Ein diplomatischer Zwischenfall

1.

»Ich bedauere außerordentlich -«, sagte Hercule Poirot.

Man unterbrach ihn; allerdings nicht grob, sondern zuvorkommend liebenswürdig, geschickt. Man versuchte ihn eher zu überreden, als ihm zu widersprechen.

»Bitte, lehnen Sie nicht von vornherein ab, Monsieur Poirot. Es geht hier um wichtige Staatsangelegenheiten. Ihre Mitarbeit wird in höchsten Kreisen Anerkennung finden.«

»Sie sind zu gütig«, winkte Hercule Poirot ab, »aber ich kann Ihrer Bitte auf keinen Fall Folge leisten. Während dieser Jahreszeit...«

Mr. Jesmond unterbrach ihn wieder. »Während der Weihnachtszeit...« Er suchte nach einem Köder. »Während eines traditionellen Weihnachtsfestes auf dem Lande...«

Hercule Poirot schüttelte sich. Die Vorstellung, die Weihnachtszeit in England auf dem Lande verbringen zu müssen, reizte ihn gar nicht.

»Ein schönes, geruhsames Weihnachtsfest«, wiederholte Jesmond noch einmal mit Nachdruck.

»Ich - ich bin kein Engländer«, antwortete Hercule Poirot. »Weihnachten ist in meiner Heimat ein Fest für Kinder. Wir Erwachsenen feiern hauptsächlich den Jahreswechsel.«

»Aha«, sagte Jesmond. »In England ist Weihnachten etwas ganz Besonderes. Ich verspreche Ihnen, Sie werden in Kings Lacey ein so schönes Weihnachtsfest erleben, wie Sie es noch nirgends besser erlebt haben. Wissen Sie, in einem wundervollen, alten Haus - ein Flügel des Hauses stammt sogar aus dem 14. Jahrhundert.«

Poirot schüttelte sich abermals. Der Gedanke an ein eng-lisches Herrenhaus aus dieser Zeit weckte unangenehme Erinnerungen in ihm. Er hatte zu oft in alten englischen Landhäusern gefroren. Er sah sich dankbar in seiner modern eingerichteten, gemütlichen Wohnung um. Hier gab es Heizöfen und die neuesten technischen Errungenschaften, die jegliche Zugluft verbannten. »Im Winter«, sagte er fest entschlossen, »bleibe ich in London.«

»Ich glaube, Sie sind sich nicht darüber im klaren, daß es sich um eine sehr wichtige Angelegenheit handelt, Monsieur Poirot.«

Jesmond sah seinen Begleiter an. Dann wandte er sich wieder Poirot zu. Dessen zweiter Besucher hatte bisher nur zwei höfliche, alltägliche Begrüßungsworte gemurmelt: »Guten Tag.« Er saß da und starrte auf seine gutgeputzten Schuhe. Äußerste Niedergeschlagenheit zeichnete sein kaffeebraunes Gesicht. Er war noch jung, nicht älter als dreiundzwanzig Jahre. Man sah ihm deutlich an, daß er sich elend fühlte.

»Ja, ja«, sagte Hercule Poirot. »Natürlich handelt es sich um eine ernste Sache. Ich beurteile die Lage durchaus richtig. Seine Hoheit können meines aufrichtigen Mitgefühls versichert sein.«

»Die Lage ist mehr als heikel.«

Poirot wandte seinen Blick von dem jungen Mann ab und blickte wieder dessen älteren Begleiter an. Hätte man Jes-mond mit einem Wort charakterisieren wollen, dann mit der Bezeichnung »zurückhaltend«. Alles an Jesmond war zurückhaltend - seine gutgeschnittene, unauffällige Kleidung; seine angenehm disziplinierte, geschulte Stimme, die selten ihren wohltuend-monotonen Klang veränderte; sein hellbraunes Haar, das sich an den Schläfen schon etwas lichtete; sein blasses, ernstes Gesicht.

»Wie Sie wissen«, erläuterte Poirot, »kann die Polizei sehr verschwiegen sein.«

Jesmond schüttelte energisch den Kopf.

»Nein, die Polizei auf keinen Fall! Um das - um das, was wir wiederhaben wollen, zurückzubekommen, wird es wohl unvermeidlich sein, Prozesse zu führen. Doch wir haben noch keine Handhabe. Wir hegen zwar einen bestimmten Verdacht, wissen aber nichts Genaues.«

»Seien Sie meines Mitgefühls versichert«, sagte Hercule Poirot noch einmal.

Wenn er annahm, daß sich seine beiden Besucher damit zufriedengeben würden, täuschte er sich. Sie wollten kein Mitgefühl, sie wollten praktische Hilfe. Jesmond begann erneut die Vorzüge eines englischen Weihnachtsfestes aufzuzählen.

»Ein wirklich traditionelles Weihnachtsfest wird nur noch selten gefeiert. Heute begehen viele Leute das Fest in Hotels. Ein Weihnachten aber - mit versammelter Familie, mit den Kindern, die sich mit ihren Strümpfen voller Geschenke beschäftigen, mit dem Christbaum, mit Truthahn und Plum-pudding, den Weihnachtsplätzchen und dem Schneemann draußen vor dem Fenster ...«

Hercule Poirot unterbrach ihn. Er liebte Genauigkeit.

»Um einen Schneemann zu bauen, braucht man Schnee«, sagte er mit ernster Miene. »Man kann selbst für ein wirklich englisches Weihnachtsfest keinen Schnee bestellen.«

»Ich sprach heute vormittag mit einem meiner Freunde aus dem meteorologischen Institut. Er erzählte mir, daß wir Weihnachten wahrscheinlich Schnee haben werden.«

Das hätte er nicht sagen sollen. Es schauderte Hercule Poi-rot noch heftiger als zuvor.

»Schnee auf dem Land! Das wäre ja furchtbar. Und dann noch in einem großen, uralten Herrenhaus aus Stein.«

»Das ist nicht schlimm. Es hat Zentralheizung. Man heizt mit Öl.«

»Es gibt in Kings Lacey eine Zentralheizung?« fragte Poirot.

Jesmond nutzte die Gelegenheit.

»Ja, bestimmt, es ist eine ausgezeichnete Warmwasserheizung. In jedem Schlafzimmer stehen Heizkörper. Ich versichere Ihnen, mein lieber Monsieur Poirot, Kings Lacey ist der Komfort schlechthin für den Winter. Es könnte sogar sein, daß es Ihnen zu warm wird.«

»Das ist unwahrscheinlich.«

Jesmond änderte das Thema. Erfahrung hatte ihn klug gemacht. In vertraulichem Ton fuhr er fort: »Sie können sicherlich verstehen, in welchem Dilemma wir uns befinden.«

Hercule Poirot nickte. Es war tatsächlich kein leichtes Problem ... Ein junger Thronanwärter war vor einigen Wochen nach London gekommen. Er war der einzige Sohn. Sein Vater regierte ein reiches, politisch wichtiges Land, in dem zur Zeit Unruhe und Unzufriedenheit herrschten. Obwohl die Untertanen dem Vater, der seine orientalischen Lebensgewohnheiten nicht ablegen konnte, die Treue hielten, hegten sie dem Sohn gegenüber ein gewisses Mißtrauen. Die Dummheiten, die er beging, waren kennzeichnend für seine westliche Erziehung und erregten öffentliches Mißfallen. Vor einiger Zeit hatte man seine Vermählung angekündigt. Er sollte eine Kusine heiraten. Sie war jung. Obwohl sie in Cambridge studiert hatte, vermied sie es, in ihrer Heimat westliche Einflüsse in ihrem Benehmen zu zeigen.

Nachdem der Tag der Hochzeit bekanntgegeben worden war, reiste der junge Prinz nach England. Er nahm einige berühmte Juwelen seines Hauses mit, um sie von der Firma Cartier umarbeiten zu lassen. Die Edelsteine sollten eine geeignete, moderne Fassung erhalten. Unter diesen Steinen befand sich auch ein sehr berühmter Rubin, den man aus einer schwerfälligen, altmodischen Halskette gelöst hatte. Durch die Kunst der Juweliere sollte der Stein ein völlig neues Aussehen erhalten. Soweit war alles in Ordnung. Schwierigkeiten traten erst später auf...

Daß sich ein reicher, fröhlicher, junger Mann ein paar amüsante Abenteuer leisten würde, hätte man sich denken können. Niemand hätte ihm das verübelt. Es wäre als natürlich und normal empfunden worden, wenn der Prinz mit einer Freundin die Bond Street entlanggebummelt wäre und ihr für die Freuden, die sie ihm gewährte, ein Smaragdarmband oder eine Brillantbrosche geschenkt hätte. Das entsprach den Cadillacs, die sein Vater jeweils seinen Geliebten schenkte. Der junge Prinz handelte aber viel unüberlegter. Er zeigte einer Dame, deren Interesse ihm schmeichelte, den Rubin in seiner neuen Fassung. Und der Prinz war so unklug, ihr die Bitte zu erfüllen, einen Abend lang das Schmuckstück tragen zu dürfen. Das Nachspiel war vorauszusehen und folgenschwer. Die Dame war während des Abendessens aufgestanden und hätte den Raum verlassen. Sie wollte sich angeblich nur die Nase pudern. Zeit war verstrichen, aber sie war nicht zurückgekommen. Sie hatte das Gebäude durch eine Hintertür verlassen. Seitdem war sie verschwunden - und mit ihr der Rubin.

Auf keinen Fall durfte die Öffentlichkeit davon erfahren. Der Rubin war nicht nur ein kostbares Schmuckstück, sondern besaß zusätzlich großen historischen Wert. Außerdem verlangten die Umstände, die zum Verlust des Schmuckstückes geführt hatten, daß jedes unnötige Aufsehen vermieden wurde, damit die Affäre nicht politisch schwerwiegende Konsequenzen nach sich zog.

Jesmond war nicht der Mann, der diese Tatsache kurz und bündig berichten konnte. Er packte sie in einen großen Wortschwall ein. Hercule Poirot wußte nicht, wer dieser Jesmond eigentlich war. Er erklärte auch nicht näher, ob er mit dem Innenministerium, dem Foreign Office oder irgendeinem Zweig des Staatssicherheitsdienstes in Verbindung stand. Er handelte im Interesse des Commonwealth ... Kurzum - der Rubin mußte gefunden werden!

Und Monsieur Poirot sei der einzige Mann, der ihn wiederfinden könne, erklärte Jesmond höflich und entschieden.

»Vielleicht«, gab Hercule Poirot zu, »doch die Tatsachen, die Sie mir nennen, sind nicht aufschlußreich. Mit Vermutungen oder Verdächtigungen kann ich nichts anfangen.«

»Ich bitte Sie, Monsieur Poirot, solche Umstände sind doch für Sie kein unüberwindliches Hindernis.«

»Ich habe nicht immer Erfolg.«

Diese Bescheidenheit war nur gespielt. Poirots Stimme verriet deutlich, daß die Annahme eines Auftrags für ihn auch den erfolgreichen Abschluß eines Falles bedeutete.

»Seine Hoheit sind noch sehr jung«, sagte Jesmond. »Es wäre traurig, wenn eine einzige unüberlegte Tat in der Jugend deren ganze Zukunft zerstören würde.«

Poirot betrachtete den deprimierten jungen Mann freundlich.

»In der Jugend macht man manche Dummheit«, meinte er ermutigend. »Für einen x-beliebigen jungen Mann ist dies nicht so ausschlaggebend. Der gute Vater zahlt; ein Rechtsanwalt klärt das Mißgeschick. Der junge Mann lernt aus seinen Erfahrungen, und alles führt schließlich zum Guten. Ihre Lage ist allerdings wesentlich anders. Der Termin Ihrer Vermählung steht fest...«

»Das stimmt, das stimmt genau.« Zum erstenmal redete der junge Mann. »Sie nimmt alles sehr, sehr ernst, müssen Sie wissen. Sie nimmt das Leben sehr ernst. Sie hat große Pläne in Cambridge gefaßt. Das Erziehungswesen soll in unserem Land verbessert, Schulen sollen gebaut werden. Alles soll im Namen des Fortschritts und der Demokratie geschehen, müssen Sie wissen. Sie sagt, es soll nicht so wie zu Zeiten meines Vaters bleiben. Natürlich weiß sie, daß ich mich in London vergnüge, aber sie ahnt nichts von dieser skanda-lösen Geschichte. Ein Skandal - und es wäre alles aus. Der Rubin ist nämlich sehr, sehr berühmt. An ihm hängt eine lange Geschichte... viel Blutvergießen ... viele Tote!«

»Tote«, wiederholte Hercule Poirot nachdenklich. Er schaute Jesmond an. »Ich hoffe, es wird nicht dazu kommen.«

»Nein, nein, durchaus nicht«, sagte Jesmond. Seine Stimme klang reichlich unnatürlich. »Davon kann keine Rede sein, natürlich nicht.«

»Ganz sicher kann man nie sein«, antwortete Hercule Poi-rot. »Wer jetzt den Rubin auch immer besitzen mag - so kann es doch andere geben, die ihn haben möchten und vielleicht vor nichts zurückschrecken, mein Freund.«

Jesmonds Stimme klang jetzt noch unnatürlicher als zuvor:

»Ich glaube wirklich nicht, daß wir uns darüber Gedanken zu machen brauchen. Es führt ja zu nichts.«

Hercule Poirot wurde plötzlich reserviert.

