Das rote Signal

»Nein, wie entsetzlich aufregend«, stöhnte die hübsche Mrs. Eversleigh, indem sie ihre großen, blauen Augen weit aufriß. »Man sagt doch immer, Frauen hätten einen sechsten Sinn. Glauben Sie, daß das wahr ist, Sir Alington'?«

Der berühmte Psychiater lächelte höhnisch. Er empfand grenzenlose Verachtung für diesen dümmlichen hübschen Frauentyp, zu dem seine jetzige Tischdame gehörte. Alington West war die Autorität schlechthin, was Geisteskrankheiten betraf, und er war sich seiner Stellung und Wichtigkeit voll und ganz bewußt - ein leicht schwammiger Mann von fülliger Figur.

»Da wird eine Menge Blödsinn erzählt, ich weiß das, Mrs. Eversleigh. Was bedeutet überhaupt der Begriff >sechster Sinn

»Ach, ihr Wissenschaftler seid immer so gründlich. Aber es ist doch ungewöhnlich, wie man manchmal Dinge weiß, einfach weiß, fühlt, ich meine ... ganz unheimlich, wirklich. Claire weiß, was ich meine, nicht wahr, Claire?«

Mrs. Eversleigh machte einen Schmollmund und wandte sich mit leicht vorgebeugten Schultern ihrer Gastgeberin zu.

Claire Trent antwortete nicht gleich. Sie und ihr Mann hatten zum Abendessen eine kleine Gesellschaft eingeladen: Violet Eversleigh, Sir Alington West und dessen Neffen Dermot West, einen alten Freund von Jack Trent. Jack Trent selbst war ein schwerer Mann mit gerötetem Gesicht. Er lächelte gutmütig, sein Lachen war angenehm träge. Er nahm den Faden der Unterhaltung wieder auf.

»Unsinn, Violet. Dein bester Freund kam bei einem Eisenbahnunglück ums Leben. Sofort fällt dir wieder ein, daß du Dienstag nacht von einer schwarzen Katze geträumt hast — wunderbar, du wußtest also während der ganzen Zeit, es würde etwas passieren.«

»O nein, Jack, jetzt wirfst du Vorahnung und Intuition durcheinander... Sir Alington, sagen Sie es bitte. Sie müssen doch zugeben, daß es Vorahnungen tatsächlich gibt.«

»Bis zu einem gewissen Grad, vielleicht«, stimmte der Arzt vorsichtig zu. »Aber der Zufall spielt meist eine große Rolle, und dann tendiert man allzu leicht dazu, hinterher zu behaupten, man habe alles schon vorher gewußt. Das müssen wir dabei immer in Betracht ziehen.«

»Ich glaube nicht, daß es so etwas wie Vorahnungen gibt«, behauptete Claire Trent ziemlich unvermittelt, »oder Intuition oder einen sechsten Sinn oder irgend etwas, von dem wir so zungenfertig reden. Wir gehen durch das Leben wie ein Zug, der durch die Dunkelheit zu einem unbekannten Ziel rast.«

»Das ist kein besonders treffender Vergleich, Mrs. Trent«, sagte Dermot West, indem er den Kopf hob und zum erstenmal an der Diskussion teilnahm. Es lag ein sonderbarer Schimmer in seinen klaren grauen Augen, die seltsam hell aus dem dunkelgebräunten Gesicht blickten. »Sie haben die Signale vergessen, nicht wahr?«

»Rot für Gefahr - wie aufregend!« japste Violet Eversleigh.

Dermot wandte sich ihr ungeduldig zu.

»Genauso ist es doch: Gefahr voraus - rotes Signal. Paß auf!«

Trent warf ihm einen abschätzenden Blick zu.

»Du sprichst wie aus eigener Erfahrung, alter Junge.«

»So ist es - war es, meine ich.«

»Wieso? Ist dir etwas Derartiges passiert?«

»Ich kann euch ein Beispiel geben ... Damals in Mesopotamien ... gleich nach dem Waffenstillstand ... Eines Abends betrat ich mit einem beunruhigenden Gefühl mein Zelt. Ich spürte Gefahr. Paß auf, dachte ich. Dabei hatte ich keine Ahnung, wovor ich mich hüten sollte. Ich machte im Lager eine Runde, unnötig aufgeregt, traf alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen, um mich vor dem eventuellen Angriff eines Feindes zu schützen. Dann ging ich in mein Zelt zurück. Sobald ich es betreten hatte, überkam mich dasselbe beunruhigende Gefühl wieder, noch stärker als vorher. Gefahr! Schließlich nahm ich eine Decke mit ins Freie, rollte mich darin ein und schlief draußen.«

»Und?«

»Als ich am nächsten Morgen wieder in mein Zelt kam, war das erste, was ich sah, der Knauf eines großen Dolches, ungefähr einen halben Meter lang, der durch meine Matratze gestoßen worden war - genau an der Stelle, an der ich gelegen hätte. Ich fand bald heraus, daß es einer meiner arabischen Diener gewesen war. Sein Sohn war als Spion erschossen worden ... was sagst du dazu, Onkel Alington? Für mich war das ein Beispiel für meine Bezeichnung >rotes Signal<.«

Der Spezialist lächelte besserwisserisch.

»Eine höchst interessante Geschichte, mein lieber Dermot.«

»Würdest du sie vorbehaltlos glauben?«

»Doch, doch. Ich zweifle nicht daran, daß du die Vorahnung einer Gefahr hattest. Es ist mehr der Ursprung der Vorahnung, den ich in Zweifel ziehe. Nach dem, was du erzähltest, drang dieses Gefühl von außerhalb auf dich ein. Wir neigen heute zu der Ansicht, daß fast alles von innen, aus unserem Unterbewußtsein entsteht.«

»Ja, ja, das gute alte Unterbewußtsein«, rief Jack Trent dazwischen. »Damit wird heutzutage alles erklärt.«

Sir Alington fuhr fort, ohne auf die Unterbrechung einzugehen.

»Ich nehme an, daß dieser Araber sich durch einen Blick oder seine Miene verraten hat. Dein bewußtes Ich hatte das nicht registriert oder erinnerte sich nicht daran, mit deinem Unterbewußtsein war das anders. Das Unterbewußtsein vergißt nichts. Wir glauben auch, daß dieses Unterbewußte folgern und ableiten kann, und zwar völlig unabhängig von unserem bewußten Willen. Dein Unterbewußtsein schloß also, daß man einen Versuch unternehmen würde, dich umzubringen; in diesem Falle setzte es sich erfolgreich durch, indem es das Angstgefühl in deine bewußte Erkenntnis zwang.«

»Das klingt sehr einleuchtend, wie ich zugeben muß«, sagte Dermot lächelnd.

