Der Kälteschlaf selbst war traumlos. Vor drei Tagen hatten sie sich zum Abflug fertig gemacht, und nun waren sie da. Klein Jefri beschwerte sich, dass er alles verpasst hatte, doch Johanna Olsndot war froh, dass sie geschlafen hatte; sie hatte einige von den Erwachsenen im anderen Schiff gekannt.
Nun trieb Johanna zwischen den Reihen von Schläfern dahin. Abwärme von den Kühlern machte die Dunkelheit heiß wie die Hölle. Schorfiger grauer Schimmel wuchs an den Wänden. Die Kälteschlaf-Zellen waren dicht gepackt, mit einem schmalen Ladeweg alle zehn Reihen. Es gab Stellen, wo nur Jefri hinreichen konnte. Dreihundertundneun Kinder lagen da, alle außer ihr selbst und ihrem Bruder Jefri.
Die Schlafzellen waren einfache Krankenhausmodelle. Mit ordentlicher Ventilation und Wartung hätten sie hundert Jahre halten können, aber… Johanna wischte sich übers Gesicht und warf einen Blick auf die Anzeige der Zelle: Wie die meisten in den inneren Reihen, war diese in schlechtem Zustand. Zwanzig Tage lang hatte sie den Jungen darin sicher am Leben erhalten, und sie würde ihn wahrscheinlich umbringen, wenn er noch einen Tag länger darin bliebe. Die Kühlöffnungen der Zelle waren sauber, doch Johanna ging noch einmal mit dem Staubsauger darüber — es war eher ein Gebet um Glück als eine wirksame Maßnahme.
Mutter und Vati konnte man keinen Vorwurf machen, obwohl Johanna den Verdacht hatte, dass sie sich selbst Vorwürfe machten. Die Flucht hatte mit den Mitteln bewerkstelligt werden müssen, die in letzter Minute gerade zur Hand waren, als sich das Experiment ins Böse verkehrte. Die Besatzung des Hochlabors hatte ihr Bestes getan, um ihre Kinder zu retten und sie vor noch größerem Unheil zu bewahren. Und dennoch hätte alles klappen können, wenn…
»Johanna! Vati sagt, es ist keine Zeit mehr. Du sollst fertig werden mit dem, was du gerade tust, und raufkommen.« Jefri hatte den Kopf nach unten durch die Luke gesteckt, um es ihr zuzurufen.
»Okay!« Sie sollte sowieso nicht hier unten sein, sie konnte nichts weiter tun, um ihren Freunden zu helfen.
Tami und Giske und Magda… oh, bitte bleibt am Leben. Johanna zog sich durch den Ladeweg und wäre beinahe gegen Jefri gestoßen, der von der anderen Seite kam. Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest, während sie zur Luke schwebten. Die beiden letzten Tage hatte er nicht geweint, doch er hatte viel von der Selbstsicherheit des vergangenen Jahres verloren. Jetzt machte er große Augen. »Wir kommen am Nordpol runter, bei all diesen Inseln und dem Eis.«
In der Kabine jenseits der Luke waren ihre Eltern gerade dabei, sich anzuschnallen. Händler Arne Olsndot schaute zu ihr auf und lächelte. »Hi, Mädel. Setz dich. Wir landen in weniger als einer Stunde.« Johanna lächelte zurück, fast von seinem Enthusiasmus angesteckt. Wenn man die zusammengewürfelte Ausrüstung ignorierte und den Geruch der zwanzigtägigen Enge, sah Vati so schneidig aus wie nur irgend ein Abenteuerposter. Das Licht von den Bildschirmfenstern glitzerte auf den Säumen seines Skaphanders. Er war eben von draußen hereingekommen.
Jefri stieß sich quer durch die Kabine und zog Johanna mit. Er schnallte sich ins Gespinst zwischen ihr und ihrer Mutter. Sjana Olsndot überprüfte seine Verschlüsse, dann Johannas. »Das wird interessant, Jefri. Du wirst etwas lernen.«
»Ja, alles über Eis.« Er hielt jetzt Muttis Hand.
Mutti lächelte. »Nicht heute. Ich meine die Landung. Das wird anders, als mit einem Agrav oder ballistisch.« Der Agrav war tot. Vati hatte soeben ihre Kapsel vom Frachtschiff abgetrennt. Sie hätten das Ganze niemals auf einem einzigen Triebwerksstrahl zu Boden bringen können.
Vati machte etwas mit dem Wirrwarr von Reglern, die er an sein Datio angeschlossen hatte. Ihre Körper sanken in das Gespinst. Rings um sie knirschte die Frachtkapsel, und die Gürtelaufhängung der Schlafzellen ächzte und knackte. Etwas rasselte und schepperte, als es die ganze Kapsel entlang ›fiel‹ . Johanna schätzte, dass sie mit ungefähr einem Ge verzögerten.
Jefris Blick wanderte vom Außenbildschirm zum Gesicht seiner Mutter und dann zurück. »Wie ist es dann?« Er klang neugierig, doch es lag ein leichtes Zittern in seiner Stimme. Johanna hätte beinahe gelächelt; Jefri wusste, dass er abgelenkt werden sollte, und versuchte mitzuspielen.
»Das wird eine reine Raketenlandung, fast die ganze Strecke mit Antrieb. Siehst du das mittlere Fenster? Diese Kamera blickt genau nach unten. Du kannst wirklich sehen, dass wir langsamer werden.« Das konnte man in der Tat. Johanna schätzte, dass sie nicht höher als ein paar hundert Kilometer waren. Arne Olsndot benutzte die ans Hinterende der Frachtkapsel geklebte Rakete, um ihre Orbitalgeschwindigkeit zu verringern. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Sie hatten das Frachtschiff mit seinem Agrav und dem Ultraantrieb verlassen. Es hatte sie bis hierher gebracht, doch seine Steuerautomatik begann zu versagen. Etliche hundert Kilometer hinter ihnen zog es tot seine Bahn.
Ihnen war nur die Frachtkapsel geblieben. Keine Flügel, kein Agrav, keine Luftschilde. Die Kapsel war eine hundert Tonnen schwere Eierschachtel, die auf einem einzigen heißen Strahl balancierte.
Mutti erklärte es Jefri ein bisschen anders, doch was sie sagte, war wahr. Irgendwie gelang es ihr anscheinend, Jefri die Gefahr vergessen zu machen. Sjana Olsndot war eine populäre Archäologie-Autorin gewesen, bevor sie ins Hochlabor gezogen waren.
Vati schaltete das Triebwerk ab, und es herrschte wieder Schwerelosigkeit. Johanna fühlte eine Welle von Übelkeit, für gewöhnlich wurde sie niemals raumkrank, doch das war etwas anderes. Das Bild von Land und Meer im unteren Fenster wuchs allmählich. Es gab nur ein paar vereinzelte Wolken. Die Küstenlinie war eine unbestimmte Folge von Inseln und Meerengen und Buchten. Dunkles Grün breitete sich längs der Küste und die Täler hinauf aus, in den Bergen schwarz und grau schattiert. Schnee — und wahrscheinlich Jefris Eis — lag in Bögen und Flecken verstreut. Es war alles so schön — und sie fielen mitten hinein!
Sie hörte etwas metallisch gegen die Frachtkapsel scheppern, als die Steuerdüsen ihr Fahrzeug drehten, um die Hauptdüse nach unten zu richten. Das rechte Fenster zeigte jetzt den Boden. Das Triebwerk wurde wieder gezündet, mit etwa einem Ge. Der Rand des Bildschirms verfinsterte sich in einem Halo von Abbrand. »He«, sagte Jefri. »Das ist wie ein Fahrstuhl, runter und runter und runter und…« Hundert Kilometer hinab, langsam genug, dass der Luftwiderstand sie nicht in Stücke riss.
Sjana Olsndot hatte Recht: Es war eine neue Art, aus der Umlaufbahn herabzusteigen, keine unter halbwegs normalen Bedingungen bevorzugte Methode.
Das war in den ursprünglichen Fluchtplänen gewiss nicht vorgesehen gewesen. Sie hatten die Fregatte des Hochlabors treffen sollen — und alle Erwachsenen, die aus dem Hochlabor entkommen konnten. Und natürlich hatte diese Begegnung im Raum stattfinden sollen, ein einfaches Umsteigen. Doch die Fregatte war nun weg, und sie waren auf sich selbst gestellt. Johannas Augen wandten sich unwillkürlich dem Stück Außenwand hinter ihren Eltern zu. Da waren die vertrauten Farbabweichungen. Es sah aus wie graues Pilzgeflecht, das direkt aus der sauberen Keramikwand hervorwuchs. Selbst jetzt redeten ihre Eltern kaum darüber, außer um Jefri davon wegzuscheuchen. Aber Johanna hatte sie einmal sprechen gehört, als sie glaubten, sie und ihr Bruder seien im anderen Ende der Kapsel. Vatis Stimme hatte vor Wut fast weinerlich geklungen. »Alles umsonst!«, hatte er leise gesagt. »Wir haben ein Ungeheuer geschaffen und sind fortgelaufen, und nun sitzen wir am Grunde fest.« Und Muttis Stimme noch leiser: »Zum tausendsten Mal, Arne, nicht umsonst. Wir haben die Kinder.« Sie deutete zu der Substanz hin, die sich über die Wand ausbreitete. »Und bei den Träumen…, den Zielen, die wir hatten, denke ich, es ist das Beste, worauf wir hoffen durften. Irgendwie haben wir bei uns die Erwiderung auf all das Böse, das wir in die Welt gebracht haben.« Dann war Jefri laut durch den Frachtraum geschnellt und hatte so angekündigt, dass er jeden Moment hereinkommen würde, und seine Eltern waren verstummt. Johanna hatte es nicht recht fertiggebracht, sie danach zu fragen. Es waren seltsame Dinge im Hochlabor geschehen, und gegen Ende etliche auf stille Art unheimliche, sogar manche Menschen waren nicht mehr ganz sie selbst gewesen.
