V

Köster war in seinem ältesten Anzug zum Finanzamt gefahren. Er wollte versuchen, unsere Steuern herunterzukriegen. Lenz und ich waren allein in der Werkstatt.

»Los, Gottfried«, sagte ich, »’ran an den dicken Cadillac.«

Am Abend vorher war unser Inserat erschienen. Wir konnten also heute mit Kunden rechnen – wenn überhaupt jemand kam. Es galt, den Wagen vorzubereiten.

Zunächst gingen wir mit Polierwasser über den Lack. Er bekam dadurch Hochglanz und sah aus, als hätte er hundert Mark mehr gekostet. Dann füllten wir das dickste Öl, das es gab, in den Motor. Die Kolben waren nicht mehr ganz erstklassig und lärmten etwas. Durch das dicke Öl wurde das ausgeglichen, und die Maschine lief wunderbar ruhig. Auch in das Getriebe und das Differential gaben wir dickes Fett, um sie völlig ruhig zu machen.

Dann fuhren wir hinaus. In der Nähe war ein Stück sehr schlechter Straße. Wir gingen mit fünfzig Kilometertempo darüber. Die Karosserie klapperte. Wir ließen eine Viertel Atmosphäre Luft aus den Reifen und versuchten es noch einmal. Es war schon besser. Wir ließen noch ein Viertel heraus. Jetzt rührte sich nichts mehr.

Wir fuhren zurück, ölten die quietschende Motorhaube, klemmten etwas Gummi dazwischen, füllten heißes Wasser in den Kühler, damit der Motor gleich gut ansprang, und spritzten den Wagen unten noch einmal mit einem Petroleumzerstäuber ab, damit er auch da glänzte. Dann hob Gottfried Lenz die Hände zum Himmel. »Nun komm, gesegneter Kunde! Komm, lieblicher Brieftaschenbesitzer! Wir harren deiner wie der Bräutigam der Braut!«


Die Braut ließ auf sich warten. Wir schoben deshalb das Dampfroß des Bäckermeisters über die Grube und begannen, ihm die Vorderachse auszubauen. Ein paar Stunden arbeiteten wir ruhig, ohne viel zu reden. Dann hörte ich Jupp von der Benzinpumpe her das Lied: »Horch, was kommt von draußen ‘rein…« pfeifen.

Ich kletterte aus der Grube und schaute durchs Fenster. Ein kleiner, untersetzter Mann strich um den Cadillac herum. Er sah bürgerlich und solide aus. »Schau mal, Gottfried«, flüsterte ich, »sollte das da eine Braut sein?«

»Klar«, sagte Lenz nach dem ersten Blick. »Sieh dir das Gesicht an. Der ist schon mißtrauisch, bevor jemand da ist. Los, ‘ran! Ich bleibe hier als Reserve. Komme nach, wenn du es nicht schaffst. Denk an meine Tricks!«

»Gut.« Ich ging ‘raus.

Der Mann sah mir aus klugen schwarzen Augen entgegen. Ich stellte mich vor. »Lohkamp.«

»Blumenthal.«

Das war Gottfrieds erster Trick: sich vorzustellen. Er behauptete, es gäbe gleich eine intimere Atmosphäre. Sein zweiter Trick war, sehr reserviert zu beginnen und den Kunden auszuhorchen, um dann da einzuhaken, wo es richtig war.

»Sie kommen wegen des Cadillacs, Herr Blumenthal?« fragte ich. Blumenthal nickte.

»Da drüben ist er«, sagte ich und zeigte hinüber.

»Das sehe ich«, erwiderte Blumenthal.

Ich warf ihm einen kurzen Blick zu. Achtung! dachte ich, ein Heimtücker!

Wir gingen über den Hof. Ich öffnete eine Tür des Wagens und ließ den Motor an. Dann schwieg ich, um Blumenthal Zeit zur Besichtigung zu lassen. Er würde sicher etwas zu kritisieren haben; da wollte ich dann ansetzen.

Aber Blumenthal besichtigte nicht. Er kritisierte auch nicht. Er schwieg ebenfalls und stand wie ein Ölgötze da. Es blieb mir nichts übrig, ich mußte aufs Geratewohl vom Leder ziehen.

