinen Schatten an der Wand«, sagte sie zitternd.

In der Grabstätte war es still, nur die flackernde Fackel machte Geräusche. Silvaras Schatten wurde an der kalten Steinwand lebendig. Die Gefährten starrten darauf, und einen Augenblick lang konnte keiner ein Wort herausbringen.

Der Schatten, den Silvara auf die Wand warf, war nicht der Schatten einer jungen Elfe.

Es war der Schatten eines Drachen.

»Du bist ein Drache!« sagte Laurana schockiert und ungläubig. Sie legte ihre Hand ans Schwert, aber Theros hielt sie zurück.

»Nein!« sagte er plötzlich. »Ich erinnere mich. Dieser alte Mann...« Er sah auf seinen Arm. »Ich erinnere mich jetzt. Er kam früher in das Wirtshaus Zur letzten Bleibe! Er war nur anders gekleidet. Er war kein Magier, aber er war es! Ich schwöre es! Er erzählte den Kindern Geschichten. Geschichten über gute Drachen. Goldene Drachen und...«

»Silberne Drachen«, ergänzte Silvara, auf Theros blickend.

»Ich bin ein silberner Drache. Meine Schwester war der Silberdrache, den Huma liebte und der mit ihm zusammen in der letzten großen Schlacht kämpfte...«

»Nein!« Gilthanas warf die Fackel auf den Boden. Sie lag flackernd zu seinen Füßen; dann trampelte er wütend auf sie ein und löschte sie. Silvara beobachtete ihn mit traurigen Augen, streckte ihre Hand aus, um ihn zu trösten.

Gilthanas wich vor ihrer Berührung zurück, starrte sie entsetzt an.

Silvara senkte langsam ihre Hand. Sie seufzte und nickte.

»Ich verstehe«, murmelte sie. »Es tut mir leid.«

Gilthanas begann zu beben, wurde dann vom Schmerz überwältigt. Theros legte seine starken Arme um ihn und führte ihn zu einer Bank.

»Es geht schon wieder«, murmelte Gilthanas. »Laß mich nur ein wenig in Ruhe, laß mich nachdenken. Das ist Wahnsinn! Ein Alptraum! Der Drache!« Er schloß fest seine Augen, als ob er den Anblick für immer auslöschen wollte. »Ein Drache...«, flüsterte er gebrochen. Theros streichelte ihn sanft, dann ging er zu den anderen zurück.

»Wo sind denn die anderen guten Drachen?« fragte Theros.

»Der alte Mann sagte, daß es viele geben würde. Silberne Drachen, goldene Drachen...«

»Es gibt viele von uns«, antwortete Silvara widerstrebend.

»Wie der silberne Drache, den wir in Eismauer gesehen haben!« sagte Laurana. »Es war ein guter Drache. Wenn es so viele von euch gibt, dann tut euch doch zusammen! Helft uns, gegen die bösen Drachen zu kämpfen!«

»Nein!« schrie Silvara heftig. Ihre blauen Augen flackerten auf, und Laurana wich einen Schritt vor ihrem Zorn zurück.

»Warum nicht?«

»Das kann ich nicht sagen.« Silvaras Hände zuckten nervös.

»Es hat etwas mit dem Eid zu tun!« bohrte Laurana weiter.

»Oder nicht? Der Eid, den du gebrochen hast. Und die Bestrafung, nach der du Fizban gefragt hast...«

»Ich kann darüber nicht reden!« Silvara sprach leise und leidenschaftlich. »Was ich getan habe, ist schlimm genug. Aber ich mußte etwas unternehmen! Ich konnte nicht länger in dieser Welt leben und das Leiden Unschuldiger mit ansehen! Ich dachte, daß ich vielleicht helfen könnte, darum nahm ich die Elfengestalt an und tat, was ich konnte. Ich habe lange gearbeitet, versucht, die Elfen dazu zu bringen, sich zu verbünden. Ich hielt sie vom Krieg ab, aber es wurde immer schlimmer. Dann seid ihr gekommen, und ich sah, daß ihr in großer Gefahr wart, eine Gefahr, die sich keiner von euch vorstellen kann. Denn ihr hattet bei euch...«, ihre Stimme versagte.

»Die Kugel der Drachen!« sagte Laurana plötzlich.

»Ja.« Silvara ballte ihre Fäuste. »Da wußte ich, daß ich eine Entscheidung treffen mußte. Ihr hattet die Kugel, aber auch die Lanze. Die Lanze und die Kugel kamen zu mir! Beides zusammen! Ich dachte, es wäre ein Zeichen, aber ich wußte nicht recht, was ich tun sollte. Ich entschied, die Kugel hierher und sie für immer in Sicherheit zu bringen. Als wir dann zusammen reisten, wurde mir klar, daß die Ritter das niemals zulassen würden. Es würde Ärger geben. Als sich eine Gelegenheit ergab, schickte ich sie weg.« Ihre Schultern sackten zusammen.

»Das war offenbar die falsche Entscheidung. Aber woher sollte ich das wissen?«

»Warum?« fragte Theros streng. »Was ist mit der Kugel? Ist sie böse? Hast du die Ritter in ihren Untergang geschickt?«

»Großes Böses«, murmelte Silvara. »Großes Gutes. Wer kann das sagen? Selbst ich verstehe nicht die Kugeln der Drachen. Sie wurden vor langer Zeit von den mächtigsten Magiern geschaffen.«

»Aber Tolpan hat in einem Buch gelesen, daß man sie gegen die Drachen benutzen kann!« bemerkte Flint. »Er hat es mit einer komischen Brille gelesen. Er nannte sie Augengläser des Wahren Blicks. Er sagte, die Gläser würden nicht lügen...«

»Nein«, sagte Silvara traurig. »Das ist wahr. Es ist allzu wahr. Ich fürchte, eure Freunde werden das zu ihrem bitteren Bedauern entdecken.«

Die Gefährten saßen schweigend da, die Furcht zog sich um sie zusammen. Das Schweigen wurde nur von Gilthanas' Schluchzen unterbrochen. Die Fackeln warfen tanzende Schatten in der Grabesstätte, wie untote Geister. Laurana erinnerte sich an Huma und den Silbernen Drachen. Sie dachte an die letzte schreckliche Schlacht – der Himmel mit Drachen gefüllt, das Land in Flammen und Blut badend.

»Warum hast du uns dann hierhergebracht?« fragte Laurana Silvara ruhig. »Warum hast du uns dann nicht gemeinsam die Kugel wegbringen lassen?«

»Kann ich es ihnen sagen? Habe ich die Kraft?« flüsterte Silvara zu einem unsichtbaren Geist.

Lange Zeit saß sie ruhig da, ihr Gesicht war ausdruckslos, ihre Hände spielten nervös in ihrem Schoß. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Kopf geneigt, ihre Lippen bewegten sich. Sie bedeckte den Kopf mit ihren Händen und saß still da. Dann traf sie schaudernd ihre Entscheidung.

Sie erhob sich und ging zu Lauranas Gepäck. Sie kniete nieder und packte langsam und sorgfältig den zerbrochenen Schaft aus. Silvara erhob sich, ihr Gesicht war mit Frieden und Gelassenheit erfüllt – und jetzt auch mit Stolz und Kraft. Zum ersten Mal begann Laurana zu glauben, daß dieses Mädchen so etwas Mächtiges und Wunderbares wie ein Drache sein könnte. Ihr Silberhaar glänzte im Fackelschein, als Silvara stolz zu Theros Eisenfeld ging.

»Theros mit dem Silberarm«, sagte sie, »dir gebe ich die Kraft, die Drachenlanze zu schmieden.«

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