Am falschen Draht

»Und vor allen Dingen keinen Ärger, keine Aufregung«, sagte Dr. Meynell in dem unverbindlichen Plauderton der Ärzte.

Mrs. Harter wurde bei diesen wohlgemeinten, aber inhaltlosen Worten keineswegs zuversichtlicher, eher skeptischer.

»Sie haben eine kleine Herzschwäche«, fuhr der Arzt beiläufig fort, »aber es ist nichts Ernstes, seien Sie unbesorgt. Allerdings«, fügte er hinzu, »dürfte es dennoch das beste sein, wenn Sie einen Lift einbauen ließen. Wie denken Sie darüber?«

Mrs. Harter machte ein bekümmertes Gesicht, sie dachte an die Kosten. Dr. Meynell hingegen sah mit sich selbst zufrieden aus. Er behandelte lieber reiche als arme Patienten, weil er bei ersteren seine lebhafte Phantasie walten lassen konnte. Außerdem wußte er, daß er angesehen war, wenn er für ihre Leiden Kostspieliges verschrieb.

»Ja, einen Lift«, wiederholte Dr. Meynell und versuchte, sich etwas noch Teureres zu überlegen - doch ihm fiel nichts weiter ein. »Dann wollen wir alle unnötigen Anstrengungen vermeiden. Bei schönem Wetter ruhig etwas an die frische Luft gehen, aber keine Gewalttouren! Und vor allen Dingen«, setzte er fröhlich hinzu, »viel geistige Zerstreuung - nur nicht dauernd ans Herz denken.«

Dem Neffen der alten Dame, Charles Ridgeway, erklärte der Arzt etwas mehr. »Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte er. »Ihre Tante kann noch Jahre leben, wahrscheinlich tut sie das auch. Aber eine Überanstrengung oder ein Schock können eine fatale Wirkung haben.« Er schnalzte mit den Fingern. »Sie muß ein ruhiges Leben führen. Keinerlei Aufregung! Keine Anstrengung. Sie soll möglichst nicht an-fangen zu grübeln und nachzudenken. Sie muß heiter bleiben und möglichst viel Zerstreuung haben.«

»Zerstreuung«, sagte Charles Ridgeway geistesabwesend.

Er war ein junger Mann mit eigenen Gedanken. Er glaubte auch, daß man seine privaten Absichten fördern müsse; wo immer möglich.

Am Abend schlug er seiner Tante den Erwerb eines Radioapparates vor.

Mrs. Harter, die bereits durch den Gedanken an den Lifteinbau ernstlich aufgebracht war, zeigte sich zerstreut und abgeneigt. Sie war altmodisch und hatte sich von jeher gegen die Anschaffung eines Radios gesträubt.

»Du weißt, daß ich dieses Zeug nicht mag«, sagte Mrs. Harter kläglich. »Diese Wellen, weißt du - die elektrischen Wellen ... Sie haben eine Wirkung auf mich.«

Überlegen, doch freundlich setzte Charles ihr auseinander, wie rückständig sie sei. Er sprach geduldig, schmeichelte ihr und begann sie langsam zu überzeugen. Mrs. Harter, deren Kenntnisse von diesem »Zeug« völlig unzureichend waren, hielt zunächst dennoch an ihrer Meinung fest. Sie blieb weiterhin skeptisch und zeigte sich wenig begeistert.

»Diese Elektrizität«, murmelte sie furchtsam. »Charles, du kannst sagen, was du willst, auf manche Leute hat sie eine unangenehme Wirkung. Ich zum Beispiel habe vor einem Gewitter stets heftige Kopfschmerzen. Ich weiß das.«

Sie nickte triumphierend. Charles war ein geduldiger junger Mann. Er war auch beharrlich.

»Meine liebe Tante Mary«, sagte er, »ich werde dir das Ganze noch mal genau erklären.«

Auf diesem Gebiet kannte er sich einigermaßen aus. Er lieferte eine kleine Vorlesung über das Thema und redete sich immer mehr in Begeisterung, indem er von Hochfrequenzen, Kondensatoren, Verstärkern, Antennen und Transistoren und so weiter sprach ... Mrs. Harter ertrank in einem Meer von Worten, widerstandslos ergab sie sich.

»Na schön, Charles«, murmelte sie, »wenn du wirklich meinst... «

»Meine liebe Tante Mary«, sagte Charles begeistert. »Das ist genau das Richtige für dich, damit du dich nicht langweilst oder gar den Kopf hängen läßt.«

Der von Dr. Meynell verschriebene Lift wurde kurze Zeit danach eingebaut und hätte fast den Tod für Mrs. Harter bedeutet, denn wie viele alte Damen hegte sie einen tiefen Widerwillen gegen fremde Männer in ihrem Haus. Sie verdächtigte alle samt und sonders, es auf ihr altes Silber abgesehen zu haben.

