Das Wetter wurde warm und feucht, und es regnete einige Tage lang. Dann klärte es sich auf, die Sonne fing an zu brüten, und als ich am Freitagmorgen in die Werkstatt kam, sah ich Mathilde Stoß auf dem Hof stehen, den Besen unter den Arm geklemmt, mit einem Gesicht wie ein gerührtes Nilpferd.
»Nu sehen Sie doch mal, Herr Lohkamp, die Pracht! Is doch immer wieder’n Wunder.«
Ich blieb überrascht stehen. Der alte Pflaumenbaum neben der Benzinpumpe war über Nacht aufgeblüht.
Er hatte den ganzen Winter krumm und kahl dagestanden, wir hatten alte Reifen darangehängt und Ölkanister zum Trocknen über die Äste gestülpt, er war nichts anderes gewesen als ein bequemer Ständer für alles, vom Putzlappen bis zur Motorhaube – noch vor ein paar Tagen hatten unsere gewaschenen blauen Leinenhosen daran herumgeflattert, noch gestern hatte man ihm kaum etwas angemerkt —, und nun auf einmal, über Nacht, war er verwandelt und verzaubert in eine schimmernde Wolke von Rosa und Weiß, eine Wolke von hellen Blüten, als hätte sich ein Schmetterlingsschwarm auf unsern dreckigen Hof verflogen…
»Und der Geruch«, sagte Mathilde schwärmerisch und verdrehte die Augen, »wunderbar – genauso wie Ihr Rum…«
Ich roch nichts. Aber ich verstand sofort. »Es riecht mehr nach dem Kundenkognak«, behauptete ich.
Sie wehrte energisch ab. »Herr Lohkamp, Sie müssen erkältet sein. Vielleicht ha’m Sie auch Polypen in der Nase. Polypen hat heute fast jeder Mensch. Nee, die alte Stoß hat ‘ne Nase wie’n Windhund, verlassen Sie sich drauf, es ist Rum – alter Rum…«
»Na schön, Mathilde…«
Ich schenkte ihr ein Glas Rum ein und ging dann zur Benzinpumpe, Jupp saß schon da. Er hatte in einer verrosteten Konservenbüchse vor sich eine Anzahl abgeschnittener Blütenzweige stehen. »Was soll denn das heißen?« fragte ich erstaunt.
»Für die Damen«, erklärte Jupp. »Wenn sie tanken, gibt’s so einen Zweig gratis. Habe daraufhin schon neunzig Liter mehr verkauft. Der Baum ist Gold wert, Herr Lohkamp. Wenn wir den nicht hätten, müßten wir ihn künstlich nachmachen.«
»Du bist ein geschäftstüchtiger Knabe.«
Er grinste. Die Sonne durchleuchtete seine Ohren, daß sie aussahen wie rubinfarbene Kirchenfenster. »Zweimal bin ich auch schon fotografiert worden«, berichtete er. »Mit dem Baum dahinter.«
»Paß auf, du wirst noch ein Filmstar«, sagte ich und ging zur Grube hinüber, wo Lenz gerade unter dem Ford hervorkroch.
»Robby«, sagte er, »mir ist da was eingefallen. Wir müssen uns mal um das Mädchen von dem Binding kümmern.«
Ich starrte ihn an. »Wie meinst du das?«
»Genau, wie ich es sage. Aber was starrst du denn so?«
»Ich starre nicht…«
»Du stierst sogar. Wie hieß das Mädchen eigentlich noch? Pat, aber wie weiter?«
»Weiß ich nicht«, erwiderte ich.