Minuten vergingen. Sie waren jetzt tief in der Atmosphäre. Der Schiffsrumpf summte unter der Gewalt der Luftströmung — oder der Turbulenzen von der Düse? Doch alles war stabil genug, um Jefri zappelig werden zu lassen. Ein Großteil der unteren Ansicht war vom Glühen rings um den Antriebsstrahl ausgebrannt. Der Rest war deutlicher und reicher an Einzelheiten als alles, was sie aus der Umlaufbahn gesehen hatten. Johanna fragte sich, wie oft wohl jemand mit weniger vorangehender Erkundung auf einer unbekannten Welt gelandet war. Sie hatten weder Teleskopkameras noch Spürsonden.
Physikalisch entsprach der Planet beinahe dem menschlichen Ideal — ein wunderbarer Glücksfall nach all dem Unglück.
Es war der reinste Himmel gegen die luftlosen Felsen dieses Systems, denen sie zuvor begegnet waren.
Andererseits existierte hier vernunftbegabtes Leben: Aus der Umlaufbahn hatten sie Straßen und Städte gesehen. Doch es gab keine Hinweise auf technische Zivilisation, keine Anzeichen von Luftfahrt oder Rundfunk oder starken Energiequellen.
Sie gingen in einer dünnbesiedelten Ecke des Kontinents nieder. Mit etwas Glück würde niemand ihre Landung inmitten der grünen Täler und der schwarzen und weißen Gipfel sehen — und Arne Olsndot konnte bis zum Boden auf dem Feuerstrahl landen, ohne befürchten zu müssen, mehr als Wald und Gras zu verletzen.
Die Küsteninseln glitten aus dem Blickfeld der seitlichen Kameras. Jefri rief etwas und zeigte. Es war schon nicht mehr im Bild, doch sie hatte es auch gesehen: ein unregelmäßiges Vieleck von Mauern und Schatten auf einer der Inseln. Es erinnerte sie an Schlösser aus dem Zeitalter der Fürstinnen auf der Nyjora.
Sie konnte jetzt einzelne Bäume erkennen, mit langen Schatten im schrägen Sonnenlicht. Nie hatte sie etwas Lauteres gehört als das Dröhnen des Feuerstrahls; sie befanden sich tief in der Atmosphäre, und sie bewegten sich nicht vom Schall fort.
»… wird schwierig«, rief Vati. »Und keine Programme, um es richtig zu machen… Wohin, Liebes?«
Mutti blickte von einem Bildschirm zum anderen. Soviel Johanna wusste, konnten sie die Kameras nicht bewegen oder neue einsetzen. »… diesen Berg, über der Waldgrenze, aber… ich glaube, ich habe ein Rudel Tiere vor der Hitze weglaufen sehen… auf der Westseite.«
»Ja«, rief Jefri, »Wölfe.« Johanna hatte nur einen raschen Blick auf sich bewegende Flecken erhascht.
Sie schwebten jetzt vielleicht tausend Meter über den Gipfeln. Der Lärm war schmerzhaft und nahm kein Ende, es war nicht mehr möglich, sich zu verständigen. Sie trieben langsam über die Landschaft, teils zur Erkundung, teils, um der Säule überhitzter Luft auszuweichen, die rings um sie aufstieg.
Das Land war eher hügelig als felsig, und das ›Gras‹ sah wie Moos aus. Dennoch zögerte Arne Olsndot. Das Haupttriebwerk war dazu bestimmt, die Geschwindigkeit nach interstellaren Sprüngen anzupassen; sie konnten ziemlich lange so in der Schwebe bleiben. Wenn sie aber aufsetzten, sollte es lieber gleich die richtige Stelle sein. Sie hatte gehört, wie ihre Eltern das besprachen — als Jefri bei den Kälteschlaf-Zellen arbeitete und außer Hörweite war. Wenn zu viel Wasser im Boden war, würden die zurückgeworfenen Gase wie eine Dampfkanone wirken, die glatt den Rumpf durchstoßen konnte. In Bäumen zu landen, hätte ein paar zweifelhafte Vorzüge gehabt, ihnen vielleicht ein wenig Federung und einen Mindestabstand zum Rückstrom gegeben. Doch jetzt versuchten sie es mit direkter Bodenberührung. Zumindest konnten sie sehen, wo sie landeten.
Dreihundert Meter. Vati zog die Spitze des Feuerstrahls durch die oberen Bodenschichten. Die weiche Landschaft explodierte. Eine Sekunde später wurde ihr Boot in der Dampfsäule hin und her geworfen. Die nach unten gerichtete Kamera fiel aus. Sie gingen nicht höher, und nach einer Weile wurde das Rütteln schwächer; der Feuerstrahl hatte sich durch die Wasser- oder Permafrost-Schicht unter ihnen hindurchgebrannt. Die Luft in der Kabine wurde immer heißer.
Olsndot brachte sie langsam hinunter, wobei er die seitlichen Kameras und das Geräusch des reflektierten Gases zur Orientierung benutzte. Er schaltete das Triebwerk ab. Es gab eine unheimliche halbe Sekunde freien Falls, dann das Geräusch, mit dem die Rendezvous-Stützen auf den Boden trafen. Sie stabilisierten die Lage, dann gab ächzend eine Seite ein wenig nach.
Stille, abgesehen von der Hitze, die rings um den Schiffsrumpf klingelte. Vati schaute auf ihren provisorischen Druckmesser. Er grinste. »Kein Leck. Ich wette, ich könnte die Kleine sogar wieder hochbringen!«
Eine Stunde mehr oder weniger, und das Leben von Wanderer Wickwrackrum wäre um einiges anders verlaufen.
Die drei Reisenden waren nach Westen unterwegs, von den Eisfängen hinab nach Flenserburg auf der Verborgenen Insel. Es hatte in seinem Leben Zeiten gegeben, da er die Gesellschaft nicht ertragen hätte, doch im letzten Jahrzehnt war Wanderer wesentlich umgänglicher geworden. Es gefiel ihm jetzt, zusammen mit anderen zu reisen. Bei seinem letzten Zug durch den Großen Sand waren ihrer fünf Rudel gewesen. Zum Teil war das eine Frage der Sicherheit gewesen: Der eine oder andere Todesfall ist fast unvermeidlich, wenn die Entfernung zwischen den Oasen eintausend Meilen betragen kann — und die Oasen selbst vergänglich sind. Doch abgesehen von der Sicherheit, hatte er im Gespräch mit den anderen eine Menge gelernt.
Über seine gegenwärtigen Begleiter war er nicht so froh. Keiner von beiden war wirklich ein Pilger, beide hatten sie Geheimnisse. Schreiber Yaqueramaphan war ein komischer Vogel, ein amüsanter Sonderling und eine Quelle zusammenhangloser Information… Es mochte auch leicht sein, dass er ein Spion war. Das ging in Ordnung, solange die Leute nicht glaubten, dass Wanderer mit ihm zusammenarbeitete. Die Dritte in der Gesellschaft war es, die ihm wirklich Sorgen machte. Tyrathect war eine Neukunft, noch nicht ganz beisammen, sie hatte keinen angenommenen Namen. Tyrathect behauptete, eine Lehrerin zu sein, doch irgendwo in ihr (ihm? das überwiegende Geschlecht war noch nicht ganz klar) steckte ein Mörder. Das Geschöpf war offensichtlich ein flenseristischer Fanatiker, oft hochnäsig und stur. Aller Wahrscheinlichkeit nach war sie auf der Flucht vor den Säuberungen, die auf Flensers erfolglosen Versuch der Machtergreifung im Osten folgten.
Er war den beiden in Osttor begegnet, auf der republikanischen Seite der Eisfänge. Sie wollten beide die Burg auf der Verborgenen Insel besuchen. Und zum Teufel, das war nur ein Umweg von sechzig Meilen auf der Hauptroute nach Holzschnitzerheim, sie alle würden das Gebirge überqueren müssen. Außerdem hatte er seit Jahren vorgehabt, Flensers Reich zu besuchen. Vielleicht konnte ihm einer von den beiden helfen hineinzukommen. So viele in der Welt schmähten die Flenseristen. Wanderer Wickwrackrum war geteilter Meinung über das Böse: Wenn genug Regeln verletzt werden, ist mitunter Gutes inmitten des Gemetzels.
Diesen Nachmittag waren sie endlich in Sichtweite der Küsteninseln gelangt. Wanderer war erst vor fünf Jahren hier gewesen. Dennoch war er nicht auf die Schönheit dieses Landes gefasst. Die Nordwestküste war bei weitem die mildeste arktische Region auf der Welt. Im Hochsommer, wenn der Tag nicht endete, wurden die Sohlen der von den Gletschern ausgeschürften Täler allesamt grün. Gott der Schnitzer hatte sich herabgebeugt, um diese Länder zu berühren…, und Seine Meißel waren aus Eis gewesen. Jetzt war von dem Eis und Schnee nichts übrig als neblige Bögen am östlichen Horizont und ein paar letzte Flecken, über die nahen Berge verstreut. Diese Flecken schmolzen und schmolzen den Sommer über und brachten kleine Bäche hervor, die sich vereinigten und in Wasserfällen die steilen Talhänge hinabstürzten. An seiner rechten Seite trottete Wanderer über ein flaches Stück Boden, das von stehendem Wasser durchtränkt war. Das Prickeln an den Füßen fühlte sich wunderbar an, ihm machten nicht einmal die Mücken etwas aus, die ihn umschwirrten.