Nach dem Lift wurde der teuerste Radioapparat angeschafft. Mrs. Harter stellte ihn allerdings nicht an. Charles mußte seine ganze Beredsamkeit aufwenden, um die Tante damit zu versöhnen. Er drehte an den Knöpfen und hielt erneut einen längeren Vortrag. Mrs. Harter saß in ihrem hohen Lehnsessel, geduldig und höflich, doch in der festen Überzeugung, daß dieses neue Gerät reiner Unsinn sei.

»Hörst du, Tante Mary - das ist Berlin! Ein wunderbarer Empfang... «

Mrs. Harter lauschte lächelnd. Charles drehte weiter.

»London«, sagte er jetzt. Musik erklang.

»Ach, wirklich?« fragte Mrs. Harter ein wenig interessiert.

Charles schaltete einen anderen Wellenbereich ein, und ein unirdisches Geheul schallte durch den Raum.

»Jetzt scheinen wir in einen Hundezwinger geraten zu sein«, meinte Mrs. Harter, die sich bis ins hohe Alter eine gewisse Portion Humor bewahrt hatte. Charles lachte.

»Das macht Spaß nicht wahr, Tante Mary? Das war lustig!«

Mrs. Harter konnte nicht umhin, über ihn zu lächeln. Sie mochte ihn recht gern. Einige Jahre lang hatte eine Nichte, Miriam Harter, mit ihr zusammengelebt. Mrs. Harter hatte die Absicht gehabt, das Mädchen als Erbin einzusetzen, aber Miriam hatte sie enttäuscht. Sie war ungeduldig gewesen und hatte sich allzu deutlich in der Gesellschaft ihrer Tante gelangweilt. Ständig war sie, wie die Tante es nannte, »bummeln« gegangen. Schließlich hatte sie mit einem jungen Mann angebandelt, den ihre Tante mißbilligte. Miriam war daraufhin zu ihrer Mutter zurückgeschickt worden - mit einem kurzen Schreiben, ganz so, als sei sie Ware gewesen, die man zur Ansicht gehabt hatte. Später hatte Miriam den jungen Mann sogar geheiratet, und Mrs. Harter hatte ihr ein paar Taschentücher geschickt dann noch mal ein Spitzendeckchen zu Weihnachten.

Nachdem sich die Nichte als Enttäuschung herausgestellt hatte, war Mrs. Harters Aufmerksamkeit auf den Neffen gefallen. Ja, Charles hatte von Anfang an gut eingeschlagen. Er behandelte seine Tante ehrerbietig, er hörte mit scheinbar intensivem Interesse den Erinnerungen aus ihrer Jugend zu. Ein großer Unterschied zu Miriam, die sich nicht nur gelangweilt, sondern das auch unverblümt gezeigt hatte. Charles war zudem niemals langweilig, immer gutgelaunt und fröhlich. Täglich ließ er seine Tante viele Male wissen, daß sie eine wunderbare alte Dame sei.

Mit ihrer neuen Entdeckung höchst zufrieden, hatte Mrs. Harter ihrem Notar neue Direktiven erteilt, wie ihr Testament abgeändert werden sollte. Dies war geschehen; das Testament war abgeändert worden, sie hatte es geprüft und unterzeichnet.

Und jetzt, sogar im Falle des Radioapparates, schien sich Charles neue Lorbeeren verdient zu haben. Mrs. Harter, zuerst ganz Ablehnung, interessierte sich schließlich immer mehr für das Radio. Besondere Freude machte ihr der Apparat, wenn Charles nicht da war. Das Lästige an Charles war, daß er das Radio nicht in Ruhe lassen konnte. Mrs. Harter setzte sich am liebsten gemütlich in ihren Sessel und lauschte einem einzigen Sender, gleichgültig, ob er nun ein Symphoniekonzert oder den Lebensbericht der Lucrezia Borgia oder Wasserstandsmeldungen brachte... Sie war ruhig und glücklich, in Frieden mit sich und der Welt.

Charles schaffte das nicht. Er mußte ständig an irgendwelchen Knöpfen drehen, und der klare Klang wurde durch quietschende und heulende Töne zerrissen, während er ruhelos versuchte, ausländische Sender »hereinzubekommen«. Aber an den Abenden, an denen Charles bei Freunden eingeladen war, genoß Mrs. Harter ihr neues Radio. Sie brauchte nur einen Knopf, um sich, behaglich in ihrem Sessel zurückgelehnt, am Programm zu erfreuen,

Drei Monate nachdem der Radioapparat angeschlossen worden war, geschah das Geheimnisvolle zum erstenmal. Charles war zu einem Bridgeabend zu Bekannten gegangen.

