III

Am Dienstag vormittag saßen wir vor unserer Werkstatt im Hof und frühstückten, Der Cadillac war fertig. Lenz hielt ein Blatt Papier in der Hand und schaute uns triumphierend an. Er war unser Reklamechef und hatte Köster und mir gerade ein Inserat vorgelesen, das er für den Verkauf des Wagens verfaßt hatte. Es begann mit den Worten: »Urlaub an südlichen Gestaden im Luxusgefährt« und war ein Mittelding zwischen einem Gedicht und einer Hymne.

Köster und ich schwiegen eine Weile. Wir mußten uns von dieser Sturzflut an blumiger Phantasie erst erholen. Lenz hielt uns für überwältigt. »Das Ding hat Poesie und Schmiß, was?« fragte er stolz. »Im Zeitalter der Sachlichkeit muß man romantisch sein, das ist der Trick. Gegensätze ziehen an.«

»Nicht, wenn es sich um Geld handelt«, erwiderte ich.

»Automobile kauft man nicht, um Geld anzulegen, Knabe«, erklärte Gottfried abweisend. »Man kauft sie, um Geld auszugeben; und da beginnt bereits die Romantik, wenigstens für den Geschäftsmann. Für die meisten Leute hört sie sogar damit auf. Was meinst du, Otto?«

»Weißt du…«, begann Köster vorsichtig.

»Wozu lange reden«, unterbrach ich ihn. »Das ist ein Inserat für einen Kurort oder eine Schönheitscreme, aber nicht für ein Automobil.«

Lenz öffnete den Mund.

»Augenblick«, fuhr ich fort. »Uns hältst du ja doch für befangen, Gottfried. Ich mache dir deshalb einen Vorschlag: Fragen wir mal Jupp. Das ist die Stimme des Volkes!«

Jupp war unser einziger Angestellter, ein Junge von fünfzehn Jahren, der eine Art Lehrlingsstelle bei uns hatte. Er bediente die Benzinpumpe, besorgte das Frühstück und räumte abends auf. Er war klein, übersät mit Sommersprossen und hatte die größten abstehenden Ohren, die ich kannte. Köster erklärte, wenn Jupp aus einem Flugzeug fiele, könnte ihm nichts geschehen. Er käme durch die Ohren in sanftem Gleitflug zur Erde.

Wir holten ihn heran. Lenz las ihm das Inserat vor. »Würdest du dich für so ‘nen Wagen interessieren, Jupp?« fragte Köster.

»Einen Wagen?« fragte Jupp zurück.

Ich lachte. »Natürlich einen Wagen«, knurrte Gottfried. »Meinst du ein Heupferd?«

»Hat er Schnellgang, von oben gesteuerte Nockenwelle und hydraulische Bremsen?« erkundigte Jupp sich ungerührt.

»Schafskopf, es ist doch unser Cadillac«, fauchte Lenz.

»Nicht möglich«, erwiderte Jupp und grinste von einem Ohr zum andern.

»Da hast du’s, Gottfried!« sagte Köster. »Das ist die Romantik von heute.«

»Scher dich wieder an deine Pumpe, Jupp, verfluchter Sohn des zwanzigsten Jahrhunderts!«

Lenz verschwand mißmutig in der Bude, um dem Inserat bei aller Wahrung seines poetischen Schwunges doch etwas mehr technischen Halt zu geben.


Ein paar Minuten später erschien Oberinspektor Barsig plötzlich in der Hoftür. Wir empfingen ihn mit großen Ehren. Er war Ingenieur und Sachverständiger der Phönix-Autoversicherung, ein wichtiger Mann, um Reparaturen zugewiesen zu bekommen. Wir standen glänzend mit ihm. Als Ingenieur war er zwar ein scharfer Satan, der nichts durchgehen ließ, aber als Schmetterlingsfachmann war er weich wie Butter. Er hatte eine große Sammlung, und wir hatten ihm einmal einen dicken Schwärmer geschenkt, der nachts in unsere Werkstatt geflogen war. Barsig war blaß und feierlich geworden, als wir ihm das Tier überreichten. Es war ein Totenkopf, eine unerhörte Seltenheit, die ihm in seiner Sammlung noch gefehlt hatte. Er vergaß uns das nie und besorgte uns seitdem Reparaturen, wo es ging. Wir fingen ihm dafür jede Motte, die wir erwischen konnten.