Er richtete sich auf. »Das weißt du nicht? Du hast doch ihre Adresse aufgeschrieben! Ich habe es selbst gesehen.«
»Habe den Zettel verloren.«
»Verloren!« Er griff sich mit beiden Händen in seinen gelben Haarwald. »Und dazu habe ich damals den Binding eine Stunde draußen beschäftigt! Verloren! Na, vielleicht weiß Otto sie noch.«
»Otto weiß sie auch nicht.«
Er sah mich an. »Jammervoller Dilettant! Um so schlimmer! Weißt du denn nicht, daß das ein fabelhaftes Mädchen war? Herrgott!« Er starrte zum Himmel. »Läuft uns endlich schon mal was Richtiges über den Weg, dann verliert so ein Trauerbolzen die Adresse!«
»So großartig fand ich sie gar nicht.«
»Weil du ein Esel bist«, erwiderte Lenz, »ein Trottel, der nichts kennt, was über das Niveau der Huren aus dem Café International hinausgeht! Du Klavierspieler, du! Ich sage dir nochmals: Es war ein Glücksfall, ein besonderer Glücksfall, dieses Mädchen! Du hast natürlich keine Ahnung von so was! Hast du dir die Augen angesehen? Natürlich nicht – du hast dein Schnapsglas angesehen…«
»Halt den Schnabel!« unterbrach ich ihn, denn mit dem Schnapsglas traf er in eine offene Wunde.
»Und die Hände«, fuhr er fort, ohne mich zu beachten, »schmale, lange Hände wie eine Mulattin, davon versteht Gottfried etwas, das kannst du glauben! Heiliger Moses! Endlich einmal ein Mädchen, wie es sein muß, schön, natürlich und, was das wichtigste ist, mit Atmosphäre« – er unterbrach sich —, »weißt du überhaupt, was das ist, Atmosphäre?«
»Luft, die man in einen Reifen pumpt«, erklärte ich mürrisch.
»Natürlich«, sagte er mitleidig und verachtungsvoll, »Luft, natürlich! Atmosphäre, Aura, Strahlung, Wärme, Geheimnis – das, was die Schönheit erst beseelt und lebendig macht —, aber was rede ich – deine Atmosphäre ist der Rumdunst…«
»Hör jetzt auf oder ich lasse was auf deinen Schädel fallen«, knurrte ich.
Aber Gottfried redete weiter, und ich tat ihm nichts. Er hatte ja keine Ahnung davon, was passiert war und daß jedes Wort von ihm mich mächtig traf. Besonders jedes über das Trinken. Ich war schon drüber weg gewesen und hatte mich ganz gut getröstet; jetzt aber wühlte er alles wieder auf. Er lobte und lobte das Mädchen, und mir wurde bald zumute, als hätte ich wirklich etwas Besonderes unwiederbringlich verloren.
Ärgerlich ging ich um sechs Uhr zum Café International. Das war meine Zuflucht; Lenz hatte es mir ja auch bestätigt. Zu meinem Erstaunen herrschte ein Riesenbetrieb, als ich eintrat. Auf der Theke standen Torten und Napfkuchen, und der plattfüßige Alois rannte mit einem Tablett voll Kaffeegeschirr klappernd ins Hinterzimmer. Ich blieb stehen. Kaffee, kannenweise? Da mußte ja ein ganzer Verein schwer betrunken unter den Tischen liegen.
Aber der Wirt klärte mich auf. Heute war im Hinterzimmer die Abschiedsfeier für Rosas Freundin Lilly. Ich schlug mich vor den Kopf. Natürlich, dazu war ich ja eingeladen! Als einziger Mann sogar, wie Rosa bedeutungsvoll gesagt hatte – denn der schwule Kiki, der auch da war, zählte nicht. Ich ging rasch noch einmal los und besorgte einen Strauß Blumen, eine Ananas, eine Kinderklapper und eine Tafel Schokolade.
Rosa empfing mich mit dem Lächeln einer großen Dame. Sie trug ein schwarzes, ausgeschnittenes Kleid und thronte oben am Tisch. Ihre Goldzähne leuchteten. Ich erkundigte mich, wie es ihrer Kleinen ginge, und überreichte für sie die Zelluloidklapper und die Schokolade. Rosa strahlte.