Das Abendprogramm brachte Balladen. Eine bekannte Sopransängerin sang »Annie Laurie«, und in der Mitte des Liedes geschah das Seltsame. Zuerst war der Sender weg, dann hörte man einen Moment lang Musik, gleich darauf heftiges Brummen und Quieken, das eine Weile anhielt und dann erstarb. Tödliche Stille war eingetreten. Anschließend war wieder leises Brummen zu hören gewesen.

Mrs. Harter hatte die Empfindung gehabt, als höre sie »Sphärenmusik«. Dann plötzlich - klar und deutlich hatte sie eine Stimme, eine Männerstimme mit irischem Akzent, gehört!

»Mary - kannst du mich hören, Mary? Hier ist Patrick... Komm bald zu mir! Du bist doch bereit, nicht wahr, Mary?«

Daran anschließend hatten wieder die Klänge von »Annie Laurie« das Zimmer gefüllt. Mrs. Harter saß noch immer aufrecht in ihrem Sessel, die Hände um beide Armlehnen geklammert. Hatte sie geträumt? - Patrick! Patricks Stimme hatte, hier in diesem Zimmer, zu ihr gesprochen... Nein, das mußte ein Traum sein, vielleicht eine Halluzination.

Vielleicht war sie für ein oder zwei Minuten eingeschlafen. Eine komische Sache, so etwas zu träumen - daß ihr verstorbener Mann über den Äther zu ihr gesprochen haben sollte ... Sie hatte sich sehr erschreckt. Was hatte er doch gesagt? »Komm bald zu mir! Du bist doch bereit, nicht wahr, Mary?« Das konnte doch nur eine Vorahnung sein ... Herzschwäche ... ihr Herz. Schließlich war sie ja nicht mehr die Jüngste.

»Es ist eine Vorahnung, jawohl, das ist es«, sagte Mrs. Harter, erhob sich langsam und müde aus ihrem Sessel und fügte etwas hinzu, das für sie charakteristisch war: »Und das schöne Geld für den Lift zum Fenster hinausgeschmissen!«

Sie sprach mit niemandem über das, was sie gehört hatte, aber in den darauffolgenden Tagen war sie voller Gedanken und ständig geistesabwesend. Dann kam der Geburtstag ihres Mannes ... Wieder war sie allein zu Hause. Das Radio, das soeben noch Orchestermusik gebracht hatte, erstarb mit derselben Plötzlichkeit wie beim letztenmal. Wieder herrschte einen Moment lang unheimliche Stille, das Gefühl des Überirdischen, und schließlich wieder Patricks Stimme, doch diesmal nicht, wie sie im Leben gewesen war - nein, viel feiner, weit weg, mit einem merkwürdigen Klang. »Patrick spricht zu dir, Mary. Komm jetzt bald ...!« Dann Quietschen, Brummen, und die Orchestermusik war wieder da, als sei nichts geschehen.

Mrs. Harter sah auf die Uhr. Nein, sie hatte nicht geschlafen, diesmal bestimmt nicht. Wach und im vollen Besitz ihrer Sinne hatte sie Patricks Stimme gehört. Es war keine Halluzination, das war sicher. Verwirrt versuchte sie sich an die Theorie zu erinnern, die Charles ihr von den Ätherwellen erklärt hatte.

Konnte es möglich sein, daß Patrick wirklich zu ihr gesprochen hatte? Daß seine Stimme wirklich durch den Raum getragen werden konnte? Gewisse Wellenlängen seien noch nicht erforscht, hatte Charles gesagt und von einer Lücke in der Wellenskala gesprochen. Sie war überzeugt, daß Patrick zu ihr gesprochen hatte. Er wollte sie offenbar auf das vorbereiten, was bald kommen mußte.

Mrs. Harter läutete nach ihrer Haushälterin Elizabeth. Sie war eine große hagere Sechzigerin. Unter einer mürrischen Schale verbarg sie tiefe Zuneigung für ihre Herrin.

»Elizabeth«, sagte Mrs. Harter, als ihre Perle erschienen war, »Sie erinnern sich doch, was ich Ihnen gesagt habe. Die oberste Schublade meines Schreibtisches? Sie ist verschlossen. Der lange Schlüssel mit dem weißen Etikett paßt dazu. Darin liegt alles. Ich habe alles vorbereitet.«

»Vorbereitet? Was, Mrs. Harter?«

»Für mein Begräbnis«, fauchte Mrs. Harter. »Sie wissen sehr wohl, was ich meine, Elizabeth. Sie haben mir selbst dabei geholfen, alles in der Schublade zu verstauen.«

In Elizabeth' Gesicht begann es merkwürdig zu arbeiten.