»Ich«, sagte er, »ich mache es immer wie die Politiker. Ich versuche alle Möglichkeiten zu durchdenken.«

Jesmond sah ihn zweifelnd an, riß sich auf einmal zusammen und fragte:

»Darf ich annehmen, daß wir uns einig sind, Monsieur Poirot? Sie werden nach Kings Lacey kommen?«

»Welche Gründe sollte ich dort für einen Aufenthalt angeben?« fragte Poirot.

Jesmond lächelte zuversichtlich.

»Das ist meiner Meinung nach ein sehr einfaches Problem. Ich versichere Ihnen, man wird keinen Verdacht schöpfen. Die Laceys werden Ihnen gut gefallen. Es sind ganz reizende Menschen.«

»Sie haben mich nicht belogen? Es gibt wirklich eine Öl-zentralheizung?«

»Ja, bestimmt«, antwortete Jesmond, und seine Stimme klang erleichtert. »Sie werden jeglichen Komfort finden.«

»Tout confort moderne«, murmelte Poirot vor sich hin. »Eh bien, ich nehme den Auftrag an.«

2.

Der langgestreckte Salon in Kings Lacey war angenehm warm, die Temperatur betrug zwanzig Grad Celsius. Hercule Poirot saß an einem der großen Fenster und unterhielt sich mit Mrs. Lacey. Sie war mit einer Handarbeit beschäftigt. Während sie nähte, sprach sie leise und nachdenklich. Poirot war von ihrer Stimme entzückt.

»Ich hoffe, daß Sie sich über Weihnachten bei uns wohl fühlen, Monsieur Poirot. Sie werden hier meine Familie und einige Freunde kennenlernen: meine Enkelin, meinen Enkel und dessen Freund, Bridget - sie ist meine Großnichte - und Diana, eine Kusine von mir, ferner David Welwyn, einen alten Freund von uns. Es ist ein Familienfest. Aber Edwina Morecombe sagte mir, daß Sie sich gerade das wünschen: ein altmodisches Weihnachtsfest. Niemand könnte altmodischer sein als wir. Mein Mann lebt völlig in der Vergangenheit. Er wünscht, daß alles genauso bleibt wie früher, als er zwölf Jahre alt war und seine Ferien hier verbrachte.« Sie lächelte vor sich hin. »All die alten Dinge müssen da sein: der Weihnachtsbaum, die Strümpfe, die Austernsuppe und der Truthahn, pardon - zwei Truthähne, ein gekochter und ein gegrillter, und der Plumpudding mit dem Ring und dem Junggesellenknopf und all die anderen Sachen. Wir können heute kein Sixpencestück mehr verwenden, weil es nicht mehr aus reinem Silber ist. Aber die alten Desserts wird es geben, zum Beispiel Elvas-Pflaumen, Karlsbader Pflaumen, Mandeln, Rosinen, kandierte Früchte und Ingwer. Du liebe Güte, ich rede wie ein Katalog von Fortnum & Mason.«

»Mir läuft schon bei Ihrer Aufzählung das Wasser im Munde zusammen, Madame.«

»Ich fürchte, wir werden uns bis morgen abend alle den Magen verdorben haben«, meinte Mrs. Lacey. »Heute ist man es nicht mehr gewohnt, viel zu essen, nicht wahr?«

Sie wurde durch lautes Rufen und Gelächter draußen vor dem Fenster unterbrochen. Sie schaute hinaus.

»Ich weiß nicht, was sie da draußen treiben - sicherlich irgendein Spiel oder so etwas. Wissen Sie, ich habe immer befürchtet, daß unsere Weihnachtsfeier diese jungen Leute langweilt, aber das stimmt nicht. Genau das Gegenteil ist eingetroffen. Mein Sohn, meine Tochter und deren Freunde sagen, alles andere sei Unsinn und wäre nicht so schön. Außerdem«, bemerkte Mrs. Lacey sachlich, »sind Kinder immer hungrig, besonders wenn sie zur Schule gehen, oder? Schließlich weiß man doch, daß jedes Kind in diesem Alter genausoviel ißt wie drei starke Männer.«

Poirot lachte und sagte: »Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen und Ihrem Mann, Madame, daß Sie mich in Ihren Kreis eingeladen haben.«

»Oh, wir freuen uns beide wirklich über Ihren Besuch. Und wenn Sie feststellen sollten, daß Horace ein bißchen mürrisch ist«, fuhr sie fort, »dann beachten Sie es einfach nicht. Das ist nun einmal seine Art.«

In Wirklichkeit hatte Oberst Lacey, ihr Mann, gesagt:

»Ich kann dich einfach nicht verstehen. Warum willst du, daß einer dieser verdammten Ausländer unser Weihnachtsfest stört? Warum kann er nicht zu einer anderen Zeit kommen? Ich kann Ausländer sowieso nicht ausstehen! Schon gut, schon gut, Edwina Morecombe hat ihn uns also ins Haus geschickt. Ich möchte wissen, warum sie sich eigentlich einmischt? Warum hat sie ihn nicht zu ihrem Weihnachtsfest eingeladen?«

»Weil Edwina immer zu den Claridges geht, das weißt du doch ganz genau«, hatte Mrs. Lacey geantwortet.

Ihr Mann hatte sie prüfend angesehen und gefragt: »Du planst doch wohl nicht irgend etwas, Em, oder?«

»Ich - und irgend etwas planen?« Em hatte ihn mit ihren großen blauen Augen angesehen. »Natürlich nicht. Was sollte ich denn planen?«

Der alte Oberst hatte tief und dröhnend gelacht. »Ich traue es dir glatt zu, Em. Wenn du am unschuldigsten aussiehst, hast du bestimmt etwas vor.«

Mrs. Lacey dachte an dieses Gespräch und fuhr jetzt fort: »Edwina meinte, daß Sie uns vielleicht helfen könnten ... Ich kann mir das zwar nicht vorstellen, aber Edwina erzählte, daß Sie einmal ihren Freunden in einem ähnlichen Fall geholfen haben. Ich - nun ja, Sie wissen vielleicht gar nicht, wovon ich rede?«

Poirot sah sie ermutigend an. »Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, werde ich es mit Freude tun. Wenn ich Sie recht verstehe, handelt es sich um eine recht bedauerliche Angelegenheit, um die Schwärmerei eines jungen Mädchens.«

Mrs. Lacey nickte. »Ja. Sie wundern sich vielleicht, daß ich - nun ja, mit Ihnen darüber spreche. Schließlich kenne ich Sie überhaupt nicht...«

»Und ich bin sogar noch Ausländer«, ergänzte Poirot.

»Ja«, antwortete Mrs. Lacey, »aber vielleicht macht das die Dinge leichter. Jedenfalls schien Edwina zu glauben, daß Sie möglicherweise - wie soll ich sagen - irgendwelche nützliche Auskünfte über diesen jungen Desmond Lee-Wortley geben könnten.«

Poirot antwortete nicht sofort. Er bewunderte insgeheim Mr. Jesmond, der Lady Morecombe geschickt und mühelos für seine Ziele eingespannt hatte.

»Soweit ich weiß, hat dieser junge Mann keinen guten Ruf«, meinte er taktvoll.

»Das stimmt wirklich. Er hat einen geradezu schlechten Ruf! Das hilft uns aber in Sarahs Fall nicht weiter. Es hat keinen Sinn, einem jungen Mädchen zu sagen, daß der betreffende junge Mann einen schlechten Ruf habe, stimmt das etwa nicht? Er würde nur noch interessanter werden.«

»Sie haben völlig recht.«

»Als ich jung war«, fuhr Mrs. Lacey fort,» - du liebe Güte, wie lange ist das schon her! -, wurden wir stets vor gewissen jungen Männern gewarnt, und wir interessierten uns dann natürlich noch mehr für sie ...« Sie lachte leise.

»Was macht Ihnen Sorgen?«

»Unser Sohn fiel im Krieg«, antwortete Mrs. Lacey. »Meine Schwiegertochter starb bei Sarahs Geburt. Sarah hat immer bei uns gelebt. Wir haben sie erzogen. Vielleicht haben wir sie falsch erzogen - ich weiß es nicht. Aber wir waren stets der Ansicht, daß wir ihr so viel Freiheit wie möglich lassen sollten.«

»Das ist eine lobenswerte Einstellung. Man kann nicht gegen den Strom der Zeit schwimmen.«

»Ja, so ist es. Ich habe dasselbe gedacht. Aber leider machen die Mädchen heutzutage solche Dinge mit.«

Poirot schaute sie fragend an.

»Ich glaube«, sagte Mrs. Lacey, »man kann es so bezeichnen: Sarah ist in eine Gruppe von jungen Leuten hineingeraten, die ständig in Cafes und Bars herumhocken. Sarah will weder zu Tanzveranstaltungen gehen noch in die Gesellschaft eingeführt werden, noch Debütantin oder irgend etwas in dieser Art sein. Statt dessen wohnt sie in zwei häßlichen Zimmern in Chelsea, unten am Fluß, und trägt jene merkwürdigen Kleider, die diese Leute bevorzugen, und schwarze oder knallgrüne Strümpfe dazu - sehr dicke Strümpfe. Sie müssen furchtbar kratzen, denke ich immer. Außerdem läuft sie mit schmutzigen, ungepflegten Haaren herum.«

»Das ist heute modern. Das wird sich schon wieder geben.«

»Ja, ich weiß«, antwortete Mrs. Lacey. »Ich hätte mir darüber auch keine Sorgen gemacht, aber jetzt hat sie sich mit diesem Desmond Lee-Wortley eingelassen. Er hat einen ganz schlechten Ruf. Er lebt mehr oder weniger von reichen Mädchen. Anscheinend sind sie völlig verrückt nach ihm. Er hätte beinahe die Tochter der Hopes geheiratet, aber ihre Familie ließ sie unter Amtsvormundschaft stellen. Und Horace will jetzt dasselbe tun. Aber ich halte das für keine gute Idee. Sie werden lediglich einfach nach Schottland, Irland, Argentinien und sonstwohin fliehen und dort entweder heiraten oder eine wilde Ehe führen. Das ist keine Lösung des Problems - und erst recht nicht, wenn ein Baby erwartet wird. Gibt man aber nach und die Einwilligung zur Heirat, folgt mit Sicherheit nach ein, zwei Jahren die Scheidung. Dann kommt das Mädchen wieder nach Hause, und einige Zeit später heiratet es ein zweites Mal - dann einen Mann, der so lieb ist, daß er einen langweilt. Das Mädchen kommt schließlich zur Ruhe. Aber nach meiner Meinung sind solche Fälle besonders traurig, wenn ein Kind da ist und wenn ein Stiefvater dessen Erziehung übernimmt, mag er noch so nett sein. Nein, ich glaube, es wäre viel besser, wenn man so handeln würde, wie man es in meiner Jugend tat.«

»Man glaubt immer, daß die Zeiten früher besser waren«, sagte Poirot leicht dozierend.

»Natürlich. Ich langweile Sie mit langen Reden, nicht wahr? Das sollte mir eigentlich nicht passieren. Aber trotzdem wünsche ich nicht, daß Sarah - sie ist wirklich ein liebes und gutes Mädchen - diesen Desmond Lee-Wortley heiratet. Sie und David Welwyn - er ist auch hier - waren immer gute Freunde. Sie hatten sich sehr gern. Horace und ich hofften, daß sie heiraten würden, wenn sie das Alter dazu hätten. Leider ist er jetzt völlig Luft für sie, weil sie eben in ihren Desmond verliebt ist.«

»Madame, wenn ich Sie recht verstanden habe, ist dieser Desmond Lee-Wortley hier. Er wohnt hier?«

»Ja, das war meine Idee. Horace wollte ihr verbieten, ihn wiederzusehen und so weiter. Am liebsten hätte er wie früher der Vater oder der Vormund mit einer Reitpeitsche bei dem jungen Mann einen Besuch gemacht. Ich sagte ihm aber, daß dies grundverkehrt sei. >Nein<, habe ich gesagt, >lade ihn zu uns ein. Er soll Weihnachten hier in unserer Familie verbringen.< Natürlich meinte mein Mann, daß ich verrückt sei. Aber ich habe ihm geantwortet: >Liebling, wir können es jedenfalls einmal versuchen. Sie soll ihn hier in unserem Kreis und in unserem Haus erleben. Wir werden sehr nett und sehr höflich zu ihm sein. Vielleicht erscheint er ihr dann weniger interessant.««

»Madame, ich glaube, Sie haben den Stein der Weisen entdeckt, wie man so sagt. Ihre Einstellung ist sehr klug, davon bin ich überzeugt, jedenfalls klüger als die Ihres Mannes.«

»Hoffentlich«, entgegnete Mrs. Lacey zweifelnd. »Bis jetzt steht der Beweis aus. Aber er ist ja erst seit ein paar Tagen hier.« Plötzlich lächelte sie, und ein Grübchen zeigte sich in ihrer Wange. »Ich muß Ihnen etwas gestehen, Monsieur Poirot. Ich kann mir nicht helfen, er gefällt mir. Damit will ich nicht sagen, daß mir mein Verstand dasselbe sagt, aber ich spüre sehr wohl, daß er Charme hat. O ja, ich verstehe, was Sarah an ihm findet. Aber ich bin alt genug und habe genügend Erfahrung, um zu wissen, daß er nichts taugt. Trotzdem glaube ich, daß er auch ein paar gute Seiten hat«, fügte Mrs. Lacey nachdenklich hinzu. »Er bat uns nämlich, seine Schwester mitbringen zu dürfen. Sie ist operiert worden und lag im Krankenhaus. Es sei so traurig für sie, wenn sie über Weihnachten in der Klinik bleiben müsse, meinte er. Er fragte, ob es zuviel Umstände machen würde, wenn sie mit bei uns wäre, und versprach, ihr alle Mahlzeiten selbst hochzutragen. Das finde ich zweifellos nett von ihm. Meinen Sie nicht auch, Monsieur Poirot?«

»Diese Besorgnis«, erwiderte dieser nachdenklich, »paßt kaum zu seinem Charakter.«

»Oh, ich weiß nicht. Man kann doch sehr an der Familie hängen und andererseits den Wunsch haben, ein junges reiches Mädchen zu heiraten. Sie müssen wissen, daß Sarah einmal sehr reich sein wird. Sie wird nicht nur das Geld erben, das wir ihr hinterlassen. Das wird nicht allzuviel sein, weil der größte Teil des Geldes zusammen mit diesem Besitz hier unserem Enkel Colin vermacht wird, aber Sarah wird das außerordentlich große Vermögen ihrer Mutter erben, wenn sie volljährig wird. Sie ist jetzt zwanzig Jahre alt... Nein, ich finde es wirklich nett von Desmond, daß er an seine Schwester gedacht hat. Er gab auch nicht vor, daß sie etwas Außergewöhnliches sei. Ich vermute, sie ist Stenotypistin. Außerdem hat er sein Wort gehalten. Er trägt stets das Essen zu ihr hoch, natürlich nicht immer, aber doch meistens. Daher glaube ich, daß er auch seine guten Seiten hat. Trotzdem will ich nicht, daß Sarah ihn heiratet.«

»Nach dem, was ich gehört habe und was mir berichtet worden ist, wäre es tatsächlich ein Unglück«, meinte Poirot.