Ich wandte mich mit der Ananas und den Blumen an Lilly. »Meine herzlichsten Glückwünsche!«
»Er ist und bleibt ein Kavalier!« sagte Rosa. »Und nun komm, Robby, setz dich zwischen uns beide.«
Lilly war die beste Freundin Rosas. Sie hatte eine glänzende Karriere hinter sich. Sie war das gewesen, was die unerreichbare Sehnsucht jeder kleinen Hure ist: eine Hotelfrau. Eine Hotelfrau geht nicht auf den Straßenstrich – sie wohnt im Hotel und macht da ihre Bekanntschaften. Fast alle Huren kommen nicht dazu – sie haben nicht genug Garderobe und auch nie genug Geld, um einmal eine Zeitlang auf Freier warten zu können. Lilly hatte zwar nur in Provinzhotels gelebt; aber sie hatte doch im Laufe der Jahre fast viertausend Mark gespart. Jetzt wollte sie heiraten. Ihr künftiger Mann betrieb ein kleines Installationsgeschäft. Er wußte alles von ihr, und es war ihm gleichgültig. Für die Zukunft konnte er unbesorgt sein; wenn eines dieser Mädchen heiratete, war es zuverlässig. Sie kannten den Rummel und hatten genug davon. Sie waren treu.
Lilly sollte Montag heiraten. Heute gab Rosa ihr einen Abschiedskaffee. Alle waren dazu erschienen, um noch einmal mit Lilly zusammen zu sein. Nach ihrer Hochzeit konnte sie nicht mehr hierher kommen.
Rosa schenkte mir eine Tasse Kaffee ein. Alois trabte mit einem riesigen Napfkuchen herbei, der gespickt war mit Rosinen, Mandeln und grüner Sukkade. Sie legte mir ein mächtiges Stück davon auf. Ich wußte, was ich zu tun hatte. Kennerisch probierte ich einen Bissen und markierte gewaltiges Erstaunen. »Donnerwetter, der ist aber bestimmt nicht im Laden gekauft…«
»Selbstgebacken«, sagte Rosa glücklich. Sie war eine fabelhafte Köchin und hatte gern, wenn man es anerkannte. Besonders in Gulasch und Napfkuchen war sie unerreicht. Sie war nicht umsonst eine Böhmin.
Ich blickte mich um. Da saßen sie rings um den Tisch, die Arbeiterinnen im Weinberge Gottes, die untrüglichen Menschenkennerinnen, die Soldaten der Liebe – Wally, die Schöne, der man neulich bei einer nächtlichen Autofahrt den Weißfuchs gestohlen hatte; – Lina mit dem Holzbein, die immer noch Liebhaber fand; – Fritzi, das Luder, die den plattfüßigen Alois liebte, obschon sie längst eine eigene Wohnung hätte haben können und einen Freund, der sie aushielt; – Margot mit den roten Backen, die immer in Dienstmädchentracht ging und damit elegante Freier fing; – Marion, die jüngste, strahlend und unbedenklich; – Kiki, der als Mann nicht mitzählte, weil er Frauenkleider trug und geschminkt war; – Mimi, das arme Biest, dem das Laufen mit seinen fünfundvierzig Jahren und den Krampfadern immer schwerer fiel; – ein paar Barfrauen und Tischdamen, die ich nicht kannte; – und endlich, als zweiter Ehrengast, klein, grau und verschrumpelt wie ein Winterapfel, Muttchen, die Vertraute aller, Trost und Stütze nächtlicher Wanderer, Muttchen mit dem Wurstkessel von der Ecke Nikolaistraße, fliegendes Büfett und Wechselbüro nachts, die neben ihren Frankfurter Würstchen auch noch heimlich Zigaretten und Gummiartikel verkaufte und angepumpt werden konnte.
Ich wußte, was sich schickte. Kein Wort von Geschäft, keine unzarte Andeutung heute – vergessen die wunderbare Leistung Rosas, die ihr den Beinamen das »Eiserne Pferd« eingetragen hatte; – vergessen Fritzis Unterhaltungen mit dem Viehhändler Stefan Grigoleit über die Liebe; – vergessen Kikis Tänze um den Salzbrezelkorb im Morgengrauen. Die Unterhaltung hier konnte jedem Damenkränzchen Ehre machen.
