Die Lampe

Es war unzweifelhaft ein altes Haus. Der ganze Ort war alt, von jenem abweisenden, ehrwürdigen Alter, das man so oft in Städten mit Kathedralen trifft. Das Haus Nummer 19 machte den Eindruck, als sei es das älteste von allen. Es stand da in wahrhaft patriarchalischer Strenge - seine Türmchen waren vom grauesten Grau, von der hochmütigsten Hochmütigkeit, vom frostigsten Frost. Streng, achtunggebietend und von der besonderen Einsamkeit geprägt, die allen Häusern eigen ist, die lange Zeit unbewohnt sind, dominierte es über die anderen Wohnhäuser.

In jeder anderen Stadt hätte man es als Spukhaus bezeichnet, aber Weyminster hegte tiefen Widerwillen gegen Geister und betrachtete sie nicht als verehrungswürdig, außer wenn es sich um frühere Angehörige der Grafschaftsfamilie handelte. So wurde dem Haus das Gerücht des Spuks verwehrt; nichtsdestoweniger stand es Jahr für Jahr »zu vermieten« und »zu verkaufen«.

Mrs. Lancaster betrachtete das Haus wohlwollend, als es ihr der geschwätzige Immobilienmakler zeigte. Er war ungewöhnlich heiterer Stimmung bei dem Gedanken, die Nummer 19 bald aus seinen Büchern streichen zu können. Als er den Schlüssel ins Haustürschloß steckte, redete er ununterbrochen auf sie ein und sparte weder mit lobenden Kommentaren noch mit Komplimenten.

»Wie lange steht das Haus leer?« erkundigte sich Mrs. Lancaster, indem sie seinen Wortschwall brüsk unterbrach.

Mr. Raddish von der Firma Raddish & Foplow wand sich verlegen.

»Äh ... äh ... einige Zeit«, bemerkte er sanft.

»Das habe ich mir gedacht«, sagte Mrs. Lancaster trocken.

Die spärlich beleuchtete Vorhalle war eiskalt, feucht und düster. Eine phantasievollere Frau hätte einen unheimlichen Schauer verspürt, aber diese Frau war ausschließlich praktisch veranlagt. Sie war hochgewachsen, ihr Haar war dunkelbraun und voll, mit einem leichten grauen Schimmer, und ihre Augen waren von kaltem Blau. Sie untersuchte das Haus vom Speicher bis zum Keller genau und stellte von Zeit zu Zeit Fragen. Als die Inspektion vorbei war, ging sie in eines der vorderen Zimmer, deren Fenster zur Straße lagen, und blickte mit entschlossener Miene dem Agenten ins Auge. »Was ist mit diesem Haus los?«

Mr. Raddish tat sehr verwundert.

»Ein unbewohntes Haus wirkt immer ein wenig unheimlich. Das ist natürlich«, parierte er schwach.

»Unsinn«, sagte Mrs. Lancaster. »Die Miete ist lächerlich niedrig für das Haus, rein nominell - so, als ob man aus bestimmten Gründen sich nicht getrauen würde, es gleich zu verschenken. Dafür muß es doch einen Grund geben. Ich nehme an, es spukt hier.«

Mr. Raddish schüttelte nervös auflachend den Kopf, sagte aber nichts. Mrs. Lancaster beobachtete ihn neugierig. Nach einigen Augenblicken sprach sie weiter:

»Natürlich ist das Unsinn. Ich glaube nicht an Geister oder ähnliches, und es hat keinen Einfluß darauf, ob ich das Haus nehme oder nicht. Aber die Bediensteten sind leider abergläubisch und ängstlich. Es wäre also nett von Ihnen, mir zu erzählen, welcher Art der Spuk in diesem Haus sein soll.«

»Äh, das weiß ich wirklich nicht«, stammelte der Häuseragent.

»Doch, Sie wissen es«, sagte die Dame ruhig. »Ich kann das Haus nicht nehmen, wenn ich das nicht weiß. Was war los? Ein Mord?«

»Nein, nein!« rief Mr. Raddish, empört bei dem Gedanken, daß etwas so Entsetzliches mit der Ehrbarkeit des Platzes in Verbindung gebracht werden konnte. »Es ist - es ist ein Kind.«