»Glauben Sie, daß Sie uns helfen können?«

»Ich denke schon, aber ich will nicht zuviel versprechen, denn Leute wie Lee-Wortley gehen bestimmt raffiniert vor, Madame. Verzweifeln Sie nicht. Vielleicht läßt sich etwas machen. Auf alle Fälle werde ich mein Bestes versuchen, schon aus Dankbarkeit. Sie waren so liebenswürdig, mir zu erlauben, das Weihnachtsfest bei Ihnen zu verbringen.« Er sah sich um. »Hoffentlich wird die Festtagsstimmung nicht beeinträchtigt.«

»Ja«, seufzte Mrs. Lacey und beugte sich vor. »Wissen Sie, Monsieur Poirot, wovon ich schon lange träume - ich meine, was ich mir wünsche?«

»Es würde mich interessieren, Madame.«

»Ich wünsche mir einen Bungalow, so ein kleines, modernes Haus, das leicht in Ordnung zu halten ist und hier im Park steht, das eine moderne Küche und keine langen Korridore hat, in dem alles bequem und einfach ist.«

»Das ist eine gute Idee, Madame.«

»Nein, für mich nicht. Mein Mann liebt unser Haus über alles. Er lebt ausgesprochen gern hier. Ihm macht es nichts aus, wenn es für ihn unbequem und unpraktisch ist. Er fände es abscheulich, in einem Bungalow leben zu müssen.«

»Sie ordnen sich also seinen Wünschen unter?«

Mrs. Lacey richtete sich auf.

»Ich ordne mich nicht unter, Monsieur Poirot. Ich habe meinen Mann mit dem Wunsch geheiratet, ihn glücklich zu machen. Er war mir immer ein guter Ehemann und hat mich all die Jahre hindurch glücklich gemacht.«

»Sie werden also weiter hier wohnen bleiben?«

»So ungemütlich ist es nun auch wieder nicht.«

»Nein, nein«, sagte Poirot hastig. »Im Gegenteil, es ist sehr gemütlich hier. Ich bin ganz begeistert von Ihrer Zentralheizung und dem warmen Wasser im Bad.«

»Wir haben eine Menge Geld ausgegeben, um dieses Haus gemütlich zu machen. Wir haben ein Stück Land verkauft. Es war baureif und brachte einen guten Erlös.«

»Aber woher nehmen Sie das Personal, Madame?«

»Das Problem ist leichter zu lösen, als Sie glauben. Natürlich wurde man früher besser bedient als heute. Aber aus dem Dorf kommen verschiedene Leute, die mir helfen. Zwei Frauen kommen morgens, zwei kochen das Mittagessen und waschen ab, und ein paar andere sind abends da. Die Frauen kommen gern, weil sie nur ein paar Stunden am Tag arbeiten. Zu Weihnachten haben wir besonderes Glück. Meine liebe Mrs. Ross kommt jedes Jahr und hilft uns. Sie ist eine großartige Köchin - sie kocht ganz erstklassig. Vor zehn Jahren gab sie ihre Stelle bei uns auf, aber sie hilft weiterhin aus. Und dann haben wir das Prachtstück Peverell.«

»Ihren Butler?«

»Ja. Er ist pensioniert und wohnt in dem kleinen Häuschen in der Nähe der Portierwohnung. Er liebt uns so, daß er uns zu Weihnachten regelmäßig bedient. Er besteht darauf. Dabei ist er schon alt und gebrechlich. Ich bilde mir immer ein, daß er einmal alles, was er gerade trägt, fallen läßt. Es ist eine Qual, ihm zusehen zu müssen ...« Sie lächelte Poirot zu. »Sie sehen also, wir sind alle bereit, ein schönes Weihnachtsfest zu verleben. Ein weißes Weihnachten sogar«, fügte sie hinzu, als sie zum Fenster hinausschaute. »Sehen Sie! Es beginnt zu schneien. Ah, die Kinder kommen herein. Sie müssen sie kennenlernen, Monsieur Poirot.«

Ihm wurde mit angemessener Höflichkeit zuerst Colin, dann Michael vorgestellt. Colin war der Enkel, er ging noch zur Schule, und Michael war sein Freund. Der erstere war dunkel, der zweite blond; beide waren höfliche, fünfzehnjährige Burschen. Dann wurde er Bridget, der schwarzhaarigen Kusine, vorgestellt. Sie war ungefähr genauso alt wie die beiden Jungen und strotzte vor Vitalität.

»Und dies ist meine Enkelin Sarah«, sagte Mrs. Lacey.

Poirot betrachtete Sarah interessiert. Sie war attraktiv mit ihrem dichten roten Haarschopf. Er hatte den Eindruck, daß sie frech und ein bißchen trotzig war, aber gleichzeitig spürte man auch, daß sie ihre Großmutter sehr gern hatte.

»Und dies ist Mr. Lee-Wortley.«

Lee-Wortley trug eine Anglerjacke und enge schwarze Jeans. Sein Haar war ziemlich lang. Man konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er sich morgens rasiert hatte. Im Gegensatz zu Lee-Wortley sah der stille junge Mann, der als David Welwyn vorgestellt wurde, solide aus. Er lächelte freundlich und schien offensichtlich der Seife und dem Wasser sehr zugetan zu sein. Außerdem gehörte zu der Gruppe noch ein hübsches, etwas exaltiertes Mädchen, Diana Middleton.

Der Tee wurde aufgetragen, dazu eine Menge Teegebäck, Teekuchen, belegte Brote und drei verschiedene Kuchensorten. Die jüngere Generation bediente sich ungeniert. Oberst Lacey kam als letzter herein. Seine Frau reichte ihm eine Tasse. Er nahm sich zwei Teekuchen, warf Desmond Lee-Wortley einen Blick zu, der seine Abneigung keineswegs verhehlte, und setzte sich so weit wie möglich von ihm fort. Der Oberst war ein stattlicher Mann. Seine Augenbrauen waren buschig und sein Gesicht verwittert. Man hätte ihn eher für einen Bauern als für den Herrn dieses Landgutes gehalten.

»Hat zu schneien angefangen«, murmelte er. »Wir werden voraussichtlich weiße Weihnachten bekommen.«

Nach der Teestunde ging die Gesellschaft auseinander. »Sie werden sich jetzt mit ihren Schallplatten beschäftigen, vermute ich«, sagte Mrs. Lacey zu Poirot.

Voller Nachsicht blickte sie ihrem Enkel nach, als er aus dem Zimmer ging.

»Sie interessieren sich nur noch für technische Dinge«, fuhr sie fort.

Die Jungen und Bridget beschlossen aber, zum See zu gehen. Sie wollten feststellen, ob die Eisdecke schon zum Schlittschuhlaufen taugte.

»Wir wollten schon heute morgen Schlittschuh laufen«, sagte Colin, »aber der alte Hodgkins verbot es. Der ist immer so schrecklich vorsichtig.«

»Komm, David, gehen wir spazieren«, schlug Diana Middleton mit sanfter Stimme vor.

David zögerte. Seine Blicke hingen an Sarahs rotem Haar. Sie stand bei Desmond Lee-Wortley. Ihre Hand lag auf seinem Arm, sie sah zu ihm auf.

»Gut!« antwortete David Welwyn. »Ja, gehen wir!«

Diana hakte sich schnell bei ihm unter. Beide gingen auf die Tür zu, die in den Garten führte.

Sarah fragte: »Sollen wir auch gehen, Desmond? Es ist im Hause ziemlich stickig.«

»Wer will schon Spazierengehen? Ich hole das Auto. Wir fahren zum Gasthaus >Speckled Boar< und trinken etwas.«

Desmond hob fragend den Kopf.

»Laß uns lieber nach Market Ledbury in die Bar vom >White Hart< fahren. Da ist es viel lustiger«, antwortete Sarah.

Mit Desmond in der Dorfwirtschaft gesehen zu werden, gefiel Sarah instinktiv nicht, obwohl sie das auf keinen Fall laut ausgesprochen hätte. Die Tradition von Kings Lacey erlaubte es nicht. Sie würde die beiden Alten sehr enttäuschen, wenn sie trotzdem dorthin ginge. Es war schon großzügig von ihnen, daß sie ihr eigenes Leben führen durfte, obwohl beide nicht im geringsten verstanden, warum sie in diesem Stil in Chelsea leben wollte. Aber sie akzeptierten es. Das lag natürlich an Em. Der Großvater hätte von sich aus kurzen Prozeß gemacht. Sarah machte sich über dessen Einstellung keine Illusionen. Es war auch nicht seine Idee gewesen, Desmond nach Kings Lacey einzuladen, sondern Ems.

Während Desmond das Auto holte, informierte Sarah Mrs. Lacey: »Wir fahren nach Market Ledbury. Wir möchten gern im >White Hart< etwas trinken.«

Ein Anflug von Trotz lag in ihrer Stimme, aber Mrs. Lacey bemerkte es scheinbar nicht.

»Gut, Liebling«, sagte sie. »Das wird sicherlich nett werden. David und Diana sind, soviel ich weiß, spazierengegangen. Ich bin recht froh darüber. Ich glaube, das war ein Geistesblitz, als ich auf die Idee kam, Diana einzuladen. Wie traurig, daß sie schon mit einundzwanzig Witwe geworden ist. Hoffentlich heiratet sie bald wieder.«

Sarah sah sie mit einem durchdringenden Blick an.

»Was ist los, Em?«

»Ich habe einen kleinen Plan«, antwortete Mrs. Lacey fröhlich. »Ich glaube, sie paßt genau zu David. Ich weiß natürlich, daß er fürchterlich in dich verliebt gewesen ist, liebe Sarah, aber du kannst ja nichts mehr mit ihm anfangen, weil er nun einmal nicht dein Typ ist. Ich möchte ihn gern wieder glücklich sehen, und ich glaube, Diana paßt gut zu ihm.«

»Was bist du für eine Kupplerin, Em!«

»Ich weiß. Alte Frauen sind das immer. Mir scheint, Diana hat schon ein Auge auf ihn geworfen. Glaubst du nicht auch, daß sie genau die Richtige für ihn ist?«

»Ich würde das nicht behaupten. Diana ist viel zu - nun ja, zu exaltiert, viel zu humorlos. Wenn er mit ihr verheiratet ist, wird er sich meiner Meinung nach schrecklich langweilen.«

»Na ja, wir werden es ja sehen. Du willst ihn doch auf keinen Fall mehr, Liebling, oder?«

»Nein, wirklich nicht«, gab Sarah schnell zur Antwort. Dann fragte sie plötzlich unvermittelt: »Desmond gefällt dir doch, nicht wahr, Em?«

»Er ist charmant, ja, ja«, antwortete Mrs. Lacey.

»Großvater mag ihn nicht.«

»Nein, das kannst du wohl kaum von ihm erwarten. Aber er wird sich ändern, wenn er sich erst einmal an die Tatsache gewöhnt hat. Du darfst ihn nur nicht drängen, meine liebe Sarah. Alte Leute ändern ihre Meinung nur langsam, und dein Großvater ist dazu noch halsstarrig.«

»Was Großvater denkt oder sagt, ist mir egal. Ich heirate Desmond, wenn es mir gefällt.«

»Ich weiß, Liebes, ich weiß ... Aber sei doch einmal realistisch! Dein Großvater könnte dir viele Steine aus dem Weg räumen, das weißt du ja wohl. Außerdem bist du noch nicht volljährig. In einem Jahr kannst du erst tun und lassen, was du willst. Dann hat auch Horace nichts mehr dagegen.«

»Du bist auf meiner Seite, nicht wahr?« fragte Sarah.

»Ich möchte, daß du glücklich wirst«, entgegnete Mrs. Lacey. »Ah, da kommt ja der junge Mann mit dem Auto. Weißt du, ich mag diese engen Hosen, die die Männer heutzutage tragen. Sie sehen sehr schick aus - aber sie betonen natürlich auch X-Beine.«

Ja, erschrak Sarah, Desmond hat ja X-Beine. Sie hatte es bisher noch nicht bemerkt.

