Ich stand meiner Wirtin gegenüber. »Wo brennt’s?« fragte Frau Zalewski.
»Nirgendwo«, erwiderte ich. »Ich will nur meine Miete bezahlen.« Es war noch drei Tage zu früh, und Frau Zalewski fiel vor Erstaunen fast um, »Dahinter steckt doch was«, meinte sie argwöhnisch.
»Nicht die Spur«, erwiderte ich. »Kann ich heute abend mal die beiden Brokatsessel aus Ihrem Salon haben?«
Kampfbereit stemmte sie die Arme auf die dicken Hüften. »Da haben wir es! Gefällt Ihnen Ihr Zimmer nicht mehr?«
»Doch. Aber Ihre Brokatsessel gefallen mir besser.«
Ich erklärte ihr, daß ich vielleicht Besuch von einer Kusine bekäme und dazu das Zimmer gern etwas hübscher haben möchte. Sie lachte, daß ihr Busen nur so wogte. »Kusine«, wiederholte sie verächtlich, »und wann kommt die Kusine?«
»Es ist noch gar nicht sicher«, sagte ich, »aber wenn sie kommt, natürlich früh, frühabends, zum Essen. Warum soll es übrigens keine Kusinen geben, Frau Zalewski?«
»Es gibt schon welche«, erwiderte sie, »aber für die borgt man keine Sessel.«
»Ich wohl«, behauptete ich, »ich habe sehr viel Familiensinn.«
»So sehen Sie aus! Rumtreiber seid ihr alle miteinander. Die Brokatsessel können Sie haben. Stellen Sie die roten Plüsch solange in den Salon.«
»Danke schön. Morgen bringe ich alles zurück. Den Teppich auch.«
»Teppich?« Sie drehte sich um. »Wer hat denn hier ein Wort vom Teppich gesagt?«
»Ich. Und Sie auch, eben gerade.«
Sie sah mich entrüstet an. »Der gehört doch dazu«, sagte ich. »Die Sessel stehen doch drauf.«
»Herr Lohkamp«, erklärte Frau Zalewski majestätisch, »treiben Sie es nicht zu weit! Mäßigkeit in allem, war ein Wort des seligen Zalewski. Das könnten Sie auch mal beherzigen.«
Ich wußte, daß der selige Zalewski sich trotz dieses Wahlspruches buchstäblich totgesoffen hatte. Seine Frau hatte mir das selbst bei anderen Gelegenheiten oft genug erzählt. Aber das machte ihr nichts aus. Sie benützte ihren Mann, wie andere Leute die Bibel: zum Zitieren. Und je länger er tot war, desto mehr schob sie ihm zu. Er paßte jetzt schon auf alles – wie die Bibel.
Ich war dabei, meine Bude auszuschmücken. Nachmittags hatte ich mit Patrice Hollmann telefoniert. Sie war krank gewesen, und ich hatte sie fast eine Woche nicht mehr gesehen. Jetzt waren wir um acht Uhr verabredet, und ich hatte ihr vorgeschlagen, bei mir zu essen und nachher in ein Kino zu gehen.
Die Brokatsessel und der Teppich wirkten pompös; aber die Beleuchtung dazu war schrecklich. Ich klopfte deshalb nebenan bei der Familie Hasse, um mir eine Tischlampe auszuleihen. Frau Hasse saß müde am Fenster. Ihr Mann war noch nicht da. Er arbeitete jeden Tag freiwillig ein bis zwei Stunden länger, um nur ja nicht entlassen zu werden. Die Frau hatte etwas von einem kranken Vogel. In ihren schwammigen, alternden Zügen war immer noch das schmale Gesicht eines Kindes zu erkennen – eines enttäuschten, traurigen Kindes.
Ich brachte mein Anliegen vor. Sie lebte auf und holte mir die Lampe. »Ach ja«, sagte sie seufzend, »wenn ich noch so daran denke, früher…«
Ich kannte die Geschichte. Sie handelte von den Aussichten, die sie gehabt hätte, wenn sie Hasse nicht genommen hätte. Ich kannte dieselbe Geschichte auch in der Fassung Hasses. Da handelte sie von den Aussichten, die er gehabt hätte, wenn er Junggeselle geblieben wäre. Es war wahrscheinlich die häufigste Geschichte der Welt. Auch die aussichtsloseste.