Tyrathect ging parallel zu ihm, doch oberhalb der Heidekraut-Grenze. Sie war recht gesprächig gewesen, bis das Tal einen Bogen machte und das bestellte Land und die Inseln in Sicht kamen. Irgendwo da draußen lagen Flenserburg und ihr dunkles Ziel.
Schreiber Yaqueramaphan war überall gewesen in gedankenlosem Herumrennen. Bald fand er sich zu zweit oder zu dritt und vollführte eine Narretei, die selbst die mürrische Tyrathect zum Lachen brachte, bald kletterte er auf eine Anhöhe und berichtete, was er dahinter sah. Er hatte als Erster die Küste erblickt. Das hatte ihn etwas ernüchtert. Seine Clownerien waren gefährlich genug, selbst wenn sie sich nicht in der Nachbarschaft notorischer Vergewaltiger befunden hätten.
Wickwrackrum verkündete eine Rast und versammelte sich, um die Gurte seiner Rückentaschen zu ordnen. Der Rest des Nachmittags würde hart werden. Er würde sich entscheiden müssen, ob er wirklich mit seinen Freunden die Burg betreten wollte. Ein abenteuerlicher Geist hat seine Grenzen, selbst der eines Pilgers.
»He, hört ihr etwas Tiefes?«, rief Tyrathect. Wanderer lauschte. Da war ein Grollen — stark, doch fast unterhalb der Hörgrenze. Für einen Augenblick legte sich Furcht über seine Verwunderung. Vor einem Jahrhundert war er in ein ungeheuerliches Erdbeben geraten. Dieser Klang war ähnlich, doch das Grollen bewegte sich nicht unter seinen Füßen. Würde es also keine Erdrutsche und Flutwellen geben? Er duckte sich und spähte in alle Richtungen.
»Es ist am Himmel!« Yaqueramaphan zeigte nach oben.
Ein gleißender Fleck hing fast genau über ihnen, ein winziger Lichtspeer. Keine Erinnerungen, nicht einmal Legenden kamen Wickwrackrum in den Sinn. Er schwärmte aus, alle Augen auf das sich langsam bewegende Licht gerichtet. Chor Gottes. Es musste Meilen hoch sein, und dennoch hörte er es. Er wandte den Blick von dem Licht ab, und Nachbilder tanzten schmerzhaft in seinen Augen.
»Es wird heller, lauter«, sagte Yaqueramaphan. »Ich glaube, es kommt auf die Hügel da drüben herab, an der Küste.«
Wanderer sammelte sich und rannte westwärts, während er die anderen rief. Er würde so nahe gehen, wie ihm sicher schien, und beobachten. Er schaute nicht mehr nach oben. Es war einfach zu hell. Es warf Schatten am helllichten Tage!
Er lief noch eine halbe Meile. Der Stern war noch in der Luft. Er konnte sich nicht entsinnen, dass jemals ein Stern so langsam gefallen wäre, obwohl manche von den größten schreckliche Explosionen hervorriefen. In der Tat…, es gab keine Geschichten von Leuten, die in der Nähe von dergleichen gewesen wären. Seine wilde Neugier des Pilgers verblasste angesichts dieser Erkenntnis. Er schaute in alle Richtungen. Tyrathect war nirgends zu sehen, Yaqueramaphan hatte sich weiter vorn bei ein paar Felsbrocken zusammengedrängt.
Und das Licht war so hell, dass Wickwrackrum an den Stellen, wo ihn seine Kleidung nicht schützte, die Hitze spürte. Der Lärm am Himmel war mittlerweile geradezu schmerzhaft. Wanderer sprang über den Rand der Talböschung, rollte und strauchelte und fiel die steilen Felswände hinab. Er war jetzt im Schatten: nur Sonnenlicht fiel auf ihn! Die andere Seite des Tales leuchtete in gleißend hellem Schein, scharfe Schatten bewegten sich mit dem unsichtbaren Ding hinter ihm. Der Lärm war noch immer ein tiefes Grollen, doch so laut, dass es den Verstand lähmte. Wanderer stolperte in den Wald hinein und ging weiter, bis er von hundert Ellen Wald beschirmt wurde. Das hätte eigentlich sehr hilfreich sein müssen, doch der Lärm wurde immer noch lauter…
Eine gnädige Ohnmacht umfing ihn für ein, zwei Augenblicke. Als er zu sich kam, war der Klang des Sterns verschwunden. Das Klingen, das er in seinen Trommelfellen hinterlassen hatte, war sehr irritierend. Benommen stolperte Wickwrackrum umher. Es schien zu regnen — nur dass manche von den Tropfen glühten. Kleine Brände flammten hier und da im Wald auf. Er verbarg sich unter dichten Baumkronen, bis keine brennenden Steine mehr herabfielen. Die Brände breiteten sich nicht aus, der Sommer war verhältnismäßig feucht gewesen.
Wanderer lag still und wartete auf weitere brennende Steine oder neuen Sternenlärm. Nichts. Der Wind in den Baumwipfeln flaute ab. Er konnte die Vögel und die Grillinge und die Holzbohrer hören. Er ging zum Waldrand und spähte an mehreren Stellen hinaus. Abgesehen von den Flecken verbrannten Heidekrauts sah alles normal aus. Doch seine Sicht war sehr beschränkt: Er konnte hohe Talwände erkennen, ein paar Bergkuppen. Ha! Dort war Schreiber Yaqueramaphan, dreihundert Ellen weiter oben. Die meisten von ihm waren in Löcher und Höhlungen geduckt, doch ein paar Glieder ließ er dorthin schauen, wo der Stern gefallen war. Wanderer blinzelte. Schreiber war meistens so ein Clown. Doch manchmal schien das nur Tarnung zu sein; wenn er wirklich ein Narr war, dann einer mit einer Spur Genialität. Mehr als einmal hatte Wickwrackrum ihn von weitem zu zweit mit einem seltsamen Gerät hantieren sehen… So wie jetzt: der andere hielt etwas Langes und Spitzes an ein Auge.
Wickwrackrum kroch aus dem Wald, hielt sich dabei eng beisammen und machte so wenig Lärm wie möglich. Er kletterte sorgfältig um die Felsen, schlüpfte von einem Heidebuckel zum nächsten, bis er knapp unter dem Kamm am Rande des Tals und vielleicht fünfzig Ellen von Yaqueramaphan entfernt war. Er konnte den anderen mit sich selbst denken hören. Ein Stück näher, und Schreiber würde ihn hören, so eng beieinander und still er auch war.
»Psst!«, sagte Wickwrackrum.
Das Summen und Murmeln verstummte in einem Augenblick schreckhafter Überraschung. Yaqueramaphan stopfte das rätselhafte Ding in eine Rückentasche und sammelte sich, wobei er sehr leise dachte. Sie starrten einander einen Moment lang an, dann machte Schreiber närrische quirlende Bewegungen an seinen Schulter-Trommelfellen. Hör still. »Kannst du so reden?« Seine Stimme kam in sehr hohen Tönen, wo manche Leute nicht mehr willkürlich sprechen können und wo Tieftonohren taub sind. Hochsprache konnte verwirrend sein, doch sie war sehr gerichtet und schwand schnell mit zunehmender Entfernung; niemand sonst würde sie hören. Wanderer nickte: »Hochsprache ist kein Problem.« Der Trick bestand darin, hinreichend saubere Töne zu benutzen, dass keine Verwirrung aufkam.
»Schau mal über den Hügelkamm, Freund Pilger. Es gibt etwas Neues unter der Sonne.«
Wanderer bewegte sich dreißig Ellen höher und hielt dabei nach allen Seiten Ausschau. Er konnte jetzt die Meerenge sehen, die rausilbern in der Nachmittagssonne schimmerte. Hinter ihm verlor sich die Nordseite des Tals im Schatten. Er schickte ein Glied voraus, das zwischen den Hügelchen hindurchrutschte, um auf die Ebene hinabzuschauen, wo der Stern niedergegangen war.
Chor Gottes, dachte er bei sich (aber leise). Er nahm ein weiteres Glied herauf, um ein weit stereoskopisches Bild zu erhalten. Das Ding sah aus wie eine große Lehmhütte auf Stelzen… Doch es war der herabgefallene Stern: Der Boden ringsum glühte dumpf rot. Nebelschwaden stiegen überall von der feuchten Heide auf. Die zerfetzte Erde war in langen Streifen weggeschleudert worden, ausgehend von einer Stelle unter dem Ding.