»Geh nun, Liebling, und amüsiere dich gut!«

Mrs. Lacey blickte Sarah nach, wie sie zum Auto ging. Dann erinnerte sie sich an ihren Gast aus dem Ausland und ging in die Bibliothek. Als sie zur Tür hineinschaute, sah sie allerdings, daß Hercule Poirot eingeschlummert war. Sie lächelte vor sich hin, während sie durch die Halle in die Küche ging, um noch einiges mit Mrs. Ross zu besprechen.

»Komm, Süße!« sagte Desmond. »Macht deine Familie Theater, weil du mit mir in ein Lokal gehen willst? Die sind hier Jahre zurück, was?«

»Nein, sie machen kein Theater«, antwortete Sarah gereizt, während sie ins Auto stieg.

»Was will dieser Ausländer hier? Er ist Detektiv, nicht wahr? Was will ein Detektiv hier?«

»Er ist nicht beruflich hier. Edwina Morecombe, meine Patentante, hat uns gebeten, ihn aufzunehmen. Ich glaube, er hat sich schon lange von seinem Beruf zurückgezogen.«

»Klingt, als ob er ein ausgedienter alter Droschkengaul wäre.«

»Ich glaube, er möchte ein altenglisches Weihnachtsfest miterleben«, erklärte Sarah nicht gerade überzeugend.

Desmond lachte verächtlich.

»So ein Quatsch! Ich frage mich nur, wie du so ein Weihnachten aushalten kannst.«

Sarah warf ihr rotes Haar zurück, und ihr energisches Kinn schob sich vor.

»Mir gefällt es!« Trotzig stieß sie die Worte hervor.

»Nein, Baby, es kann dir nicht gefallen. Morgen machen wir Schluß. Wir fahren nach Scarborough oder sonstwohin.«

»Unmöglich.«

»Warum denn?«

»Ich würde sie verletzen.«

»Fauler Zauber! Dir macht doch dieser kindische, sentimentale Blödsinn im Grunde auch keinen Spaß.«

»Nun ja, im Grunde vielleicht nicht, aber ...«

Sie fühlte sich schuldig, weil ihr bewußt wurde, daß sie Weihnachten aufrichtig herbeisehnte. Es war ein schönes Fest, aber sie schämte sich, es Desmond gegenüber einzugestehen. Mit diesem Schuldgefühl konnte sie das Fest und das Familienleben nicht genießen. Einen Augenblick lang wünschte sie, Desmond wäre jetzt nicht hier. Sie wünschte sich tatsächlich, daß Desmond niemals hergekommen wäre. Es war für sie schöner, Desmond in London zu sehen, nicht aber hier zu Hause.

Inzwischen waren die Jungen und Bridget wieder vom See zurückgekehrt. Sie diskutierten noch ernsthaft über die Probleme, die das Schlittschuhlaufen mit sich brachte. Ab und zu hatte es geschneit.

»Es wird die ganze Nacht schneien«, prophezeite Colin. »Ich wette, der Schnee wird bis zum Weihnachtsmorgen viele Zentimeter hoch liegen.«

Das war eine erfreuliche Aussicht.

»Wir bauen einen Schneemann«, schlug Michael vor.

»Guter Gott«, antwortete Colin, »ich habe zum letztenmal einen Schneemann gebaut, als ich vier Jahre alt war.«

»Ich fürchte, das ist ziemlich schwierig«, meinte Bridget.

»Wir könnten Monsieur Poirot kopieren«, schlug Colin vor. »Einen schwarzen Schnurrbart bekommt er. In der Frisierkommode ist einer.«

»Weißt du, ich kann mir nicht vorstellen, daß Monsieur Poirot mal Detektiv gewesen ist. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, daß er sich verkleiden könnte«, sagte Michael nachdenklich.

»Das stimmt«, pflichtete Bridget bei, »man kann sich nicht vorstellen, daß er mit einem Mikroskop herumläuft, Spuren sucht oder Fußabdrücke ausmißt.«

»Ich habe eine Idee«, sagte Colin. »Wir können für ihn eine Schau abziehen.«

»Was willst du damit sagen?« fragte Bridget.

»Wir inszenieren einen Mord für ihn.«

»Das ist eine großartige Idee!» rief Bridget aus. »Meinst du eine Leiche im Schnee oder so etwas Ähnliches?«

»Ja. Er würde sich dann bei uns wie zu Hause fühlen, oder?«

Bridget kicherte.

»Ich weiß nicht, ob ich es so weit treiben würde.«

»Wenn es schneit«, sagte Colin, »haben wir einen idealen Rahmen für das Ganze. Eine Leiche und Fußspuren ... Wir müssen uns alles sorgfällig überlegen. Wir müssen einen Dolch aus Großvaters Sammlung stehlen und ein bißchen Blut herbeischaffen.«

Sie blieben stehen und begannen hitzig zu diskutieren. Sie bemerkten dabei gar nicht, daß es heftig zu schneien anfing.

»Im alten Klassenzimmer liegt noch ein Farbkasten. Damit könnten wir Blut mischen; am besten mit Karmesinrot.«

»Ich glaube, daß Karmesinrot zu hell ist«, meinte Bridget. »Die Farbe müßte dunkler sein.«

»Wer will die Leiche sein?« fragte Michael.

»Ich bin die Leiche«, antwortete Bridget schnell.

»Hör mal zu«, sagte Colin, »ich bin die Leiche.«

»Nein, auf keinen Fall. Ich bin richtig dafür. Es muß ein Mädchen sein ... Ein schönes Mädchen liegt leblos im Schnee!«

»Ein schönes Mädchen! Ha-ha«, lachte Michael spöttisch.

»Ich habe sogar schwarzes Haar.«

»Was hat das damit zu tun?«

»Nun ja, das sieht im Schnee besonders gut aus, und ich werde meinen roten Schlafanzug anziehen.«

»Wenn du einen roten Schlafanzug anhast, kann man die Blutflecken nicht sehen«, widersprach Michael.

»Aber der Anzug hat weiße Aufschläge, darauf könnte doch das Blut sein. Wäre das nicht großartig? Glaubst du wirklich, daß er darauf hereinfällt?«

»Er fällt darauf herein, wenn wir es richtig machen«, antwortete Michael. »Deine Fußspuren werden im Schnee sein und die einer anderen Person. Die Spuren führen bis zur Leiche, dann zweigen sie ab - natürlich sind das die Spuren eines Mannes. Poirot wird die Spuren nicht verwischen wollen, deshalb wird er auch nicht merken, daß du gar nicht tot bist. Glaubt ihr das etwa nicht?«

Abrupt unterbrach er sich. Ihm war plötzlich etwas eingefallen. Die anderen schauten ihn an.

»Glaubt ihr, daß er sich darüber ärgern wird?«

»Oh, das glaube ich nicht«, sagte Bridget unbekümmert und optimistisch. »Er wird es nicht falsch auffassen, bestimmt nicht. Wir haben es halt getan, um ihn zu unterhalten. Es ist für ihn eine Weihnachtsüberraschung.«

»Ich meine aber, wir sollten uns nicht gerade den ersten Weihnachtstag aussuchen«, sagte Colin nachdenklich.

»Dann machen wir es also am zweiten Weihnachtsfeiertag«, schlug Bridget vor.

»Der Tag ist genau richtig«, stimmte Michael zu.

»Dann haben wir auch mehr Zeit«, fuhr Bridget fort. »Schließlich müssen wir doch eine Menge vorbereiten. Kommt, gehen wir, und schauen wir uns mal das nötige Zubehör an.«

Sie liefen ins Haus.

Am Weihnachtsabend ging es geschäftig zu. Man hatte große Mengen von Stechpalmenzweigen und Mistelzweigen ins Haus gebracht. Der Weihnachtsbaum stand in der Ecke des Eßzimmers. Jeder half beim Schmücken. Die Stechpalmenzweige wurden hinter die Gemälde gesteckt, und die Mistelzweige an den passenden Stellen in der Vorhalle aufgehängt.

»Ich wußte gar nicht, daß man noch so albern sein kann«, murmelte Desmond verächtlich.

»Wir haben es immer so gemacht«, verteidigte Sarah sich.

»Was heißt das schon.«

»Sei nicht so garstig, Desmond. Mir macht es Spaß.«

»Sarah, meine Süße, das meinst du doch nicht im Ernst.«

»Doch, vielleicht - vielleicht nicht ganz im Ernst, aber irgendwie ein bißchen schon.«

»Wer will trotz des Schnees zur Mitternachtsmette gehen?« fragte Mrs. Lacey zwanzig Minuten vor zwölf.

»Ich nicht«, antwortete Desmond. »Komm, Sarah!«

Er legte seine Hand auf ihren Arm und führte sie in die Bibliothek zum Plattenspieler.

»Alles hat seine Grenzen, Liebling«, sagte Desmond. »Mitternachtsmette!«

»Du hast recht. Ja, da hast du recht.«

Fast alle anderen machten sich zum Kirchgang fertig. Unter lautem Gelächter und mit viel Getrampel zogen sie sich die Mäntel an und verließen das Haus. Bridget, David und Diana gingen zu Fuß zur Kirche, die zehn Minuten entfernt lag. Es schneite. Ihr Lachen verklang in der Ferne.

»Mitternachtsmette!« schnaubte Oberst Lacey verächtlich.

»Bin niemals in meiner Jugend zur Mitternachtsmette gegangen. Alles Mist! Pfaffenzeug! Entschuldigen Sie bitte, Monsieur Poirot.« Poirot winkte ab.

»Das ist ganz in Ordnung. Auf mich brauchen Sie keine Rücksicht zu nehmen.«

»Ich meine, die Frühmette ist genug für alle«, fuhr der Oberst fort. »Ein ordentlicher Gottesdienst am Weihnachtsmorgen und dann zurück zum Essen. Das ist das einzig Wahre, stimmt's, Em?«

»Ja, Liebling. Wir halten es so, aber der jungen Generation gefällt eben die Mitternachtsmette. Ich finde es schön, wenn sie hingehen.«

»Sarah und dieser Bursche wollen nicht gehen.«

»Mein Bester, ich glaube, da täuschst du dich. Sarah würde schon gehen, das weißt du ganz genau, aber sie traut sich nicht, es zuzugeben.«

»Ihr könnt mich schlagen; ich verstehe trotzdem nicht, warum sie etwas auf die Meinung dieses Burschen gibt.«

»Sie ist noch jung«, antwortete Mrs. Lacey besänftigend. »Sie wollen schlafen gehen, Monsieur Poirot? Gute Nacht. Ich hoffe, Sie werden gut schlafen.«

»Und Sie, Madame, gehen Sie noch nicht zu Bett?«

»Noch nicht. Wissen Sie, ich muß noch die Weihnachtsstrümpfe füllen. Die Kinder sind zwar schon erwachsen, ihre Strümpfe wollen sie aber nicht missen.«

»Sie geben sich wirklich viel Mühe, damit zu Weihnachten alle glücklich sind. Ich bewundere Sie.«

Poirot küßte ihr höflich die Hand.

»Hm«, brummte Oberst Lacey, als Poirot gegangen war. »Liebt galante Gesten. Immerhin - er verehrt dich.«

Mrs. Lacey schaute ihn kokett an.

»Merkst du nicht, daß ich unter einem Mistelzweig stehe?« fragte sie mit der scheuen Zurückhaltung eines neunzehnjährigen Mädchens.

Hercule Poirot betrat sein Schlafzimmer. Es war groß und gut geheizt. Als er auf das große Himmelbett zuging, sah er auf dem Kissen einen Briefumschlag liegen. Er öffnete ihn und zog ein Stück Papier heraus. In krakeliger Schrift und Großbuchstaben stand darauf:

ESSEN SIE NICHTS VON DEM PLUMPUDDING!

JEMAND, DER ES GUT MIT IHNEN MEINT.

Hercule Poirot starrte auf den Zettel. Er zog die Augenbrauen hoch.

»Seltsam«, murmelte er, »damit habe ich nicht gerechnet.«

4.

Um zwei begann das Weihnachtsessen. Es war ein festliches Mahl. Riesige Holzscheite knisterten im großen Kamin. Alle sprachen gleichzeitig. Von der Austernsuppe blieb nichts übrig. Zwei riesige Truthähne wurden als Gerippe wieder abserviert. Und dann - der Höhepunkt des Festessens! Der wunderbar garnierte Weihnachtspudding wurde hereingetragen ...

Dem alten, achtzigjährigen Peverell zitterten Hände und Knie vor Altersschwäche, aber er erlaubte niemand anderem, den Pudding zu servieren. Das war sein Privileg! Mrs. Lacey saß nervös mit ängstlich zusammengepreßten Händen da.

Der Weihnachtspudding ruhte wie ein großer Fußball in seiner ganzen Herrlichkeit auf einer Silberplatte. Ein kleiner Mistelzweig steckte, einer Siegesfahne gleich, oben in dem Pudding. Wunderbar rote und blaue Flämmchen züngelten an ihm empor.

Mrs. Lacey hatte eins erreicht: Peverell durfte den Plum-pudding nicht mehr herumreichen, sondern mußte ihn vor ihr niedersetzen, so daß sie ihn selbst austeilen konnte. Erleichtert seufzte sie auf, als die Platte sicher vor ihr stand. Schnell wurden die Teller gefüllt und weitergereicht.