Ich hörte eine Weile zu, erwiderte ein paar Gemeinplätze und begab mich zu Erna Bönig, um mir ihr Grammophon zu holen.
Frau Hasse sprach von Erna nur als von der Person nebenan. Sie verachtete sie, weil sie sie beneidete. Ich mochte sie ganz gern. Sie machte sich nichts vor über das Leben und wußte, daß man sich dranhalten mußte, um ein bißchen von dem zu erwischen, was man so Glück nannte. Sie wußte auch, daß man es doppelt und dreifach bezahlen mußte. Glück war die ungewisseste Sache der Welt mit dem höchsten Preis.
Erna kniete vor ihrem Koffer nieder und suchte mir eine Anzahl Platten heraus. »Wollen Sie Foxtrotts?« fragte sie.
»Nein«, erwiderte ich. »Ich kann nicht tanzen.«
Sie sah erstaunt auf. »Sie können nicht tanzen? Ja, was machen Sie dann, wenn Sie ausgehen?«
»Ich tanze mit der Gurgel. Das geht auch ganz gut.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ein Mann, der nicht tanzen kann, wäre bei mir abgemeldet.«
»Sie haben strenge, Grundsätze«, erwiderte ich. »Aber es gibt ja auch noch andere Platten. Sie spielten da neulich eine sehr schöne – es war eine Frauenstimme mit so einer Art Hawaiimusik…«
»Ah, die ist fabelhaft. >Wie hab’ ich nur leben können ohne dich…<, nicht wahr?«
»Richtig! Was so Schlagerdichtern alles einfällt! Ich glaube, es sind die einzigen Romantiker, die es noch gibt.«
Sie lachte. »Warum auch nicht? So ein Grammophon ist ja auch wie eine Art Stammbuch. Früher schrieb man sich Verse ins Album – heute schenkt man sich Grammophonplatten. Wenn ich mich an irgend etwas erinnern will, brauche ich nur die Platte von damals aufzulegen, und schon ist alles wieder da.«
Ich sah auf die Stöße von Platten herab, die auf der Erde lagen. »Daran gemessen, Erna, müssen Sie einen Haufen Erinnerungen haben.«
Sie stand auf und strich sich das rötliche Haar zurück. »Ja«, sagte sie und schob einen Pack mit dem Fuß beiseite, »aber eine einzige richtige wäre mir lieber…«
Ich packte aus, was ich zum Abendbrot eingekauft hatte, und machte alles zurecht, so gut ich konnte. Aus der Küche war keine Hilfe für mich zu erwarten, dazu stand ich mit Frida zu schlecht. Sie hätte mir höchstens etwas umgeworfen. Aber es ging auch so, und bald kannte ich meine alte Bude nicht wieder in ihrem neuen Glanz. Die Sessel, die Lampe, der gedeckte Tisch – ich spürte, wie eine unruhige Erwartung sich in mir sammelte.
Ich brach auf, obschon ich noch über eine Stunde Zeit hatte. Draußen wehte der Wind in langen Stößen um die Ecken der Häuser. Die Laternen brannten schon. Die
Dämmerung zwischen den Häusern war blau wie ein Meer. Das International schwamm darin wie ein abgetakeltes Kriegsschiff. Ich machte einen Sprung hinein.
»Hoppla, Robert«, sagte Rosa.
»Was machst du denn hier?« fragte ich. »Willst du nicht auf Tour?«
»Ist noch etwas zu früh.«
Alois schlich heran. »Einstöckig?« fragte er.
»Dreistöckig«, erwiderte ich.
»Gehst ja mächtig ‘ran«, meinte Rosa.
»Brauche etwas Mumm«, sagte ich und kippte den Rum.
»Spielst du was?« fragte Rosa.