»Ein Kind?«

»Ja. Ich kenne die Geschichte nicht genau«, begann er zögernd. »Es gibt die verschiedensten Versionen, aber ich hörte, daß vor ungefähr dreißig Jahren ein Mann namens William die Nummer 19 nahm. Niemand wußte etwas über ihn. Er hielt keine Diener. Er hatte keine Freunde. Er ging tagsüber selten aus. Er hatte ein Kind, einen kleinen Jungen. Nachdem er zwei Monate hier gewesen war, ging er nach London, und kaum hatte er den Fuß in die Stadt gesetzt, als man ihn als einen >von der Polizei Gesuchtem erkannte. Weswegen, weiß ich nicht. Aber es muß ein schweres Verbrechen gewesen sein, denn bevor man ihn fassen konnte, zog er es vor, sich selbst zu erschießen. In der Zwischenzeit war das Kind hier allein in dem Haus. Es hatte zwar noch für eine Zeitlang zu essen, aber es wartete vergeblich Tag für Tag darauf, daß sein Vater zurückkäme. Unglücklicherweise war ihm eingetrichtert worden, unter keinen Umständen das Haus zu verlassen noch mit jemandem zu sprechen. Es war ein schwaches, kränkliches, kleines Geschöpf und dachte nicht im Traum daran, dem Befehl seines Vater zuwiderzuhandeln. Nachts hörten es die Nachbarn, die nicht wußten, daß sein Vater fortgegangen war, oft in der schrecklichen Einsamkeit und Verlassenheit des düsteren Hauses wimmern.«

Mr. Raddish machte eine Pause.

»Und dann ist das Kind verhungert«, schloß er im gleichen Tonfall, in dem er auch hätte sagen können, es würde gleich zu regnen anfangen.

»Und jetzt nimmt man an, daß der Geist des Kindes in dem Haus herumspukt?« fragte Mrs. Lancaster.

»Es ist nichts von Bedeutung«, beeilte sich Mr. Raddish zu versichern. »Man hat nie etwas gesehen, nur - es ist natürlich lächerlich, wenn die Leute behaupten, sie hörten das Kind weinen, wissen Sie.«

Mrs. Lancaster ging auf die Haustür zu.

»Mir gefällt das Haus«, entschied sie. »Für diesen Preis werde ich nichts Besseres finden. Ich werde darüber nachdenken, dann gebe ich Ihnen Bescheid.«

»Es sieht wirklich heiter aus, nicht wahr, Papa?«

Mrs. Lancaster betrachtete ihr neues Besitztum voller Genugtuung. Bunte Teppiche, glänzend polierte Möbel und viele Nippsachen hatten die Nummer 19 mit ihrer Düsterkeit völlig verwandelt.

Sie sprach mit einem mageren, etwas gebeugten alten Mann mit krummen Schultern und einem feingeschnittenen, geheimnisvollen Gesicht.

Mr. Winburn hatte keinerlei Ähnlichkeit mit seiner Tochter, man konnte sich kaum einen stärkeren Gegensatz vorstellen. Sie war resolut und praktisch, er verträumt und abwesend.

»Ja«, antwortete er lächelnd, »keiner käme auf die Idee, in dem Haus einen Spuk zu vermuten.«

»Papa, rede keinen Unfug! Und das an unserem ersten Tag.«

Mr. Winburn lächelte.

»Nun gut, mein Liebling, einigen wir uns darauf, daß es so etwas wie Geister nicht gibt.«

»Und bitte«, fuhr Mrs. Lancaster fort, »erwähne nichts davon vor Geoff. Er hat zuviel Phantasie.«

Geoff war Mrs. Lancasters kleiner Bub. Die Familie bestand aus Mr. Winburn, seiner verwitweten Tochter und Geoffrey.

Der Regen schlug gegen die Fensterscheiben - tripp-trapp, tripp-trapp.

»Hör mal?« fragte Mr. Winburn. »Klingt das nicht wie kleine Schritte?« »Es klingt nach Regen«, sagte Mrs. Lancaster mit einem Lächeln.

»Aber das - das sind Schritte«, schrie ihr Vater und beugte sich vor, um besser lauschen zu können.

Mrs. Lancaster lachte laut auf.

»Tatsächlich, du hast recht. Da kommt Geoff die Treppe herunter.«

Mr. Winburn mußte auch lachen. Sie tranken Tee im Salon, und er hatte mit dem Rücken zur Treppe gesessen. Jetzt rückte er seinen Stuhl herum, um besser zur Treppe sehen zu können.