»Wünschen Sie sich was, Monsieur Poirot«, rief Bridget. »Wünsch dir was, bevor die Flämmchen ausgehen -schnell, Opa, schnell!«

Mrs. Lacey lehnte sich zufrieden zurück. Das Unternehmen »Pudding« war ein voller Erfolg. Vor jedem stand eine Portion Plumpudding, an dem die Flämmchen noch leckten. Stille herrschte einen Augenblick lang am Tisch, weil sich jeder intensiv etwas wünschte. Niemand nahm Poirots seltsamen Gesichtsausdruck wahr, als er seine Portion auf dem Teller betrachtete.

»Essen Sie nichts von dem Pudding!« Was um alles in der Welt sollte diese unheilvolle Warnung bedeuten? Seine Portion sah genauso wie die anderen Portionen aus. Mit einem Seufzer griff er zu Löffel und Gabel. Obwohl Hercule Poirot sich eine Verwirrung niemals gern eingestand, mußte er es diesmal tun. Er war tatsächlich verwirrt.

»Mögen Sie steife Creme, Monsieur Poirot?«

Poirot bediente sich reichlich.

»Hast mir wieder meinen guten Kognak stibitzt, Em?« fragte der Oberst gutgelaunt vom anderen Ende des Tisches her. Mrs. Lacey zwinkerte ihm zu.

»Mrs. Ross will nur besten Branntwein verwenden, Liebling. Sie sagt, davon hängt alles ab.«

»Ist schon gut. Es ist nur einmal im Jahr Weihnachten, und Mrs. Ross ist eine hervorragende Köchin.«

»Das stimmt wirklich«, sagte Colin. »Der Plumpudding schmeckt wundervoll - hm.«

Er stopfte sich genießerisch ein neues Stück Pudding in den Mund. Zaghaft, fast zimperlich nahm Poirot seinen Pudding in Angriff. Er aß einen Löffel voll. Es schmeckte herrlich! Er aß einen zweiten Löffel voll. Leise klappernd fiel etwas auf seinen Teller. Er untersuchte es mit der Gabel. Bridget - sie saß links von ihm - half ihm dabei.

»Sie haben da etwas, Monsieur Poirot«, sagte sie. »Ich bin gespannt, was es ist.«

Poirot löste etwas Kleines, Silbernes aus den Rosinen heraus, die daran klebten.

»Monsieur Poirot hat den Junggesellenknopf!« rief Bridget.

Hercule Poirot tauchte den kleinen Silberknopf in das Wasserschälchen, das neben seinem Teller stand, und wusch die Krumen ab.

»Der Knopf ist sehr hübsch«, stellte er fest.

»Das bedeutet, daß Sie Junggeselle bleiben, Monsieur Poirot«, erklärte ihm Colin hilfsbereit.

»Ich habe auch nichts anderes vor«, antwortete Poirot ernst. »Seit vielen langen Jahren bin ich Junggeselle, und es ist unwahrscheinlich, daß sich dieser Zustand ändern wird.«

»Nur nicht verzweifeln«, erklärte Michael. »Ich habe in der Zeitung gelesen, daß neulich ein Fünfundneunzigjähriger ein zweiundzwanzigjähriges Mädchen geheiratet hat.«

»Du machst mir Mut.«

Plötzlich schrie Oberst Lacey auf. Sein Gesicht lief dunkelrot an. Er griff sich an den Mund.

»Verdammt noch mal, Emmeline!« brüllte er. »Warum zum Donnerwetter erlaubst du der Köchin, Glas in meine Portion zu tun?«

»Glas?« rief Mrs. Lacey erstaunt aus. Oberst Lacey holte den Gegenstand seines Ärgers aus dem Mund.

»Hätte mir einen Zahn ausbrechen können«, schnauzte er. »Oder hätte das verdammte Ding verschlucken und eine Blinddarmentzündung bekommen können.« Er ließ das Glasstück in sein Wasserschälchen fallen, spülte es ab und hielt es hoch. »Es ist ein roter Stein aus einem Knallbonbon.«

»Erlauben Sie?«

Monsieur Poirot beugte sich sehr geschickt an seinem Nachbarn vorbei, nahm Oberst Lacey den Stein aus der Hand und untersuchte ihn aufmerksam. Es stimmte, was der Hausherr gesagt hatte. Der Stein war ziemlich groß und rot. Er hatte die Farbe eines Rubins. Während Poirot ihn herumdrehte, reflektierte der Stein funkelnd das Licht. Ein Stuhl wurde irgendwo am Tisch hart zurückgestoßen und dann wieder herangezogen.

»Puh!« rief Michael aus. »Wär das prima, wenn der Stein echt wäre.«

»Vielleicht ist er echt«, antwortete Bridget hoffnungsvoll.

»Sei kein Esel, Bridget. Ein Rubin in dieser Größe würde viele tausend Pfund kosten, nicht wahr, Monsieur Poirot?«

»Ja, das stimmt.«

»Aber ich kann wirklich nicht begreifen, wie der Stein in den Pudding gekommen ist«, erregte sich Mrs. Lacey.

»Ach«, rief Colin aus, den sein letztes Stück Pudding ablenkte. »Ich habe das Schwein bekommen. Das ist nicht fair.«

Bridget sang sofort los: »Colin hat das Schwein bekommen. Colin hat das Schwein bekommen. Colin ist ein gieriges, verfressenes Schwein!«

»Ich habe den Ring«, rief Diana. Ihre Stimme war hoch und hell.

»Du hast Glück, Diana. Du wirst also als erste von uns heiraten.«

»Und ich habe den Fingerhut«, jammerte Bridget.

»Bridget wird eine alte Jungfer«, sangen die beiden Jungen. »Hoho, Bridget wird eine alte Jungfer!«

»Wer hat das Geld bekommen?« fragte David. »Ein echtes Zehnshillinggoldstück ist im Pudding. Ich weiß es ganz genau, Mrs. Ross hat es mir erzählt.«

»Ich glaube, ich bin der Glückliche«, sagte Desmond Lee-Wortley.

Die beiden Tischnachbarn von Oberst Lacey hörten ihn murmeln: »Ja, das bist du.«

»Ich habe auch einen Ring«, erklärte David. Er schaute zu Diana hinüber. »Ist das nicht ein Zufall?«

Das Lachen hörte nicht auf. Niemand bemerkte, daß Monsieur Poirot unbekümmert und scheinbar gedankenlos den roten Stein in seine Tasche gleiten ließ. Nach dem Pudding gab es einen festlichen Nachtisch und mehrere süße Fleischpasteten. Danach zog sich die ältere Generation zurück, um ihr Ruhestündchen zu halten, bevor alle zum Tee gebeten und die Christbaumkerzen angezündet wurden. Hercule Poirot hielt keinen Mittagsschlaf, statt dessen stattete er der riesigen, altmodischen Küche einen Besuch ab.

»Ist es erlaubt«, fragte er, während er strahlend umherschaute, »der Köchin zu diesem ausgezeichneten Mahl, das ich soeben genossen habe, zu gratulieren?«

Einen Augenblick lang geschah gar nichts. Dann kam Mrs. Ross und begrüßte ihn würdevoll. Sie war groß und stattlich.

»Ich freue mich, daß es Ihnen geschmeckt hat«, sagte sie wohlwollend.

»Und wie, ausgezeichnet!« rief Hercule Poirot aus. »Sie sind tatsächlich ein Genie, Mrs. Ross. Ein Genie! Ich habe noch niemals ein solch wunderbares Essen gegessen. Die Austernsuppe -«, seine Lippen formten einen Laut der Anerkennung, »- und die Füllung. Die Kastanienfüllung in dem Truthahn war einzigartig, geradezu ein Erlebnis.«

»Ich freue mich, daß gerade Sie das sagen«, erklärte Mrs. Ross freundlich. »Die Füllung ist nach einem besonderen Rezept gemacht. Ein österreichischer Chefkoch, mit dem ich viele Jahre zusammengearbeitet habe, hat mir dieses Rezept verraten. Aber alles andere«, fügte sie hinzu, »ist alte englische Küche.«

»Gibt es überhaupt etwas Besseres?«

»Nun ja, daß Sie das sagen, ist sehr nett von Ihnen. Sie sind Ausländer, vielleicht hätten Sie kontinentale Küche vorgezogen. Derartige Gerichte gelingen mir allerdings nicht recht.«

»Ich bin sicher, Mrs. Ross, daß Ihnen alles gelingt. Sie wissen doch, daß die gute englische Küche, wie man sie in erstklassigen Restaurants findet, von Feinschmeckern auf dem Kontinent sehr geschätzt wird. Und der Plumpudding, den ich heute gegessen habe, war wirklich einmalig. Sie haben ihn selbst gemacht, nicht wahr? Er ist doch nicht etwa gekauft worden?«

»Natürlich nicht. Ich habe ihn allein gemacht nach meinem eigenen Rezept. Ich mache ihn schon seit vielen Jahren so. Als ich kam, sagte Mrs. Lacey, daß sie in einem Londoner Geschäft einen Pudding bestellt hätte, um mir die Mühe zu ersparen. >Aber nein, Madame<, habe ich damals gesagt, >das ist zwar sehr freundlich von Ihnen gemeint, aber es geht nichts über einen hausgemachten Plumpudding. < Wohlgemerkt, der Pudding wurde zu spät vor dem Fest zubereitet«, erläuterte Mrs. Ross, die sich als wahre Künstlerin auf diesem Gebiet immer mehr über diese Frage verbreitete. »Ein guter Pudding sollte schon Wochen vor dem Fest fertig sein. Je älter er ist, um so besser. In diesem Jahr hätte es genauso sein sollen. Der Pudding wurde aber in Wirklichkeit erst drei Tage vor dem Fest gemacht - genau einen Tag bevor Sie zu uns kamen. Ich hielt mich jedoch an den alten Brauch. Jeder mußte in die Küche kommen, den Teig einmal umrühren und sich dabei etwas wünschen.«

»Sehr interessant«, sagte Poirot, »sehr interessant! Es kam also jeder in die Küche?«

»Ja, der junge Herr und Bridget und der junge Herr aus London, der jetzt hier wohnt, auch seine Schwester und Mr. David und Miss Diana - Mrs. Middleton, wollte ich sagen.

Und alle rührten.«

»Wie viele Puddings haben Sie zubereitet? Ist das der einzige?«

»Nein, ich habe vier gemacht: zwei große und zwei kleinere. Den anderen großen Pudding gibt es zu Neujahr und die zwei kleineren sind für Oberst Lacey und seine Frau, wenn sie wieder allein sind und die Familie wieder kleiner geworden ist.«

»Ich verstehe.«

»Sie haben übrigens heute beim Mittagessen den falschen Pudding bekommen.«

»Den falschen Pudding?« Poirot runzelte die Stirn. »Wieso das?«

»Ja - wir bewahren den Weihnachtspudding in einer großen Kuchenform aus Porzellan auf. Obendrauf ist ein Stechpalmen- und Mistelzweigmotiv. Der Weihnachtspudding wird immer in dieser Form gekocht, aber heute morgen passierte ein Unglück. Als Annie die Form vom Bord in der Vorratskammer holte, rutschte sie aus. Sie ließ die Form fallen, und die Schüssel zerbrach. Ich konnte natürlich den Pudding nicht servieren lassen, es hätten ja Splitter darin sein können. Also mußten wir den anderen Pudding nehmen - den für Neujahr, der in einer ganz normalen Schüssel lag. Die Schüssel gibt dem Pudding eine schöne runde Form, aber sie ist nicht so dekorativ wie die Weihnachtspuddingform. Ich weiß wirklich nicht, wo wir eine ähnliche Form wieder kaufen können. Diese großen werden heute nicht mehr hergestellt. Alles ist winzig klein. Man kann ja heute nicht einmal mehr eine Frühstücksschüssel bekommen, die acht bis zehn Eier mit Schinken faßt. Es ist leider alles nicht mehr so, wie es früher war.«

»Da haben Sie recht«, ergänzte Poirot. »Der heutige Tag bildet aber eine Ausnahme. Dieses Weihnachtsfest ist doch wie in alten Tagen, oder nicht?«

Mrs. Ross seufzte.

»Ja, ja, ich freue mich, daß Sie das sagen, aber ich habe nicht mehr so gute Hilfen wie früher. Es fehlt an gelernten Hausgehilfinnen. Die Mädchen von heute ...«, sie senkte die Stimme ein wenig, »... geben ja ihr Bestes. Sie haben viel guten Willen, aber keine Erfahrung, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Die Zeiten ändern sich«, sagte Poirot. »Es stimmt mich selber manchmal traurig.«

»Wissen Sie, dieses Haus ist für die Herrin und den Oberst zu groß. Die Herrin weiß das genau. Wenn beide nur in einem Flügel des Hauses leben, so ist das nicht das Richtige. Das Haus wird erst lebendig, wenn die ganze Familie zu Weihnachten versammelt ist.«

»Ich glaube, Mr. Lee-Wortley und seine Schwester sind zum erstenmal hier?«

»Ja.« Die Stimme von Mrs. Ross klang plötzlich reservierter. »Er ist nett, wirklich, aber - nun ja, er paßt nicht zu Miss Sarah; nach unserer Meinung. Aber dort, in London, denkt man anders. Leider geht es seiner Schwester so schlecht. Sie wurde operiert. Einen Tag nach ihrer Ankunft hier ging es ihr ganz gut, so schien es wenigstens. Nachdem sie aber den Pudding umgerührt hatte, ging es ihr wieder schlechter. Seit diesem Tag hat sie das Bett nicht mehr verlassen. Ich glaube, sie ist zu früh nach der Operation aufgestanden. Ach, die heutigen Ärzte! Sie entlassen einen aus dem Krankenhaus, wenn man sich noch gar nicht auf den Beinen halten kann. Die Frau meines Neffen...«

Mrs. Ross begann langatmig und voller Begeisterung von den Krankenhausbehandlungen zu erzählen, denen sich ihre Verwandten einmal unterzogen hatten. Da die Pflege in den früheren Zeiten besser als heute gewesen sei, fiel ihr Vergleich negativ aus. Poirot sprach ihr gebührend sein Mitempfinden aus.