»Einen Wermut, Herr Barsig?« fragte Lenz, der schon wieder obenauf war.

»Keinen Alkohol vor abends«, erwiderte Barsig. »Eisernes Prinzip bei mir.«

»Prinzipien muß man durchbrechen, sonst machen sie keine Freude«, erklärte Gottfried und schenkte ein. »Auf die Zukunft der Ligusterschwärmer, der Pfauenaugen und Perlmutterfalter!«

Barsig zögerte einen Moment. »Wenn Sie mir so kommen, kann ich nicht nein sagen«, sagte er und griff zu. »Aber dann wollen wir auch auf die kleinen Ochsenaugen anstoßen.« Er lächelte verlegen, als gäbe er etwas Zweideutiges von einer Frau zum besten. »Ich habe da nämlich eine neue Spielart entdeckt. Mit borstigen Fühlern.«

»Donnerwetter«, sagte Lenz, »alle Achtung! Dann sind Sie ja ein Pionier, und Ihr Name kommt in die Naturgeschichte.«

Wir tranken alle noch ein Glas auf die borstigen Fühler. Barsig wischte sich den Schnurrbart. »Ich bringe Ihnen eine gute Nachricht. Sie können den Ford abholen. Die Direktion hat bewilligt, daß Sie die Reparatur machen.«

»Großartig«, sagte Köster. »Wir können sie gut brauchen. Und wie steht es mit unserm Kostenanschlag?«

»Auch bewilligt.«

»Ohne Abzug?«

Barsig kniff ein Auge zu. »Die Herren wollten erst nicht recht. Aber schließlich…«

»Ein volles Glas auf die Phönixversicherung!« sagte Lenz und schenkte erneut ein.

Barsig stand auf und verabschiedete sich. »Denken Sie an«, sagte er im Gehen, »die Frau, die mit in dem Ford war, ist vor ein paar Tagen doch noch gestorben. Hatte nur Schnittwunden. Wahrscheinlich zuviel Blut verloren.«

»Wie alt war sie denn?« fragte Köster.

»Vierunddreißig«, erwiderte Barsig. »Schwanger im vierten Monat. Mit zwanzigtausend Mark versichert.«


Wir fuhren gleich los, um den Wagen zu holen. Er stand bei einem Bäckermeister. Der Mann war nachts halb betrunken damit gegen eine Mauer gerast. Nur seine Frau war verletzt worden; er selbst hatte nicht einen Kratzer abbekommen.

Wir trafen ihn in der Garage, als wir den Wagen zum Abschleppen fertigmachten. Er sah uns eine Zeitlang schweigend zu und stand etwas zusammengesackt da, mit rundem Rücken und kurzem Hals, den Kopf ein wenig vorgebeugt. Mit der ungesunden grauweißen Gesichtsfarbe, die alle Bäcker haben, sah er im Halbdunkel aus wie ein großer trauriger Mehlwurm. Langsam kann er heran. »Wann ist der Wagen fertig?« fragte er.

»In ungefähr drei Wochen«, erklärte Köster.

Er zeigte auf das Verdeck. »Das ist mit drin, nicht wahr?«

»Wieso?« fragte Otto. »Es ist doch ganz unbeschädigt.«

Der Bäckermeister machte eine ungeduldige Bewegung. »Natürlich. Aber ein neues Verdeck kann doch dabei abfallen. Ist ja ein ziemlich großer Auftrag für Sie. Wir verstehen uns, was?«

»Nein«, sagte Köster.