Ich schüttelte den Kopf. »Keine Lust heute. Zu windig, Rosa. Was macht das Kleine?«
Sie lächelte mit all ihren Goldzähnen. »Unberufen, gut. Morgen gehe ich wieder hin. Habe diese Woche gute Kasse gehabt; den alten Böcken steckt das Frühjahr schon in den Knochen. Da bringe ich ihr ein neues Mäntelchen mit. Rote Wolle.«
»Rote Wolle ist der letzte Modeschrei.«
»Du bist ein Kavalier, Robby.«
»Wenn du dich da man nicht irrst. Komm, trink eins mit. Anisette, was?«
Sie nickte. Wir stießen an. »Sag mal, Rosa, was hältst du eigentlich von der Liebe?« fragte ich. »Du verstehst doch was davon.«
Sie brach in ein schallendes Gelächter aus. »Hör auf damit«, sagte sie dann. »Liebe! Ach, mein Arthur – wenn ich an den Lumpen denke, werde ich immer noch schwach in den Knien. Will dir was sagen, Robby, im Ernst gesprochen: Das menschliche Leben ist zu lang für die Liebe. Einfach zu lang. Das hat mir mein Arthur erklärt, als er abgehauen ist. Und das stimmt. Liebe ist wunderbar. Aber einem ist sie immer zu lang. Und der andere, der sitzt dann da und stiert. Stiert wie wahnsinnig.«
»Klar«, sagte ich. »Aber ohne Liebe ist man doch eigentlich auch bloß ‘ne Leiche auf Urlaub.«
»Mach’s wie ich«, erwiderte Rosa, »schaff dir ein Kind an. Da hast du was zum Lieben und hast deine Ruhe dabei.«
»Nicht dumm«, sagte ich. »Hat mir grade noch gefehlt.«
Rosa wiegte träumerisch den Kopf. »Was hab’ ich von meinem Arthur für Schläge gekriegt – und trotzdem, wenn er jetzt hier ‘reinkäme, die Melone so schief nach hinten auf dem Kopf —, Mensch, Junge, ich bibbere schon, wenn ich dran denke.«
»Wollen eins auf Arthurs Wohl trinken.«
Rosa lachte. »Der Hurenbock soll leben! Prost!«
Wir tranken aus. »Wiedersehen, Rosa. Gutes Geschäft heute abend!«
»Danke! Wiedersehen, Robby!«
Die Haustür klappte. »Hallo«, sagte Patrice Hollmann, »so tief in Gedanken?«
»Nein, gar nicht! Aber wie geht es Ihnen? Sind Sie wieder gesund? Was haben Sie denn gehabt?«
»Ach, nichts Besonderes. Erkältet und ein bißchen Fieber.«
Sie sah gar nicht krank und angegriffen aus, Im Gegenteil, – ihre Augen waren mir noch nie so groß und strahlend erschienen, ihr Gesicht war ein wenig gerötet, und ihre Bewegungen waren geschmeidig wie bei einem schmalen, schönen Tier.
»Sie sehen prachtvoll aus«, sagte ich. »Ganz gesund! Wir können eine Menge unternehmen.«
»Das wäre schön«, erwiderte sie. »Aber heute geht es nicht. Ich kann heute nicht.«
Ich starrte sie verständnislos an. »Sie können nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Leider nicht.«
Ich begriff immer noch nicht. Ich glaubte, sie hätte sich das mit meiner Bude anders überlegt und wollte nur nicht bei mir essen.
»Ich habe schon bei Ihnen angerufen«, sagte sie, »damit Sie nicht vergebens kämen. Aber Sie waren schon weggegangen.«
Jetzt verstand ich endlich. »Sie können wirklich nicht? Den ganzen Abend nicht?« fragte ich.