»Aber längst nicht so aufregend«, zwitscherte Mrs. Eversleigh.

»Es ist auch möglich, daß du unbewußt den Haß des Mannes spürtest. Das, was man früher Telepathie nannte, existiert sicher, obwohl die Umstände, unter denen sie zustande kommt, oft falsch ausgelegt und mißverstanden werden.«

»Gibt es dafür noch andere Beispiele?« fragte Claire.

»O ja, leider nicht ganz so malerisch. Ich nehme an, auch das könnte unter die Überschrift >Zufall< gesetzt werden.« Dermot machte eine kleine Pause. »Ich lehnte einmal eine Einladung in ein Landhaus ab, aus keinem anderen Grund als dem Aufleuchten meines roten Signals. Das Haus brannte in der Woche darauf ab. Übrigens, Onkel Alington, wo setzt in diesem Fall das Unterbewußtsein ein?«

»Ich fürchte, überhaupt nicht«, antwortete Sir Alington und lächelte.

»Aber bestimmt hast du dafür eine gute Erklärung. Komm, sag sie uns. Du brauchst wegen deines Verwandten nicht taktvoll zu sein.«

»Also gut, mein Neffe, ich habe dich bei dieser Geschichte stark im Verdacht, daß du die Einladung nur aus dem sehr gewöhnlichen Grund ablehntest, weil du sie nicht übermäßig gern annehmen wolltest, und daß du dir nach dem Feuer selbst eingeredet hast, du hättest vorher ein warnendes Gefühl vor einer Gefahr verspürt... Dieser eingeredeten Überzeugung hast du dann blinden Glauben geschenkt.«

»Es ist hoffnungslos«, lachte Dermot. »Ich gebe mich geschlagen. Du gewinnst immer, Onkel.«

»Machen Sie sich nichts daraus, Mr. West«, rief Violet Eversleigh. »Ich glaube blind an Ihr rotes Signal. Sahen Sie es in Mesopotamien das letztemal?«

»Ja - bis ... «

»Verzeihung?«

»Ach, nichts.«

Dermot saß schweigend da. Die Worte, die ihm fast noch aus dem Mund gerutscht wären, hießen: »... bis heute abend.« Sie waren ganz ungebeten bis zu seinen Lippen gekommen und wollten eine Empfindung ausdrücken, die er bis soeben noch nicht bewußt erkannt hatte. Doch plötzlich hatte er gewußt, daß diese Ahnung richtig war. Das rote Signal leuchtete in der Dunkelheit auf... Gefahr! Akute Gefahr!

Aber warum? Welche begreifbare Gefahr konnte ihm drohen? Hier, im Hause seines Freundes? Niemals! Und doch, es gab eine Art von Gefahr. Er sah Claire Trent an - ihre Blässe, ihre Schlankheit, das vielsagende Hängenlassen ihres goldblonden Kopfes. Aber diese Gefahr bestand schon geraume Zeit. Jack Trent war sein bester Freund, noch mehr als das: Er war derjenige gewesen, der ihm in Flandern das Leben gerettet hatte und den man dafür zum Vizekonsul ernannt hatte. Jack war einer der Besten! Eine dumme Sache, daß er, Dermot, sich ausgerechnet in Jacks Frau verlieben mußte ...

Dermot hatte bisher gedacht, er könnte es überwinden. Einmal mußte der Schmerz doch vorübergehen. Man mußte ihn aushungern können ... Sie durfte ja niemals etwas ahnen, und wenn sie es vermutete, durfte nicht die Gefahr entstehen, daß er sie berührte. Für ihn durfte sie nur eine Wunschgestalt, eine wunderschöne Statue, eine Göttin aus Gold und Elfenbein und blaßrosa Korallen sein - ein Spielzeug für einen König, aber keine wirkliche Frau ... Claire! Allein ihr Name, nur in Gedanken erwähnt, tat ihm schon weh... Er mußte das überwinden. Er hatte doch auch vorher Frauen gern gemocht...

»Aber nicht so«, schrie es in ihm. »Nicht so!«

Nun ja, es hatte ihn gepackt. Es bestand aber keine Gefahr dabei - Leid, Herzenskummer, ja, jedoch keine Gefahr. Nicht die Gefahr für das rote Signal! Das mußte vor etwas anderem warnen...

Er sah sich am Tisch um. Zum erstenmal kam ihm zum Bewußtsein, daß es eine recht ungewöhnliche Versammlung war. Sein Onkel zum Beispiel ging selten zum Essen aus und erst recht nicht zu inoffiziellen Anlässen wie einem solchen. Die Trents waren zwar alte Freunde von ihm, dennoch hätte er die Einladung nicht angenommen, wenn nicht ein besonderer Grund vorlag. Bis heute abend war Dermot noch nicht bewußt gewesen, daß er seinen Onkel eigentlich gar nicht wirklich kannte. Es gab allerdings eine Erklärung für das Verhalten Sir Alingtons. Nach dem Abendessen wurde ein Medium erwartet, mit dem eine Sitzung abgehalten werden sollte. Sir Alington hatte erkennen lassen, an spiritistischen Sitzungen, wenn auch nicht übermäßig, interessiert zu sein. Ja, das war bestimmt die Entschuldigung dafür, daß sein Onkel seine Gewohnheit durchbrochen hatte.

Dieses Wort »Entschuldigung« drängte sich weiter in Dermots Gedanken. Eine Entschuldigung? Für die »Sitzung« etwa, um die Anwesenheit als Spezialist bei diesem Abendessen zu erklären? Eine Menge von Einzelheiten schossen Dermot durch den Kopf; Nebensächlichkeiten, die er bis jetzt gar nicht beachtet oder, wie sein Onkel gesagt hatte, die sein Bewußtsein bisher nicht registriert hatte.

Der große Arzt hatte Claire mehr als einmal recht merkwürdig angesehen. Er schien sie zu beobachten. Sie fühlte sich unbehaglich unter seiner Beobachtung. Sie machte leise schnippende Bewegungen mit den Fingern. Sie war nervös, hochgradig nervös. Konnte es sein - war es möglich, daß sie Angst hatte? Warum sollte sie Angst haben? Mit einem Ruck zwang Dermot seine Aufmerksamkeit wieder der Unterhaltung zu. Mrs. Eversleigh hatte den großen Mann dazu gebracht, über sein eigenes Problem zu sprechen.