Ich begann langsam und systematisch, den Cadillac zu beschreiben, wie eine Mutter ihr Kind, und versuchte dabei herauszukriegen, ob der Mann irgend etwas verstand. War er Fachmann, dann mußte ich mehr auf Motor und Chassis gehen – verstand er nichts, auf Komfort und Kinkerlitzchen.

Doch er verriet auch jetzt nichts. Er ließ mich reden, bis ich mir vorkam wie ein Luftballon.

»Wozu wollen Sie den Wagen haben? Für die Stadt oder für die Reise?« fragte ich schließlich, um vielleicht da einen Punkt zu finden.

»Für alles mögliche«, erklärte Blumenthal.

»Aha! Und wollen Sie ihn selbst fahren oder mit Chauffeur?«

»Je nachdem.«

Je nachdem. Antworten gab der Mann wie ein Papagei. Er schien einem Orden schweigender Brüder anzugehören.

Um ihn aufzumuntern, versuchte ich, ihn irgend etwas probieren zu lassen. Gewöhnlich wurden Kunden zugänglicher dadurch. Ich fürchtete, daß er mir sonst einschlief.

»Das Verdeck geht für ein so großes Kabriolett besonders leicht«, sagte ich. »Versuchen Sie selbst einmal, es zu schließen. Sie können es mit einer Hand.«

Aber Blumenthal meinte, es wäre nicht nötig. Er sähe es schon. Ich warf die Türen krachend ins Schloß und rüttelte an den Griffen.

»Nichts ausgeleiert. Fest wie das Steuer. Probieren Sie.«

Blumenthal probierte nicht. Er fand es selbstverständlich. Eine verflucht harte Nuß.

Ich führte ihm die Fenster vor. »Spielend leicht zu kurbeln. Stehen auf jeder Höhe fest.«

Er rührte sich nicht.

»Dazu unzerbrechliches Glas«, fuhr ich, schon leicht verzweifelt, fort.

»Ein unschätzbarer Vorteil! In der Werkstatt drüben steht ein Ford…« Ich erzählte die Sache von der Frau des Bäckermeisters und schmückte sie noch etwas aus, indem ich ein Kind mit verunglücken ließ.

Aber Blumenthal hatte ein Innenleben wie ein Kassenschrank.

»Unzerbrechliches Glas haben alle Wagen«, unterbrach er mich, »das ist doch nichts Besonderes.«

»Unzerbrechliches Glas gehört bei keinem Wagen zur Serienausrüstung«, erwiderte ich mit sanfter Schärfe. »Höchstens bei einigen Typen die Vorderscheibe. Auf keinen Fall aber die großen Seitenfenster.«

Ich ließ die Hupen ertönen und ging zur Beschreibung des inneren Komforts über – der Koffer, der Sitze, der Taschen, des Schaltbretts —, ich ging bis in jede Kleinigkeit, ich reichte Blumenthal sogar den Zigarettenanzünder hin und benutzte die Gelegenheit, ihm eine Zigarette anzubieten, um ihn vielleicht damit etwas umzustimmen – aber er lehnte ab.

»Ich rauche nicht, danke«, sagte er und sah mich so gelangweilt an, daß mir plötzlich ein fürchterlicher Verdacht kam: vielleicht wollte er gar nicht zu uns, vielleicht hatte er sich nur geirrt und wollte etwas ganz anderes kaufen, eine Maschine, um Knopflöcher zu nähen, oder einen Radioapparat, und er stand hier nur ein bißchen unschlüssig herum, ehe er weiterging.

»Machen wir eine Probefahrt, Herr Blumenthal«, schlug ich schließlich, schon stark abgekämpft, vor.

»Probefahrt?« erwiderte er, als hätte ich Bahnhof gesagt.

»Ja, Probefahrt. Sie müssen doch sehen, was der Wagen leistet. Er liegt wie ein Brett auf der Straße. Wie auf Schienen. Und die Maschine zieht an, als wäre das schwere Kabriolett eine Flaumfeder…«

»Ach, Probefahrten…«, er machte eine wegwerfende Handbewegung, »Probefahrten zeigen nichts. Was am Wagen fehlt, merkt man immer erst hinterher.«

Natürlich, du gußeiserner Satan, dachte ich ärgerlich, oder meinst du, ich stoße dich mit der Nase drauf? »Na schön, dann nicht«, sagte ich und ließ alle Hoffnung fahren. Der Mann wollte nicht, das war klar.