»Heute nicht. Ich muß irgendwohin. Leider habe ich es auch erst vor einer halben Stunde erfahren.«
»Können Sie das denn nicht verschieben?«
»Nein, das geht nicht.« Sie lächelte. »Es ist so etwas wie eine geschäftliche Sache.«
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Mit allem hatte ich gerechnet, nur damit nicht. Ich glaubte ihr kein Wort. Geschäftliche Sache – sie sah nicht nach geschäftlichen Sachen aus! Wahrscheinlich war es nur eine Ausrede. Sicher sogar. Was konnte man abends schon für geschäftliche Besprechungen haben? So was machte man vormittags! Und man erfuhr es auch nicht erst eine halbe Stunde vorher. Sie wollte einfach nicht, das war alles.
Ich war auf eine geradezu kindische Weise enttäuscht. Jetzt spürte ich erst, wie sehr ich mich auf den Abend gefreut hatte. Ich ärgerte mich darüber, daß ich so enttäuscht war, und ich wollte nicht, daß sie es merkte. »Also schön«, sagte ich, »dann ist nichts zu machen. Auf Wiedersehen.«
Sie sah mich forschend an. »So eilig ist es nicht. Ich bin erst um neun verabredet. Wir können noch etwas Spazierengehen. Ich war die ganze Woche nicht draußen.«
»Gut«, sagte ich widerstrebend. Ich fühlte mich plötzlich müde und leer.
Wir gingen die Straße entlang. Der Abend war klargeworden, und die Sterne standen zwischen den Dächern. Wir kamen an einer Rasenanlage vorbei, auf der im Schatten ein paar Büsche standen. Patrice Hollmann blieb stehen. »Flieder«, sagte sie, »es riecht nach Flieder! Aber das ist doch ganz unmöglich, es ist ja noch zu früh.«
»Ich rieche auch nichts«, erwiderte ich.
»Doch!« Sie beugte sich über das Geländer.
»Es ist eine Daphne indica, meine Dame«, kam eine rauhe Stimme aus dem Dunkel.
Ein städtischer Gartenarbeiter mit einer Mütze mit einem Messingschild lehnte da an einem Baum. Er kam etwas schwankend heran. Ein Flaschenhals blinkte aus seiner Tasche. »Wir ha’m sie heute gesetzt«, erklärte er unter mächtigem Schluckauf. »Drüben steht sie.«
»Danke schön«, sagte Patrice Hollmann und wandte sich mir zu. »Riechen Sie es immer noch nicht?«
»Doch, jetzt rieche ich was«, antwortete ich widerwillig. »Guten, alten Kornschnaps.«
»Prima geraten!« Der Mann im Schatten rülpste gewaltig.
Ich spürte ganz gut den süßen, schweren Duft, der durch die weiche Dunkelheit schwamm; aber ich hätte es um alles in der Welt nicht zugegeben.
Das Mädchen lachte und dehnte sich in den Schultern. »Wie schön das ist, wenn man so lange im Zimmer gewesen ist! Zu schade, daß ich fort muß! Dieser Binding – immer eilig und im letzten Moment —, er hätte wirklich die Sache auf morgen verlegen können!«
»Binding?« fragte ich. »Sie sind mit Binding verabredet?«
Sie nickte. »Mit Binding und noch jemand. Auf diesen Jemand kommt es an. Ernsthaft geschäftlich. Können Sie sich das denken?«
»Nein«, erwiderte ich, »das kann ich mir nicht denken.«
Sie lachte und sprach weiter. Aber ich hörte nicht mehr zu. Binding – das war mir wie ein Blitz in die Knochen gefahren. Ich dachte nicht daran, daß sie ihn viel länger kannte als mich, ich sah nur überlebensgroß und strahlend seinen Buick, seinen teuren Anzug und sein Portemonnaie vor mir auftauchen. Meine arme, brave, geschmückte Bude! Was hatte ich mir da nur eingebildet! Die Hassesche Lampe, die Zalewskischen Sessel! Das Mädchen paßte ja überhaupt nicht zu mir! Was war ich denn schon? Ein Fußgänger, der sich mal einen Cadillac geborgt hatte, eine täppische Schnapsdrossel, nichts weiter! So was war an jeder Straßenecke zu finden. Ich sah bereits den Portier der »Traube« vor Binding salutieren, ich sah helle, warme, gepflegte Räume, Zigarettengewölk und elegante Leute, ich hörte Musik und Gelächter, Gelächter über mich. Zurück, dachte ich, rasch zurück! Eine Ahnung, eine Hoffnung – was war schon viel gewesen! Es war sinnlos, sich darauf einzulassen. Nichts wie zurück!