Er nickte Yaqueramaphan zu. »Wo ist Tyrathect?«
Schreiber zuckte die Schultern. »Weiter hinten, möchte ich wetten. Ich behalte sie im Auge… Aber siehst du die anderen, die Soldaten aus Flenserburg?«
»Nein!« Wanderer blickte westlich des Landeplatzes. Da. Sie waren fast eine Meile entfernt, in Tarnjacken, und robbten über das hüglige Terrain. Er konnte mindestens drei Soldaten sehen. Es waren große Kerle, jeder zu sechst. »Wie haben sie so schnell hierher kommen können?« Er warf einen Blick zur Sonne. »Es kann nicht mehr als eine halbe Stunde her sein, dass alles begonnen hat.«
»Sie hatten eben Glück.« Yaqueramaphan kehrte zum Kamm zurück und blickte hinüber. »Ich wette, sie waren schon auf dem Festland, als der Stern herunterkam. Das ist alles Flensergebiet, sie müssen Patrouillen haben.« Er duckte sich, sodass nur zwei Paar Augen von unten zu sehen waren. »Das ist eine Überfall-Formation, weißt du.«
»Du scheinst nicht sehr froh zu sein, sie zu sehen. Das sind deine Freunde, nicht wahr? Die Leute, zu denen du unterwegs bist.«
Schreiber hielt sarkastisch seine Köpfe schief. »Ja, ja. Reib es mir nicht unter die Nasen. Ich glaube, du hast von Anfang an gewusst, dass ich nicht ganz für Flenser bin.«
»Ich hab es mir gedacht.«
»Nun, das Spiel ist jetzt vorbei. Was immer diesen Nachmittag heruntergekommen ist, ist mehr wert für… hm, meine Freunde, als alles, was ich auf der Verborgenen Insel hätte erfahren können.«
»Was ist mit Tyrathect?«
»O ja. Unsere geschätzte Begleiterin ist mehr als echt, fürchte ich. Ich wette, sie ist eine Flenser-Fürstin, nicht die niedrige Dienerin, als die sie auf den ersten Blick erscheint. Ich vermute, dass viele von ihrer Sorte in diesen Tagen übers Gebirge zurücktröpfeln, froh, aus der Langseen-Republik fortzukommen. Halt deine Hintern in Deckung, Kumpel. Wenn sie uns entdeckt, werden uns diese Soldaten garantiert erwischen.«
Wanderer kroch tiefer in die Höhlungen und Furchen, mit denen die Heide übersät war. Er hatte einen hervorragenden Ausblick das Tal entlang. Wenn Tyrathect nicht schon auf der Szene war, würde er sie viel früher sehen als sie ihn.
»Wanderer?«
»Ja?«
»Du bist ein Pilger. Du hast die Welt bereist — seit Anbeginn der Zeiten, wie wir glauben sollen. Wie weit reicht deine Erinnerung wirklich zurück?«
Angesichts der Lage neigte Wickwrackrum dazu, aufrichtig zu sein. »Wie du dir denken kannst: ein paar hundert Jahre. Der Rest sind Legenden, Erinnerungen an Dinge, die sich wahrscheinlich zugetragen haben, wo aber alle Einzelheiten vermengt und durcheinander sind.«
»Gut, ich bin nicht viel gereist, und ich bin ziemlich neu. Aber ich lese. Eine Menge. Nie ist so etwas wie das hier geschehen. Das Ding da unten ist gemacht worden. Es ist aus größerer Höhe gekommen, als ich in Zahlen ausdrücken kann. Hast du Aramstriquesa oder Astrolog Belelele gelesen? Weißt du, was das sein könnte?«
Wickwrackrum erkannte die Namen nicht. Doch er war wahrlich ein Pilger. Es gab Länder, so weit entfernt, dass niemand dort irgendeine Sprache sprach, die er kannte. In den Südmeeren hatte er Leute getroffen, die glaubten, es gäbe keine Welt jenseits ihrer Inseln, und die vor seinen Booten weggelaufen waren, als er an Land ging. Mehr noch, ein Teil von ihm war ein Insulaner gewesen und hatte diese Landung beobachtet.
Er reckte einen Kopf ins Freie und schaute wieder auf den herabgefallenen Stern, den Besucher von weiter weg, als er jemals gewesen war…, und er fragte sich, wo diese Pilgerfahrt wohl enden mochte.
Es dauerte fünf Stunden, bis sich der Boden genügend abgekühlt hatte, dass Vati die Teleskopleiter hinablassen konnte. Er und Johanna kletterten vorsichtig hinunter, sprangen über die dampfende Erde, um auf verhältnismäßig unbeschädigtem Rasen stehen zu bleiben. Es würde lange dauern, bis sich dieser Boden vollständig abkühlte; die Antriebsgase der Düsen waren sehr ›sauber‹ und reagierten kaum mit normaler Materie — was nur bedeutete, dass sich ein Stück sehr heißer Felsgrund Tausende von Metern unter ihren Stiefeln in die Tiefe erstreckte.
Mutti saß an der Luke und beobachtete das Land vor ihnen. Sie hatte Vatis alte Pistole.
»Ist da was?«, rief Vati ihr zu.
»Nein. Und Jefri sieht nichts durch die Fenster.«
Vati ging um die Frachtkapsel und musterte die missbrauchten Andockstützen. Alle zehn Meter blieben sie stehen und stellten einen Schallprojektor auf. Das war Johannas Idee gewesen. Außer Vatis Pistole hatten sie eigentlich keine Waffen. Die Projektoren waren zufällig bei der Fracht gewesen, Zubehör aus der Krankenstation. Mit ein bisschen Programmieraufwand konnten sie wildes Kreischen, das ganze hörbare Spektrum rauf und runter von sich geben. Das mochte genügen, um die einheimischen Tiere zu verscheuchen. Johanna folgte ihrem Vater, den Blick auf die Landschaft gerichtet, und ihre Nervosität wich ehrfürchtigem Staunen. Es war alles so schön, so kühl. Sie standen auf einem weiten Feld inmitten von Bergkuppen. Nach Westen hin fielen die Berge zu Meerengen und Inseln ab. Im Norden endete der Boden abrupt am Rande eines breiten Tals, sie konnte Wasserfälle auf der anderen Seite sehen. Der Boden federte unter ihren Füßen. Ihr Landeplatz war in Tausende kleiner Buckel gefaltet, wie Wellen, auf einem starren Bild festgehalten. Schnee lag in schüchternen Fleckchen auf den höheren Bergen. Johanna blinzelte nach Norden, in die Sonne. Norden?
»Wie spät ist es, Vati?«
Olsndot lachte, während er weiter die Unterseite der Frachtkapsel betrachtete. »Nach Ortszeit Mitternacht.«
Johanna war in den mittleren Breiten von Straum aufgewachsen. Die meisten von ihren Schulausflügen hatten in den Weltraum geführt, wo seltsame Sonnengeometrien keine große Sache waren. Irgendwie hatte sie nie daran gedacht, dass so etwas am Boden geschehen könnte… Ich meine, dass man die Sonne geradewegs über den Gipfel der Welt hinweg sieht.
Die erste Aufgabe war es, die Hälfte der Kälteschlaf-Zellen ins Freie zu bringen und die an Bord verbleibenden neu anzuordnen. Mutti hatte ausgerechnet, dass die Temperaturprobleme dann so ziemlich verschwinden würden, sogar für die an Bord belassenen Zellen. »Dass sie eigene Energiequellen und Belüftung haben, wird nun von Vorteil sein. Die Kinder werden alle sicher sein. Johanna, du kontrollierst Jefris Arbeit mit denen drinnen, ja?…«
Die zweite Aufgabe würde es sein, mit einem Suchprogramm das Relais-System anzupeilen und Ultralichtverbindung herzustellen. Johanna fürchtete sich ein wenig vor diesem Schritt. Was würden sie erfahren? Sie wussten bereits, dass das Hochlabor dem Bösen verfallen war und die von Mutti vorhergesagte Katastrophe begonnen hatte.
Wie viel vom Straumli-Bereich war jetzt tot? Jedermann im Hochlabor hatte geglaubt, sie täten so viel Gutes, und nun… Denk nicht daran. Vielleicht konnten die Leute von Relais helfen. Irgendwo musste es jemanden geben, der gebrauchen konnte, was ihre Leute aus dem Labor mitgebracht hatten.
Man würde sie retten und die übrigen Kinder wiederbeleben. Sie hatte deswegen Schuldgefühle gehabt. Gewiss, Mutti und Vati brauchten gerade gegen Ende des Fluges Hilfe — und Johanna war eins der ältesten Kinder in der Schule. Doch es kam ihr falsch vor, dass sie und Jefri die einzigen Kinder waren, die sehenden Auges an der Sache beteiligt waren. Als sie niedergingen, hatte sie die Angst ihrer Mutter gefühlt. Ich wette, sie wollte uns beisammen haben, und sei es ein letztes Mal. Die Landung war in der Tat gefährlich gewesen, so leicht Vati es auch erscheinen ließ. Johanna konnte sehen, wo die zurückschlagenden Gase sich in den Rumpf gefressen hatten; wenn auch nur das mindeste davon durch den Feuerstrahl hindurch und in die Brennkammer gelangt wäre, wären sie jetzt alle ein Dunstwölkchen.
Fast die Hälfte der Kälteschlaf-Zellen war jetzt am Boden, an der Ostseite des Bootes. Mutti und Vati rückten sie auseinander, damit die Kühler keine Probleme hätten. Jefri war drinnen und sah nach, ob von den restlichen Zellen welche besondere Aufmerksamkeit benötigten. Er war ein guter Junge, wenn er nicht gerade mal ein Balg war. Sie wandte sich dem Sonnenschein zu, fühlte die kühle Brise über den Hügel hinwegwehen. Sie hörte etwas, das wie ein Vogelruf klang.
Johanna war draußen bei einem der Schallprojektoren, als der Überfall losbrach. Sie hatte ihr Datio an die Regler des Projektors gesteckt und war dabei, neue Anweisungen einzugeben. Das zeigte, wie wenig ihnen geblieben war, dass selbst ihr altes Datio jetzt wichtig war. Doch Vati wollte, dass die Projektoren ein möglichst breites Bandspektrum überstrichen, dabei ständig eine Menge Krach machten, aber immer wieder mit besonders lauten Spitzen; ihr Rosa Olifant wurde damit gewiss fertig.
»Johanna!« Muttis Schrei kam gleichzeitig mit dem Klang brechender Keramik. Die Glocke des Projektors fiel neben ihr in Stücken zu Boden. Johanna blickte auf. Etwas stieß ihr neben der Achsel durch die Brust und warf sie nieder. Entgeistert starrte sie auf den Schaft, der aus ihr hervorragte. Ein Pfeil!