Er verstand ihn sehr gut. Der Mann wollte kostenlos ein neues Verdeck, für das die Versicherung nicht haftbar war, in die Reparatur hineinschmuggeln. Wir stritten uns eine Weile herum. Der Mann drohte, alles rückgängig zu machen und einen Kostenanschlag von einer gefälligeren Werkstatt einholen zu lassen. Schließlich gab Köster nach. Er hätte es nicht getan, wenn wir nicht Arbeit gebraucht hätten. »Na also, warum denn nicht gleich«, meinte der Bäckermeister mit schiefem Lächeln. »Ich komme in den nächsten Tagen, den Stoff aussuchen. Beige, denke ich. Zarte Farben.«

Wir fuhren los. Draußen zeigte Lenz auf die Sitze des Fords. Sie hatten große schwarze Flecken. »Das Blut seiner toten Frau. Und ein neues Verdeck herausgeschunden. Beige. Zarte Farben. Alle Achtung. Dem trau’ ich auch zu, daß er die Versicherungssumme für zwei Tote ‘rausholt. Die Frau war ja schwanger.«

Köster zuckte die Achseln. »Er sagt sich wahrscheinlich, daß das eine mit dem andern nichts zu tun hat.«

»Möglich«, sagte Lenz. »Es soll ja Leute geben, für die so was direkt ein Trost im Unglück ist. Uns kostet es glatt fünfzig Mark von unserm Verdienst.«

Nachmittags ging ich unter einem Vorwand nach Hause. Ich war um fünf Uhr mit Patrice Hollmann verabredet, aber ich sagte in der Werkstatt nichts davon. Nicht, daß ich es verbergen wollte; aber es kam mir auf einmal ziemlich unwahrscheinlich vor.

Sie hatte mir ein Café als Treffpunkt angegeben. Ich kannte es nicht; ich wußte nur, daß es ein kleines, elegantes Lokal war. Ahnungslos ging ich hin. Aber ich prallte erschrocken zurück, als ich eintrat. Der Raum war überfüllt mit schwätzenden Frauen. Ich war in eine typische Damenkonditorei geraten.

Mit Mühe gelang es mir, einen Tisch, der gerade frei wurde, zu ergattern. Unbehaglich blickte ich umher. Außer mir waren nur noch zwei Männer da, und die gefielen mir nicht.

»Kaffee, Tee, Schokolade?« fragte der Kellner und wedelte mit seiner Serviette eine Anzahl Kuchenkrümel von der Tischplatte auf meinen Anzug.

»Einen großen Kognak«, erwiderte ich.

Er brachte ihn. Aber er brachte gleichzeitig ein Kaffeekränzchen mit, das Platz suchte, an der Spitze eine Athletin reiferen Alters mit einem Pleureusenhut. »Vier Plätze, bitte!« sagte er und zeigte auf meinen Tisch.

»Halt«, antwortete ich, »der Tisch ist nicht frei. Ich erwarte jemand.«

»Das geht nicht, mein Herr!« sagte der Kellner. »Um diese Zeit können keine Plätze reserviert werden.«

Ich sah ihn an. Dann sah ich die Athletin an, die jetzt dicht am Tisch stand und eine Sessellehne umklammerte. Ich sah ihr Gesicht und verzichtete auf jeden Widerstand. Selbst mit Kanonen hätte man diese Person nicht wankend gemacht in ihrem Entschluß, den Tisch zu erobern.

»Können Sie mir wenigstens noch einen Kognak bringen?« knurrte ich den Kellner an.

»Sehr wohl, mein Herr. Wieder einen großen?«

»Ja.«

»Bitte sehr.« Er verbeugte sich. »Es ist doch ein Tisch für sechs Personen, mein Herr«, sagte er entschuldigend.

»Schon recht. Bringen Sie nur den Kognak.«

Die Athletin schien auch einem Abstinentenklub anzugehören. Sie starrte auf meinen Schnaps, als wäre er ein verfaulter Fisch. Um sie zu ärgern, bestellte ich noch einen und starrte zurück. Das ganze Unternehmen erschien mir plötzlich lächerlich. Was wollte ich hier? Und was wollte ich von dem Mädchen? Ich wußte nicht einmal, ob ich sie in all dem Durcheinander und Geschwätz überhaupt wiedererkennen würde. Ärgerlich schüttete ich meinen Kognak hinunter. – »Salute!« sagte jemand hinter mir.