»Alles schon vorbereitet, Lilly?« fragte ich.
Sie nickte. »Die Aussteuer hatte ich ja schon lange.«
»Wunderbare Aussteuer«, sagte Rosa. »Fehlt aber auch nicht ein Spitzendeckchen.«
»Wozu braucht man denn Spitzendeckchen?« fragte ich.
»Na hör mal, Robby!« Rosa sah mich so vorwurfsvoll an, daß ich rasch erklärte, ich wüßte es schon. Spitzendecken – gehäkelte Möbelschoner, natürlich, sie waren das Symbol kleinbürgerlicher Behaglichkeit, das geheiligte Symbol der Ehe, des verlorenen Paradies. Sie waren ja alle keine Huren aus Temperament; sie waren Gescheiterte der bürgerlichen Existenz. Ihre geheime Sehnsucht war das Ehebett; nicht das Laster. Aber das hätten sie nie eingestanden.
Ich setzte mich ans Klavier. Rosa hatte schon darauf gewartet. Sie liebte Musik wie alle diese Mädchen. Ich spielte zum Abschied noch einmal alle ihre und Lillys Lieblingsschlager. Zu Anfang das »Gebet einer Jungfrau«. Der Titel war zwar nicht ganz angebracht für das Lokal, aber es war auch nur ein Bravourstück mit viel Geklimper. Dann folgte »Der Vöglein Abendlied«, das »Alpenglühen«, »Wenn die Liebe stirbt«, »Die Millionen des Harlekin« und zum Schluß »Nach der Heimat möcht’ ich wieder«. Das liebte Rosa besonders. Huren sind ja das Härteste und Sentimentalste zugleich. Alle sangen es mit. Der schwule Kiki die zweite Stimme.
Lilly brach auf. Sie mußte ihren Bräutigam abholen. Rosa küßte sie herzhaft ab. »Mach’s gut, Lilly. Laß dich nicht unterkriegen!«
Beladen mit Geschenken ging sie davon. Weiß der Henker, sie hatte ein ganz anderes Gesicht als früher. Die harten Linien, die sich bei jedem eingraben, der mit der menschlichen Gemeinheit zu tun hat, waren weggewischt; das Gesicht war weicher geworden, es hatte wahrhaftig wieder etwas von einem jungen Mädchen.
Wir standen vor der Tür und winkten Lilly nach. Mimi fing plötzlich an zu heulen. Sie war selbst mal verheiratet gewesen. Ihr Mann war im Kriege an Lungenentzündung gestorben. Wäre er gefallen, hätte sie eine kleine Rente gehabt und nicht auf die Straße müssen. Rosa klopfte ihr auf den Rücken. »Na, Mimi, nur nicht weich werden! Komm, wir trinken noch einen Schluck Kaffee.«
Die ganze Gesellschaft kehrte in das dunkle International zurück, wie eine Schar Hühner in den Stall. Aber es kam keine rechte Stimmung mehr auf. »Spiel uns noch einen zum Schluß, Robby!« sagte Rosa. »Zum Aufmuntern.«
»Schön«, erwiderte ich. »Wollen wir mal den >Alten Kameradenmarsch< ‘runterhauen.«
Dann verabschiedete ich mich auch. Rosa steckte mir noch ein Paket Kuchen zu. Ich schenkte es Muttchens Sohn, der draußen bereits den abendlichen Wurstkessel aufbaute.
Ich überlegte, was ich machen sollte. In die Bar wollte ich auf keinen Fall; in ein Kino auch nicht; in die Werkstatt? Unschlüssig sah ich nach der Uhr. Es war acht. Jetzt mußte Köster wieder zurück sein. Wenn er da war, konnte Lenz nicht wieder stundenlang über das Mädchen reden. Ich ging hin.