Der Westrand ihres Landeplatzes wimmelte von… Wesen. Wie Wölfe oder Hunde, doch mit langen Hälsen, bewegten sie sich rasch voran, von einer Bodenerhebung zur anderen schnellend. Ihr Fell war vom selben Grün wie der Hügel, außer in der Nähe der Lenden, wo sie Weiß und Schwarz sah. Nein, das Grüne war Kleidung, Jacken. Johanna stand unter Schockwirkung, den Druck des Bolzens durch ihre Brust nahm sie noch nicht als Schmerz wahr. Sie war rücklings gegen aufgeworfenen Grasboden geschleudert worden und übersah einen Augenblick lang den ganzen Angriff. Sie sah weitere Pfeile aufsteigen, dunkle Striche, die über den Himmel glitten.
Sie konnte jetzt die Bogenschützen ausmachen. Noch mehr Hunde! Sie bewegten sich in Rudeln. Es waren ihrer zwei nötig, um einen Bogen zu gebrauchen — einen, der ihn hielt, und einen, der ihn spannte. Der dritte und vierte trugen Köcher mit Pfeilen und schienen nur zuzusehen.
Die Bogenschützen hielten sich zurück, sie blieben größtenteils in Deckung. Andere Rudel wirbelten von der Seite heran und sprangen jetzt über die Bodenwellen. Viele trugen Beile in den Schnauzen. Metallklauen schimmerten an ihren Pfoten. Sie hörte das Klicken von Vatis Pistole. Die Welle der Angreifer kam ins Stolpern, als Einzelne zusammenbrachen. Die anderen rannten weiter, sie knurrten jetzt. Das war der Klang des Wahnsinns, nicht das Bellen von Hunden. Sie fühlte die Geräusche in ihren Zähnen, wie Blasti-Musik aus einem großen Lautsprecher. Rachen und Krallen und Messer und Lärm.
Sie warf sich auf die Seite und versuchte, zurück zum Boot zu schauen. Jetzt war der Schmerz wirklich. Sie schrie, doch ihr Schrei verlor sich in dem Wahnsinn. Die Meute rannte an ihr vorbei, auf Mutti und Vati zu. Ihre Eltern kauerten hinter einer Andockstütze. Pausenlos blitzte die Pistole in Arne Olsndots Hand auf. Sein Skaphander hatte ihn vor den Pfeilen bewahrt.
Die Leichen der Wesen türmten sich. Die Pistole mit ihren sinnreichen Miniaturpfeilen war von tödlicher Wirkung. Sie sah, wie er Mutti die Pistole gab und unter dem Boot hervor auf sie zu rannte. Johanna streckte ihren freien Arm nach ihm aus und schrie, dass er zurückginge.
Dreißig Meter. Fünfundzwanzig. Muttis Feuerschutz trieb links und rechts von ihnen die Wölfe zurück. Ein Schwarm Pfeile senkte sich auf Olsndot, während er rannte, die Arme zum Schutz über den Kopf erhoben. Zwanzig Meter.
Ein Wolf sprang hoch über Johanna. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf sein kurzes Fell und das narbenbedeckte Hinterteil. Olsndot lief im Zickzack, um seiner Frau freies Schussfeld zu geben, doch der Wolf war zu schnell. Er folgte seinen Bewegungen, während er rennend die Lücke schloss. Er sprang, Metall glitzerte an seinen Pfoten. Johanna sah Rotes aus Vatis Hals spritzen, und dann lagen sie beide am Boden.
Einen Augenblick lang hielt Sjana Olsndot mit Schießen inne. Das genügte. Die Meute teilte sich, und eine große Gruppe lief gezielt auf das Boot zu. Sie hatten eine Art Tanks auf den Rücken. Das Leittier hielt einen Schlauch im Maul. Eine dunkle Flüssigkeit spritzte daraus hervor — und verschwand in einem Ausbruch von Feuer. Das Wolfsrudel strich mit seinem primitiven Flammenwerfer über den Boden, über die Stütze, wo Sjana Olsndot stand, über die Reihen von Schulkindern im Kälteschlaf.
Johanna sah, wie sich etwas in den Flammen und dem teerigen Rauch bewegte und wand, sah das leichte Plastik der Kälteschlaf-Zellen zusammensacken und fließen.
Johanna drehte ihr Gesicht zur Erde, stützte sich dann auf den unversehrten Arm und versuchte auf das Boot, auf die Flammen zuzukriechen. Und dann umfing sie gnädige Dunkelheit, und sie nahm nichts mehr wahr.
Wanderer und Schreiber beobachteten den ganzen Nachmittag die Vorbereitungen für den Überfall: Infanterie auf dem Hang westlich des Landeplatzes in Stellung, Bogenschützen dahinter, Soldaten mit Flammenwerfern in Stoßformation. Begriffen die Herren von Flenserburg, was ihnen gegenüberstand? Die beiden diskutierten die Frage wieder und wieder. Yaqueramaphan glaubte, die Flenseristen wüssten es, ihre Arroganz sei so groß, dass sie einfach erwarteten, die Beute rasch greifen zu können. »Sie gehen einem an die Kehle, bevor die andere Seite überhaupt weiß, dass es einen Kampf gibt. Das hat schon früher geklappt.«
Wanderer antwortete nicht gleich. Schreiber konnte Recht haben. Es war fünfzig Jahre her, dass er in diesem Teil der Welt gewesen war. Damals war Flensers Kult unbedeutend gewesen (und nicht weiter interessant im Vergleich zu dem, was es anderswo auf der Welt gab).
Es kam wirklich vor, dass Reisende auf Heimtücke stießen, doch viel seltener, als die Daheimgebliebenen glaubten. Die meisten Leute waren freundlich und froh, etwas über die weite Welt zu hören — vor allem, wenn der Besucher nicht bedrohlich war. Wenn Verrat vorkam, dann meistens nach einem anfänglichen ›Abschätzen‹ , um festzustellen, wie stark die Besucher wohl waren und welcher Nutzen aus ihrem Tod zu ziehen wäre. Sofortiger Angriff ohne Gespräch war sehr selten. Für gewöhnlich bedeutete das, dass man auf Schurken gestoßen war, die sowohl raffiniert… als auch verrückt waren. »Ich weiß nicht. Das ist wirklich eine Überfall-Formation, aber vielleicht werden die Flenseristen sie in Reserve halten und erst reden.«
Stunden vergingen, die Sonne glitt seitlich nach Norden. Es gab Geräusche von der entlegenen Seite des herabgefallenen Sterns. Mist. Von hier aus konnten sie nichts sehen.
Die versteckten Soldaten machten keine Bewegung. Die Minuten verstrichen…, und sie erblickten zum erstenmal das Wesen vom Himmel, oder wenigstens einen Teil von ihm. Es hatte vier Beine pro Glied, ging aber nur auf den Hinterbeinen. Was für ein Clown! Allerdings — es benutzte seine Vorderpfoten, um Dinge festzuhalten. Kein einziges Mal sah er es einen Mund verwenden, er zweifelte ohnehin daran, dass die flachen Kiefer etwas gut erfassen konnten. Diese Vorderpfoten waren wunderbar beweglich. Ein einziges Glied konnte leicht Werkzeuge halten.
Es gab eine Menge Gesprächslaute, obwohl nur drei Glieder zu sehen waren. Nach einer Weile hörten sie die viel höheren Töne organisierten Denkens; Gott, was war das Geschöpf laut. Von weitem klangen die Geräusche gedämpft und verzerrt. Dennoch glichen sie keinem Verstand, den er je gehört hatte, auch nicht den Störgeräuschen, die manche Graser erzeugten.
»Und?«, zischte Yaqueramaphan.
»Ich bin überall auf der Welt gewesen — und dieses Geschöpf ist kein Teil davon.«
»Nun ja, es erinnert mich an eine Gottesanbeterin. Du weißt, ein Insekt, ungefähr so groß«, er öffnete einen Mund etwa zwei Zoll weit. »Prima, um den Garten von Ungeziefer frei zu halten… Großartige kleine Mörder.«
Hm. Wanderer war die Ähnlichkeit nicht in den Sinn gekommen; er hatte eher an einen aufragenden Pfahl gedacht. Gottesanbeterinnen waren lieb und harmlos — soweit es Leute betraf. Doch er wusste, dass die Weibchen ihre eigenen Gatten auffraßen. Man stelle sich solche Wesen in riesiger Größe vor, und mit Rudelverstand begabt. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass sie nicht hinabspazieren und Guten Tag sagen konnten.
Eine halbe Stunde verging. Während das Fremde seine Fracht auslud, rückten Flensers Bogenschützen weiter vor, die Infanterierudel ordneten sich zu Angriffsflanken.
Ein Schwarm Pfeile überbrückte die Lücke zwischen den Flenseristen und dem Fremden. Ein Glied des Fremden ging sofort zu Boden, und seine Gedanken verstummten. Die übrigen zogen sich aus dem Blickfeld unter das fliegende Haus zurück. Die Soldaten schnellten vor, in identitätsbewahrenden Formationen mit Zwischenräumen; vielleicht hatten sie vor, das Fremde lebendig gefangen zu nehmen.
… Doch die Angriffsfront kam ins Stocken, viele Ellen vor dem Fremden: keine Pfeile, keine Flammen — die Soldaten fielen einfach. Einen Augenblick lang glaubte Wanderer, die Flenseristen könnten sich übernommen haben. Dann lief die zweite Welle über die erste. Noch immer fielen Glieder, doch jetzt hatte sie die Mordlust ergriffen, und nur die tierische Disziplin galt noch. Ein weiteres Glied des Fremden lag am Boden… Seltsam, er konnte immer noch Fetzen von des anderen Gedanken hören. In Ton und Tempo klang es genauso wie vor dem Angriff. Wie konnte jemand mit dem vollständigen Tod im Auge derart gelassen sein?