Da kam gerade der kleine Geoffrey herunter, ziemlich langsam und zögernd, mit der Scheu des Kindes vor einem fremden Haus. Die Treppen waren aus polierter Eiche, und es lag kein Läufer darauf. Er kam herüber und stellte sich neben seine Mutter. Mr. Winburn fuhr leicht hoch. Während das Kind durch die Halle gekommen war, hatte er deutlich andere Fußtritte auf der Treppe gehört, wie von jemandem, der Geoffrey nachschlich. Schleppende Schritte, die merkwürdig gequält klangen. Dann zuckte Mr. Winburn ungläubig die Achseln. Sicher der Regen, sicher der Regen, dachte er.

»Ich sehe, ihr habt Sandkuchen«, bemerkte Geoff mit der bewundernswert unbeteiligten Miene von jemandem, der eine interessante Tatsache hervorhebt.

Seine Mutter beeilte sich, seinem Wink zu entsprechen.

»Nun, mein Schatz, wie gefällt dir dein neues Heim?« fragte sie.

»Au, prima«, entgegnete Geoffrey, eifrig kauend. »Ganz prima, einmalig.«

Nach dieser letzten Aussage, die offensichtlich Ausdruck tiefster Zufriedenheit war, verfiel er in Schweigen, einzig noch bedacht, den Sandkuchen in kürzestmöglicher Frist aus menschlicher Sicht zu entfernen. Nachdem er den letzten Bissen hinuntergeschlungen hatte, begann er zu erzählen.

»O Mami, hier gibt's Speicher, sagt Jane. Kann ich gleich mal raufgehen und sie untersuchen? Vielleicht gibt's da Geheimtüren. Jane sagt, es gebe keine, aber es gibt doch welche - bestimmt, und ich weiß auch, daß es dort Wasserleitungen gibt. Kann ich damit spielen, und darf ich mal den Bo-i-ler sehen?«

Das vorletzte Wort hatte er mit einer solchen Begeisterung ausgesprochen, wobei seinem Großvater ärgerlich einfiel, daß dieses Objekt kindlichen Entzückens in seiner eigenen Beurteilung leider nur die Vorstellung von heißem Wasser, das gar nicht warm war, aber von hohen und zahlreichen Rechnungen der Rohrleger hervorrief.

»Die Speicher werden wir uns morgen ansehen, mein Kind«, sagte Mrs. Lancaster. »Wie wäre es denn, wenn du dir deine Bauklötze holtest und ein hübsches Haus bautest? Oder eine Lokomotive?«

»Will kein Haus bauen, und auch keine Lokomotive.«

»Bau doch einen Boiler«, schlug der Großvater vor. Geoffrey strahlte.

»Mit Leitungen?«

»Ja, mit ganz vielen Leitungen, hörst du?«

Geoffrey rannte schon glückstrahlend los, seine Bauklötze zu holen.

Es regnete noch immer. Mr. Winburn lauschte. Ja, es mußte doch wohl der Regen gewesen sein, was er da gehört hatte; aber es hatte sich täuschend ähnlich wie Schritte angehört.

In der darauffolgenden Nacht hatte er einen sonderbaren Traum.

Er träumte, er spaziere durch die Stadt - eine Großstadt, wie ihm schien. Aber es war eine Kinderstadt. Es gab überhaupt keine Erwachsenen darin; nur Kinder, in ganzen Mengen. In seinem Traum rannten sie alle auf den Fremden zu, indem sie schrien:

»Hast du ihn mitgebracht?«

Ihm schien, er habe verstanden, was sie meinten, und schüttelte den Kopf. Als die Kinder das sahen, wandten sie sich ab und begannen zu weinen und bitterlich zu schluchzen. Die Stadt und die Kinder entschwanden, und er erwachte.

Er lag in seinem Bett, aber das bitterliche Schluchzen war noch in seinen Ohren. Obwohl hellwach, hörte er es ganz deutlich. Da fiel ihm ein, daß Geoffrey im Stockwerk unter ihm schlief, während das Geräusch kindlichen Jammers von oben kam. Er setzte sich auf und zündete ein Streichholz an. Sofort hörte das Schluchzen auf.

Mr. Winburn sagte seiner Tochter nichts von seinem Traum und dem, was er gehört hatte. Er war davon überzeugt, daß es kein Streich oder gar eine Einbildung seinerseits war. Tatsächlich hörte er bald darauf wieder etwas, und zwar am hellichten Tag. Der Wind heulte im Kamin, aber da war noch ein anderes Geräusch - deutlich hörbar, unmißverständlich: herzzerreißende kleine Schluchzer.