»Wir können uns morgen abend treffen, wenn Sie wollen«, sagte Patrice Hollmann.
»Morgen abend habe ich keine Zeit«, erwiderte ich.
»Oder übermorgen oder irgendwann in dieser Woche. Ich habe in den nächsten Tagen nichts vor.«
»Es wird schwierig sein«, sagte ich. »Wir haben heute einen eiligen Auftrag bekommen, da müssen wir wahrscheinlich die ganze Woche durch bis nachts arbeiten.«
Es war Schwindel, aber ich konnte nicht anders. Es steckte plötzlich zuviel Wut und Beschämung in mir.
Wir überquerten den Platz und gingen die Straße am Friedhof entlang. Aus der Richtung des International sah ich Rosa herankommen. Ihre hohen Stiefel glänzten. Ich hätte abbiegen können und hätte es sonst auch wohl getan – aber jetzt ging ich geradeaus weiter, ihr entgegen. Rosa sah an mir vorüber, als wären wir todfremd. Das war selbstverständlich; keines dieser Mädchen kannte einen auf der Straße, wenn man nicht allein war. »Tag, Rosa«, sagte ich.
Sie sah erst mich, darauf Patrice Hollmann verdutzt an, nickte dann hastig und ging verwirrt weiter. Ein paar Schritte hinter ihr kam Fritzi, die Handtasche schlenkernd, mit sehr roten Lippen und wiegenden Hüften. Sie schaute gleichgültig durch mich hindurch wie durch eine Fensterscheibe. »Grüß Gott, Fritzi«, sagte ich.
Sie neigte den Kopf wie eine Königin und verriet durch nichts ihr Erstaunen; aber ich hörte sie schneller gehen, als sie vorbei war – sie wollte mit Rosa den Fall besprechen. Ich hätte immer noch in eine Nebenstraße abbiegen können, denn ich wußte, daß auch die andern noch kamen – es war gerade die Zeit des ersten großen Patrouillenganges. Aber ich ging in einer Art Trotz geradeaus weiter – warum sollte ich ihnen aus dem Wege gehen; ich kannte sie ja viel besser als das Mädchen neben mir mit seinem Binding und seinem Buick. Sollte sie es ruhig sehen – gründlich sogar.
Sie kamen alle, die lange Laternenreihe entlang – Wally, die Schöne, blaß, schmal, elegant, Lina mit dem Holzbein, die stämmige Erna, Marion, das Küken, Margot mit den roten Backen, der schwule Kiki im Fehmantel und zum Schluß Mimi, die Großmutter mit den Krampfadern, die aussah wie ein ruppiger Uhu. Ich grüßte alle, und als wir dann noch an Muttchen mit dem Wurstkessel vorüberkamen, schüttelte ich ihr herzlich die Hand.
»Sie haben viele Bekannte hier«, sagte Patrice Hollmann nach einer Weile.
»Solche ja«, erwiderte ich bockig.
Ich merkte, daß sie mich ansah. »Ich glaube, wir müssen jetzt umkehren«, sagte sie.