»Ich muß Ihnen zuletzt noch einmal für das ausgezeichnete und üppige Mahl danken. Sie erlauben doch, daß ich mich ein wenig erkenntlich zeige?«

Eine neue Fünfpfundnote wanderte in Mrs. Ross' Hand. Mechanisch antwortete sie: »Das ist aber wirklich nicht nötig.«

»Ich bestehe darauf, ich bestehe aber darauf.«

»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, besten Dank.« Mrs. Ross nahm die Anerkennung als selbstverständlich hin. »Ich wünsche Ihnen ein fröhliches Weihnachtsfest und ein erfolgreiches neues Jahr.«

5.

Der erste Weihnachtstag endete, wie die meisten Weihnachtstage zu enden pflegen. Am Baum wurden die Kerzen angezündet. Ein herrlicher Weihnachtskuchen wurde zum Tee hereingetragen. Man bewunderte den Kuchen, aber es wurde nur wenig gegessen. Am Abend gab es kalte Platte.

Sowohl Poirot als auch die Gastgeberin und der Gastgeber gingen zeitig zu Bett.

»Gute Nacht, Monsieur Poirot«, sagte Mrs. Lacey. »Ich hoffe, der Tag hat Ihnen gefallen.«

»Es war ein wundervoller Tag, Madame, einfach wundervoll.«

»Sie sehen so nachdenklich aus.«

»Ich denke über den englischen Pudding nach.«

»War er Ihnen zu schwer?« fragte sie besorgt.

»Nein, nein. Davon kann keine Rede sein. Ich denke über seine Bedeutung nach.«

»Die Bedeutung liegt allein in der Tradition«, bemerkte Mrs. Lacey. »Nun gute Nacht, Monsieur Poirot, träumen Sie nicht zuviel von Rumpasteten und Weihnachtsplum-pudding.«

»Ja«, murmelte Poirot vor sich hin, als er sich auszog. »Dieser Weihnachtsplumpudding ist ein Problem. Irgend etwas verstehe ich daran nicht.« Er schüttelte verdrießlich den Kopf. »Wir werden ja sehen.«

Nachdem Poirot einige Vorbereitungen getroffen hatte, legte er sich ins Bett, allerdings nicht, um zu schlafen. Nach ungefähr zwei Stunden wurde seine Geduld belohnt.

Die Tür seines Schlafzimmers öffnete sich vorsichtig. Er lächelte vor sich hin. Genau das hatte er erwartet. Er stellte sich noch einmal vor, wie Desmond Lee-Wortley ihm höflich eine Tasse Kaffee gereicht hatte. Ein wenig später, als Desmond mit dem Rücken zu ihm stand, hatte er für ein paar Sekunden die Tasse auf dem Tisch abgesetzt. Dann hatte er sie offensichtlich wieder aufgenommen. Zu Desmonds Befriedigung - wenn man das so nennen kann -hatte er den Kaffee bis zum letzten Tropfen getrunken. Ein Lächeln hob Poirots Schnurrbart, als er sich vorstellte, daß jetzt nicht er, sondern ein anderer in einem besonders tiefen Schlaf lag.

»Dieser nette, junge David«, sprach Poirot zu sich selbst. »Ihn bedrückte etwas, er ist unglücklich. Es wird ihm nichts schaden, wenn er einmal eine Nacht lang tief schläft. Aber jetzt wollen wir mal sehen, was passiert.«

Poirot lag ganz still, atmete tief und regelmäßig, nur gelegentlich hörte man ihn ein wenig schnarchen. Jemand trat an sein Bett und beugte sich über ihn. Dann wandte sich dieser Jemand zufrieden ab und ging zum Ankleidetisch hinüber. Beim Licht einer winzigen Taschenlampe durchsuchte er Poirots Habseligkeiten, die säuberlich auf dem Ankleidetisch abgelegt waren. Finger durchwühlten die Brieftasche, zogen die Schubladen des Ankleidetisches auf, suchten in Poirots Anzugtaschen. Schließlich näherte sich der Besucher wieder dem Bett und fuhr mit größter Behutsamkeit unter das Kopf-kissen. Nachdem er die Hand wieder zurückgezogen hatte, blieb er einen Moment lang stehen - unschlüssig, was er als nächstes tun sollte. Er schlich im Zimmer umher und durchsuchte alles, was zur Zierde dastand. Er ging in das angrenzende Badezimmer, aus dem er aber gleich wieder zurückkam. Dann verließ er das Zimmer mit einem halblaut ausgestoßenen Fluch.

»Ha«, flüsterte Poirot. »Jetzt bist du aber enttäuscht, was? Ja, ja, schwer enttäuscht. Wie konntest du nur annehmen, daß Hercule Poirot etwas dort versteckt, wo du es finden könntest.«

Dann drehte er sich auf die andere Seite und schlief sofort ein.

Am nächsten Morgen wurde er durch beharrliches Klopfen an der Tür geweckt. » Qui est la? Herein, herein.«

Die Tür öffnete sich. Atemlos, mit gerötetem Gesicht, stand Colin auf der Schwelle - hinter ihm Michael.

»Monsieur Poirot, Monsieur Poirot!«

»Aber ja, was ist denn?« Poirot setzte sich im Bett auf. »Gibt es schon den Morgentee? Ach nein, du bist es, Colin. Was ist los?«

Colin war einen Augenblick lang sprachlos. Er schien sehr erregt zu sein. In Wirklichkeit war es aber die Schlafmütze, die Hercule Poirot trug und die Colin einen Moment lang die Sprache verschlug. Als er sich wieder gefangen hatte, stotterte er: »Ich glaube - Monsieur Poirot, können Sie uns helfen? Es ist etwas Schreckliches passiert.«

»Was denn?«

»Es ist - es ist Bridget. Sie liegt draußen im Schnee. Ich glaube - sie regt sich nicht mehr und spricht auch nicht. Sie müssen sie sich sofort ansehen. Ich habe furchtbare Angst. Vielleicht ist sie - tot.«

»Was?« Poirot warf die Bettdecke zur Seite. »Mademoi-selle Bridget - tot?«

»Ich glaube, jemand hat sie getötet. Sie blutet und - oh, kommen Sie doch!«

Poirot schlüpfte in seine Schuhe und zog seinen pelzgefütterten Mantel über den Schlafanzug.

»Hast du schon alle im Haus alarmiert?«

»Nein, nein, ich habe es bis jetzt nur Ihnen gesagt. Ich dachte, es wäre besser so. Großvater und Großmutter sind noch nicht auf. Unten wird erst der Frühstückstisch gedeckt, aber ich habe Peverell nichts gesagt. Sie liegt hinter dem Haus nahe beim Fenster der Bibliothek - an der Terrasse.«

»Führt mich hin!«

Colin wandte sich schnell ab, damit ihn sein freudiges Grinsen nicht verriet. Er führte Poirot die Treppen hinunter. Sie traten durch eine Nebentür ins Freie. Es war ein klarer Morgen. Die Sonne war gerade aufgegangen. Es schneite nicht mehr, aber es hatte während der Nacht stark geschneit, und ein makelloser, dichter Schneeteppich deckte alles zu. Die Welt sah sehr rein, weiß und schön aus.

»Dort!« sagte Colin atemlos. Er zeigte aufgeregt die Stelle.

Das Bild, das sich ihnen bot, wirkte tatsächlich dramatisch. Wenige Meter entfernt lag Bridget im Schnee. Sie trug einen scharlachroten Schlafanzug. Um ihre Schultern schlang sich ein weißer Schal, den ein blutroter Fleck verunzierte. Ihr Kopf lag auf der Seite. Ihr üppiges schwarzes Haar verdeckte das Gesicht. Ein Arm lag unter dem Körper, der andere war weit weggestreckt, die Hand zur Faust geballt. Mitten in dem hochroten Fleck stak aufrecht der Griff eines großen, geschwungenen kurdischen Dolches, den Oberst Lacey gestern abend den Gästen gezeigt hatte.

»Mon Dieu!« rief Monsieur Poirot aus. »Das sieht ja wie im Film aus.«

Michael gab einen erstickten Laut von sich. Colin lenkte die Aufmerksamkeit schnell auf sich.

»Das stimmt«, sagte er. »Es sieht aus, als ob es nicht echt wäre. Sehen Sie die Fußspuren? Man darf sie nicht verwischen.«

»Nein. Die Fußspuren dürfen nicht zertrampelt werden.«

»Das habe ich auch gedacht«, bestätigte Colin. »Deshalb habe ich niemanden an Bridget herangelassen. Ich dachte, Sie wüßten da am besten Bescheid.«

»Ja«, sagte Poirot unvermittelt, »zuerst wollen wir feststellen, ob sie noch lebt.«

»Ja - natürlich«, sagte Michael zögernd, »aber wissen Sie, wir dachten - ich meine, wir wollten nicht...«

»Ach, was wolltet ihr nicht? Ihr habt sicher Kriminalromane gelesen. Natürlich ist es wichtig, daß ihr nichts angerührt habt - auch die Leiche nicht. Aber bis jetzt wissen wir noch gar nicht, ob es sich überhaupt um eine Leiche handelt, oder? An erster Stelle steht schließlich der Mensch. Wir müssen zunächst an den Arzt denken, dann erst an die Polizei, meint ihr nicht auch?«

»Ja, selbstverständlich«, antwortete Colin hilflos.

»Wir dachten nur - ich meine, wir dachten, es wäre besser, zuerst Sie zu holen«, ergänzte Michael hastig.

»Ihr bleibt hier stehen! Ich gehe von der anderen Seite an sie heran, damit die Fußspuren nicht verwischt werden. Mein Gott, sind das schöne Fußspuren - ganz deutlich, nicht wahr? Die Fußspuren eines Mannes und eines Mädchens laufen auf die Stelle zu. Die Fußspuren des Mannes führen zurück, die des Mädchens aber - nicht.«

»Das müssen die Fußspuren des Mörders sein«, antwortete Colin. Vor lauter Erregung atmete er kaum.

»Sehr richtig! Ein langer schmaler Fuß mit einem ziemlich seltenen Profil. Sehr interessant. Meiner Meinung nach leicht zu erkennen. Ja, die Fußspuren werden sehr wichtig sein.«

In diesem Augenblick trat Desmond Lee-Wortley mit Sa-rah aus dem Haus. Sie kamen auf sie zu.

»Was um alles in der Welt macht ihr denn hier?« fragte er aufgeregt. »Ich habe euch von meinem Schlafzimmer aus beobachtet. Was ist denn los? Großer Gott, das sieht ja - es sieht ja nach... «

»Sehr richtig«, antwortete Hercule Poirot. »Es sieht nach Mord aus, nicht wahr?«

Sarah holte tief Luft, dann blickte sie plötzlich die beiden Jungen mißtrauisch an.

»Sie meinen, irgend jemand hätte das Mädchen - wie heißt sie doch -, Bridget, umgebracht?« fragte Desmond. »Wer hätte sie denn töten wollen? Das kann man ja nicht glauben.«

»Es gibt viele Dinge, die man nicht für möglich hält«, sagte Poirot, »besonders wenn sie vor dem Frühstück geschehen. Das hat doch einer eurer Klassiker gesagt: >Es gibt sechs Dinge, die unmöglich vor dem Frühstück geschehen können.«« Er fügte hinzu: »Bleiben Sie bitte alle hier stehen!«

Vorsichtig ging er um Bridget herum, trat dann an sie heran und beugte sich über sie.

Colin und Michael wurden von unterdrücktem Lachen geschüttelt. Sarah erging es ähnlich. Sie kannte den Übermut der beiden.

»Die gute Bridget!« flüsterte Colin. »Ist sie nicht herrlich? Kein Muckser bisher.«

»Noch nie habe ich jemanden so tot gesehen wie Bridget«, flüsterte Michael.

Hercule Poirot richtete sich auf.

»Das ist ja furchtbar«, flüsterte er. Seine Stimme klang tonlos, vollkommen verändert.

Aus Angst, laut herauszuplatzen, mußten sich Michael und Colin rasch umdrehen. Mit erstickter Stimme fragte Michael: »Was - was sollen wir nur machen?« »Uns bleibt nur eins übrig«, antwortete Poirot. »Wir müssen sofort die Polizei holen. Will einer von euch anrufen?«

»Ich glaube, ich glaube - was meinst du, Michael?« fragte Colin.

»Ja, ich meine, der Spaß hat jetzt lange genug gedauert.« Er trat einen Schritt vor. Zum erstenmal schien er ein wenig unsicher zu sein.