»O gnädige Frau«, wimmerte sie, »so was dürfen Sie nicht sagen. Ich dachte, Sie hätten sich wieder besser gefühlt.«

»Irgendwann müssen wir alle gehen«, knurrte Mrs. Harter ärgerlich. »Alt genug bin ich schließlich. Also, Elizabeth, machen Sie sich nicht lächerlich. Wenn Sie unbedingt flennen wollen, gehen Sie hinaus und heulen Sie anderswo.«

Elizabeth zog sich zurück, unterdrückt schluchzend. Mrs. Harter sah ihr liebevoll nach. Alte Gans, aber treu, dachte sie. Sehr treu. Ich muß mal überlegen - habe ich ihr nun hundert Pfund vermacht oder nur fünfzig? Jedenfalls sollten es hundert sein. Sie hat mich lange Zeit gut versorgt.

Diese Frage beschäftigte die alte Dame, und am nächsten Tag setzte sie sich an ihren Schreibtisch und schrieb ihrem Notar, er möchte ihr das Testament noch einmal zuschicken. Sie wolle es noch einmal überprüfen. Noch an demselben Tag geschah es, daß Charles beim Abendessen etwas sagte, das sie aufhorchen ließ.

»Übrigens, Tante Mary«, fragte er, »wer ist eigentlich der komische Alte oben im Gästezimmer? Ich meine das Bild über dem Kamin ... Der Alte mit dem Biberhut und dem altmodischen Backenbart?«

Mrs. Harter sah ihn streng und tadelnd an.

»Das ist dein Onkel Patrick als junger Mann«, antwortete sie.

»O Tante Mary, das tut mir leid. Ich wollte nicht taktlos sein.«

Mrs. Harter akzeptierte die Entschuldigung mit einem würdevollen Neigen ihres Kopfes. Charles fuhr reichlich unsicher fort: »Ich habe mich nur gewundert, weißt du ...«

Er hielt unentschlossen inne, und Mrs. Harter fragte scharf: »Was wolltest du sagen?«

»Ach, nichts«, entgegnete Charles hastig, »jedenfalls nichts Vernünftiges.«

Eine Weile gab die alte Dame Ruhe, aber später am Abend kam sie noch einmal darauf zurück.

»Charles, ich möchte, daß du mir sagst, warum du mich nach dem alten Bild deines Onkels gefragt hast.«

Charles machte ein betretenes Gesicht.

»Aber ich sagte dir doch, Tante Mary, es ist nichts weiter -vielleicht eine dumme Einbildung meinerseits, völlig absurd.«

»Charles«, forderte jetzt Mrs. Harter gebieterisch, »ich bestehe darauf, es zu erfahren.«

»Nun gut, liebe Tante, wenn du unbedingt darauf bestehst. Ich habe mir eingebildet, ihn gesehen zu haben -den Mann auf dem Bild, meine ich. Er sah aus dem Fenster ganz rechts, als ich gestern abend nach Hause kam. Wahrscheinlich war es ein Lichteffekt. Ich fragte mich, wer es wohl sein könnte? Sein Gesicht war so - viktorianisch, wenn du verstehst, was ich damit sagen will. Aber Elizabeth sagte mir, es sei niemand da, kein Besucher oder Gast im Haus. Ich kam dann zufällig ins Gästezimmer und sah dort das Bild über dem Kamin. Es war der Mann, den ich zuvor am Fenster gesehen hatte. Ich glaube, das läßt sich ganz einfach erklären - mit Unterbewußtsein oder so etwas. Wahrscheinlich habe ich das Bild vorher schon einmal gesehen, ohne mir dessen bewußt geworden zu sein, und nun habe ich mir eingebildet, das Gesicht am rechten Fenster wiedererkannt zu haben.«

»Am rechten Fenster, sagst du?« fragte Mrs. Harter scharf.

»Ja, warum?«

»Nichts.«

Mrs. Harter schwieg. Sie war völlig verwirrt. Dieses Fenster gehörte zum Ankleidezimmer ihres Mannes.

Einige Tage später ging Charles wieder aus. Mrs. Harter saß allein vor dem Radio. Heute war der Todestag ihres Mannes, und ihre Gedanken waren weit weg - genauer gesagt: im Jenseits. Dabei war es mehr als natürlich, daß sie sich wieder eine Verbindung mit Patrick wünschte. Obgleich ihr Herz schnell schlug, war sie nicht überrascht, als sich dasselbe Brummen wieder einstellte, die schon bekannte Unterbrechung eintrat und nach einer Pause mit absoluter Stille die schwache, weit entfernte Stimme ihres Mannes zu ihr sprach: »Mary - bist du jetzt fertig? Am Freitag komme ich zu dir - am Freitag um halb zehn... Hab keine Angst, es tut nicht weh ... Ich hole dich.«

Bei den letzten Worten setzte die Orchestermusik wieder ein - laut und mit fröhlichen Rhythmen. Mrs. Harter saß einige Minuten ganz still da. Ihr Gesicht war schneeweiß geworden, und die Lippen hatten sich bläulich verfärbt.