In der Bude war Licht. Nicht nur in der Bude – auch der ganze Hof war überflutet. Köster war allein da. »Was ist denn hier los, Otto?« fragte ich. »Hast du vielleicht den Cadillac verkauft?«
Köster lachte. »Nein. Gottfried hat nur ein bißchen illuminiert.«
Beide Scheinwerfer des Cadillac brannten. Der Wagen war so geschoben, daß die Lichtgarben durch das Fenster in den Hof fielen, mitten auf den weißblühenden Pflaumenbaum. Es sah wunderbar aus, wie er so kreidig dastand. Die Dunkelheit zu beiden Seiten schien wie ein schwarzes Meer zu rauschen.
»Großartig«, sagte ich. »Wo ist er denn?«
»Er holt was zu essen.«
»Glänzende Idee. Fühle mich so ein bißchen windig. Kann aber sein, daß es bloß Hunger ist.«
Köster nickte »Essen ist immer gut. Hauptgesetz aller alten Krieger. Ich habe heute nachmittag auch was Windiges gemacht. Habe Karl zum Rennen gemeldet.«
»Was?« sagte ich. »Etwa zum Sechsten?«
Er nickte.
»Verdammt noch mal, Otto, da starten doch allerlei Kanonen.«
Er nickte wieder. »In der Sportwagenklasse Braumüller.«
Ich krempelte mir die Ärmel auf. »Dann ‘ran, Otto! Große Ölwäsche für unsern Liebling.«
»Halt«, rief der letzte Romantiker, der gerade hereinkam, »erst futtern!« Er packte das Abendbrot aus – Käse, Brot, steinharte Räucherwurst und Sprotten. Dazu tranken wir gut gekühltes Bier. Wir aßen wie eine Kolonne ausgehungerter Drescher. Dann gingen wir Karl zu Leibe. Zwei Stunden arbeiteten wir an ihm herum und kontrollierten und schmierten alle Lager. Hinterher aßen Lenz und ich zum zweitenmal Abendbrot. Gottfried beleuchtete jetzt auch den Ford. Durch Zufall war bei dem Zusammenstoß einer der Scheinwerfer heil geblieben. Der starrte nun von dem hochgebogenen Chassis schräg hinauf in den Himmel.
Lenz drehte sich zufrieden um. »So, Robby, nun hol mal die Flaschen. Wir wollen das >Fest des blühenden Baumes< feiern.«
Ich stellte den Kognak, den Gin und zwei Gläser auf den Tisch.
»Und du?« fragte Gottfried.
»Ich trinke nichts.«
»Was? Warum nicht?«
»Weil ich keine Lust zu dieser verdammten Sauferei mehr habe.«
Lenz betrachtete mich eine Weile. »Unser Kind ist übergeschnappt, Otto«, sagte er dann zu Köster.
»Laß ihn doch, wenn er nicht will.«
Lenz schenkte sich sein Glas voll. »Der Junge ist schon seit einiger Zeit etwas verrückt.«
»Ist noch nicht das Schlechteste«, erklärte ich.
Der Mond kam groß und rot hinter dem Dach der Fabrik gegenüber hervor. Wir saßen eine Weile und schwiegen. »Sag mal, Gottfried«, begann ich dann, »du bist doch ein Fachmann in der Liebe, nicht?«
»Fachmann? Ich bin der Altmeister der Liebe«, erwiderte Lenz bescheiden.