»Meine liebe Dame«, sagte er gerade, »was ist denn Wahnsinn? Ich kann Ihnen versichern, je mehr wir diese Krankheit erforschen, um so schwerer fällt es uns, sie beim Namen zu nennen. Bis zu einem gewissen Grade betrügen wir uns alle selbst. Wenn wir es so weit bringen, uns einzubilden, wir seien der Zar von Rußland, werden wir eingesperrt oder unter Bewachung gesetzt. Doch ist es ein weiter Weg bis zu diesem Punkt. An welchem klar bestimmbaren Punkt dieser Wegstrecke können wir einen Meilenstein aufstellen, auf dem steht, bis hierher ist Gesundheit, ab hier Wahnsinn? Wir können es nicht, Sie wissen es. Und noch etwas: Wenn ein Mann unter einer Einbildung leidet, aber imstande ist, das vor der Umwelt zu verheimlichen, dann werden wir aller Wahrscheinlichkeit nach diesen Mann von einem normalen nicht unterscheiden können. Die ungewöhnliche Schlauheit der Geisteskranken ist dabei ein überaus interessantes Problem.«

Sir Alington nippte genießerisch an seinem Wein und wandte sich wieder seiner Tischdame zu.

»Ich habe schon gehört, daß sie sehr schlau sind, ich meine diese Irren«, sagte Mrs. Eversleigh. »O ja, und zwar auf bemerkenswerte Weise. Die Unterdrückung einer bestimmten Wahnvorstellung kann oft eine verhängnisvolle Wirkung haben. Alle Arten von Unterdrückung sind gefährlich, wie uns die Psychoanalyse lehrt. Der Mann, der ein harmloses exzentrisches Hobby hat, überschreitet selten seine Grenzen. Aber der Mann« - er hielt inne - »oder die Frau, die dem Anschein nach völlig normal sind, können in Wirklichkeit für die Allgemeinheit eine ständige Gefahrenquelle bedeuten.«

Sein Blick wanderte langsam zu Claire und wieder zurück. Er nippte noch einmal an seinem Glas Wein.

Eine entsetzliche Angst ergriff Dermot. War es das, was er meinte? Unmöglich! Und doch ...

»Alles, was man selbst unterdrückt«, jammerte Mrs. Eversleigh. »Ich sehe ein, daß man sehr vorsichtig sein muß, wenn man jemandem seine eigene Persönlichkeit erklärt. Die Gefahr für andere wird gleich überbewertet.«

»Meine liebe Mrs. Eversleigh«, mahnte der Arzt nachsichtig, »Sie haben mich vollkommen mißverstanden. Die Ursache zu dem Unheil liegt in der physischen Beschaffenheit des Gehirns. Manchmal wird ihm von außen Schaden zugefügt, zum Beispiel durch einen Schlag, manchmal ist das Unheil - leider - auch vererbbar.«

»Vererbung ist eine traurige Sache«, flüsterte die hübsche Dame leise, »bei Schwindsucht und all dem.«

»Tuberkulose ist nicht vererbbar«, sagte Sir Alington trocken.

»Ach, was Sie nicht sagen. Ich dachte immer, gerade diese sei vererbbar. Wahnsinn ist doch auch vererbbar - wie schrecklich! Was sonst noch?«

»Gicht«, sagte Sir Alington lächelnd, »und Farbenblindheit. Letztere ist übrigens interessant. Sie wird nur auf männliche Nachkommen übertragen, auf weibliche latent. Es gibt viele farbenblinde Männer; um aber einer Frau Farbenblindheit zu übertragen, bedarf es eines farbenblinden Vaters und einer Mutter, in der diese Krankheit latent schlummert, eine Voraussetzung, die ziemlich selten eintritt. Das nennen wir geschlechtsbedingte Vererbung.«

»Und Wahnsinn vererbt sich nicht, oder doch?«

»Wahnsinn kann auf Frauen wie auf Männer gleichermaßen vererbt werden«, sagte der Arzt ernst.

Claire sprang plötzlich auf und stieß dabei ihren Stuhl so heftig zurück, daß er umkippte und polternd zu Boden fiel. Sie war blaß, das nervöse Schnippen ihrer Finger wurde sehr auffällig.

»Sie - Sie werden mich doch nicht allzu lange warten lassen«, bat sie. »Mrs. Thompson wird in ein paar Minuten hier sein.«

»Noch dieses Glas Portwein, dann komme ich zu Ihnen«, erklärte Sir Alington. »Ich kam ja schließlich hierher, um die Vorstellung dieser großartigen Mrs. Thompson zu erleben, nicht wahr? Nicht etwa, weil ich einen Anlaß brauchte!« Er verbeugte sich.

Claire lächelte ihm schwach und verstehend zu, dann ging sie aus dem Zimmer, ihre Hand auf Mrs. Eversleighs Schulter.

»Ich fürchte, ich habe ein wenig zuviel gefachsimpelt«, bemerkte der Arzt, als er sich gemütlich auf seinem Stuhl zurechtsetzte. »Verzeihen Sie mir, alter Freund.«

»Aber ich bitte Sie, das macht doch nichts«, sagte Trent. Er sah überanstrengt und besorgt aus. Zum erstenmal fühlte sich Dermot in der Gegenwart seines Freundes als Außenstehender. Diese beiden Männer trennte ein Geheimnis, das sie niemals miteinander teilen würden. Es war zu phantastisch und unglaublich. Wie waren nur Sir Alingtons Gedankenkombinationen entstanden? Durch ein paar Blicke und die Nervosität einer Frau ...? Sie tranken langsam ihre Gläser aus, dann gingen sie in den Wohnraum hinüber, wo gerade Mrs. Thompson angemeldet wurde.

Das Medium war eine dickliche, nicht mehr junge Frau, geschmacklos in schreiend bunten Samt gekleidet und mit einer lauten, gewöhnlichen Stimme.

»Ich hoffe, ich komme nicht zu spät, Mrs. Trent«, plauderte sie gutgelaunt. »Sie sagten neun Uhr, nicht wahr?«

»Sie sind pünktlich, Mrs. Thompson«, sagte Claire mit ihrer süßen, etwas heiseren Stimme. »Das ist unser kleiner Zirkel.«

Es wurde niemand vorgestellt; das schien offensichtlich so Brauch zu sein. Das Medium musterte alle eindringlich mit listigen Augen.

»Ich hoffe, daß wir ein paar gute Resultate erzielen«, bemerkte es lebhaft. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich es hasse, wenn ich wieder gehe und der Kreis unbefriedigt ist. Das macht mich wahnsinnig. Aber ich weiß, daß Shiromako, meine japanische Kontrolle, heute abend stark ist und alles gutgeht. Ich habe mich noch nie so labil gefühlt wie heute. Ich habe sogar einen französischen Hasenbraten abgelehnt, den ich als Toast mit Käse überbacken so gern esse.«

Dermot hörte zu, halb belustigt, halb angewidert. Wie prosaisch das alles war! Vielleicht urteilte er aber auch vorschnell und töricht? Letzten Endes war ja alles natürlich... Die Kräfte, die durch das Medium angerufen wurden, waren natürliche Kräfte, wenn sie auch unvollständig verstanden wurden. Ein großer Chirurg mochte am Abend vor einer schwierigen Operation wohl auch Verdauungsstörungen für die Zeit der Operation zu verhüten suchen. Warum nicht Mrs. Thompson?