Aber da wandte er sich plötzlich um, sah mir voll in die Augen und sagte leise und scharf und sehr rasch: »Was kostet der Wagen?«

»Siebentausend Mark«, erwiderte ich, ohne mit der Wimper zu zucken, wie aus der Pistole geschossen. Dieser Mann durfte nicht merken, daß ich auch nur einen Moment überlegte, das wußte ich. Jede Sekunde Zögern hätte tausend Mark gekostet, die er abgehandelt hätte. »Siebentausend Mark netto«, wiederholte ich fest und dachte: Wenn du jetzt fünf bietest, hast du ihn weg.

Aber Blumenthal bot gar nichts. Er stieß nur ein kurzes Schnaufen aus. »Viel zu teuer!«

»Natürlich!« sagte ich und gab den Fall endgültig auf.

»Wieso natürlich?« fragte Blumenthal auf einmal ziemlich menschlich.

»Herr Blumenthal«, erwiderte ich, »haben Sie heutzutage schon mal jemanden getroffen, der auf einen Preis was anderes antwortet?«

Er sah mich aufmerksam an. Dann zog so etwas wie der Schimmer eines Lächelns über sein Gesicht. »Stimmt. Aber der Wagen ist wirklich zu teuer.«

Ich traute meinen Ohren nicht. Da war er ja endlich, der richtige Ton! Der Ton des Interessenten! Oder war das wieder ein neuer verfluchter Dreh?

In diesem Augenblick kam ein eleganter Stutzer durch das Hoftor. Er zog eine Zeitung aus der Tasche, verglich die Hausnummer noch einmal und schritt auf mich zu. »Ist hier der Cadillac zu verkaufen?«

Ich nickte und sah sprachlos auf den gelben Bambusspazierstock und die Wildlederhandschuhe des Stutzers.

»Könnte ich ihn mal sehen«, fragte der weiter, ohne eine Miene zu verziehen.

»Das ist er hier«, sagte ich, »aber vielleicht gedulden Sie sich einen Moment, ich habe noch zu tun. Wollen Sie solange drinnen Platz nehmen?«

Der Stutzer horchte einen Augenblick auf das Summen des Motors, machte erst ein kritisches, dann ein anerkennendes Gesicht und ließ sich von mir in die Werkstatt führen.

»Idiot«, knurrte ich ihn an und ging dann rasch zu Blumenthal zurück.

»Wenn Sie den Wagen einmal gefahren haben, werden Sie anders über den Preis denken«, sagte ich. »Sie können ihn gern so lange probieren, wie Sie wollen. Vielleicht kann ich Sie auch abends zu einer Probefahrt abholen, wenn Ihnen das besser paßt.«

Aber die flüchtige Regung war bereits verflogen. Blumenthal stand schon wieder da wie ein Gesangvereinspräsident aus Granit. »Lassen Sie nur«, sagte er, »ich muß jetzt gehen. Wenn ich eine Probefahrt machen will, kann ich Ihnen ja noch telefonieren.«

Ich sah, daß vorläufig nichts weiter zu machen war. Dieser Mann war nicht zu bereden. »Gut«, erklärte ich, »aber wollen Sie mir nicht Ihre Telefonnummer geben, damit ich Ihnen Bescheid sagen kann, wenn noch ein Interessent da ist?«

Blumenthal sah mich merkwürdig an. »Interessenten sind noch keine Käufer.«

Er zog eine Zigarrentasche heraus und hielt sie mir hin. Auf einmal rauchte er. Sogar Corona-Coronas – er mußte Geld wie Heu haben. Aber es war mir schon egal. Ich nahm die Zigarre.

Er gab mir freundlich die Hand und ging. Ich sah ihm nach und verfluchte ihn leise, aber gründlich. Dann ging ich zurück in die Werkstatt.