Ich fuhr auf. Da stand sie und lachte. »Sie fangen ja recht zeitig an!« Ich stellte das Glas, das ich immer noch in der Hand hielt, auf den Tisch. Ich war plötzlich verwirrt. Das Mädchen sah ganz anders aus, als ich es in Erinnerung hatte. Zwischen den vielen Kuchen essenden, wohlgenährten Weibern wirkte es wie eine schmale, junge Amazone, kühl, strahlend, sicher und unangreifbar. – Das wird nie etwas mit uns, dachte ich und sagte: »Wo sind Sie denn nur so geisterhaft hergekommen? Ich habe doch die ganze Zeit die Tür beobachtet.«

Sie zeigte nach rechts hinüber. »Dort drüben ist noch ein Eingang. Aber ich habe mich verspätet. Warten Sie schon lange?«

»Gar nicht. Höchstens zwei, drei Minuten. Ich bin auch erst eben gekommen.«

Das Kaffeekränzchen an meinem Tisch wurde still. Ich spürte die abschätzenden Blicke von vier soliden Müttern im Nacken. »Wollen wir hier bleiben?« fragte ich.

Das Mädchen streifte mit einem raschen Blick den Tisch. Ihr Mund zuckte. Sie sah mich belustigt an. »Ich fürchte, Cafés sind überall gleich.«

Ich schüttelte den Kopf. »Wenn sie leer sind, sind sie besser. Dies hier ist ein Teufelslokal, in dem man Minderwertigkeitskomplexe bekommt. Wir könnten am besten in eine Bar gehen.«

»In eine Bar? Gibt es denn Bars, die am hellen Tage offen sind?«

»Ich weiß eine«, sagte ich. »Sie ist allerdings sehr ruhig. Wenn Sie das mögen…«

»Manchmal schon…«

Ich blickte auf. Ich konnte im Augenblick nicht feststellen, wie sie das meinte. Ich hatte nichts gegen Ironie, wenn sie nicht gegen mich ging; aber ich hatte ein schlechtes Gewissen.

»Also gehen wir«, sagte sie.

Ich winkte dem Kellner. »Drei große Kognaks«, brüllte der Unglücksvogel mit einer Stimme, als wollte er einem Gast im Grabe die Rechnung machen. »Drei Mark dreißig!«

Das Mädchen drehte sich um. »Drei Kognaks in drei Minuten? Ganz schönes Tempo!«

»Es sind noch zwei von gestern dabei.«

»So ein Lügner«, zischte die Athletin am Tisch hinter mir. Sie hatte lange geschwiegen.

Ich wandte mich um und verbeugte mich. »Ein gesegnetes Weihnachtsfest, meine Damen!« Dann ging ich rasch.

»Haben Sie Streit gehabt?« fragte mich das Mädchen draußen.

»Nichts Besonderes. Ich habe nur eine ungünstige Wirkung auf Hausfrauen in gesicherten Verhältnissen.«

»Ich auch«, erwiderte sie.

Ich sah sie an. Sie erschien mir wie aus einer andern Welt. Ich konnte mir absolut nicht vorstellen, was sie war und wie sie lebte.


Die Bar war sicherer Boden für mich. Fred, der Mixer, stand hinter der Theke und polierte gerade die großen Schwenkgläser für Kognak, als wir hereinkamen. Er begrüßte mich, als sähe er mich zum erstenmal und hätte mich nicht vor zwei Tagen noch nach Hause bringen müssen. Er hatte eine gute Schule und eine riesige Erfahrung hinter sich.

Der Raum war leer bis auf einen Tisch. Dort saß, wie fast immer, Valentin Hauser. Ich kannte ihn vom Kriege her; wir waren in derselben Kompanie gewesen. Er hatte mir einmal durchs Sperrfeuer einen Brief nach vorne gebracht, weil er dachte, er wäre von meiner Mutter. Er wußte, daß ich darauf wartete, denn meine Mutter war operiert worden. Aber er hatte sich geirrt – es war nur eine Reklame für Kopfschützer aus Brennesselstoff gewesen. Auf dem Rückwege hatte er einen Schuß ins Bein bekommen.

Valentin hatte einige Zeit nach dem Kriege eine Erbschaft gemacht. Die vertrank er seitdem. Er behauptete, das Glück feiern zu müssen, lebend herausgekommen zu sein. Es war ihm gleich, daß das schon eine Anzahl Jahre her war. Er erklärte, man könne es gar nicht genug feiern. Er war einer der Menschen, die ein unheimliches Gedächtnis für den Krieg haben. Wir andern hatten vieles vergessen; er aber erinnerte sich an jeden Tag und jede Stunde.