»Ja«, erwiderte ich, »das glaube ich auch.«
Wir standen vor der Haustür. »Leben Sie wohl«, sagte ich, »und viel Vergnügen noch.«
Sie antwortete nicht. Mit ziemlicher Mühe brachte ich meine Augen von dem Klingelknopf an der Tür los und sah sie an. Und wahrhaftig – ich traute meinen Blicken nicht —, da stand sie, und anstatt gründlich eingeschnappt zu sein, zuckte es um ihren Mund, ihre Augen flimmerten, und dann lachte sie, herzlich und unbekümmert, sie lachte mich einfach aus. »Sie Kindskopf«, sagte sie, »o Gott, was sind Sie noch für ein Kindskopf!«
Ich starrte sie an. »Na ja…«, sagte ich dann, »immerhin« – und bekam auf einmal Sinn für die Situation – »Sie finden mich wohl etwas idiotisch, was?«
Sie lachte. Rasch machte ich einen Schritt vor und zog sie fest an mich, mochte sie denken, was sie wollte. Ihr Haar streifte meine Wange, ihr Gesicht war dicht vor mir, ich spürte den schwachen Pfirsichgeruch ihrer Haut – dann näherten sich ihre Augen, und ich fühlte plötzlich ihre Lippen auf meinem Mund —
Sie war fort, ehe ich richtig wußte, was los war.
Ich ging zurück und kam an Muttchens Wurstkessel vorbei.
»Gib mir mal eine große Bockwurst«, sagte ich strahlend.
»Mit Senf?« fragte Muttchen in ihrer sauberen, weißen Schürze.
»Mit sehr viel Senf, Muttchen!«
Ich aß die Wust genießerisch im Stehen auf und ließ mir aus dem International von Alois dazu ein Glas Bier herausreichen.
»Der Mensch ist ein komisches Wesen, Muttchen, was?« fragte ich.
»Das kannst du wohl glauben«, erwiderte sie eifrig. »Kommt da gestern ein Herr, ißt zwei Wiener mit Senf, und nachher kann er sie nicht bezahlen. Schön, es war spät, kein Mensch sonst da, was sollte ich machen, das kennt man ja, ich lasse ihn laufen. Und stell dir vor, heute kommt er wieder und bezahlt die Wiener und gibt mir noch ein Trinkgeld.«
»Eine Vorkriegsnatur, Muttchen. Wie steht das Geschäft denn sonst?«
»Schlecht! Gestern sieben Paar Wiener und neun Bockwürste. Weißt du, wenn ich die Mädchen nicht hätte, wäre ich schon längst fertig.« Die Mädchen waren die Huren, die Muttchen unterstützten, wo sie nur konnten. Wenn sie einen Freier gekapert hatten und es war irgendwie möglich, dann brachten sie ihn bei Muttchens Wurstkessel vorbei, um vorher noch eine Bockwurst zu essen, damit die alte Frau etwas verdiente.
»Jetzt wird’s ja bald wärmer«, erzählte Muttchen weiter, »aber im Winter, in der Nässe und in der Kälte – da kann man anziehen, was man will, man holt sich was weg.«
»Gib mir noch eine Bockwurst«, sagte ich, »ich habe so eine Lust am Leben. Und wie steht’s zu Hause?«
Sie sah mich mit ihren wasserhellen kleinen Augen an. »Immer dasselbe. Neulich hat er das Bett verkauft.«
Muttchen war verheiratet. Vor zehn Jahren war ihr Mann beim Aufspringen auf eine fahrende Untergrundbahn abgestürzt und überfahren worden. Man hatte ihm beide Beine abnehmen müssen. Das Unglück hatte eine merkwürdige Wirkung auf ihn gehabt. Er schämte sich vor seiner Frau als Krüppel so sehr, daß er nicht mehr mit ihr schlief. Im Krankenhaus hatte er sich außerdem an Morphium gewöhnt. Das brachte ihn rasch herunter, er geriet in homosexuelle Kreise, und bald trieb sich der Mann, der fünfzig Jahre normal gewesen war, nur noch mit schwulen Jungens herum. Vor denen schämte er sich nicht, weil sie Männer waren. Bei Frauen war er ein Krüppel, der glaubte, Ekel und Mitleid zu erregen – das ertrug er nicht —, bei Männern war er nur ein Mensch, der Unglück gehabt hatte. Um sich das Geld für die Jungens und für das Morphium zu verschaffen, nahm er Muttchen weg, was er fand, und verkaufte, was zu verkaufen war. Aber Muttchen hielt zu ihm, obschon er sie oft prügelte. Sie stand mit ihrem Sohn jede Nacht bis morgens um vier Uhr an ihrem Wurstkessel. Tagsüber wusch sie Wäsche und scheuerte Treppen. Sie war dauernd unterleibskrank und wog neunzig Pfund; aber man sah sie nie anders als freundlich. Sie glaubte, daß es ihr noch ganz gut ginge. Manchmal kam der Mann, wenn er sich elend fühlte, zu ihr und weinte. Das waren ihre schönsten Stunden.