»Es tut uns sehr leid. Hoffentlich nehmen Sie es uns nicht übel. Sie müssen nämlich wissen, es - äh -, es war eine Art Weihnachtsscherz, Monsieur Poirot. Wir dachten — nun ja, wir wollten einen Mord für Sie inszenieren ...«

»Ihr wolltet einen Mord für mich inszenieren?«

»Es ist nur Theater«, erklärte Colin. »Wir haben es nur gemacht, damit Sie sich wie zu Hause fühlen.«

»Aha! Ich verstehe; ihr wolltet mich in den April schicken, nicht wahr? Aber heute ist nicht der erste April, sondern der sechsundzwanzigste Dezember!«

»Ich glaube, wir hätten es doch nicht tun sollen«, befürchtete Colin, »bitte, sind Sie uns deswegen nicht böse, Monsieur Poirot. Komm, Bridget! Bridget, steh auf! Du mußt ja schon halb erfroren sein.«

Die Gestalt im Schnee rührte sich jedoch nicht.

»Das ist aber merkwürdig«, sagte Poirot, »sie scheint euch nicht zu hören.« Er blickte alle nachdenklich an. »Und es soll ein Scherz sein, sagt ihr? Seid ihr auch sicher, daß es nur ein Scherz ist?«

»Ja, natürlich«, antwortete Colin. Er fühlte sich in seiner Haut nicht mehr wohl. »Wir... wir haben doch nichts Böses beabsichtigt.«

»Und warum steht dann Mademoiselle Bridget nicht auf?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Colin. »Komm, Bridget«, rief er ungeduldig, »steh doch auf, laß die Dummheiten! Es tut uns wirklich sehr leid, Monsieur Poirot«, sagte Colin verängstigt. »Wir müssen uns bei Ihnen entschuldigen.«

»Sie brauchen sich nicht mehr zu entschuldigen.«

Poirots Stimme klang merkwürdig steif.

»Was meinen Sie damit?« Colin starrte ihn an. Er drehte sich noch einmal um. »Bridget, Bridget! Was ist los? Warum stehst du nicht auf? Warum bleibst du denn liegen?«

Poirot winkte Desmond zu.

»Kommen Sie, Mr. Lee-Wortley, kommen Sie her.« Desmond trat zu ihm. »Fühlen Sie ihren Puls!«

Desmond Lee-Wortley beugte sich zu dem Mädchen hinunter. Er ergriff den Arm - das Handgelenk.

»Ich fühlte keinen Pulsschlag - « Er starrte Poirot an. »Der Arm ist steif. Großer Gott, sie ist tatsächlich tot.«

Poirot nickte.

»Ja, sie ist tot«, bestätigte er. »Jemand hat aus der Komödie eine Tragödie gemacht. Hier sind Spuren, die her-und zurücklaufen. Und diese Fußspuren gleichen genau den Ihrigen, die Sie vom Haus bis hierher im Schnee hinterlassen haben, Mr. Lee-Wortley!«

Desmond Lee-Wortley fuhr blitzschnell herum und starrte auf die Spur.

»Was ... Beschuldigen Sie etwa mich? Sind Sie verrückt? Warum hätte ich denn dieses Mädchen töten sollen?«

»Tja - warum? Das frage ich Sie auch.«

Poirot beugte sich hinunter und löste sehr sanft ihre steifen Finger.

Desmond atmete schwer. Er traute seinen Augen nicht, als er sah, daß in der Handfläche des toten Mädchens ein großer Edelstein lag. Es schien ein Rubin zu sein.

»Das ist ja der verdammte Stein aus dem Pudding!« rief er aus.

»Stimmt das?« fragte Poirot. »Sind Sie sicher?«

»Natürlich ist das der Stein!« Schnell bückte er sich und nahm den roten Stein aus Bridgets Hand.

»Das hätten Sie nicht tun sollen«, sagte Poirot vorwurfs-voll. »Sie durften doch nichts verändern.«

»Ich habe nichts an der Leiche verändert. Aber dieses Ding könnte vielleicht verlorengehen, und es ist doch ein Beweisstück. Das Wichtigste ist jetzt, die Polizei zu holen - so schnell wie möglich. Ich werde anrufen.«

Lee-Wortley drehte sich um und rannte auf das Haus zu. Sarah trat zu Poirot.

»Ich verstehe das nicht«, flüsterte sie. Ihr Gesicht war leichenblaß. »Ich verstehe es wirklich nicht.« Sie umklammerte ängstlich Poirots Arm. »Was haben Sie mit - mit den Fußspuren gemeint?«

»Sehen Sie selbst, Mademoiselle.«

Die Fußspuren, die zur Leiche und wieder zurück führten, waren die gleichen, die Desmond im Schnee hinterlassen hatte, als er, vom Haus kommend, mit Poirot an die Leiche des Mädchens herangegangen und wieder zurückgetreten war.

»Sie meinen, es war Desmond?«

Das Aufheulen eines Automotors zerriß plötzlich die Stille. Schnell drehten sich alle um. Sie sahen deutlich, wie ein Auto in rasender Fahrt die Auffahrt hinunterjagte. Sarah erkannte, wem das Auto gehörte.

»Desmond!« rief sie. »Es ist Desmond. Sicher fährt er zur Polizei, anstatt zu telefonieren.«

Diana Middleton stürmte aus dem Haus auf sie zu.

»Was ist los?« schrie sie atemlos. »Desmond rannte gerade herein. Er redete etwas von einem Mord und rüttelte am Telefon, aber es war tot. Er bekam keine Verbindung. Er sagte, das Kabel sei durchgeschnitten, und es bliebe nichts anderes übrig, als das Auto zu nehmen und zur Polizei zu fahren. Warum denn die Polizei?« Sie starrte Poirot an. »Bridget? Aber das ist doch - ist das nicht ein Scherz? Ich hörte gestern abend so etwas. Ich dachte, man wollte Ihnen einen Streich spielen, Monsieur Poirot?«

»Ja«, sagte Poirot, »das hatte man vor. Sie wollten mir einen Streich spielen. Aber jetzt kommen Sie bitte alle mit ins Haus. Wir holen uns hier draußen nur den Tod. Wir können sowieso nichts tun, bis Mr. Lee-Wortley mit der Polizei zurück ist.«

»Hören Sie«, sagte Colin, »wir können doch Bridget nicht hier allein lassen.«

»Es hilft nichts mehr, wenn ihr bei ihr bleibt«, sagte Poirot. »Wir können Mademoiselle Bridget nicht wieder zum Leben erwecken. Gehen wir also hinein und wärmen uns auf. Vielleicht sollten wir eine Tasse heißen Tee oder eine Tasse Kaffee trinken.«

Sie folgten ihm gehorsam ins Haus. Peverell wollte gerade den Gong schlagen. Selbst wenn Peverell es für merkwürdig gehalten hatte, daß die meisten Hausbewohner schon draußen im Schnee waren und Monsieur Poirot in Schlafanzug und Mantel herumlief, so ließ er sich nichts anmerken. Peverell war trotz seines Alters ein perfekter Butler. Er bemerkte nichts, was er nicht bemerken sollte. So gingen sie ins Eßzimmer und setzten sich. Als der Kaffee gebracht war und alle tranken, begann Poirot mit seiner Erklärung.

»Ich muß Ihnen eine Geschichte erzählen, die ich zwar nicht in allen Einzelheiten schildern kann, aber doch in groben Umrissen. Sie handelt von einem jungen Prinzen, der dieses Land besuchte. Er brachte einen berühmten Edelstein mit, den er für seine zukünftige Frau umarbeiten lassen sollte. Das Unglück wollte es, daß er eine sehr hübsche junge Dame kennenlernte. Diese junge Dame interessierte sich weniger für den Prinzen, aber sie hatte sich in seinen Edelstein verliebt - und zwar so sehr, daß sie eines Tages mit ihm verschwand. Dieser Stein ist historisch wertvoll, er ist seit Generationen im Besitz der Familie. Wie man sich vorstellen kann, befand sich der Prinz nun in einer verzwickten Lage. Ein Skandal durfte auf keinen Fall entstehen. Es war nicht ratsam, die Polizei zu alarmieren. Daher kam der Prinz zu mir, zu Hercule Poirot. >Bringen Sie mir den historischen Rubin zurück<, bat er. Nun hatte besagte junge Dame einen Freund, der bislang in mehrere zwielichtige Geschäfte verwickelt war. Sein Name wurde im Zusammenhang mit Erpressung und Verkauf von Schmuck im Ausland genannt. Jedesmal handelte er sehr geschickt, und man konnte ihm niemals etwas nachweisen. Ich erfuhr, daß dieser schlaue Herr das Weihnachtsfest in diesem Haus verbringen würde. Wichtig war ihm dabei, daß die hübsche junge Dame eine Zeitlang nicht gesehen werden durfte, nachdem sie sich den Edelstein verschafft hatte, damit niemand sie unter Druck setzen und niemand ihr Fragen stellen konnte. So kam sie nach Kings Lacey - angeblich als Schwester dieses sauberen Herrn.«

Sarah holte tief Luft.

»Nein! Das kann nicht wahr sein.«

»Doch! Genau das. Mit Hilfe einiger Tricks wurde auch ich zum Weihnachtsfest eingeladen. Angeblich sollte die junge Dame gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden sein. Als sie hier ankam, ging es ihr schon besser. Da erfuhr sie, daß auch ich, ein Detektiv, ein sehr bekannter Detektiv, hierherkommen würde. Sofort fiel ihr das Herz in die Hose, so sagt man doch. Sie versteckte den Rubin an der erstbesten Stelle, die ihr einfiel. Dann hatte sie schnell einen Rückfall und hütete seitdem das Bett. Sie wollte nicht von mir gesehen werden, denn zweifelsohne würde ich eine Fotografie von ihr haben und sie sofort wiedererkennen. Sie langweilte sich natürlich sehr, mußte aber in ihrem Zimmer bleiben. Der Bruder brachte ihr sogar das Essen nach oben.«

»Und der Rubin?« fragte Michael.

»Ich glaube, die junge Dame war mit euch allen in der Küche, als man meine Ankunft erwähnte. Alles lachte, redete und rührte den Pudding um. Der wurde in die

Schüsseln verteilt, und die junge Dame versteckte den Rubin, indem sie ihn in eine der Puddingschüsseln fallen ließ - und zwar in die Schüssel, die nicht für das Weihnachtsfest bestimmt war. Sie wußte genau, daß der Weihnachtspudding in einer besonderen Form aufbewahrt wurde. Sie preßte den Stein in den anderen Pudding - in denjenigen, der zu Neujahr gegessen werden sollte. Bis dahin hatte sie genügend Zeit, ihre Abreise vorzubereiten. Wenn sie ging, wollte sie natürlich den Neujahrspudding mitnehmen. Am Morgen des Weihnachtstages passierte dann ein Unglück. Der Pudding in der phantasievoll verzierten Weihnachtsform wurde fallen gelassen. Die Form zersprang auf dem Steinfußboden in viele Stücke. Was sollte man tun? Die gute Mrs. Ross nahm also den Neujahrspudding und ließ ihn servieren.«

»Guter Gott!« rief Colin aus. »Wollen Sie damit sagen, daß der Rubin echt war, den Großvater, als er seinen Pudding aß, aus dem Mund holte?«

»Genau! Und du kannst dir vorstellen, was in Mr. Lee-Wortley vorging, als er es bemerkte. Eh bien, was geschah als nächstes? Der Rubin wurde herumgereicht. Ich prüfte ihn. Es gelang mir, ihn unauffällig in meine Tasche gleiten zu lassen. Ich machte es ganz unauffällig, als geschähe es ganz aus Versehen. Ein bestimmter Jemand beobachtete allerdings genau, was ich tat. Als ich im Bett lag, durchsuchte er mein Zimmer. Er tastete mich sogar ab, aber er fand den Rubin nicht.«

»Weil Sie ihn Bridget gegeben hatten«, vermutete Michael atemlos. »Das meinen Sie doch, das ist also der Grund. Aber ich verstehe nicht ganz - ich meine ... Hören Sie, was geschah dann?«

Poirot lächelte ihn an.

»Kommt in die Bibliothek und schaut zum Fenster hinaus! Ich werde euch dort etwas zeigen, was das Geheimnis aufklärt.« Er ging voraus, und sie folgten ihm. »Denkt noch einmal an den Schauplatz des Verbrechens!«

Er zeigte zum Fenster hinaus, und alle hielten zur gleichen Zeit die Luft an. Im Schnee lag keine Leiche mehr! Nichts deutete mehr auf eine Tragödie, nur eine Menge zertrampelten Schnees war zu sehen.

»Ich habe das doch nicht geträumt«, murmelte Colin fast unhörbar. »Hat jemand die Leiche weggeschafft?«

»Ah«, sagte Poirot. »Das Geheimnis der verschwundenen Leiche!« Er nickte mit dem Kopf und zwinkerte mit den Augen.

»Monsieur Poirot«, rief Michael, »haben Sie uns vielleicht die ganze Zeit an der Nase herumgeführt?« Poirot lächelte verschmitzt.

»Es ist wahr, Kinder, ich habe mir einen kleinen Spaß erlaubt. Ich wußte nämlich von eurem Plan und bereitete einen Gegenplan vor... Ah, voila, Mademoiselle Bridget! Hoffentlich stellen sich keine schlimmen Folgen ein, weil Sie lange im Schnee gelegen haben. Ich würde mir nie verzeihen, wenn Sie sich eine Erkältung zugezogen hätten.«

Bridget hatte gerade das Zimmer betreten. Sie trug einen dicken Rock und einen Wollpullover. Sie lachte.