Stühle wurden in einem Kreis arrangiert, die Lampen so aufgestellt, daß sie nach Belieben höher oder tiefer gezogen werden konnten. Es fiel Dermot auf, daß niemand Testfragen stellte. Nicht einmal Sir Alington erkundigte sich nach den Bedingungen der Sitzung. Er war aus einem anderen Grund hier. Der Abend mit Mrs. Thompson war für ihn nur ein Vorwand. Dermot erinnerte sich, daß Claires Mutter jenseits des Atlantiks gestorben war. Es war eine geheimnisvolle Geschichte gewesen ... Eine Erbkrankheit ...

Mit Gewalt zwang er sich, auf die Umgebung des Augenblicks zu achten. Jeder nahm Platz, das Licht wurde abgeschaltet - bis auf eine kleine rotbeschirmte Lampe auf einem abseits stehenden Tisch.

Eine Zeitlang hörte man nur die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge des Mediums. Allmählich kam ihr Atem immer keuchender, angestrengter. Dann - mit einer Plötzlichkeit, die Dermot zusammenfahren ließ - hörte man aus der entfernten Ecke des Zimmers lautes Klopfen. Es wiederholte sich in einer anderen Ecke. Es folgte ein Anschwellen der klopfenden Schläge. Sie verklangen, und höhnisches Gelächter wurde hörbar. Dann wieder Schweigen, in das hinein man eine Stimme vernahm, die der von Mrs. Thompson sehr unähnlich war, eine hochgeschraubte, seltsam altmodisch verdrehte Stimme.

»Ich bin hier, Gentlemen«, schnarrte sie. »Hach, wer ruft mich? Was wollt ihr von mir?«

»Wer sind Sie? Shiromako?« stöhnte Mrs. Thompson.

»Hach, ich bin Shiromako. Laßt mich in Ruhe! Ich bin glücklich.«

Es folgten Einzelheiten aus Shiromakos Leben, alle flach und uninteressant, Dermot hatte sie schon öfter gehört ... Vage Botschaften von angeblichen Verwandten, deren Beschreibung so allgemein gehalten war, daß sie auf jeden zutreffen konnte. Eine ältere Dame wäre gerade da und bespräche Grundsätze besonderer Art - einen der Anwesenden betreffend ...

»Da ist jemand anderer«, verkündete Shiromako, »mit wichtiger Nachricht für einen der Herren.«

Es entstand eine Pause. Dann sprach eine andere Stimme, die ihre Bemerkungen mit einem bösen, dämonischen Gekicher einleitete.

»Ha, ha! Ha, ha, ha! Es ist besser, wenn Sie nicht nach Hause gehen. Befolgen Sie meinen Rat.«

»Zu wem sprechen Sie?« fragte Trent respektlos.

»Zu einem von Ihnen dreien. Ich würde nicht nach Hause gehen, wenn ich er wäre. Ich sehe Blut! Nicht viel - aber es genügt. Gehen Sie nicht nach Hause!« Die Stimme wurde schwächer. »Gehen Sie nicht nach Hause!« Sie erstarb vollends.

Dermot fühlte sein Blut gefrieren. Er war fest davon überzeugt, daß die Warnung ihm gegolten hatte. Heute nacht lauerte eine Gefahr auf ihn ... Man hörte tiefe Atemzüge des Mediums, dann Stöhnen. Die Frau kam langsam wieder zu sich. Das Licht wurde angeknipst, sie setzte sich aufrecht, ihre Augen blinzelten noch ein wenig.

»Ist alles gutgegangen, meine Liebe?«

»Ja, sehr gut - danke schön. Mrs. Thompson.«

»Shiromako?«

»Ja, auch andere.«

Mrs. Thompson gähnte.

»Ich bin fix und fertig, total erschöpft. Es nimmt mich immer arg mit. Ich bin aber froh, daß es ein Erfolg war. Ich hatte schon Angst, es könnte nicht klappen, und fürchtete, es könnte etwas Unangenehmes passieren. Ich hatte heute abend ein komisches Gefühl in diesem Raum.«

Sie sah zuerst über ihre linke, dann über ihre rechte Schulter nach hinten und schüttelte sich unbehaglich.

»Ich mag Ahnungen nicht«, murmelte sie. »Gab es bei einem von Ihnen kürzlich einen plötzlichen Todesfall?«

Alle verneinten.

»Nicht? Nein? Nun, wenn ich abergläubisch wäre, würde ich sagen, heute läge ein Tod in der Luft. Vielleicht ist es bloße Einbildung - Unsinn ... Auf Wiedersehen, Mrs. Trent. Ich freue mich, daß Sie zufrieden sind.«

Mrs. Thompson verließ in ihrem knallfarbenen Samtko-stüm das Zimmer.

»Hat es Sie interessiert, Sir Alington«, fragte Claire, als sie zurückkam.

»Ein interessanter Abend, gnädige Frau. Haben Sie herzlichen Dank für die Einladung, und lassen Sie mich Ihnen noch einen schönen Abend wünschen. Sie gehen doch noch zu einem Ball, nicht wahr?«

»Möchten Sie mit uns kommen?«

»Nein, nein. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, gegen halb zwölf im Bett zu liegen. Gute Nacht - gute Nacht, Mrs. Eversleigh. Ach, Dermot, mit dir möchte ich noch etwas besprechen. Kannst du mich heimbegleiten? Du kannst ja anschließend die anderen in den Grafton Galleries wieder treffen.«

»Selbstverständlich, Onkel. Ich komme später nach, Trent.«

Während der Fahrt in die Harley Street wechselten Onkel und Neffe nur wenige Worte. Sir Alington entschuldigte sich, weil er Dermot aus der Gesellschaft entführt hatte, und versicherte ihm, er werde ihn nur ein paar Minuten aufhalten.

»Soll ich den Wagen warten lassen, mein Junge?« fragte Sir Alington, als sie ausstiegen.

»Nicht nötig, Onkel. Ich nehme mir nachher ein Taxi.«

»Sehr gut. Es ist mir auch lieber, wenn Charlson nicht länger als nötig aufbleiben muß. Gute Nacht, Charlson!«

Sie gingen zur Haustür.

»Wo zum Teufel habe ich denn den Schlüssel hingesteckt?«

Der Wagen fuhr davon, während Sir Alington auf den Stufen stand und vergeblich seine Taschen nach dem Schlüssel durchsuchte.