Ich sah, daß er schon viel getrunken hatte: Er saß ganz versunken und abwesend in seiner Ecke. Ich hob die Hand. »Salü, Valentin!«

Er blickte auf und nickte. »Salü, Robby!«

Wir setzten uns in eine Ecke. Der Mixer kam. »Was möchten Sie trinken?« fragte ich das Mädchen.

»Vielleicht einen Martini«, erwiderte sie. »Einen trockenen Martini.«

»Darin ist Fred Spezialist.«

Fred erlaubte sich ein Lächeln. »Mir wie immer«, sagte ich.

Die Bar war kühl und halbdunkel. Sie roch nach vergossenem Gin und Kognak. Es war ein würziger Geruch, wie nach Wacholder und Brot. Von der Decke hing das holzgeschnitzte Modell eines Segelschiffs herab. Die Wand hinter der Theke war mit Kupfer beschlagen. Das gedämpfte Licht eines Leuchters warf rote Reflexe hinein, als spiegele sich dort ein unterirdisches Feuer. Von den kleinen, schmiedeeisernen Wandarmen brannten nur zwei – einer bei Valentin und einer bei uns. Sie hatten gelbe Pergamentschirme, die aus alten Landkarten gemacht waren, und sahen aus wie schmale, erleuchtete Ausschnitte der Welt.

Ich war etwas verlegen und wußte nicht recht, wie ich ein Gespräch anfangen sollte. Ich kannte das Mädchen ja überhaupt nicht, und je länger ich es ansah, um so fremder erschien es mir. Es war lange her, daß ich mit jemand so zusammen gewesen war; ich hatte keine Übung mehr darin. Ich hatte mehr Übung im Umgang mit Männern. Vorhin, im Café, war es mir zu laut gewesen – jetzt, hier, war es plötzlich zu ruhig. Jedes Wort bekam durch die Stille des Raumes so viel Gewicht, daß es schwer war, unbefangen zu reden. Fast wünschte ich mich schon wieder ins Café zurück.

Fred brachte die Gläser. Wir tranken. Der Rum war stark und frisch. Er schmeckte nach Sonne. Er war etwas, woran man sich halten konnte. Ich trank und gab das Glas Fred gleich wieder mit.

»Gefällt es Ihnen hier?« fragte ich.

Das Mädchen nickte.

»Besser als in der Konditorei drüben?«

»Ich hasse Konditoreien«, sagte sie.

»Weshalb haben wir uns dann gerade da getroffen?« fragte ich verblüfft.

»Ich weiß nicht.« Sie nahm ihre Kappe ab. »Mir fiel nichts anderes ein.«

»Um so besser, daß es Ihnen dann hier gefällt. Wir sind oft hier. Abends ist diese Bude für uns schon fast so eine Art Zuhause.«

Sie lachte. »Ist das nicht eigentlich traurig?«

»Nein«, sagte ich, »zeitgemäß.«

Fred brachte mir das zweite Glas. Er legte eine grüne Havanna dazu auf den Tisch. »Von Herrn Hauser.«

Valentin winkte aus seiner Ecke herüber und hob sein Glas. »31. Juli 17, Robby«, sagte er mit schwerer Stimme.

Ich nickte ihm zu und hob ebenfalls mein Glas.

Er mußte immer jemand zutrinken; ich hatte ihn abends schon getroffen, wie er dem Mond oder einem Fliederbusch in einer Bauernkneipe zutrank. Dann erinnerte er sich an irgendeinen Tag aus den Schützengräben, wo es besonders schwer zugegangen war, und war dankbar dafür, daß er noch da war und so sitzen konnte.

»Er ist mein Freund«, sagte ich zu dem Mädchen. »Ein Kamerad aus dem Kriege. Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der aus einem großen Unglück ein kleines Glück gemacht hat. Er weiß nicht mehr, was er mit seinem Leben anfangen soll – deshalb freut er sich einfach, daß er noch lebt.«

Sie sah mich nachdenklich an. Ein Streifen Licht fiel schräg über ihre Stirn und ihren Mund. »Das kann ich gut verstehen«, sagte sie.