»Na«, begrüßte mich der Stutzer Gottfried Lenz, »wie hab’ ich das gemacht? Sah, wie du da herumwürgtest, und wollte mal etwas nachhelfen. Ein Glück, daß Otto sich hier fürs Finanzamt umgezogen hat! Sah seinen guten Anzug da hängen – sauste im Galopp ‘rein, durchs Fenster ‘raus und wieder hierher als seriöser Käufer! Gut gemacht, was?«

»Idiotisch gemacht«, erwiderte ich, »der Mann ist schlauer als wir beide zusammen! Sieh dir die Zigarre an! Eine Mark fünfzig das Stück. Du hast mir einen Milliardär verjagt.«

Gottfried nahm mir die Zigarre aus der Hand, beroch sie und zündete sie sich an. »Ich habe dir einen Schwindler verjagt. Milliardäre rauchen nicht solche Zigarren. Die rauchen welche zu einem Groschen das Stück.«

»Unsinn«, antwortete ich, »Schwindler nennen sich nicht Blumenthal. Die nennen sich Graf Blumenau oder so.«

»Der Mann kommt wieder«, meinte Lenz, hoffnungsvoll wie immer, und blies mir den Rauch meiner Zigarre ins Gesicht.

»Der nicht«, sagte ich überzeugt. »Aber wie kommst du nur zu dem Bambusknüppel und den Handschuhen?«

»Geliehen. Drüben im Geschäft von Benn und Co. Ich kenne da die Verkäuferin. Vielleicht behalte ich den Stock sogar. Er gefällt mir.« Selbstgefällig wirbelte er den dicken Prügel durch die Luft.

»Gottfried«, sagte ich, »du bist hier zu schade. Weißt du was? Geh zum Variete. Da gehörst du hin.«

»Sie sind angerufen worden«, sagte Frida, das schielende Dienstmädchen Frau Zalewskis, als ich mittags auf einen Sprung nach Hause kam.

Ich drehte mich um. »Wann?«

»Vor ‘ner halben Stunde. War ‘ne Dame.«

»Was hat sie denn gesagt?«

»Sie will abends noch mal anrufen. Aber ich habe ihr gleich gesagt, es hätte nicht viel Zweck. Sie wären abends nie zu Hause.«

Ich starrte sie an. »Was? Das haben Sie gesagt? Herrgott, wenn Ihnen doch mal jemand telefonieren beibringen würde.«

»Ich kann telefonieren«, erklärte Frida pomadig. »Und zu Hause sind Sie abends auch so gut wie nie.«

»Das geht Sie doch gar nichts an«, fluchte ich. »Nächstens erzählen Sie noch, ob ich Löcher in den Strümpfen habe.«

»Kann ich ja machen«, gab Frida zurück und sah mich hämisch mit ihren roten entzündeten Augen an. Wir waren alte Feinde.

Ich hätte sie am liebsten in ihren Suppentopf gesteckt, beherrschte mich aber, griff in die Tasche, drückte ihr eine Mark in die Hand und fragte versöhnlich: »Hat die Dame nicht ihren Namen genannt?«

»Nee«, sagte Frida.

»Was hatte sie denn für eine Stimme? Ein bißchen dunkel und tief und so, als wäre sie etwas heiser?«

»Weiß ich nicht«, erklärte Frida phlegmatisch, als hätte ich ihr nie eine Mark in die Hand gedrückt.

»Einen hübschen Ring haben Sie da an der Hand, wirklich reizend«, sagte ich, »und nun besinnen Sie sich mal genau, ob Sie sich nicht doch erinnern.«

»Nee«, erwiderte Frida, und die Schadenfreude leuchtete ihr nur so aus dem Gesicht.

»Dann häng dich auf, du Satansbesen«, fauchte ich und ließ sie stehen.


Abends um sechs Uhr war ich pünktlich zu Hause. Als ich die Tür aufmachte, bot sich mir ein ungewohntes Bild. Auf dem Korridor stand Frau Bender, die Säuglingsschwester, umgeben von sämtlichen Damen der Pension. »Kommen Sie mal her«, sagte Frau Zalewski.

Die Ursache der Versammlung war ein schleifengeschmückter Säugling, der vielleicht ein halbes Jahr alt war. Frau Bender hatte ihn aus ihrem Heim in einem Kinderwagen mitgebracht. Es war ein völlig normales Kind; aber die Damen beugten sich mit einem Ausdruck so irrsinnigen Entzückens darüber, als wäre es der erste Säugling, den die Welt hervorgebracht hätte. Dazu stießen sie glucksende Rufe aus, zwirbelten mit den Fingern vor den Augen der kleinen Kreatur und spitzten die Lippen. Sogar Erna Bönig in ihrem Drachenkimono beteiligte sich an dieser Orgie platonischer Mütterlichkeit.