Dann stand sie langsam auf und setzte sich an ihren Schreibtisch. Mit zittriger Handschrift schrieb sie folgende Zeilen:

»Heute abend um 21 Uhr 15 habe ich deutlich die Stimme meines verstorbenen Mannes gehört. Er sagte mir, daß er mich am Freitag um halb zehn zu sich holen wolle. Wenn ich an diesem Tage und zu dieser Stunde sterben sollte, möchte ich, daß diese Tatsache bekanntgegeben wird - als eindeutiger Beweis dafür, daß Verbindungen mit der Totenwelt möglich sind.

Mary Harter.«

Mrs. Harter las es noch einmal durch, steckte den gefalteten Bogen in einen Umschlag und adressierte ihn. Dann drückte sie die Klingel. Elizabeth erschien prompt. Mrs. Harter stand von ihrem Schreibtisch auf und überreichte ihr den Brief.

»Elizabeth«, sagte sie, »falls ich am Freitag sterben sollte, möchte ich, daß Sie das Dr. Meynell geben. Nein« - Elizabeth machte Anstalten zu protestieren -, »streiten Sie nicht mit mir herum. Sie haben mir selber oft genug gesagt, daß Sie an Vorahnungen glauben. Ich habe Ihnen in meinem Testament fünfzig Pfund vermacht. Ich will, daß Sie hundert erhalten. Wenn ich nicht mehr selber zur Bank gehen kann, bevor ich sterbe, wird Mr. Charles das erledigen.«

Wie vorher schnitt Mrs. Harter Elizabeth' tränenreiche Protestrede ab. Über ihren Entschluß sprach Mrs. Harter am nächsten Morgen mit ihrem Neffen.

»Bitte, denke daran, Charles. Falls mir etwas zustoßen sollte, will ich, daß Elizabeth fünfzig Pfund extra erhält.«

»Seit ein paar Tagen siehst du richtig finster drein, Tante Mary«, sagte Charles sorgenvoll. »Was ist denn los? Nach dem, was Dr. Meynell sagt, werden wir in zwanzig Jahren deinen hundertsten Geburtstag feiern.«

Mrs. Harter lächelte ihm liebevoll zu, aber sie antwortete nicht. Nach ein paar Minuten fragte sie: »Was hast du am Freitag vor, Charles?«

Der machte ein verdutztes Gesicht.

»Um ehrlich zu sein, die Ewings haben mich gebeten, mit ihnen Bridge zu spielen. Aber wenn es dir lieber ist, bleibe ich natürlich zu Hause.«

»Nein«, sagte Mrs. Harter mit Bestimmtheit. »Gewiß nicht, Charles. Du kannst am Freitag gern zusagen, ich möchte am liebsten allein sein.«

Charles sah sie stirnrunzelnd an, aber Mrs. Harter gab keine weitere Erklärung. Sie war eine mutige und sehr bestimmte alte Dame. Sie wußte, daß sie ihre letzte Erfahrung allein machen mußte.

Am Freitag war das Haus ganz still. Mrs. Harter saß am Abend wie gewöhnlich in ihrem hohen Lehnsessel vor dem Kamin. Sie hatte alle Vorbereitungen abgeschlossen.

Am Morgen war sie noch zur Bank gegangen, hatte fünfzig Pfund in Scheinen abgehoben und sie Elizabeth überreicht, trotz tränenreicher Proteste. Dann hatte Mrs. Harter ihre persönlichen Wertsachen sortiert und das eine und andere Schmuckstück mit Namen von Freunden und Verwandten versehen. Sie hatte auch eine Liste mit Instruktionen für Charles aufgeschrieben. Ihr Worcester-Teeservice sollte ihre Kusine Emma erhalten. Die Kristallgläser sollte der junge William bekommen und so weiter.

Jetzt blickte sie auf das schmale Kuvert, das sie in der Hand hielt, und zog ein gefaltetes Dokument heraus. Es war ihr Testament, das ihr Mr. Hopkinson auf ihren Wunsch geschickt hatte. Sie hatte es bereits sorgfältig durchgelesen; jetzt sah sie es nochmals durch, um ihr Gedächtnis aufzufrischen. Es war ein kurzes, klares Dokument. Ein Vermächtnis von fünfzig Pfund für Elizabeth Marshall als Anerkennung für ihre treuen Dienste. Zwei Legate von je fünfhundert Pfund für ihre Schwester und ihren ältesten Vetter, der Rest für ihren geliebten Neffen Charles Ridgeway.