»Ich muß ihn in den anderen Mantel gesteckt haben«, knurrte er gedehnt. »Läute mal, mein Junge, ja? Johnson ist bestimmt noch auf.«

Der unerschütterliche Johnson öffnete die Tür innerhalb von sechzig Sekunden.

»Ich muß meinen Schlüssel verlegt haben, Johnson«, erklärte Sir Alington. »Bringen Sie uns, bitte, zwei Whisky mit Soda in die Bibliothek.«

»Sehr wohl, Sir.«

Der Arzt betrat die Bibliothek und schaltete das Licht ein. Er bedeutete Dermot, die Tür hinter sich zu schließen.

»Ich werde dich nicht lange aufhalten, Dermot, aber ich muß dir noch etwas sagen. Vielleicht ist es nur eine Einbildung meinerseits, oder hegst du wirklich zärtliche Gefühle für die Frau von Jack Trent?«

Das Blut schoß Dermot ins Gesicht.

»Jack Trent ist mein bester Freund.«

»Entschuldige, aber das ist keine Antwort auf meine Frage. Es mag sein, daß dir meine Ansichten über Scheidung und ähnliches puritanisch erscheinen, aber ich möchte dich daran erinnern, daß du mein einziger naher Verwandter und mein Erbe bist.«

»Von Scheidung ist gar keine Rede«, sagte Dermot ärgerlich.

»Gewiß nicht, und zwar aus einem Grund, den ich besser verstehe als du. Diesen Grund kann ich dir noch nicht erklären, aber ich möchte dich warnen. Claire Trent ist nichts für dich.«

Der junge Mann hielt dem Blick seines Onkels stand.

»Ich verstehe und erlaube mir, dir zu sagen - besser als du glaubst. Ich kenne wahrscheinlich den Grund, warum du heute abend zu dem Abendessen gegangen bist.«

»So?« Der Arzt war sichtlich betroffen. »Wieso konntest du das wissen?«

»Du kannst es Vermutung nennen, wenn du willst. Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, daß du aus beruflichen

Gründen dort warst.«

Sir Alington ging im Raum auf und ab.

»Du hast recht, Dermot. Das konnte ich dir natürlich nicht sagen, obwohl es bald, fürchte ich, allgemein bekannt sein wird.«

Einen Moment lang setzte Dermots Herzschlag aus.

»Du meinst - du bist dir schon ganz sicher?«

»Ja, da ist eine ungesunde Erbmasse in der Familie, von Seiten der Mutter. Ein tragischer Fall - ein sehr trauriger Fall.«

»Ich kann es nicht glauben.«

»Aber es ist so. Für einen Laien gibt es wenige oder gar keine Anzeichen, die offenkundig sind.«

»Und für den Experten?«

»Ist die Krankheit kurz vor dem Ausbruch. In so einem Fall muß der Patient so schnell wie möglich in Zwangshaft gesetzt werden.«

»Mein Gott«, stöhnte Dermot. »Aber du kannst doch niemanden wegen nichts und wieder nichts einsperren lassen.«

»Mein lieber Dermot! Man hält nur solche Leute fest, die in Freiheit eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeuten.«

»Gefahr?«

»Eine ernste Gefahr, aller Wahrscheinlichkeit nach eine Art Selbstmordwahn. Im Fall der Mutter war es das.«

Dermot wandte sich stöhnend ab, vergrub das Gesicht in den Händen. Claire - weiße und goldene Claire!

»Unter diesen Umständen«, fuhr der Arzt ruhig fort, »hielt ich es für meine Pflicht, dich zu warnen.«

»Claire«, murmelte Dermot. »Meine arme Claire.«

»Ja, wir müssen sie alle bedauern und bemitleiden.«

Plötzlich hob Dermot den Kopf.

»Ich glaube es nicht.«

»Was?«

»Ich sagte, ich glaube es nicht. Die Ärzte können irren.

Das weiß jeder. Sie sind immer begierig, ihren eigenen Spezialfall herauszufinden.«

»Mein lieber Dermot!« schrie Sir Alington wütend.

»Ich sage trotzdem, ich glaube es nicht. Selbst wenn es so wäre, ist es mir gleich. Ich liebe Claire. Wenn sie mit mir kommen will, werde ich sie mit mir nehmen, weit weg -ganz weit weg, wo keine Ärzte sie einsperren können. Ich werde sie beschützen, ich werde für sie sorgen, sie beschützen mit meiner Liebe.«

»Das wirst du nicht tun. Bist du wahnsinnig?«

Dermot lachte bitter.

»Du würdest auch das behaupten.«

»Versteh doch, Dermot.« Sir Alingtons Gesicht war rot vor unterdrückter Wut. »Wenn du das tust, wenn du so etwas Abscheuliches tust - dann ist es das Ende. Dann kann ich dir die Praxis nicht vermachen und muß ein neues Testament schreiben, in dem ich alles, was ich besitze, verschiedenen Krankenhäusern vererbe.«

»Mach, was du willst, mit deinem verdammten Geld«, schimpfte Dermot leise. »Ich werde dafür die Frau haben, die ich liebe.«

»Eine Frau, die ... «

»Sag ein einziges Wort gegen sie, bei Gott, ich bringe dich um!« schrie Dermot.

Das leise Klirren von Gläsern ließ beide herumfahren. In der Hitze des Streites war Johnson ungehört mit einem Tablett in die Bibliothek gekommen. Sein Gesicht war un-erforschlich wie das eines guten Dieners, und Dermot fragte sich, wieviel er wohl mitgehört hatte.

»Das ist alles, Johnson«, sagte Sir Alington höflich. »Sie können zu Bett gehen.«

»Danke, Sir. Gute Nacht, Sir.«

Johnson zog sich zurück. Die beiden Männer sahen sich an. Die Unterbrechung hatte den Sturm beruhigt.

»Onkel«, sagte Dermot, »ich hätte nicht so zu dir sprechen dürfen. Ich sehe ein, daß du von deinem Standpunkt aus recht hast. Aber ich liebe Claire schon lange. Nur die Tatsache, daß Jack Trent mein bester Freund ist, hat mich bis jetzt gehindert, Claire das zu sagen. Aber unter diesen Umständen zählt dies nicht länger. Der Gedanke, daß die momentane Lage mich abschrecken könnte, ist absurd ... Ich glaube, wir haben beide gesagt, was zu sagen war. Gute Nacht!«

»Dermot...«

»Es ist nicht gut, wenn wir noch weiterstreiten. Gute Nacht, Onkel Alington. Es tut mir leid, aber es ist so.«

Dermot ging schnell hinaus und schloß die Tür hinter sich. Die Vorhalle war dunkel. Er durchschritt sie, öffnete die Haustür und trat auf die Straße, indem er die Haustür hinter sich zuzog.