»Hast du deinen feinen Posten noch?« fragte sie mich.
Ich nickte. »Ja, Muttchen. Ich verdiene jetzt gut.«
»Sieh man zu, daß du ihn hältst.«
»Werde schon aufpassen, Muttchen.«
Ich kam nach Hause. Auf dem Vorplatz stand, wie von Gott gerufen, das Dienstmädchen Frida. »Sie sind ein süßes Kind«, sagte ich, denn ich hatte Lust, etwas Gutes zu tun.
Sie machte ein Gesicht, als hätte sie Essig getrunken.
»Im Ernst!« fuhr ich fort. »Was hat das ewige Streiten für Zweck! Das Leben ist kurz, Frida, und voller Zufälle und Gefahren. Heute muß man zusammenstehen. Wollen uns vertragen!«
Sie übersah meine ausgestreckte Hand, murmelte etwas von verdammten Saufgurgeln und entschwand türendonnernd.
Ich klopfte bei Georg Block. Eine Lichtritze stand unter seiner Tür. Er büffelte. »Komm, Georgie, fressen«, sagte ich.
Er sah auf. Sein blasses Gesicht rötete sich. »Hab’ keinen Hunger.« Er dachte, es wäre aus Mitleid. Deshalb wollte er nicht.
»Sieh dir’s erst mal an«, sagte ich. »Es wird sonst schlecht. Tu mir den Gefallen.«
Als wir über den Korridor gingen, sah ich, daß die Tür Erna Bönigs einen Spalt offenstand. Dahinter hörte ich einen leisen Atem. Aha, dachte ich und hörte, wie bei Hasses ganz vorsichtig das Schloß schnappte und die Tür ebenfalls um einen Zentimeter nachgab. Die ganze Pension lauerte auf meine Kusine.
Im grellen Oberlicht der Bude standen die Brokatsessel von Frau Zalewski. Die Hassesche Lampe prangte, die Ananas leuchtete, die hochfeine Leberwurst, der Lachsschinken, die Flasche Sherry…
Als ich mit dem sprachlosen Georgie im besten Einhauen war, klopfte es an die Tür. Ich wußte, was jetzt kam. »Paß mal auf, Georgie«, flüsterte ich und rief: »Herein!«
Die Tür öffnete sich, und herein trat, funkelnd vor Neugier, Frau Zalewski. Zum erstenmal in meinem Leben brachte sie mir persönlich die Post, eine Drucksache, in der ich dringend zum Rohkostessen aufgefordert wurde. Sie war feenhaft aufgemacht; ganz große Dame aus früheren besseren Tagen, Spitzenkleid mit Fransenschal und Brosche mit dem Bild des seligen Zalewski als Medaillon. Ein zuckersüßes Lächeln gefror jäh auf ihrem Gesicht; verblüfft starrte sie auf den verlegenen Georgie. Ich brach in ein herzloses Gelächter aus. Sie faßte sich rasch. »Aha, versetzt«, sagte sie giftig.
»Stimmt«, gab ich zu, noch ganz versunken in ihre Aufmachung. Welch ein Glück, daß es mit der Einladung nichts geworden war.
Mutter Zalewski sah mich mißbilligend an. »Und da lachen Sie noch? Ich habe ja immer gesagt: Wo andere Menschen ein Herz haben, sitzt bei Ihnen eine Schnapsflasche.«
»Ein gutes Wort«, erwiderte ich. »Wollen Sie uns nicht ein wenig die Ehre geben, gnädige Frau?«
Sie zögerte. Aber dann siegte die Neugier, vielleicht doch noch etwas zu erfahren. Ich öffnete die Flasche Sherry.