»Ist es nicht ein reizendes Wesen?« fragte Frau Zalewski mit schwimmenden Blick.

»Das kann man erst so in zwanzig, dreißig Jahren richtig beurteilen«, erwiderte ich und schielte nach dem Telefon. Hoffentlich kam der Anruf nicht gerade, während hier alles versammelt war.

»Sehen Sie sich’s doch mal richtig an«, forderte Frau Hasse mich auf.

Ich sah hin. Es war ein Säugling wie alle. Ich konnte nichts Besonderes daran entdecken. Höchstens die furchtbar kleinen Hände und daß es merkwürdig war, selbst auch mal so winzig gewesen zu sein. »Der arme Wurm«, sagte ich, »der hat noch keine Ahnung, was ihm bevorsteht. Möchte wissen, für was für einen Krieg der gerade zurechtkommt.«

»Rohling«, erwiderte Frau Zalewski. »Haben Sie denn kein Gefühl?«

»Viel zuviel«, erklärte ich, »sonst käme ich ja nicht auf solche Gedanken.« Damit zog ich ab in mein Zimmer.

Zehn Minuten später klingelte das Telefon. Ich hörte meinen Namen und ging hinaus. Richtig, die ganze Gesellschaft war noch da! Sie wich auch nicht, als ich den Hörer am Ohr hatte und die Stimme von Patrice Hollmann vernahm, die sich für die Blumen bedankte. Im Gegenteil, der Säugling, der scheinbar der Vernünftigste von allen war und genug von der Afferei hatte, fing plötzlich an zu brüllen. »Entschuldigen Sie«, sagte ich verzweifelt in das Telefon, »ich kann Sie nicht verstehen, hier tobt ein Säugling; aber es ist nicht meiner.« Die Damen zischten wie ein Nest von Riesenschlangen, um das schreiende Geschöpf zu beruhigen. Sie erreichten prompt, daß es noch stärker loslegte. Jetzt erst bemerkte ich, daß es tatsächlich ein besonderer Säugling war; seine Lungen mußten bis in die Beine reichen, anders war diese schmetternde Stimme nicht zu erklären. Ich war in einer schwierigen Lage; mit den Augen schoß ich wütende Blicke auf den Mutterkomplex vor mir, mit dem Munde versuchte ich freundliche Worte in die Hörmuschel zu sprechen – vom Scheitel bis zur Nase war ich Gewitter, von der Nase bis zum Kinn eine sonnige Frühlingslandschaft —, es war mir ein Rätsel, daß ich es fertigbrachte, mich trotzdem zum nächsten Abend zu verabreden.

»Sie sollten sich eine schalldichte Telefonzelle anschaffen«, sagte ich zu Frau Zalewski.

Aber die war nicht auf den Mund gefallen. »Wieso«, fragte sie funkelnd zurück, »haben Sie soviel zu verbergen?«

Ich schwieg und drückte mich. Mit aufgerührten Muttergefühlen soll man keinen Streit anfangen. Die haben die Moral der ganzen Welt hinter sich.

Abends waren wir bei Gottfried verabredet. Ich aß in einer kleinen Kneipe und ging dann hin. Unterwegs kaufte ich mir im elegantesten Herrenmodengeschäft zur Feier des Tages eine prachtvolle neue Krawatte. Ich war immer noch überrascht, wie glatt alles gegangen war, und ich gelobte mir, morgen seriös zu sein wie der Generaldirektor eines Beerdigungsinstitutes.

Gottfrieds Bude war eine Sehenswürdigkeit. Sie hing voll von Reiseandenken, die er aus Südamerika mitgebracht hatte. Bunte Bastmatten an den Wänden, ein paar Masken, ein eingetrockneter Menschenschädel, groteske Tontöpfe, Speere und als Hauptstück eine großartige Sammlung von Fotografien, die eine ganze Wand einnahmen – Indiomädchen und Kreolinnen, schöne, braune, geschmeidige Tiere von unbegreiflicher Anmut und Lässigkeit.

Außer Lenz und Köster waren Braumüller und Grau noch da. Theo Braumüller hockte mit sonnenverbranntem, kupfernem Schädel auf der Sofalehne und musterte begeistert Gottfrieds fotografische Sammlung. Er war Rennfahrer für eine Autofabrik und seit langem mit Köster befreundet. Am Sechsten fuhr er das Rennen mit, zu dem Otto Karl gemeldet hatte.