Ein Taxi hatte soeben ein Haus weiter einen Fahrgast abgesetzt. Dermot hielt es an und fuhr zu den Grafton Galleries.

In der Tür zum Ballsaal blieb er eine Minute lang verwirrt stehen. Sein Kopf schmerzte. Die heisere Jazzmusik, die lächelnden Frauen - es war, als ob er eine andere Welt betreten hätte.

Hatte er geträumt? Unmöglich, daß die laute Unterhaltung mit seinem Onkel wirklich stattgefunden haben sollte.

Da schwebte Claire vorbei. Wie eine Lilie sah sie in ihrem weißsilbernen Kleid aus, das wie eine zweite Haut ihre Schlankheit umspannte. Sie lächelte ihm zu, ihr Gesicht war ruhig und heiter... Bestimmt war alles nur ein Traum.

Der Tanz war zu Ende. Jetzt stand sie nahe bei ihm und lächelte ihn an. Wie im Traum bat er um den nächsten Tanz. Jetzt war sie in seinen Armen. Die heisere Musik hatte wieder begonnen. Er spürte, wie sie ein wenig matter wurde.

»Müde? Möchtest du dich ausruhen?«

»Wenn es dir nichts ausmacht. Wir können etwas abseits gehen, wo wir miteinander sprechen können. Ich muß dir etwas sagen.«

Kein Traum! Mit einem Schlag kam er auf die Erde zurück. Hatte er jemals ihr Gesicht ruhig und heiter gesehen? Es trug den Ausdruck von Gehetztsein, Angst, Entsetzen. Wieviel mochte sie wissen? Sie fanden eine ruhige Ecke und setzten sich nebeneinander.

»Nun«, sagte er, indem er eine innere Leichtigkeit vortäuschte, die nicht echt war, »du wolltest mir etwas sagen.«

»Ja.« Sie hielt die Augen niedergeschlagen, spielte nervös an den Spitzen ihres Kleides. »Es ist schwierig - es ist so schwierig zu sagen.«

»Sag es mir, Claire.«

»Sieh, es ist - ich möchte, daß du, daß du - eine Zeitlang von hier fortgehst.«

Er war überrascht. Alles hatte er erwartet, nur das nicht.

»Du möchtest, daß ich fortgehe. Warum?«

»Am besten wäre es wohl, seien wir doch ehrlich, ja? Ich -ich weiß, du bist ein Gentleman und mein Freund. Ich möchte, daß du fortgehst, weil du mir sehr lieb geworden bist.«

»Claire!« Ihre Worte hatten ihn stumm gemacht, ihm die Zunge gebunden.

»Bitte, nimm nicht an, daß ich so eingebildet bin zu glauben, daß du - daß du dich jemals in mich verlieben könntest. Es ist nur - ich bin nicht glücklich und - ach, ich möchte, du führest fort.«

»Claire, weißt du nicht, daß ich mir Sorgen gemacht habe, schreckliche Sorgen - seitdem ich dich kenne?«

Sie sah mit erstaunten Augen zu ihm auf.

»Du hast dir Sorgen gemacht? Schon so lange?«

»Von Anfang an.«

»Oh!« entfuhr es ihr. »Warum hast du mir das nie gesagt?

Warum sagst du es erst jetzt, wo es zu spät ist? Nein, ich bin verrückt - ich weiß nicht, was ich sage. Ich hätte niemals zu dir kommen können.«

»Claire, was meinst du mit >jetzt erst, wo es zu spät ist

Sie nickte stumm, Tränen rollten über ihr Gesicht.

»Hör zu, Claire, du darfst das nicht glauben. Du darfst das nicht denken. Du sollst mit mir kommen. Wir werden auf eine Südseeinsel fahren, die wie eine grüne Perle ist. Dort sollst du glücklich sein, und ich werde für dich sorgen -dich für immer vor allem beschützen.«

Er umschlang sie mit den Armen. Er zog sie an sich und fühlte, wie sie bei seiner Berührung zitterte. Dann plötzlich entwand sie sich ihm.

»O nein, bitte, tu das nicht. Kannst du denn nicht sehen? Jetzt kann ich das nicht mehr. Es wäre häßlich - gemein, so gemein. Immer wollte ich gut sein, aber jetzt - es wäre sehr häßlich.«

Er zögerte, durch ihre Worte gehemmt. Sie sah ihn flehentlich an.

»Bitte«, flüsterte sie. »Ich möchte gut sein ...«

Ohne ein Wort stand Dermot auf und verließ sie. Eine Weile war er gerührt und betroffen von ihren Worten. Er hätte nicht widersprechen können. Er ging zur Garderobe, um Mantel und Hut zu holen, dabei lief er Trent in die Arme.

»Hallo, Dermot, gehst du schon?«

»Ja, ich bin heute nicht in Stimmung, zu tanzen.«

»Es ist ein verfehlter Abend«, sagte Trent düster. »Aber du hast glücklicherweise nicht meine Sorgen.«

Dermot verspürte eine plötzliche Angst, Trent könnte den Wunsch haben, sich ihm anzuvertrauen. Nicht das - bloß das nicht!

»Also, bis bald«, sagte Dermot hastig. »Ich gehe nach Hause.«

»Denkst du nicht mehr an die Warnung der Geister?«

»Das Risiko nehme ich auf mich. Gute Nacht, Jack.«

Dermots Wohnung war nicht weit entfernt. Er ging zu Fuß, da er die kühle Nachtluft einatmen und seinen fiebrigen Kopf beruhigen wollte.

Er schloß mit seinem Schlüssel auf und knipste das Licht im Schlafzimmer an.

Und plötzlich, zum zweiten Male an diesem Abend, überkam ihn das Gefühl, das er als »rotes Signal« bezeichnete. Es war so überwältigend, daß es einen Moment lang sogar Claire aus seinen Gedanken verdrängte. Gefahr! Er selbst war in Gefahr. In seinem eigenen Zimmer war er in Gefahr!

Er versuchte vergeblich, sich über seine Angst lustig zu machen. Insgeheim stand er aber nicht mit ganzer Kraft hinter diesem Versuch. Jedenfalls hatte das rote Signal ihn rechtzeitig alarmiert. Er hätte ein Unglück noch verhüten können ... Über seinen eigenen Aberglauben lächelnd, durchsuchte er vorsichtig seine Wohnung. Es war ja möglich, daß das Übel irgendwo versteckt war. Aber er fand nichts. Sein Diener Milson war fortgegangen - die Wohnung war völlig leer.