Mrs. Harter nickte mehrmals. Charles würde ein reicher Mann sein, wenn sie gestorben war. Soll er - er ist ein lieber, guter Junge. Immer freundlich, immer voller Zuneigung und stets ein fröhliches Wort zur Hand, um sie aufzumuntern.

Sie sah auf die Uhr: drei Minuten vor halb zehn. Nun gut, sie war bereit. Und sie war ruhig - ganz ruhig. Obwohl sie sich diese Worte ständig wiederholte, schlug ihr Herz ängstlich und unregelmäßig. Immer wieder sagte sie vor sich hin, daß sie ganz ruhig sei, aber ihre Nerven waren über das erträgliche Maß hinaus angespannt.

Halb zehn! Das Radio war eingeschaltet. Was würde sie hören? Eine Stimme, die den Wetterbericht bekanntgab -oder die leise, weit entfernte Stimme, die ihrem Mann gehörte, der vor fünfundzwanzig Jahren gestorben war? Doch sie hörte nichts von beiden. Statt dessen vernahm sie ein Geräusch, das sie zwar kannte, das ihr aber heute abend einen Schrecken einjagte, als griffe eine eisige Hand nach ihrem Herzen ... Ein Schlüssel wurde ins Haustürschloß gesteckt...

Ein kalter Hauch wehte durch den Raum. Mrs. Harter hatte keinen Zweifel mehr, es war soweit... Sie hatte Angst, sie hatte nur noch Angst - lähmendes Entsetzen packte sie.

Und plötzlich wurde ihr bewußt: Fünfundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit! Patrick ist für sie jetzt ein Fremder!

Jetzt waren leise Schritte vor der Tür... zaghaft, zögernd. Und nun öffnete sich geräuschlos die Tür... Mrs. Harter erhob sich, ihre Beine zitterten - leicht von einer Seite auf die andere schwankend, starrte sie auf die offene Tür.

Aus ihren Fingern glitt etwas in den Kamin. Sie wollte schreien, doch sie konnte nicht - eine wohlbekannte Gestalt mit einem altmodischen Backenbart und in unmoderner Kleidung stand im Dämmerlicht auf der Türschwelle: Patrick!

Ihr Herz spürte einen schmerzhaften Riß, flatterte noch wie ein Vögelchen am Boden - dann Stille. Sie fiel zu Boden. Elizabeth fand sie eine Stunde später. Sofort rief sie Dr. Meynell an. Charles Ridgeway wurde hastig von seinem

Bridgeabend zurückgerufen. Man konnte nichts mehr tun. Mrs. Harter war bereits dort, von wo es keine Rückkehr gibt.

Zwei Tage später erinnerte sich Elizabeth an den Brief, den ihre Herrin ihr für Dr. Meynell gegeben hatte. Er las ihn mit großem Interesse und zeigte ihn Charles Ridgeway.

»Ein komischer Zufall«, sagte Dr. Meynell. »Es scheint ziemlich sicher zu sein, daß Ihre Tante Halluzinationen von der Stimme ihres verstorbenen Mannes hatte. Sie muß sich darüber so erregt haben, daß ihre Aufregung tödlich war, als der Zeitpunkt kam. Sie starb an einem Herzschlag.«

»Autosuggestion?« fragte Charles.

»Möglich. Ich werde Sie das Ergebnis der Autopsie sofort wissen lassen, obwohl ich keinerlei Zweifel habe. Unter diesen Umständen ist eine Autopsie jedoch notwendig -natürlich eine reine Formsache.«

Charles nickte verständnisvoll. Längst hatte er einen bestimmten Draht von der Rückseite des Radioapparates hinauf in sein Zimmer im oberen Stockwerk entfernt. Auch einen Backenbart hatte er längst verbrannt. Ein paar Viktorianische Kleidungsstücke, die seinem verstorbenen Onkel gehörten, lagen schon lange wieder in der Truhe auf dem Speicher.

Soweit er übersehen konnte, war er vollkommen sicher. Sein Plan, der sich zuerst schattenhaft in seinem Kopf zu formen begonnen hatte, als Dr. Meynell ihm sagte, seine Tante könne bei großer Vorsicht noch viele Jahre leben, war großartig geglückt. Nur ein plötzlicher Schock, hatte Dr. Meynell zu Charles damals gesagt - zu diesem liebenswürdigen jungen Mann, an dem die alte Dame so gehangen hatte. Charles lächelte.