Er bekam auch bald heraus, daß er nicht der einzige war, der dies hörte. Er kam hinzu, wie das Dienstmädchen zum Stubenmädchen sagte, daß sie glaube, das Kindermädchen sei nicht gut zum kleinen Geoffrey, denn sie hätte gehört, wie schrecklich er heute morgen geweint habe. Später kam Geoffrey zum Frühstück und zum Mittagessen herunter, strahlend vor Gesundheit und Glück. Und Mr. Winburn wußte, daß es nicht Geoff gewesen sein konnte, den das Dienstmädchen weinen gehört hatte, sondern das andere Kind, dessen schleppende Schritte ihn eben mehr als einmal hatten hochfahren lassen.

Nur Mrs. Lancaster hörte nichts. Ihre Ohren waren vielleicht nicht empfänglich für Geräusche aus einer anderen Welt. Doch eines Tages erhielt auch sie einen Schock.

»Mami«, sagte Geoffrey mit kläglicher Stimme. »Ich möchte, daß du mich mit dem kleinen Jungen spielen läßt.«

Mrs. Lancaster sah mit einem Lächeln von ihrem Schreibtisch auf.

»Mit was für einem Jungen denn, mein Liebling?«

»Ich weiß nicht, wie er heißt. Er war auf dem Speicher, er saß da auf dem Fußboden und weinte, aber er rannte weg, als er mich sah. Ich glaube, er ist sehr scheu« - ein Schimmer von Zufriedenheit huschte dabei über Geoffreys Gesichtchen -, »nicht wie ein richtiger Junge; und dann, als ich im Spielzimmer war, habe ich ihn wieder gesehen. Er stand in der Tür und sah mir zu, wie ich mit den Bauklötzen spielte, dabei sah er so schrecklich allein aus und so, als ob er mit mir spielen wollte. Ich habe gesagt: >Komm und bau eine Lokomotive.< Aber er sagte nichts, er schaute nur so. Weißt du, Mami - als ob er ganz viel Schokolade sähe, aber seine Mami ihm verboten hätte, davon zu nehmen.«

Geoffrey seufzte tief, traurige persönliche Erinnerungen aus seinem Kinderleben erfüllten ihn.

»Und dann hab ich Jane gefragt, wer das wäre, und ich habe ihr gesagt, daß ich mit ihm spielen möchte. Da hat sie geantwortet, es sei gar kein kleiner Junge im Haus, und ich solle kein dummes Zeug reden ... Ich mag Jane nicht.«

Mrs. Lancaster stand auf.

»Jane hat aber recht. Es gibt hier keinen kleinen Jungen.«

»Aber ich habe ihn doch gesehen. O Mami, laß mich doch mit ihm spielen, er sah so schrecklich allein aus und so unglücklich. Ich will, daß er sich wohler fühlt.«

Gerade wollte Mrs. Lancaster wieder etwas sagen, als ihr Vater den Kopf schüttelte.

»Geoff«, sagte er sanft. »Dieser arme kleine Junge ist allein. Vielleicht kannst du etwas tun, damit er sich wohler fühlt; aber wie, das kannst nur du selber herausfinden - wie in einem Puzzlespiel, verstehst du?« »Du meinst, weil ich jetzt schon so groß bin, kann ich das ganz allein?«

»Ja, weil du jetzt schon so groß bist.«

Als der Junge aus dem Zimmer gegangen war, wandte sich Mrs. Lancaster ungeduldig ihrem Vater zu.

»Papa, das ist doch wirklich absurd. Du bestätigst dem Jungen das, was er von den Dienstmädchen hört?«

»Kein Dienstmädchen hat dem Kind etwas erzählt«, sagte der alte Mann freundlich. »Er hat nur gesehen, was ich nur gehört habe - was ich vielleicht selber gesehen hätte, wenn ich noch in seinem Alter wäre.«

»Aber das ist doch ein kompletter Unfug! Warum höre oder sehe ich denn nichts?«

Mr. Winburn lächelte, ein merkwürdiges müdes Lächeln, aber er antwortete nichts.

»Warum?« wiederholte seine Tochter. »Und warum hast du ihm auch noch gesagt, er könnte diesem - diesem Gespenst helfen? Das ist doch - das ist doch unmöglich.«

Der alte Mann sah sie freundlich und nachdenklich an

»Warum nicht?« sagte er. »Hast du das kleine Gedicht vergessen?

Welche Lampe hat die Bestimmung, ihre kleinen Kinder, die im Dunkeln irren, zu führen?