Dermot ging ins Schlafzimmer zurück und zog sich langsam aus, indem er sich selbst im Spiegel finstere Blicke zuwarf. Das Gefühl der Gefahr blieb gegenwärtig wie zuvor. Er ging zu einer Schublade, um ein Taschentuch herauszunehmen - und stand plötzlich stocksteif. Ein unbekannter Klumpen lag in der Mitte der Schublade, etwas Hartes. Schnell und nervös rissen seine Finger die Taschentücher, die darübergelegt waren, fort und zogen hervor, was sie verborgen hatten: einen Revolver.

Mit höchstem Erstaunen untersuchte Dermot ihn neugierig. Es war eine fremde Waffe, ein Schuß mußte vor ganz kurzer

Zeit daraus abgegeben worden sein. Der Lauf roch noch. Darüber hinaus konnte sich Dermot kein rechtes Bild von der Sache zusammenreimen. Irgendwer mußte den Revolver an diesem Abend in die Schublade gelegt haben. Er war noch nicht dagewesen, als sich Dermot vor dem Abendessen umgezogen hatte - das wußte er genau. Gerade wollte er den Revolver in die Schublade zurücklegen, als die Klingel laut zu schrillen begann, wieder und wieder. Das Klingeln klang laut in die Stille der leeren Wohnung.

Wer konnte zu dieser Stunde kommen? Dermot wußte nur eine Antwort auf diese Frage, die sich ihm instinktiv und beharrlich aufdrängte. Gefahr ... Gefahr... Gefahr ... Das rote Signal!

Von seinem Instinkt geleitet, für den er sich keine Rechenschaft ablegen konnte, knipste Dermot das Licht aus, schlüpfte in den Mantel, der über seinem Sessel lag, und öffnete die Wohnungstür.

Draußen standen zwei Männer. Dermot erfaßte, daß einer von ihnen eine blaue Uniform trug; ein Polizist!

»Mr. West?« fragte der andere der beiden.

Es kam Dermot vor, als ob sein Leben von seiner Antwort abhing. Es vergingen zwei Sekunden, bevor er genauso tonlos antwortete wie der Mann, der ihn gefragt hatte.

»Mr. West ist noch nicht gekommen. Was wollen Sie zu dieser Zeit von ihm?«

»Noch nicht gekommen, aha. Dann wird es das beste sein, wenn wir hier auf ihn warten.«

»Nein, das können Sie nicht.«

»Na, na, junger Mann. Ich bin Inspektor Verall von Scotland Yard, und ich habe einen Haftbefehl für Ihren Herrn. Hier - lesen Sie, wenn Sie wollen.«

Dermot starrte auf das Papier, das man ihm hinhielt. Er tat wenigstens so, als ob er läse, während er tonlos fragte:

»Warum denn? Was hat er getan?«

»Mord. Er hat Sir Alington West in der Harley Street ermordet.«

In Dermots Kopf drehte es sich. Dermot trat unwillkürlich vor seinen Besuchern zurück. Er ging ins Wohnzimmer und knipste das Licht an. Der Inspektor folgte ihm.

»Durchsuchen Sie die Räume!« befahl er dem uniformierten Mann. Dann wandte er sich Dermot zu. »Sie bleiben hier, junger Mann! Es gibt kein Entwischen, um Ihren Herrn zu warnen. Wie ist Ihr Name?«

»Milson, Sir.«

»Wann erwarten Sie Ihren Herrn zurück, Milson?«

»Ich weiß es nicht, Sir. Ich glaube, er ist zum Tanzen gegangen, in die Grafton Galleries.«

»Dort ist er vor weniger als einer Stunde weggegangen. Sind Sie sicher, daß er noch nicht zurückkam?«

»Ja. Ich müßte ihn sonst gehört haben.«

In diesem Augenblick kam der andere Mann aus dem angrenzenden Zimmer. In seiner Hand hielt er den Revolver. Er zeigte ihn mit einigem Erstaunen dem Inspektor. Ein Ausdruck von Zufriedenheit glitt über dessen Gesicht.

»Da ist ja das Beweisstück«, bemerkte er. »West muß also dagewesen sein, ohne daß Sie es hörten. Jetzt hängt er an der Angel. Ich gehe jetzt. Cawley, Sie bleiben hier, für den Fall, daß er zurückkommt - und passen Sie gut auf den Burschen hier auf! Er dürfte mehr über seinen Herrn wissen, als er zugibt.«

Der Inspektor jagte davon. Dermot bemühte sich, von Cawley die Einzelheiten der Tat zu erfahren. Cawley zeigte sich auch bereit zum Reden.

»Ein sauberer Fall«, geruhte er zu erklären. »Der Mord wurde sofort entdeckt. Johnson, der Hausdiener, war gerade zu Bett gegangen, als er meinte, einen Schuß gehört zu haben. Er ging hinunter und fand Sir Alington - tot, genau ins Herz geschossen. Er rief uns an. Wir waren in wenigen Minuten da.«

»Wieso ist das ein sauberer Fall?« wollte Dermot wissen.

»Der junge West kam am Abend mit seinem Onkel nach Hause, und Johnson hörte sie streiten, als er ihnen etwas zu trinken brachte. Der alte Knabe drohte, sein Testament zu ändern, und Ihr Herr sagte daraufhin etwas von >erschießen< zu ihm. Nicht viel später wurde der Schuß gehört. Wenn das kein sauberer Fall sein soll...«

Wirklich, klar genug. Dermots Mut sank vollends, als er den überwältigenden Beweis gegen sich hörte. Und keine Fluchtmöglichkeit. Er nahm all seinen Verstand zusammen und dachte nach. Geistesgegenwärtig schlug er vor, einen Tee zu kochen. Cawley ging auf den Vorschlag ein. Er hatte die Wohnung durchsucht und wußte, daß es keinen zweiten Ausgang gab.

Dermot erhielt die Erlaubnis, in die Küche zu gehen. Er setzte mechanisch den Kessel auf und klapperte mit Tassen und Untertassen herum. Dann stahl er sich vorsichtig zum Fenster und öffnete es. Die Wohnung lag in der zweiten Etage. Von dem Fenster führte ein kleiner Aufzug hinunter, an dem die Kaufleute ihre Waren hochzogen.

Blitzschnell schwang sich Dermot aus dem Fenster und ließ sich an dem Drahtseil hinuntergleiten. Es schnitt in seine Hände, daß sie bluteten, doch verzweifelt hielt sich Dermot fest.

Ein paar Minuten später floh er über den Hinterhof des Wohnblocks. Als er um die Ecke bog, prallte er auf eine Gestalt, die an der Mauer lehnte. Zu seiner größten Überraschung erkannte er Jack Trent.

»Mein Gott, Dermot! Schnell, komm, ich warte schon auf dich!« flüsterte er.