Eine Schlachtpfeife ertönte, und die Meute teilte sich. Ein Soldat rannte nach vorn und versprühte flüssiges Feuer, sobald er die Frontlinie überquert hatte. Das fliegende Haus sah aus wie Fleisch auf einem Grill, Flammen und Rauch schlugen ringsherum empor.
Wickwrackrum fluchte leise. Leb wohl, Fremdes.
Die Zertrümmerten und Verwundeten standen bei den Flenseristen ziemlich weit unten auf der Liste der Dringlichkeit. Ernsthaft Verwundete wurden auf Schleifen gestapelt und weit genug weggezogen, dass ihre Schreie keine Verwirrung stifteten. Räumkommandos drängten die Soldatenfragmente von dem fliegenden Haus weg. Die Frags streiften über die wellige Wiese, hier und da fanden sie sich zu Stegreif-Rudeln zusammen. Manche irrten zwischen den Verwundeten umher und ignorierten die Schreie, ganz von dem Drang besessen, sich selbst zu finden.
Als der Tumult beigelegt war, erschienen drei Rudel Weißjacks. Die Diener des Flensers gingen unter das fliegende Haus. Einer blieb lange außer Sicht, vielleicht war er sogar hineingegangen. Die verkohlten Körper zweier fremder Glieder wurden sorgfältig auf Schleifen gelegt — sorgfältiger als die verwundeten Soldaten — und fortgezogen.
Yaqueramaphan musterte die Ruinen durch sein Augen-Werkzeug. Er hatte die Versuche aufgegeben, es vor Wanderer zu verbergen. Die Weißjacks trugen etwas unter dem fliegenden Haus hervor. »Tss! Es gibt noch mehr Tote. Vielleicht vom Feuer. Sie sehen aus wie Welpen.« Auch die kleinen Gestalten ähnelten Gottesanbeterinnen. Sie wurden in Schleifen festgeschnallt und über den Hügelkamm außer Sicht gezogen. Zweifellos hatten sie dort unten von Cherhogs gezogene Wagen.
Die Flenseristen bildeten einen Ring von Wachposten um den Landeplatz. Dutzende von frischen Soldaten standen daneben an der Flanke des Hügels. Niemandem würde es gelingen, sich an ihnen vorbeizuschleichen.
»Es ist also ein vollständiger Mord.« Wanderer seufzte.
»Vielleicht nicht… Das erste Glied, das sie erschossen haben — ich glaube, es ist nicht ganz tot.«
Wickwrackrum kniff seine besten Augen zusammen. Entweder war das nur Wunschdenken von Schreiber, oder sein Werkzeug verlieh ihm eine erstaunlich scharfe Sicht. Das zuerst Getroffene war auf der anderen Seite des Fahrzeugs gewesen. Das Glied hatte aufgehört zu denken, doch das war kein sicheres Anzeichen für Tod. Jetzt stand ein Weißjack um es herum. Das Weißjack legte das Wesen auf eine Schleife und begann es vom Landeplatz wegzuziehen, nach Südwesten…, nicht ganz in dieselbe Richtung wie die anderen.
»Das Ding lebt wirklich noch! Es hat einen Pfeil in die Brust bekommen, aber ich kann es atmen sehen.« Schreibers Köpfe wandten sich Wickwrackrum zu. »Ich glaube, wir sollten es retten.«
Für einen Moment verschlug es Wanderer die Sprache, er starrte den anderen nur mit offenen Mündern an. Das Zentrum von Flensers weltweiter Verschwörung lag nur ein paar Meilen nordwestlich. Die Macht der Flenseristen wurde Dutzende von Meilen ins Landesinnere hinein von niemandem angefochten, und in diesem Augenblick waren sie anscheinend von einer Armee umgeben. Schreibers Enthusiasmus verblasste ein wenig angesichts von Wanderers Staunen, doch es war klar, dass er es ernst meinte. »Sicherlich, ich weiß, dass es riskant ist. Aber das ist es doch, worum es im Leben eigentlich geht, oder? Du bist ein Pilger. Du verstehst das.«
»Hm.« Das war der Ruf, den die Pilger hatten, gewiss. Aber keine Seele kann den vollständigen Tod überleben — und es gab genug Möglichkeiten solch einer Vernichtung auf einer Pilgerfahrt. Pilger wussten, was Vorsicht bedeutet.
Und dennoch — dennoch war dies die wundersamste Begegnung in all den Jahrhunderten seines Pilgerlebens. Diese Fremden kennen zu lernen, mit ihnen eins zu werden…, es war eine Versuchung, die jede Vernunft übertraf.
»Sieh doch«, sagte Schreiber, »wir könnten einfach hinabgehen und uns unter die Verwundeten mischen. Wenn wir es übers freie Feld schaffen, könnten wir einen genaueren Blick auf das letzte Glied des Fremden werfen, ohne allzu viel zu riskieren.« Yaqueramaphan war bereits dabei, sich von seinem Beobachtungspunkt zurückzuziehen und auf der Suche nach einem Weg, der ihn nicht am Horizont erscheinen ließe, umherzulaufen. Wickwrackrum war hin und her gerissen, ein Teil von ihm war im Begriff mitzugehen, und der andere Teil zögerte. Zum Teufel, Yaqueramaphan hatte zugegeben, ein Spion zu sein, er hatte eine Erfindung bei sich, die gewiss geradewegs von den klügsten Geheimdienstleuten der Langseen-Republik stammte. Er musste ein Profi sein…
Wanderer warf einen kurzen Blick auf ihre Seite des Hügels und über das Tal hinweg. Keine Spur von Tyrathect oder sonst jemandem. Er kroch aus seinen verschiedenen Schlupflöchern und folgte dem Spion.
Soweit möglich, blieben sie in den tiefen Schatten, die die Sonne von Norden her warf, und schlüpften von Hügelchen zu Hügelchen, wo es keinen Schatten gab. Kurz bevor sie die ersten Verwundeten erreichten, sagte Schreiber noch etwas, die unheimlichsten Worte an diesem Nachmittag: »He, mach dir keine Sorgen. Ich habe alles darüber gelesen, wie man so etwas macht!«
Eine Meute von Frags und Verwundeten ist eine schreckliche Sache und betäubt den Verstand. Solos, Duos, Trios, ein paar Quadros: sie irrten ziellos umher und stießen unkontrolliert hohe Klagelaute aus. In den meisten Fällen hätten derart viele Leute auf so engem Raum augenblicklich einen Chor gebildet. In der Tat bemerkte er einige sexuelle Aktivitäten und ein bisschen organisiertes Mustern, doch größtenteils war der Schmerz noch zu groß für normale Reaktionen. Wickwrackrum fragte sich einen Augenblick lang, ob die Flenseristen bei all ihrem Gerede von Rationalismus die Bruchstücke ihrer Truppen sich einfach von selbst wieder zusammenfinden lassen würden. Sie würden ein paar seltsame und verkrüppelte Neurudel kriegen, wenn sie das taten.
Ein paar Schritte in die Meute hinein, und Wanderer Wickwrackrum spürte, wie ihm das Bewusstsein entglitt. Wenn er sich sehr konzentrierte, konnte er sich erinnern, wer er war und dass er auf die andere Seite der Wiese gehen musste, ohne aufzufallen.
Andere Gedanken, laut und unkontrolliert, trommelten auf ihn ein:
…Blutrausch und Zerfetzen…
Funkelndes Metall in der Hand des Fremden… der Schmerz in ihrer Brust… Blut spucken, stürzen…
… Das Rekrutenlager und davor, mein Zubruder war so gut zu mir… Fürst Stahl hat gesagt, wir sind ein großartiges Experiment…
Über die Heide auf das stockgliedrige Monster zurennen. Springen, die Klauen an der Pfote. Dem Monster die Kehle aufschlitzen. Blut spritzt hoch.
…Wo bin ich?… Darf ich Teil von dir sein… bitte?
Auf die letzte Frage hin wirbelte Wanderer herum. Sie kam gezielt und aus der Nähe. Ein Solo schnüffelte an ihm. Mit Kreischen verjagte er das Fragment und lief auf einen freien Platz. Ein Stück vor ihm erging es Yaque-Dingsbums nicht viel besser. Es bestand kein großes Risiko, hier ertappt zu werden, doch er begann sich zu fragen, ob er es bis zur anderen Seite schaffen würde. Wanderer war nur seiner vier, und es gab überall Solos. Zu seiner Rechten vergewaltigte ein Quadro jedes Duo und Solo, das in die Nähe kam. Wic und Kwk und Rac und Rum versuchten sich zu erinnern, warum sie eigentlich hier waren und wohin sie wollten. Konzentrier dich auf direkte Eindrücke, was wirklich hier ist: der rußige Geruch vom flüssigen Feuer der Flammer… die Mückenschwärme überall, die ganz schwarz die Blutlachen überdecken.
Eine furchtbar lange Zeit verging. Minuten.
Wic-Kwk-Rac-Rum schaute nach vorn. Er war beinahe durch; der Südrand der Trümmer. Er schleppte sich zu einem Fleck freien Bodens. Teile von ihm übergaben sich, und er brach zusammen. Allmählich kehrte die Vernunft zurück. Wickwrackrum schaute auf, sah Yaqueramaphan mitten in der Meute. Schreiber war ein großer Kerl, ein Sechssam, doch ihm erging es mindestens ebenso schlecht wie Wanderer. Er stolperte von einer Seite zur anderen, die Augen aufgerissen, und schnappte nach sich selbst und nach anderen.