Als der Arzt gegangen war, machte sich Charles methodisch an die Erfüllung seiner Pflichten. Die Vorbereitungen für das Begräbnis waren zu treffen. Für Verwandte, die von weit kamen, mußte er Zugverbindungen heraussuchen. In ein oder zwei Fällen würden sie sogar über Nacht oder für zwei Nächte bleiben. Charles erledigte alles tüchtig und gewissenhaft, während ihn seine eigenen Gedanken begleiteten. Könnte es sein, daß irgend jemand etwas ahnte? Niemand! Am allerwenigsten hatte seine tote Tante gewußt, in welch schwieriger Lage er steckte. Seine Machenschaften, die er vor allen hatte sorgfältig verbergen können, hatten ihn so weit gebracht, daß ihm zumindest Gefängnis drohte, wenn er nicht bald seine Schulden bezahlen konnte. Er mußte innerhalb weniger Monate eine beträchtliche Geldsumme aufbringen. Nun - das würde jetzt in Ordnung kommen. Charles war zufrieden. Dank seinem Scherz - na ja, etwas makaber war er schon ... war er gerettet. Jetzt würde er bald ein reicher Mann sein. Darum brauchte er sich nicht mehr zu sorgen, denn Mrs. Harter hatte niemals ein Geheimnis aus ihrer Absicht gemacht.

Elizabeth steckte den Kopf zur Tür herein und teilte ihm mit, daß Mr. Hopkinson gekommen sei und ihn zu sprechen wünsche.

Genau zur rechten Zeit, dachte Charles. Er unterdrückte eine Lust zu pfeifen und zwang sein Gesicht zu dem der Lage angemessenen Ernst. Dann ging er in die Bibliothek hinunter. Er begrüßte den pedantischen alten Herrn, der über ein Vierteljahrhundert hindurch der juristische Berater seiner Tante gewesen war.

Der Notar nahm auf Charles' Einladung hin Platz und begann nach höflichem Räuspern sogleich das Berufliche zu besprechen.

»Ich habe den Sinn des Briefes nicht ganz verstanden, Mr. Ridgeway, den Sie mir schrieben. Sie scheinen anzunehmen, die verstorbene Mrs. Harter habe Sie als ihren Alleinerben eingesetzt?«

Charles starrte ihn an.

»Ja, sicher - meine Tante hat es mir doch selber gesagt.«

»O ja, gewiß. Sie waren auch als Alleinerbe eingesetzt.«

»Waren?«

»Das sagte ich. Mrs. Harter schrieb mir aber vor ein paar Tagen, ich solle ihr das Testament am vergangenen Donnerstag wieder zuschicken.«

Charles hatte ein unbehagliches Gefühl, die Vorahnung von etwas Unerfreulichem.

»Zweifellos wird es sich unter ihren Papieren finden lassen«, fuhr der Notar milde fort.

Charles sagte nichts. Er hütete seine Zunge. Er hatte schon Mrs. Harters Papiere sorgfältig durchsucht, um genau zu wissen, daß kein Testament dazwischenlag. Erst nach einigen Minuten, in denen er seine Selbstbeherrschung wiedererlangt hatte, sagte er das. Seine Stimme klang unwirklich, und er hatte das Gefühl, kaltes Wasser tropfe seinen Rücken hinunter.

»Hat jemand ihre persönlichen Sachen durchsucht?« fragte der Notar.

Charles antwortete, daß die Haushälterin, Elizabeth, das getan hätte. Auf Hopkinsons Vorschlag hin wurde Elizabeth gerufen. Sie erschien prompt, mürrisch und aufrecht und beantwortete die Fragen, die man ihr stellte. Sie hatte die Kleider und alle persönlichen Sachen ihrer Herrin durchsucht. Sie war sicher, daß darunter kein juristisches Dokument gewesen war. Sie wußte, wie das Testament aussah -ihre arme Herrin hatte es am Morgen vor ihrem Tode noch in der Hand gehalten.

»Täuschen Sie sich da auch nicht?« fragte der Notar scharf.

»Nein, Sir, bestimmt nicht. Sie sagte es mir selbst. Und sie gab mir fünfzig Pfund in Scheinen. Das Testament war in einem länglichen, blauen Umschlag.«

»Ja, das stimmt«, sagte Hopkinson.

»Jetzt fällt mir auch wieder ein«, fuhr Elizabeth fort, »dieses blaue Kuvert lag am Morgen nach ihrem Tod auf diesem

Tisch, aber leer. Ich legte es dann auf den Schreibtisch.«

»Ja, ich erinnere mich, es da gesehen zu haben«, bestätigte Charles. Er stand auf und ging zum Schreibtisch. Nach ein paar Augenblicken kam er mit einem Kuvert in der Hand zurück, das er Hopkinson reichte. Der prüfte es und nickte.