Ferdinand Grau saß massig, aufgeschwemmt und ziemlich betrunken am Tisch. Als er mich sah, zog er mich mit seiner breiten Pratze zu sich heran. »Robby«, sagte er mit schwerer Stimme, »was willst du hier unter den Verlorenen? Du hast hier nichts zu suchen. Geh wieder weg. Rette dich. Du kannst es noch!«

Ich blickte zu Lenz hinüber. Er zwinkerte mir zu. »Ferdinand ist hoch in Form. Er versäuft seit zwei Tagen eine liebe Tote. Hat ein Porträt verkauft und gleich Geld bekommen.«

Ferdinand Grau war Maler. Dabei wäre er aber längst verhungert, wenn er nicht eine Spezialität gehabt hätte. Er malte nach Fotografien fabelhaft lebensechte Porträts von Verstorbenen für pietätvolle Angehörige. Davon lebte er – sogar ganz gut. Seine Landschaften, die ausgezeichnet waren, kaufte kein Mensch. Das gab seiner Unterhaltung einen etwas pessimistischen Unterton.

»Ein Gastwirt war’s diesmal, Robby«, sagte er, »ein Gastwirt mit einer verstorbenen Erbtante in Essig und Öl.« Er schüttelte sich. »Schauderhaft.«

»Hör mal, Ferdinand«, erwiderte Lenz, »du solltest nicht so harte Ausdrücke gebrauchen. Du lebst ja von einer der schönsten menschlichen Eigenschaften: von der Pietät.«

»Unsinn«, erklärte Grau, »ich lebe vom Schuldbewußtsein. Pietät ist nichts als Schuldbewußtsein. Man will sich rechtfertigen für das, was man dem lieben Verstorbenen bei Lebzeiten alles gewünscht und angetan hat.« Er fuhr sich mit der Hand langsam über den glühenden Schädel. »Was meinst du, wie oft mein Gastwirt seiner Tante den Tod an den Hals gewünscht hat – dafür läßt er sie jetzt in den feinsten Farben malen und hängt sie übers Sofa. So ist sie ihm lieber. Pietät! Der Mensch erinnert sich seiner spärlichen guten Eigenschaften immer erst, wenn es zu spät ist. Dann ist er gerührt darüber, wie edel er hätte sein können, und hält sich für tugendhaft. Tugend, Güte, Edelmut« – er winkte mit seiner mächtigen Pratze ab —, »die wünscht man sich bei andern, damit man sie hereinlegen kann.«

Lenz grinste. »Du rüttelst an den Grundpfeilern der menschlichen Gesellschaft, Ferdinand!«

»Die Grundpfeiler der menschlichen Gesellschaft sind Habgier, Angst und Korruption«, gab Grau zurück. »Der Mensch ist böse, aber er liebt das Gute – wenn andere es tun.« – Er hielt Lenz sein Glas hin. »So, und nun schenk mir ein und rede nicht den ganzen Abend – laß auch mal andere Leute zu Wort kommen.«

Ich kletterte über das Sofa zu Köster hinüber. Mir war plötzlich etwas eingefallen. »Otto, du mußt mir mal einen Gefallen tun. Ich brauche morgen abend den Cadillac.«

Braumüller unterbrach das intensive Studium einer wenig bekleideten kreolischen Tänzerin. »Kannst du denn schon Kurven fahren?« erkundigte er sich. »Ich dachte bis jetzt, du könntest nur geradeaus fahren, wenn ein anderer für dich steuert.«

»Sei du ruhig, Theo«, erwiderte ich, »aus dir werden wir beim Rennen am Sechsten schon Hackfleisch machen.«

Braumüller gluckste vor Lachen. »Also wie ist das, Otto?« fragte ich gespannt.

»Der Wagen ist nicht versichert, Robby«, sagte Köster.

»Ich werde wie eine Schnecke schleichen und wie ein Omnibus hupen. Nur ein paar Kilometer in der Stadt.«

Otto schloß die Augen bis auf einen kleinen Spalt und lächelte. »Gut, Robby; meinetwegen.«

»Brauchst du den Wagen vielleicht zu deiner neuen Krawatte?« fragte Lenz, der herangekommen war.

»Halt den Schnabel«, sagte ich und schob ihn beiseite.