»Ich habe Ihnen einen Kräutertee bringen lassen«, sagte Poirot ernst. »Haben Sie ihn schon getrunken?«

»Nur einen Schluck. Mir fehlt nichts. War ich gut, Monsieur Poirot? Du liebe Güte, mir tut noch alles weh von dem Stangenkreuz, auf das ich mich legen mußte, weil Sie es so wollten.«

»Sie waren großartig, mein Kind, einfach großartig. Aber die anderen wissen noch nicht Bescheid ... Letzte Nacht ging ich also zu Mademoiselle Bridget. Ich erzählte ihr, daß ich von eurer kleinen Verschwörung wußte, und ich fragte sie, ob sie für mich eine Rolle spielen würde. Sie war sehr geschickt. Für die Fußspuren benutzte sie ein Paar Schuhe von Mr. Lee-Wortley.«

Sarah fragte barsch dazwischen: »Was soll das, Monsieur Poirot? Was hat das für einen Sinn, wenn Sie Desmond wegschicken, damit er die Polizei holt? Sie wird wütend sein, wenn sie erfährt, daß alles nur ein Scherz war.«

Poirot schüttelte leicht den Kopf.

»Aber ich glaube nicht eine Sekunde lang, daß Mr. Lee-Wortley die Polizei holt. Er will mit einem Mord nichts zu tun haben. Er verlor völlig die Nerven. Er dachte nur noch an eines: den Rubin zu bekommen. Er griff sich den Stein, gab vor, daß das Telefon kaputt wäre, und raste unter dem Vorwand, die Polizei zu holen, in seinem Auto davon. Ich bin überzeugt, daß er sich nicht wieder sehen lassen wird. Wie ich weiß, verfügt er über ein schnelles Mittel, aus England fliehen zu können. Er besitzt doch ein Flugzeug, nicht wahr, Mademoiselle?« Sarah nickte.

»Ja«, sagte sie. »Wir dachten daran ...« Sie sprach nicht weiter.

»Er wollte Sie damit entführen, nicht wahr? Eh bien, das ist eine ausgezeichnete Methode, um Edelsteine aus dem Land zu schmuggeln. Wenn man ein Mädchen entführt und die Öffentlichkeit erfährt etwas davon, dann wird keiner auf den Gedanken kommen, daß auch ein historisch wertvoller Rubin mit aus dem Land geschmuggelt wird. Das wäre eine gute Tarnung gewesen.«

»Ich glaube das nicht, ich glaube Ihnen kein Wort.«

»Fragen Sie seine Schwester!«

Poirot nickte jemandem über Sarahs Schulter hinweg zu. Diese drehte sich schnell um.

Eine Platinblonde stand im Türrahmen. Sie trug einen Pelzmantel und blickte prüfend um sich. Sie war offensichtlich fassungslos.

»Ich und seine Schwester! So ein Unsinn!« lachte sie laut und unsympathisch auf. »Der Kerl ist nicht mein Bruder! Er hat sich also aus dem Staub gemacht, und ich soll nun die Suppe auslöffeln. Das Ganze war seine Idee. Er hat mich dazu überredet. Er sagte, daß das gestohlene Zeug viel Geld bringen würde und daß wegen des Skandals nie Nachforschungen angestellt würden. Ich könnte Ali immer erpressen, wenn ich verraten wollte, daß er mir den wertvollen Stein gegeben habe. In Paris wollten wir uns die Beute teilen ... Und jetzt läßt mich der Dreckskerl im Stich. Ich könnte ihn umbringen!« Sie wandte sich mit einem Ruck um. »Je eher ich verschwinde ... Bestellt mir jemand ein Taxi?«

»Das Auto wartet schon vor der Haustür auf Sie. Es bringt Sie zum Bahnhof, Mademoiselle«, schnarrte Poirot.

»Sie denken an alles, oder?«

»Fast an alles«, lächelte Poirot selbstzufrieden.

Er sollte jedoch noch nicht entlassen sein.

Als er das Eßzimmer betrat, nachdem er die angebliche Miss Lee-Wortley zum wartenden Auto begleitet hatte, wartete Colin auf ihn. Ein finsterer Ausdruck lag auf seinem jungen Gesicht.

»Jetzt hören Sie mir mal zu, Monsieur Poirot! Was ist denn mit dem Rubin? Soll das heißen, daß er mit dem Rubin entwischt ist?«

Poirot machte ein langes Gesicht. Er drehte an seinem Schnurrbart. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. So schien es wenigstens.

»Ich werde ihn wiederbekommen«, sagte er schwach. »Es gibt noch andere Wege. Ich werde ...«

»Hm«, ließ sich Michael vernehmen. »Wenn ich bedenke, daß Sie den Gauner mit dem Rubin entwischen ließen ...«

Bridget war schlauer.

»Er zieht uns wieder auf«, sagte sie. »Inzwischen kenne ich Sie, nicht wahr, Monsieur Poirot?«

»Wollen wir zum Schluß noch ein Zauberkunststückchen vorführen, Mademoiselle? Greifen Sie in meine linke Ta-sche!«

Bridget griff hinein. Mit einem Freudenschrei zog sie die Hand wieder heraus. Sie hielt den großen Rubin hoch, der prachtvoll und blutrot funkelte.

»Jetzt wissen Sie also«, sagte Poirot, »daß der Stein, den Sie mit Ihrer Hand fest umklammerten, eine Nachahmung ist. Ich brachte sie für den Fall aus London mit, daß ich Ersatz brauchen würde. Verstehen Sie nun? Wir wollten keinen Skandal. Monsieur Desmond wird versuchen, die Imitation in Paris oder Brüssel oder in irgendeiner anderen Stadt, wo er Verbindungen hat, zu verkaufen. Dort wird man dann feststellen, daß der Rubin nicht echt ist. Hauptsache: wir haben den richtigen. Was können wir uns Besseres wünschen? Alles endet zu unserer Zufriedenheit. Der Skandal ist vermieden worden, mein Prinzensöhnchen bekommt seinen Rubin wieder, er kehrt in sein Land zurück und geht, um eine Erfahrung reicher, eine hoffentlich gute Ehe ein. Ende gut - alles gut.«

»Abgesehen von mir«, murmelte Sarah fast unhörbar.

Sie sprach so leise, daß Poirot als einziger ihren Einwand hörte. Er sah sie freundlich an und schüttelte den Kopf.

»Sie täuschen sich, Mademoiselle Sarah. Sie haben auch dazugelernt. Jede Erfahrung ist wertvoll, und eine glückliche Zeit liegt vor Ihnen. Das prophezeie ich Ihnen.«

»Das sagen Sie«, entgegnete Sarah.

»Aber hören Sie, Monsieur Poirot«, Colin blickte finster drein, »wie haben Sie unseren Plan erfahren!«

»Meine Aufgabe ist es, alles zu wissen«, antwortete Monsieur Poirot. Er drehte an seinem Schnurrbart.

»Ja, gut, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie das geschafft haben. Hat uns jemand verpfiffen? Ist jemand zu Ihnen gekommen und hat es erzählt?«

»Nein, das nicht.«

»Wie haben Sie es dann erfahren?«

Alle baten im Chor: »Ja, erzählen Sie!«

»Aber nein«, protestierte Poirot. »Wenn ich verrate, wie ich es erfahren habe, werdet ihr enttäuscht sein. Es ist wie bei einem Zauberkünstler, der verrät, wie er seine Kunststücke macht.«

»Erzählen Sie doch, Monsieur Poirot, bitte! Erzählen Sie!«

»Ihr wollt wirklich, daß ich dieses letzte Geheimnis aufdecke?«

»Ja, erzählen Sie!«

»Ach, ich glaube, ich kann es nicht. Ihr werdet sehr enttäuscht sein.«

»Ach, bitte doch, Monsieur Poirot, erzählen Sie. Wie haben Sie es erfahren?«

»Nun gut. Ich saß, müßt ihr wissen, vorgestern nach dem Tee in der Bibliothek am Fenster und ruhte mich in einem Sessel aus. Dabei schlief ich ein. Als ich aufwachte, spracht ihr ganz in meiner Nähe über euren Plan - nur draußen vor dem Fenster. Und das stand offen.«

»Das ist alles?« fragte Colin. Er ärgerte sich. »So einfach!«

»Nicht wahr?« sagte Poirot lächelnd. »Seht ihr, nun seid ihr enttäuscht.«

»Na gut«, erwiderte Michael. »Jedenfalls wissen wir jetzt alles.«

»Stimmt das tatsächlich?« murmelte Poirot vor sich hin. »Ich weiß jedenfalls noch nicht alles, obwohl es doch meine Aufgabe wäre, über alles Bescheid zu wissen.«

Er trat in die Vorhalle hinaus und schüttelte den Kopf. Wohl zum zwanzigstenmal zog er aus seiner Tasche ein ziemlich schmutziges Blatt Papier hervor und las: ESSEN SIE NICHTS VON DEM PLUMPUDDING! JEMAND, DER ES GUT MIT IHNEN MEINT. Hercule Poirot schüttelte nachdenklich den Kopf. Er, der sich alles erklären konnte, fand für diese Warnung keine Erklärung. Was für eine Demütigung! Wer hatte den Zettel geschrieben? Aus welchem Grund war er geschrieben worden? Er wußte, er würde erst wieder Ruhe finden, wenn er dieses Rätsel gelöst hatte. Plötzlich schrak er aus seinen Überlegungen auf und hörte seltsam keuchende Laute. Aufmerksam sah er auf den Boden. Dort machte sich ein mit Schaufel und Besen bewaffnetes flachsblondes Wesen zu schaffen. Es starrte mit großen runden Augen auf den Zettel in seiner Hand.

»Oh!« rief die Erscheinung. »Oh! Bitte sehr!«

»Wer sind Sie denn, mon enfant?« fragte Poirot freundlich.

»Annie Bates, bitte sehr. Ich helfe Mrs. Ross. Ich wollte, ich wollte nichts - nichts Unrechtes tun. Ich habe es nur gut gemeint. Ich meine, ich wollte nur Ihr Bestes.«

Poirot ging ein Licht auf. Er hielt ihr den schmutzigen Zettel hin.

»Haben Sie das geschrieben, Annie?«

»Ich wollte nichts Böses anrichten. Wirklich nicht, glauben Sie mir.«

»Natürlich wollten Sie das nicht, Annie.« Er lächelte sie an. »Aber erzählen Sie mir bitte, warum Sie diesen Zettel geschrieben haben?«

»Nun, da waren die zwei, Mr. Lee-Wortley und seine Schwester. Ich wußte, daß sie in Wirklichkeit nicht seine Schwester war. Keiner von uns hat das geglaubt. Sie war auch kein bißchen krank. Das haben wir alle gewußt. Wir haben geglaubt, daß etwas nicht stimmt. Ich sage es Ihnen rundheraus. Ich war in ihrem Badezimmer, um saubere Handtücher hinzulegen, und habe an der Tür gehorcht. >Dieser Detektiv<, hat er gesagt, >dieser Kerl, der Poirot, kommt hierher. Wir müssen irgendwas unternehmen. Wir müssen ihn so rasch wie möglich aus dem Weg räumen.< Dann hat er leiser gesprochen und sie in einem bösartigen Ton gefragt: >Wo hast du das hingetan?< Und sie antwortete ihm: >In den Pudding.< Ich bekam einen furchtbaren Schreck. Ich habe gedacht, mir würde das Herz aussetzen.

Ich habe gedacht, daß die beiden Sie mit dem Weihnachtspudding vergiften wollten. Ich habe nicht gewußt, was ich tun sollte. Mrs. Ross hätte auf jemanden wie mich nicht gehört. Da bin ich auf die Idee gekommen, Ihnen einen Zettel zu schreiben, um Sie zu warnen. Ich legte ihn auf das Kissen. Dort würden Sie ihn finden.«

Annie konnte vor Atemlosigkeit nicht weiterreden. Poirot sah sie einige Minuten lang ernst an.

»Sie sehen zu viele Gangsterfilme, glaube ich, Annie«, sagte er schließlich. »Oder vielleicht ist das Fernsehen daran schuld. Das Wichtigste ist aber, daß Sie eine gute Seele sind und eine gewisse Phantasie haben. Wenn ich wieder in London bin, werde ich Ihnen ein Geschenk schicken.«

»Oh, danke, recht herzlichen Dank!«

»Was möchten Sie gern haben, Annie?«

»Kriege ich alles, was ich mir wünsche? Kriege ich wirklich das, was ich mir wünsche?«

»Ja. Es muß sich natürlich in Grenzen halten«, antwortete Poirot vorsichtig.

»Oh, könnte ich ein Kosmetiktäschchen bekommen? So ein wirklich todschickes, piekfeines Kosmetiktäschchen wie das von Mr. Lee-Wortleys Schwester?«

»Das ist interessant«, redete er leise und versonnen vor sich hin. »Vor einiger Zeit war ich im Museum und sah mir mehr als tausend Jahre alte Funde aus Babylon und ähnlichen Orten an - darunter waren auch Kosmetikschachteln. Die Frauen ändern sich im Grunde nicht.«

»Wie bitte?«

»Es war nicht wichtig«, antwortete Poirot. »Ich dachte nur nach. Sie werden Ihr Kosmetiktäschchen bekommen.«

»Oh, danke schön, vielen herzlichen Dank.«

Annie ging froh davon. Poirot sah ihr nach und nickte zufrieden mit dem Kopf.

»Tja«, sagte er zu sich selbst. »Und jetzt gehe ich. Ich habe meine Aufgabe hier erfüllt.«

Unerwartet legten sich in diesem Augenblick von hinten zwei Arme um seine Schultern. »Da Sie gerade unter dem Mistelzweig stehen ...« Es war Bridget. Hercule Poirot genoß es, er genoß es sehr. Er sagte sich, daß es ein sehr schönes Weihnachtsfest sei...

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