Ein sechster Sinn, antwortete der Himmel.<

Geoffrey hat ihn - den >sechsten Sinn<. Alle Kinder haben ihn. Wenn wir erwachsen werden, verlieren wir ihn, das heißt, wir werfen ihn fort. Wenn wir dann wieder ganz alt werden, kommt manchmal ein schwacher Abglanz davon zurück. Aber diese Lampe leuchtet in der Kindheit am hellsten.«

»Ich verstehe kein Wort«, murmelte Mrs. Lancaster.

»Alles verstehe ich auch nicht. Nur eines habe ich ver-standen, daß hier ein Kind tiefen Kummer hat und sich nur eines wünscht - davon befreit zu werden. Aber wie? Ich weiß es nicht, aber es ist schrecklich, es zu wissen. Das Kind schluchzt sich das Herz aus dem Leibe ...«

Einen Monat nach dieser Unterhaltung wurde Geoffrey krank. Der Ostwind war kalt gewesen, und Geoff war kein sehr widerstandsfähiges Kind. Der Arzt schüttelte den Kopf und sagte, es sei ein ernster Fall. Mr. Winburn vertraute er etwas mehr an und bekannte, daß es ziemlich hoffnungslos wäre.

»Auf jeden Fall würde das Kind unter gar keinen Umständen so lange leben können, bis es erwachsen wäre«, fügte er hinzu. »Es hat schon lange einen schweren Lungenschaden.«

Als Mrs. Lancaster Geoff pflegte, bemerkte auch sie etwas - von dem anderen Kind. Zuerst waren die Schluchzer ein kaum zu unterscheidender Teil des Windbrausens, aber allmählich wurden sie immer deutlicher, unmißverständlicher. Schließlich hörte sie sie auch in Momenten völliger Stille: das Schluchzen eines Kindes -trostlos, hoffnungslos, mit gebrochenem Herzen. Geoffs Gesundheitszustand wurde zusehends schlechter, und in seinem Delirium sprach er wieder und wieder von dem kleinen Jungen.

»Ich will ihm helfen, hier wegzukommen, ich will!« schrie er.

Auf das Delirium folgte ein Zustand der Lethargie. Geoffrey lag ganz still, er atmete kaum, ganz in Abwesenheit versunken. Da konnte man nichts mehr tun, nur warten und wachen. Dann eine ruhige Nacht, still und klar, ohne einen einzigen Windhauch.

Plötzlich bewegte sich das Kind. Es öffnete die Augen. Es sah an seiner Mutter vorbei zur offenen Tür. Es versuchte zu sprechen, und sie beugte sich zu ihm hinab, um die leise gehauchten Worte zu hören.

»Es ist gut, ich komme«, flüsterte es, dann sank es zurück.

Die Mutter empfand plötzlich lähmendes Entsetzen, sie rannte durch das Zimmer zu ihrem Vater. Irgendwo in der Nähe lachte das andere Kind. Fröhlich, zufrieden, triumphierend - ein silberhelles Lachen echote durch den Raum.

»Ich habe Angst. Ich habe solche Angst«, stöhnte sie.

Er legte schützend den Arm um ihre Schultern. Ein plötzlicher Windstoß ließ beide auffahren, aber er legte sich rasch wieder, und die Luft war wieder ruhig wie zuvor.

Das Lachen hatte aufgehört, als ein leises Geräusch entstand, so schwach, daß man es zuerst kaum hören konnte, doch es wurde lauter und lauter, bis sie es ganz deutlich erkennen konnten. Schritte - leichte Schritte, die schnell näher kamen ...

Tripp-trapp, tripp-trapp... Sie begannen zu rennen, diese wohlbekannten, leichten kleinen Füßchen. Da - jetzt kamen deutlich andere Fußtritte dazu, vermischten sich mit den ersteren, und beide näherten sich mit noch leichteren, noch schnelleren Schritten. Im Einklang hasteten sie zur Tür. Dann weiter ... tripp-trapp ... durch die Tür, an ihnen vorbei... tripp-trapp ... unsichtbar gingen die Füße der beiden Kinder im gleichen Takt. Mrs. Lancaster blickte verzweifelt auf.

»Jetzt sind es zwei, Vater... zwei!«

Bleich vor Angst wollte sie zu Geoffreys Bett zurück, doch ihr Vater hielt sie sanft zurück und deutete auf die geöffnete Tür.

»Da«, sagte er tonlos.

Tripp-trapp, tripp-trapp ... schwächer und schwächer wurden die Schritte.

Und dann - Stille.

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