»Schön. Ich möchte nämlich mal wissen, ob man sich eigentlich dabei immer blödsinnig benimmt.«
»Wieso blödsinnig?«
»Na so, als ob man halb trunken ist. Herumredet und Unsinn quatscht und schwindelt.«
Lenz brach in ein Gelächter aus. »Aber Baby! Das Ganze ist doch Schwindel. Ein wunderbarer Schwindel von Mama Natur. Schau dir den Pflaumenbaum an! Er schwindelt auch gerade. Macht sich schöner, als er nachher ist. Es wäre ja scheußlich, wenn Liebe was mit Wahrheit zu tun hätte. Gott sei Dank, alles können die verdammten Ethiker doch nicht unterjochen.«
Ich richtete mich auf. »Du meinst, ohne etwas Schwindel geht’s überhaupt nicht?«
»Überhaupt nicht, Kindchen.«
»Kann man sich aber doch verflucht lächerlich durch machen.«
Lenz grinste. »Merke dir eins, Knabe: Nie, nie, nie kann man sich lächerlich bei einer Frau machen, wenn man etwas ihretwegen tut. Selbst beim albernsten Theater nicht. Mach, was du willst – steh kopf, rede den dümmsten Quatsch, prahle wie ein Pfau, singe vor ihrem Fenster, nur eins tu nicht; sei nicht sachlich! Nicht vernünftig!«
Ich wurde lebendig. »Was meinst du dazu, Otto?«
Köster lachte. »Wird wohl stimmen.«
Er stand auf und klappte Karls Motorhaube auf. Ich holte meine Rumflasche und ein Glas und stellte sie auf den Tisch. Otto ließ den Wagen an. Der Motor schlurfte ganz tief und verhalten. Lenz hatte die Füße auf der Fensterbank und starrte hinaus. Ich setzte mich neben ihn. »Warst du schon mal betrunken, wenn du mit einer Frau zusammen warst?«
»Oft«, erwiderte er, ohne sich zu rühren.
»Und?«
Er sah mich aus schrägen Augen an. »Du meinst, wenn man dann was verboxt hat? Nie entschuldigen, Baby. Nie reden. Blumen schicken. Ohne Brief. Nur Blumen. Die decken alles zu. Sogar Gräber.«
Ich sah ihn an. Er rührte sich nicht. Seine Augen glitzerten im Widerschein des weißen Lichtes draußen. Der Motor lief immer noch, leise grollend, als bebe unter uns die Erde.
»Könnte nun eigentlich ruhig etwas trinken«, sagte ich und machte die Flasche auf.
Köster stellte den Motor ab. Dann wandte er sich an Lenz.
»Der Mond ist jetzt hell genug, um ein Glas zu finden, Gottfried. Mach die Illumination aus. Besonders den Ford. Das Biest erinnert mich mit dem schrägen Scheinwerfer an den Krieg. War kein Spaß nachts, wenn die Dinger nach dem Flugzeug langten.«
Lenz nickte. »Und mich erinnert das da – na, ist ja egal…« Er stand auf und machte die Scheinwerfer aus.
Der Mond war über das Fabrikdach emporgestiegen. Er war immer heller geworden und hing nun wie ein gelber Lampion in den Ästen des Pflaumenbaumes. Die Zweige schwankten leise hin und her im schwachen Wind. »Merkwürdig«, sagte Lenz nach einer Weile, »warum setzt man allen möglichen Leuten Denkmäler – warum nicht mal dem Mond oder einem blühenden Baum?«
Ich ging früh nach Hause. Als ich die Korridortür aufschloß, hörte ich Musik. Es war das Grammophon Erna Bönigs, der Sekretärin. Eine leise, klare Frauenstimme sang. Dann kam ein Geglitzer von gedämpften Geigen und Banjopizzikatis. Und wieder die Stimme, eindringlich, weich, als wäre sie ganz erfüllt von Glück. Ich horchte, um die Worte zu verstehen. Es klang sonderbar rührend, hier auf dem dunklen Korridor, zwischen der Nähmaschine von Frau Bender und den Koffern der Familie Hasse, wie die Frau da so leise sang. Ich sah den ausgestopften Wildschweinschädel über der Küche an. Ich hörte das Dienstmädchen mit Geschirr rumoren. »Wie hab’ ich nur leben können ohne dich«, sang die Stimme, ein paar Schritte weiter hinter der Tür.
Ich zuckte die Achseln und ging in mein Zimmer.
Nebenan hörte ich erregtes Gezänk. Ein paar Minuten später klopfte es bei mir und Hasse kam herein.
»Störe ich Sie?« fragte er müde.