Nun, sie hatten ein gutes Stück Weg über die Wiese zurückgelegt, und schnell genug, um das Weißjack einzuholen, das das letzte Glied des Fremden fortzog. Wenn sie mehr sehen wollten, mussten sie eine Methode finden, die Meute unbemerkt zu verlassen. Hm. Es gab da eine Menge Uniformen von Flenseristen… ohne lebende Besitzer. Wanderer ließ zwei von sich hinüber gehen, wo der tote Soldat lag.
»Yaqueramaphan! Hierher!« Der große Spion blickte in seine Richtung, und ein Funke von Intelligenz kehrte in seine Augen zurück. Er stolperte aus der Meute heraus und setzte sich ein paar Ellen von Wickwrackrum entfernt hin. Viel näher, als normalerweise angenehm gewesen wäre, doch nach dem, was sie durchgemacht hatten, erschien das kaum als Nähe. Er legte sich für einen Moment und schnappte nach Luft. »Tut mir Leid, ich hatte keine Ahnung, dass es so sein würde. Ich habe eine von mir dort hinten verloren…, hätte nie geglaubt, dass ich sie zurückkriegen würde.«
Wanderer beobachtete, wie das Weißjack mit seiner Schleife vorankam. Es ging nicht zusammen mit den anderen, in ein paar Sekunden würde es außer Sicht sein. Verkleidet konnten sie ihm vielleicht wirklich folgen und — nein, es war einfach zu riskant. Er fing an, wie der große Spion zu denken. Wanderer zog eine Tarnjacke von dem Leichnam. Verkleidung würden sie jedenfalls brauchen. Vielleicht konnten sie sich die Nacht über hier aufhalten und sich das fliegende Haus näher ansehen.
Nach einem Moment sah Schreiber, was Wickwrackrum tat, und begann Jacken für sich selbst zu sammeln. Sie schlichen zwischen den aufgetürmten Leichen umher und hielten nach Kleidung Ausschau, die nicht allzu beschmutzt war und von der Yaqueramaphan glaubte, dass sie zusammenpassende Abzeichen hätte. Es gab hier massenhaft Pfotenklauen und Streitäxte. Sie würden am Ende bis an die Zähne bewaffnet sein, aber sie würden einige von ihren Rückentaschen abwerfen müssen… Er brauchte nur noch eine Jacke, doch sein Rum war so breit in den Schultern, dass nichts passte.
Erst später verstand Wanderer, was geschah: Ein großes Fragment, ein Dreisam, lag ohne einen Mucks in dem Haufen von Toten. Vielleicht trauerte es, lange nach dem Totengesang seines Gliedes, jedenfalls war es fast völlig gedankenleer, bis Wanderer seinem toten Glied die Jacke auszuziehen begann. Dann: »Du wirst nichts von meinem rauben!« Er hörte das Schwirren von Wut in nächster Nähe, und dann war da ein reißender Schmerz quer durch Rums Eingeweide. Wanderer wand sich vor Qual, stürzte sich auf seinen Angreifer. Für einen Augenblick gedankenloser Wut kämpften sie. Wanderers Streitäxte schlugen wieder und wieder zu und bedeckten seine Mäuler mit Blut. Als er wieder zu Sinnen kam, war eins von den dreien tot, die anderen liefen in die Meute der Verwundeten.
Wickwrackrum krümmte sich um den Schmerz in seinem Rum. Der Angreifer hatte Klauen getragen. Rum war von den Rippen bis zum Unterleib aufgeschlitzt. Wickwrackrum strauchelte, manche von seinen Pfoten steckten in seinen eigenen Eingeweiden. Er versuchte, die Därme zurück in den Unterleib seines Gliedes zu stopfen. Der Schmerz schwand, der Himmel in Rums Augen wurde langsam dunkel. Wanderer erstickte die Schreie, die er in sich aufsteigen fühlte. Ich bin nur meiner vier, und eins von mir liegt im Sterben! Jahrelang hatte er sich selbst gewarnt, dass vier eine zu geringe Zahl für einen Pilger war. Nun würde er dafür bezahlen, ohne Verstand gefangen in einem Land von Tyrannen.
Für einen Augenblick ließ der Schmerz nach, und seine Gedanken waren klar. Der Kampf hatte kaum Aufmerksamkeit erregt inmitten von Werbungen, Vergewaltigung und einfachen Anfällen von Wahnsinn. Wickwrackrums Kampf war nur ein bisschen größer und blutiger als gewöhnlich gewesen. Die Weißjacks bei dem fliegenden Haus hatten kurz in ihre Richtung geschaut, waren jetzt aber wieder dabei, die fremde Fracht aufzureißen.
Schreiber saß in der Nähe und schaute entsetzt zu. Ein Teil von ihm kam bald ein wenig näher, bald zog er sich wieder zurück. Er kämpfte mit sich und versuchte sich zu entschließen, ob er helfen sollte. Wanderer flehte ihn fast an, doch die Anstrengung war zu groß. Außerdem war Schreiber kein Pilger. Einen Teil von sich herzugeben war mehr, als Yaqueramaphan freiwillig zu tun vermochte…
Erinnerungen strömten nun auf ihn ein, Rums Bemühungen, die Dinge zu sortieren und den Rest von ihm alles wissen zu lassen, was vorher gewesen war. Einen Moment lang segelte er in einem Doppelrumpfboot über das Südmeer, eine Neukunft mit Rum als Welpe; Erinnerungen an die Inselperson, die Rum geboren hatte, und an Rudel davor. Einmal rund um die Welt waren sie gereist, hatten die Elendsquartiere eines tropischen Großkollektivs und den Krieg der Ebenenherden überlebt. Ah, die Geschichten, die sie gehört, die Tricks, die sie gelernt, die Leute, die sie getroffen hatten… Wic Kwk Rac Rum waren eine sagenhafte Kombination gewesen, mit klarem Kopf, leichtem Herzen und einer seltsamen Fähigkeit, alle Erinnerungen an Ort und Stelle zu halten; das war der wahre Grund gewesen, warum er so lange weitergemacht hatte, ohne auf fünf oder sechs anzuwachsen. Nun würde er wohl den größten Preis von allen zahlen…
Rum seufzte, und dann sah er den Himmel nicht mehr. Wickwrackrums Verstand schwand dahin, nicht wie in der Hitze des Gefechts, wenn der Klang des Denkens verloren geht, nicht, wie es im geselligen Murmeln des Schlafes geschieht. Da war plötzlich keine vierte Wesenheit mehr, nur noch die drei, die eine Person zu bilden versuchten. Das Trio stand da und tätschelte sich selbst nervös. Überall war Gefahr, die jedoch über sein Verständnis ging. Es trottete voller Hoffnung auf ein Sechssam in der Nähe zu — Yaqueramaphan? —, doch der andere scheuchte es weg. Es blickte nervös auf die Meute der Verwundeten. Dort lag Vollständigkeit… und Wahnsinn auch.
Ein großer Rüde mit tiefen Narben an der Hüfte saß am Rande der Meute. Er fing den Blick des Dreisams auf und kroch langsam über den freien Platz auf sie zu. Wic und Kwk und Rac scheuten zurück, ihre Felle sträubten sich vor Furcht und Faszination; der Narbige war mindestens anderthalbmal so schwer wie jeder von ihnen.
…Wo bin ich?… Darf ich Teil von dir sein… bitte? Seine Werbung enthielt Erinnerungen, wirr und fast unzugänglich, an Blut und Kämpfe, an militärische Ausbildung davor. Irgendwie hatte das Geschöpf vor diesen frühen Erinnerungen eine Angst, wie sie größer nicht sein konnte. Es presste sein Maul, von getrocknetem Blut verkrustet, an den Boden und robbte auf sie zu. Die drei anderen rannten beinahe, zufällige Vereinigung war etwas, das sie alle fürchteten. Sie wichen weiter und weiter zurück, hinaus aufs freie Feld. Der andere folgte, doch langsam, immer noch kriechend. Kwk leckte sich die Lippen, dann ging sie zurück zu dem Fremden. Sie streckte den Hals aus und schnüffelte an seiner Kehle entlang. Wic und Rac näherten sich von den Seiten.
Für einen Augenblick entstand eine teilweise Verbindung. Verschwitzt, blutig, verwundet — eine Mischung, in der Hölle gemacht. Der Gedanke schien aus dem Nichts zu kommen, glühte in den vier für einen Moment zynischen Humors. Dann war die Einheit verloren, und sie waren nur drei Tiere, die das Gesicht des vierten leckten.
Wanderer blickte sich auf der Wiese mit neuen Augen um. Er war nur ein paar Minuten lang zerfallen gewesen: Bei den Verwundeten von der Zehnten Angriffsinfanterie hatte sich nichts verändert. Flensers Diener waren immer noch mit der fremden Fracht beschäftigt. Yaqueramaphan wich langsam zurück, mit einem Ausdruck von Staunen und Schrecken zugleich. Wanderer senkte einen Kopf und zischte ihm zu: »Ich werde dich nicht verraten, Schreiber.«
Der Spion erstarrte. »Bist du es, Wanderer?«
»Mehr oder weniger.« Noch immer Wanderer, doch nicht länger Wickwrackrum.