Ich blickte auf. »Das sollten Sie aber nicht. Dafür sind Sie viel zu jung.«

Sie lächelte. Es war ein leichtes, schwebendes Lächeln, das nur in den Augen war. Das Gesicht veränderte sich kaum dabei; es wurde nur heller, von innen heraus heller. »Zu jung«, sagte sie, »das ist so ein Wort. Ich finde, zu jung ist man nie. Nur immer zu alt.«

Ich schwieg einen Augenblick. »Dagegen ließe sich eine Menge sagen«, erwiderte ich dann und machte Fred ein Zeichen, mir noch etwas zu trinken zu bringen. Das Mädchen war so sicher und selbstverständlich; ich fühlte mich wie ein Holzblock dagegen. Ich hätte gern ein leichtes, spielerisches Gespräch geführt, so ein richtiges Gespräch, wie es einem gewöhnlich hinterher einfällt, wenn man wieder allein ist. Lenz konnte das; bei mir aber wurde es immer gleich ungeschickt und schwer. Gottfried behauptete nicht mit Unrecht von mir, als Unterhalter stände ich ungefähr auf der Stufe eines Postsekretärs.

Zum Glück war Fred vernünftig. Er brachte mir statt der kleinen Fingerhüte jetzt gleich ein anständiges Weinglas voll heran. So brauchte er nicht immer hin und her zu laufen, und es fiel auch nicht so auf, wieviel ich trank. Ich mußte trinken; anders konnte ich diese stockige Schwere nicht loswerden.

»Wollen Sie nicht noch einen Martini nehmen?« fragte ich das Mädchen.

»Was trinken Sie denn da?«

»Das hier ist Rum.«

Sie betrachtete mein Glas. »Das haben Sie neulich auch schon getrunken.«

»Ja«, sagte ich, »das trinke ich meistens.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß das schmeckt.«

»Ob es schmeckt, weiß ich schon gar nicht mehr.«

Sie sah mich an. »Weshalb trinken Sie es denn?«

»Rum«, sagte ich, froh, etwas gefunden zu haben, über das ich reden konnte. »Rum hat mit Schmecken nicht viel zu tun. Er ist nicht so einfach ein Getränk – er ist schon mehr ein Freund. Ein Freund, der alles leichter macht. Er verändert die Welt. Und deshalb trinkt man ja« – Ich schob das Glas beiseite. »Aber soll ich Ihnen nicht noch einen Martini bestellen?«

»Lieber einen Rum«, sagte sie. »Ich möchte ihn auch mal versuchen.«

»Gut«, erwiderte ich, »aber nicht diesen. Der ist für den Anfang zu schwer. Bring einen Baccardi-Cocktail«, rief ich zu Fred hinüber.

Fred brachte die Gläser. Er setzte auch eine Schale mit Salzmandeln und schwarzgebrannten Kaffeebohnen dazu. »Laß meine Flasche nur gleich hier stehen«, sagte ich.


Langsam bekam alles Griff und Glanz. Die Unsicherheit schwand, die Worte kamen von selber, und ich achtete nicht mehr so darauf, was ich sagte. Ich trank weiter und spürte, wie die große, weiche Welle herankam und mich erfaßte, wie sich die leere Stunde der Dämmerung mit Bildern füllte und geisterhaft über den gleichgültigen, grauen Bezirken des Daseins der lautlose Zug der Träume wiederauftauchte. Die Wände der Bar weiteten sich, und plötzlich war es nicht mehr die Bar – es war eine Ecke der Welt, ein Winkel der Zuflucht, ein halbdunkler Unterstand, um den ringsumher die ewige Schlacht des Chaos brauste und in dem wir geborgen hockten, rätselhaft zueinandergeweht durch das Zwielicht der Zeit. Das Mädchen saß zusammengekauert in seinem Stuhl, fremd und geheimnisvoll, als wäre es hierher verschlagen von der anderen Seite des Lebens. Ich hörte mich sprechen, aber es war, als wäre ich es nicht mehr, als spräche jetzt ein anderer, einer, der ich hätte sein mögen. Die Worte stimmten nicht mehr, sie verschoben sich, sie drängten hinüber in andere, buntere Gebiete, als sie die kleinen Ereignisse meines Lebens geben konnten – ich wußte, daß sie schon nicht mehr Wahrheit waren, daß sie zu Phantasie und Lüge wurden, aber es war mir gleich —, die Wahrheit war trostlos und fahl, und nur das Gefühl und der Abglanz der Träume waren Leben…

In der kupfernen Wanne der Bar glühte das Licht. Ab und zu hob Valentin sein Glas und murmelte ein Datum vor sich hin. Draußen spülte sich gedämpft die Straße mit den Raubvogelrufen der Autos vorbei. Sie schrie herein, wenn jemand die Tür öffnete. Sie schrie wie ein keifendes, neidisches, altes Weib.