Er faßte Dermot am Arm und zog ihn in eine Seitenstraße, von dort in eine andere. Ein leeres Taxi kam in Sicht; Trent hielt es an, und sie sprangen hinein. Trent gab dem Fahrer seine Adresse an.

»Das ist im Augenblick der sicherste Ort. Da können wir in Ruhe überlegen, wie wir diese Idioten von deiner Spur ablenken. Ich wollte zu dir, um dich vor der Polizei zu warnen, aber es war schon zu spät.«

»Jack, du glaubst doch nicht...«

»Natürlich nicht, alter Bursche, nicht eine Minute lang. Ich kenne dich viel zu gut. Nichtsdestoweniger ist es für dich eine heikle Sache. Sie kamen zu mir und fragten, wann du die Grafton Galleries aufgesucht hättest, wann du sie wieder verlassen hättest und so weiter. Dermot, wer könnte bloß den alten Mann umgelegt haben?«

»Keine Ahnung. Der es tat, hat jedenfalls den Revolver in meine Schublade gelegt, vermute ich. Er muß mich genau beobachtet haben.«

»Diese verdammte Sitzung! >Gehen Sie nicht nach Hause!< Damit war also der alte West gemeint. Er ging heim und wurde erschossen.«

»Das kann auch auf mich angewendet werden«, sagte Dermot. »Ich ging nach Hause und fand einen fremden Revolver und einen Polizeiinspektor.«

»Hoffentlich trifft es nicht noch auf mich zu«, befürchtete Trent. »So, wir sind da.«

Er bezahlte den Taxichauffeur, schloß die Tür und führte Dermot eine dunkle Treppe zu einem kleinen Separatzimmer hinauf, einem kleinen Raum im ersten Stock.

Er hielt die Tür auf, und Dermot trat ein. Trent knipste das Licht an.

»Hier bist du fürs erste sicher«, bemerkte er. »Jetzt stecken wir einmal unsere Köpfe zusammen und beraten, was als nächstes zu tun ist.«

»Man hat mich zum Narren gehalten«, sagte Dermot plötzlich. »Ich hätte eher dahinterkommen müssen. Jetzt erkenne ich alles klarer. Die ganze Sache ist ein Komplott.

Was zum Teufel gibt es da zu lachen?«

Trent lehnte in einem Sessel und schüttelte sich vor Lachen. Dieses Lachen hatte etwas Beängstigendes. Der ganze Mann hatte plötzlich etwas Furchterregendes an sich. In seinen Augen flackerte es unruhig.

»Ein verdammt klug ausgedachtes Komplott«, japste Trent. »Dermot, mein Junge, du bist aber auch wie geschaffen dafür.«

Er zog das Telefon zu sich heran.

»Was machst du jetzt?« fragte Dermot.

»Ich rufe Scotland Yard an. Ich sage ihnen, ihre Vögelchen wären hier, sicher hinter Schloß und Riegel. Ja, ich habe die Tür hinter mir abgeschlossen, als ich hereinkam. Der Schlüssel ist in meiner Tasche. Du brauchst nicht zu der anderen Tür hinzusehen. Die führt in Claires Zimmer, und sie schließt immer ab. Sie hat nämlich Angst vor mir, weißt du? Sie hat schon lange Angst vor mir. Sie weiß jedesmal, wenn ich an das Messer denke - an ein langes, scharfes Messer ... Nein, das weißt du natürlich nicht...«

Dermot wollte sich auf ihn stürzen, aber der andere riß einen alten Revolver hervor.

»Das ist der zweite davon«, kicherte Trent. »Den ersten legte ich in deine Schublade, nachdem ich den alten West damit erschossen hatte. Was siehst du über mich hinweg zur Tür? Diese Tür? Das hat keinen Zweck. Selbst wenn Claire sie öffnete, vielleicht würde sie sie für dich öffnen, würde ich dich niederschießen, ehe du hindurchgehen könntest. Nicht ins Herz, nicht, um dich zu töten. Ich würde dich nur ins Bein schießen, damit du nicht fortkönntest. Ich bin ein sehr guter Schütze, das weißt du ja.

Ich habe dir einmal das Leben gerettet, ich Vollidiot. Nein, nein, ich möchte, daß du aufgehängt wirst. Für dich brauche ich das Messer nicht, sondern für Claire - die hübsche Claire, die so weiß und sanft ist. Der alte West ahnte das.

Deswegen war er heute abend hier. Er wollte sehen, ob ich wahnsinnig bin oder nicht. Er wollte mich hinter Schloß und Riegel bringen, damit ich Claire nichts mit dem Messer antun konnte.

Ich war sehr klug. Ich nahm seinen Hausschlüssel und deinen auch. Ich verließ den Ballsaal, kaum daß ich angekommen war. Ich sah dich aus seinem Haus kommen und schlüpfte hinein. Ich erschoß ihn und lief sofort wieder weg. Dann ging ich in deine Wohnung und legte den Revolver in die Schublade. Ich war wieder in den Grafton Galleries, fast zur gleichen Zeit wie du. Und ich steckte den Hausschlüssel wieder in deine Manteltasche, als du mir >auf Wiedersehen< sagtest. Es macht mir nichts aus, dir alles zu erzählen. Es hört niemand, nur du. Denn bevor du aufgehängt wirst, möchte ich, daß du weißt, wer den Mord beging... Es gibt für dich keinen Ausweg. Deswegen mußte ich so lachen ... Mein Gott, das ist aber wirklich zum Lachen! Worüber denkst du nach? Wohin zum Teufel starrst du dauernd?«

»Ich denke daran, was du vorhin gesagt hast. Die Warnung galt doch für dich. Du hättest besser daran getan, Trent, nicht nach Hause zu gehen.«

»Wie meinst du das?«

»Sieh dich einmal um!«

Trent fuhr herum. In der Tür des Verbindungszimmers standen Claire - und Inspektor Verall. Trent war schnell. Sein Schuß ging los - und fand sein Ziel. Trent fiel vornüber auf den Tisch. Der Inspektor sprang an seine Seite, während Dermot wie im Traum Claire anstarrte.

Durch seinen Kopf schossen lauter unzusammenhängende Gedanken ... sein Onkel... ihr Streit... das entsetzliche Mißverständnis... die Scheidungsgesetze in England, die Claire niemals von einem geisteskranken Ehemann freigesprochen hätten ... »Wir müssen sie alle bedauern« ... Das Komplott zwischen ihr und Sir Alington, das Trent mit Klugheit durchschaut hatte ... und jetzt... Der Inspektor richtete sich auf. »Tot«, knurrte er ärgerlich.

»Ja«, hörte sich Dermot sagen, »er war immer ein guter Schütze.«

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