Aber er ließ nicht locker. »Zeig mal her, Baby!« Er befühlte die Seide. »Herrlich. Unser Kind als Gigolo. Mir scheint, du willst auf Brautschau!«

»Du kannst mich heute nicht beleidigen, du Verwandlungskünstler«, erwiderte ich.

»Brautschau?« Ferdinand Grau hob den Kopf. »Warum soll er denn nicht auf Brautschau gehen?« Er wurde lebhafter und wandte sich mir zu. »Tu’s ruhig, Robby! Du hast noch das Zeug dazu. Zur Liebe gehört eine gewisse Einfalt. Die hast du. Bewahre sie dir. Sie ist ein Gottesgeschenk. Nie wieder zu kriegen, wenn man sie mal verloren hat.«

»Nimm dir’s nicht allzusehr zu Herzen«, grinste Lenz. »Dumm geboren zu werden ist keine Schande. Nur dumm zu sterben.«

»Schweig, Gottfried.« Grau wischte ihn mit einer Bewegung seiner mächtigen Tatze beiseite. »Auf dich kommt’s nicht an, du Etappenromantiker. Um dich ist’s nicht schade.«

»Sprich dich nur ruhig aus, Ferdinand«, sagte Lenz. »Aussprechen erleichtert immer.«

»Du bist ein Drückeberger«, erklärte Grau, »ein pathetischer Drückeberger.«

»Sind wir alle«, grinste Lenz. »Wir leben nur noch von Illusionen und Krediten.«

»Jawohl«, sagte Grau und sah uns der Reihe nach unter seinen buschigen Augenbrauen hervor an. »Von Illusionen aus der Vergangenheit und Krediten auf die Zukunft.« Dann wandte er sich mir wieder zu. »Einfalt habe ich gesagt, Robby. Nur neidische Leute nennen es Dummheit. Kränke dich nicht deswegen. Es ist kein Fehler, sondern eine Begabung.«

Lenz wollte etwas einwerfen. Aber Ferdinand sprach schon weiter. »Du weißt, was ich meine. Ein einfaches Gemüt, noch nicht zerfressen von Skepsis und Überintelligenz. Parzival war dumm. Wäre er klug gewesen, hätte er nie den heiligen Gral erobert. Nur wer dumm ist, siegt im Leben; der andere sieht viel zu viele Hindernisse und wird unsicher, ehe er beginnt. In schwierigen Zeiten ist Einfalt das kostbarste Gut – ein Zaubermantel, der Gefahren verbirgt, in die der Superkluge wie hypnotisiert hineinrennt.«

Er trank einen Schluck und sah mich mit seinen riesigen blauen Augen an, die wie ein Stück Himmel in dem zerklüfteten Gesicht saßen. »Nie zuviel wissen wollen, Robby! Je weniger man weiß, desto einfacher ist es, zu leben. Wissen macht frei – aber unglücklich. Komm, trink mit mir auf die Einfalt, die Dummheit und was zu ihr gehört – auf die Liebe, den Glauben an die Zukunft, die Träume vom Glück —, auf die herrliche Dummheit, das verlorene Paradies…«

Er saß schwer und massig da, plötzlich in sich selbst und seine Trunkenheit versunken, wie ein einsamer Hügel von unangreifbarer Schwermut. Sein Leben war kaputt, und er wußte, daß er es nicht mehr zusammenbringen konnte. Er hauste in seinem großen Atelier und hatte ein Verhältnis mit seiner Haushälterin. Die Frau war fest und derb. Grau dagegen, trotz seines mächtigen Körpers, empfindsam und haltlos. Er kam nicht los von ihr, und es war ihm wohl auch schon egal. Er war zweiundvierzig Jahre alt.

Obschon ich wußte, daß es die Betrunkenheit war, fühlte ich doch einen leisen, merkwürdigen Schauer, als ich ihn so sah. Er kam nicht oft und trank fast immer allein in seinem Atelier. Das bringt einen rasch ‘runter.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er drückte mir ein Glas in die Hand. »Trink, Robby. Und rette dich. Denk daran, was ich dir gesagt habe.«

»Gut, Ferdinand!«

Lenz zog das Grammophon auf. Er hatte einen Haufen Negerplatten und spielte ein paar – vom Mississippi, von Baumwollpflückern und von den schwülen Nächten an den blauen tropischen Flüssen.

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