Es war schon dunkel, als ich Patrice Hollmann nach Hause brachte. Langsam ging ich zurück. Ich fühlte mich plötzlich allein und leer. Ein feiner Regen sprühte hernieder. Ich blieb vor einem Schaufenster stehen. Ich hatte zuviel getrunken, das merkte ich jetzt. Nicht, daß ich schwankte – aber ich merkte es doch deutlich.

Mir wurde mit einem Schlage mächtig heiß. Ich knöpfte den Mantel auf und schob den Hut zurück. Verdammt, es hatte mich wieder einmal überrumpelt! Was mochte ich da vorhin nur alles zusammengeredet haben? Ich wagte gar nicht, genau darüber nachzudenken. Ich wußte es nicht einmal mehr, das war das schlimmste. Hier allein, auf der kalten, autobusdröhnenden Straße sah das alles ganz anders aus als im Halbdunkel der Bar. Ich verfluchte mich selber. Einen schönen Eindruck mußte das Mädchen von mir bekommen haben! Sie hatte es sicher gemerkt. Sie hatte ja selbst fast nichts getrunken. Beim Abschied hatte sie mich auch so sonderbar angesehen…

Herrgott! Ich drehte mich um. Dabei stieß ich mit einem dicken kleinen Mann zusammen. »Na«, sagte ich wütend.

»Sperren Sie doch Ihre Augen auf, Sie bockender Strohwisch!« bellte der Dicke.

Ich starrte ihn an.

»Wohl noch nicht oft Menschen gesehen, was?« kläffte er weiter.

Er kam mir gerade recht. »Menschen wohl«, sagte ich, »aber noch keine Bierfässer, die Spazierengehen.«

Der Dicke besann sich keine Sekunde. Er stoppte und schwoll. »Wissen Sie was?« fauchte er. »Gehen Sie in den Zoo! Träumerische Känguruhs haben auf der Straße nichts zu suchen.«

Ich merkte, daß ich einen Schimpfer hoher Klasse vor mir hatte. Es galt, trotz aller Depression, die Ehre zu wahren.

»Wandere weiter, geisteskrankes Siebenmonatskind«, sagte ich und hob segnend die Hand.

Er beachtete meine Aufforderung nicht. »Laß dir Beton ins Gehirn spritzen, runzliger Hundsaffe!« bellte er.

Ich gab ihm einen dekadenten Plattfuß zurück. Er mir einen Kakadu in der Mauser; ich ihm einen arbeitslosen Leichenwäscher. Darauf bezeichnete er mich, schon mit Respekt, als krebskranken Kuhkopf; ich ihn, um ein Ende zu machen, als wandelnden Beefsteakfriedhof. Sein Gesicht verklärte sich plötzlich. »Beefsteakfriedhof ist gut!« sagte er. »Kannte ich noch nicht. Kommt in mein Repertoire! Alsdann…« Er lüftete den Hut, und wir trennten uns voll Achtung voneinander.

Das Schimpfen hatte mich erfrischt. Aber der Ärger war geblieben. Er wurde sogar immer stärker, je nüchterner ich wurde. Ich kam mir vor wie ein ausgewrungenes nasses Handtuch. Aber allmählich ärgerte ich mich nicht nur über mich – ich ärgerte mich über alles —, auch über das Mädchen. Sie war ja der Anlaß gewesen, daß ich mich betrunken hatte. Ich schlug den Kragen hoch. Sollte sie meinetwegen denken, was sie wollte, mir war es jetzt egal – sie wußte so wenigstens gleich, woran sie war. Und meinetwegen sollte die ganze Sache zum Teufel gehen – was geschehen war, war geschehen. Konnte man nichts mehr dran tun. War vielleicht sogar besser…

Ich ging in die Bar zurück und betrank mich nun erst richtig.

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