»Das ist der Umschlag, in dem ich ihr das Testament am vergangenen Donnerstag schickte.«

Beide Männer sahen Elizabeth fest an.

»Wünschen Sie noch etwas, Sir?« fragte sie höflich.

»Nein, im Augenblick nichts mehr, danke«, antwortete der Notar. »Moment mal! Sagen Sie - war im Kamin an jenem Abend Feuer?«

»Ja, Sir, wir machen jeden Abend Feuer.«

»Danke, das genügt.«

Elizabeth verschwand. Charles beugte sich vor, seine zitternde Hand lag noch auf dem Tisch.

»Was denken Sie darüber? Was wollen Sie tun?«

Hopkinson hob die Schultern.

»Da können wir nur hoffen, daß das Testament noch irgendwo auftaucht. Wenn nicht... «

»Was dann?«

»Dann, fürchte ich, gibt es nur eine Schlußfolgerung: Ihre Tante ließ sich das Testament schicken, um es zu vernichten Da sie nicht wollte, daß Elizabeth dadurch etwas verlöre, gab sie ihr die fünfzig Pfund in bar.«

»Aber warum?« schrie Charles verzweifelt. »Warum denn?«

Hopkinson räusperte sich, trocken und unbeteiligt.

»Hatten Sie - äh - vielleicht eine Auseinandersetzung mit Ihrer Tante, Mr. Ridgeway?« murmelte er.

Charles schnappte nach Luft.

»Nein, wirklich nicht«, beteuerte er leidenschaftlich. »Wir verstanden uns ausgezeichnet, wir empfanden die aufrichtigste Zuneigung füreinander - bis zum Schluß.«

»Aha.«

Hopkinson sah ihn nicht an. Mit einem Schock wurde Charles klar, daß der Notar ihm nicht glaubte. Wer mochte wissen, was dieser Paragraphenhengst alles ahnte? Vielleicht waren ihm Gerüchte von Charles' Schulden zu Ohren gekommen. Vielleicht dachte er, daß auch seine Tante davon gewußt und ihr Neffe deswegen Streit mit ihr gehabt hatte? Charles machte die bittersten Minuten seines Lebens durch. Seine Lügen hatte man ihm geglaubt. Jetzt, da er die Wahrheit sagte, wurde an seinen Worten gezweifelt. Welche Ironie des Schicksals!

Natürlich hatte seine Tante das Testament nicht verbrannt, natürlich nicht. Sie hatte es doch in der Hand gehalten ...

Eine plötzliche Erkenntnis durchzuckte ihn. Wie war doch das Bild? Vor seinem geistigen Auge tauchte es wieder auf... Die alte Dame sprang auf, eine Hand auf das Herz gepreßt -aus der anderen glitt etwas, segelte etwas Weißes in die rote Glut des Kamins ... Charles' Gesicht wurde aschfahl.

Er hörte eine heisere Stimme, seine eigene, fragen: »Und wenn das Testament nicht gefunden wird?«

»Dann existiert noch ein früheres von Mrs. Harter. Es ist schon Jahre alt. Darin vermacht Mrs. Harter alles Vermögen ihrer Nichte Miriam Harter, jetzt Miriam Robinson.«

Was sagte der alte Idiot da? Miriam ...? Miriam mit ihrem komischen Ehemann und ihren vier rotznasigen Gören ... Sein ganzer kluger Plan - für Miriam?

Das Telefon schrillte grell unmittelbar neben Charles. Er hob den Hörer ab. Es war der Arzt. Seine warme, freundliche Stimme sagte: »Ridgeway, sind Sie's? Sie wollen doch sicherlich den Befund erfahren. Die Autopsie ist gerade beendet worden. Todesursache wie ich vermutet habe. Aber ihr Herz war schon viel schwächer, als ich damals gedacht hatte. Bei allergrößter Vorsicht hätte sie höchstens noch zwei Monate zu leben gehabt. Vielleicht ist es ein Trost für Sie.«

»Verzeihung«, sagte Charles. »Würden Sie das bitte noch einmal sagen?«

»Sie hätte auf jeden Fall nicht mehr länger als zwei Monate leben können«, wiederholte der Arzt ein wenig lauter. »Alles hat auch wieder sein Gutes, mein lieber Junge, sehen Sie ...«

Charles legte den Hörer langsam auf die Gabel zurück. Mit halbem Bewußtsein hörte er die weit entfernte Stimme des Notars.

»Mein Gott, mein lieber Ridgeway, ist Ihnen nicht wohl? Sind Sie krank?«


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