»Gar nicht«, sagte ich. »Wollen Sie was trinken?«
»Lieber nicht. Nur etwas sitzen.«
Er sah stumpf vor sich hin. »Sie haben’s gut«, sagte er, »Sie sind allein…«
»Ach Unsinn«, erwiderte ich. »Immer so allein ‘rumsitzen, das ist auch nichts – können Sie mir schon glauben…«
Er saß zusammengesunken in seinem Sessel. Seine Augen waren gläsern im Halbdunkel, das der Widerschein der Laternen von draußen hereinwarf. Die schmalen, abfallenden Schultern… »Hab’ mir das Leben ganz anders vorgestellt«, sagte er nach einer Weile.
»Haben wir alle«, sagte ich.
Nach einer halben Stunde ging er wieder hinüber, um sich mit seiner Frau zu vertragen. Ich gab ihm ein paar Zeitungen und eine halbe Flasche Curaçao mit, die noch von irgendwann auf meinem Schrank herumstand – ein unangenehmes, süßes Zeug, aber für ihn ganz gut. Er verstand doch nichts davon.
Leise, fast lautlos ging er hinaus, ein Schatten im Schatten, als wäre er schon erloschen. Ich machte die Tür hinter ihm zu. Vom Korridor her wehte dabei wie ein buntes Seidentuch ein Fetzen Musik noch mit herein – Geigen, gedämpfte Banjos – »wie hab’ ich nur leben können ohne dich…«
Ich setzte mich ans Fenster. Draußen lag der Friedhof im blauen Mondlicht. Die bunten Würfel der Lichtreklamen kletterten über die Wipfel der Bäume, und die Grabsteine schimmerten aus der Dunkelheit hervor. Sie waren still und ohne Schrecken. Autos hupten dicht an ihnen entlang, und das Licht der Scheinwerfer huschte über ihre verwitterten Inschriften.
Ich saß ziemlich lange und dachte an allerlei Dinge. Auch daran, wie wir damals zurückgekommen waren aus dem Kriege, jung, ohne Glauben, wie Bergleute aus einem eingestürzten Schacht. Wir hatten marschieren wollen gegen die Lüge, die Ichsucht, die Gier, die Trägheit des Herzens, die all das verschuldet hatten, was hinter uns lag – wir waren hart gewesen, ohne anderes Vertrauen als das zu dem Kameraden neben uns und das eine andere, das nie getrogen hatte: zu den Dingen – zu Himmel, Tabak, Baum und Brot und Erde —; aber was war daraus geworden? Alles war zusammengebrochen, verfälscht und vergessen. Und wer nicht vergessen konnte, dem blieben nur die Ohnmacht, die Verzweiflung, die Gleichgültigkeit und der Schnaps. Die Zeit der großen Menschen- und Männerträume war vorbei. Die Betriebsamen triumphierten. Die Korruption. Das Elend.
»Sie haben’s gut, Sie sind allein«, sagte Hasse. Alles ganz schön – wer allein war, konnte nicht verlassen werden. Aber manchmal, abends, dann zerbrach das künstliche Gebäude, das Leben verwandelte sich in eine schluchzende, jagende Melodie, einen Strudel von wilder Sehnsucht, von Begehren, Schwermut und Hoffnung, herauszukommen aus diesem sinnlosen Betäuben, heraus aus dem sinnlosen Geleier dieser ewigen Drehorgel, ganz gleich, wohin es ging. Ach, dieses armselige Bedürfnis nach einem bißchen Wärme – konnten es denn nicht zwei Hände sein und ein geneigtes Gesicht? Oder war das auch nur Täuschung und Verzicht und Flucht? Gab es denn etwas anderes als Alleinsein?
Ich schloß das Fenster. Nein, es gab nichts anderes. Für alles andere hatte man viel zuwenig Boden unter den Füßen.
Aber am nächsten Morgen brach ich frühzeitig auf und klopfte den Besitzer eines kleinen Blumenladens aus seiner Wohnung, bevor ich zur Werkstatt ging. Ich suchte einen Busch Rosen bei ihm aus und sagte ihm, er möge sie gleich fortschicken. Es war ein wenig sonderbar für mich, als ich die Adresse langsam auf die Karte schrieb: Patrice Hollmann.