»W-wie machst du das? Eben h-hast du noch…«
»Ich bin ein Pilger, weißt du nicht? Wir leben mit so etwas all unsere Leben lang.« In seiner Stimme lag Sarkasmus, das war mehr oder weniger das Klischee, das Yaqueramaphan zuvor von sich gegeben hatte. Doch es war etwas Wahres dran. Schon fühlte sich Wanderer Wickwrack…narb als Person. Vielleicht hatte diese neue Kombination eine Chance.
»Hmm… Tja, also… Was sollen wir jetzt tun?« Der Spion blickte nervös in alle Richtungen, doch in seinen auf Wanderer gerichteten Augen stand die größte Sorge.
Nun war die Reihe an Wickwracknarb, verwirrt zu sein. Was tat er hier eigentlich? Den sonderbaren Feind töten… Nein. Das hatte die Angriffsinfanterie getan. Er wollte nichts damit zu tun haben, egal, was die Erinnerung des Narbigen dazu besagte. Er und Schreiber waren hergekommen, um… den Fremden zu retten, soweit es möglich war. Wanderer griff nach der Erinnerung und hielt sie unkritisch fest, es war etwas Wirkliches, von der vergangenen Identität, die er bewahren musste. Er schaute in die Richtung, wo er das fremde Glied zuletzt gesehen hatte. Das Weißjack und seine Schleife waren nicht mehr in Sicht, doch es war offensichtlich, welchen Weg es genommen hatte.
»Wir können immer noch das Lebendige bekommen«, sagte er zu Yaqueramaphan.
Schreiber trat von einem Fuß auf den anderen und wich zur Seite. »Nach dir, mein Freund.«
Wickwracknarb rückte seine Kampfjacken zurecht und wischte etwas von dem getrockneten Blut ab. Dann stolzierte er über die Wiese, in gerade mal hundert Ellen Entfernung an den Flenser-Dienern vorbei, die den Feind — die das fliegende Haus umringten. Er salutierte zackig, was sie ignorierten. Yaqueramaphan folgte ihm mit zwei Armbrüsten. Er tat sein Bestes, um Wanderers Gang nachzuahmen, aber er war wirklich nicht der Kerl dazu.
Dann lag der taktische Horizont des Berges hinter ihnen, und sie stiegen in den Schatten hinab. Die Geräusche von den Verwundeten verstummten. Wickwracknarb verfiel in Schnellschritt und sprang von Serpentine zu Serpentine, als er den steilen Weg hinablief. Von hier aus konnte er den Hafen sehen; die Boote lagen noch an der Pier, und es war nicht viel Betrieb. Hinter ihm redete Schreiber nervösen Unsinn. Wanderer lief noch schneller, mit einem Selbstvertrauen, das von der allgemeinen Verwirrung der Neukunft gespeist wurde. Sein neues Glied, der Narbige, war der Muskel hinter einem Infanterieoffizier gewesen. Jenes Rudel hatte die Anordnung der Häfen und der Burg gekannt und alle Tagesparolen.
Noch zwei Kurven, und sie hatten das Weißjack mit seiner Schleife eingeholt. »Hallo!«, rief Wanderer. »Wir bringen neue Befehle von Fürst Stahl.« Ein Schauder lief über seine Rücken, als er sich zum ersten Mal an Stahl erinnerte. Der Diener ließ die Schleife los und wandte sich zu ihnen um. Wickwracknarb kannte seinen Namen nicht, erinnerte sich aber an den Burschen: ziemlich hoher Rang, ein arrogantes Luder. Es war überraschend, ihn die Schleife selbst ziehen zu sehen.
Wanderer blieb nur zwanzig Ellen vor dem Weißjack stehen. Yaqueramaphan schaute von der Serpentine darüber herab, seine Armbrüste waren nicht zu sehen. Der Diener blickte nervös auf Wanderer und zu Schreiber hinauf.
»Was wollt ihr beiden?«
Hatte er schon Verdacht geschöpft? Egal. Wickwracknarb wappnete sich für einen tödlichen Angriff… und plötzlich sah er vierfach, den Verstand vom Schwindelgefühl der Neukunft getrübt. Jetzt, da er töten musste, ließ ihn die Angst des Narbigen davor auseinanderfallen. Verdammt! Wickwracknarb suchte wild nach etwas, was er sagen könnte. Und nun, da der Mord ihm aus dem Sinn gekommen war, stellten sich seine neuen Erinnerungen bereitwillig ein.
»Fürst Stahls Wille ist, dass wir das Geschöpf zum Hafen bringen. Du, äh, du kannst zum fliegenden Ding des Eindringlings zurückkehren.«
Der Weißjack leckte sich die Lippen. Sein Blick glitt scharf über Wanderers Uniformen, und über die von Schreiber. »Betrüger!«, kreischte er und ließ im selben Augenblick eins seiner Glieder zur Schleife laufen. Metall funkelte in der Vorderpfote des Gliedes. Er will das Fremde töten!
Von oben her erklang das Schnellen einer Bogensehne, und der Läufer fiel, einen Pfeilschaft im Auge. Wickwracknarb griff die anderen an und zwang dabei sein narbiges Glied nach vorn. Für einen Moment schwindelte ihn, dann war er wieder ganz und schrie den vieren Tod entgegen. Die beiden Rudel prallten aufeinander, und Narb stieß zwei Glieder des Dieners über den Rand des Weges. Pfeile summten rings um sie. Wic Kwk Rac wirbelten herum und hieben Äxte gegen alles, was noch stehen blieb.
Dann war es still, und Wanderer fand seine Gedanken wieder. Drei von den Gliedern des Dieners zuckten auf dem Weg, die Erde rings um sie glitschig von Blut. Er warf sie über den Rand, nahe der Stelle, wo Narb die anderen getötet hatte. Nicht eins von dem Diener hatte überlebt, es war vollständiger Tod, und er war dafür verantwortlich. Er sackte zu Boden und sah wieder vierfach.
»Das Fremde. Es ist noch am Leben«, sagte Schreiber. Er stand um die Schleife und schnüffelte an dem pfahlähnlichen Körper. »Allerdings bewusstlos.« Er fasste die Schleifenstangen mit seinen Kiefern und schaute Wanderer an. »Was… was nun, Pilger?«
Wanderer lag im Schmutz und versuchte seinen Verstand zu sammeln. In der Tat, was nun. Wie war er in diesen Schlamassel geraten? Die Verwirrung der Neukunft war die einzige Erklärung. Er hatte einfach alle Gründe aus dem Auge verloren, die es unmöglich machten, das Fremde zu retten. Und nun hatte er es am Halse. Rudelscheiße. Ein Teil von ihm kroch zum Rand des Weges und schaute sich um. Nichts deutete darauf hin, dass sie aufgefallen waren. Im Hafen lagen die Boote noch leer, der größte Teil der Infanterie war oben in den Bergen. Zweifellos verwahrten die Diener die toten Glieder in der Hafenfestung. Wann würden sie sie also über die Meerenge zur Verborgenen Insel schaffen? Warteten sie auf die Ankunft dieses Gliedes?
»Vielleicht könnten wir uns ein Boot greifen, nach Süden entkommen«, sagte Schreiber. Wusste er denn nicht, dass Postenketten rings um den Hafen stehen würden? Selbst wenn sie die Parolen kannten, würde man sie melden, sobald sie einen der Posten passierten. Die Chancen standen eins zu einer Million. Aber es war schlechthin unmöglich gewesen, bevor Narb ein Teil von ihm geworden war.
Er musterte das Geschöpf, das auf der Schleife lag. So seltsam und doch wirklich. Und es war mehr als nur das Geschöpf, obwohl dessen Fremdheit am meisten ins Auge fiel. Seine blutige Kleidung war von feinerem Gewebe, als der Pilger jemals gesehen hatte. Neben dem Körper des Geschöpfs steckte ein rosa Kissen mit kunstvoller Stickerei in der Schleife. Mit einer Wende des Blickpunktes erfasste er, dass es fremde Kunst war, das Gesicht einen Tiers mit langer Schnauze, auf das Kissen gestickt.
Die Chancen, durch den Hafen zu entkommen, standen eins zu einer Million; mancher Preis mochte solch ein Risiko wert sein.
»… Wir werden noch ein Stück weiter hinabgehen«, sagte er.
Yaqueramaphan zog die Schleife. Wickwracknarb schritt neben ihm her und versuchte, wichtig und offiziersmäßig auszusehen. Mit Narb war das nicht schwer. Das Glied war ein Muster an militärischer Fähigkeit, man musste in ihm stecken, um die Weichheit zu kennen.
Sie waren fast bis zum Meeresspiegel hinabgestiegen.
Der Weg war jetzt breiter und roh gepflastert. Er wusste, dass die Hafenfestung über ihnen lag, von den Bäumen verdeckt. Die Sonne hatte den Norden verlassen und stieg in den Osthimmel. Blumen blühten überall, weiß und rot und violett, ihr Duft lag schwer im Wind — die arktische Pflanzenwelt nutzt gern die Vorzüge ihres langen Sommers. Wenn man über das sonnengesprenkelte Kopfsteinpflaster ging, konnte man beinahe den Überfall auf der Hügelkuppe vergessen.
Sehr bald trafen sie auf eine Postenkette. Ketten und Ringe sind interessante Leute, keine großen Leuchten, aber so ziemlich die größten funktionsfähigen Rudel, die man außerhalb der Tropen antrifft. Es gab Geschichten über zehn Meilen lange Ketten mit Tausenden von Gliedern. Die größte, die Wanderer jemals gesehen hatte, hatte weniger als hundert gezählt: Man nimmt eine Gruppe gewöhnlicher Leute und trainiert sie, auszuschwärmen, nicht in Rudeln, sondern als Einzelglieder. Wenn jedes Glied nur ein paar Ellen von seinen nächsten Nachbarn entfernt blieb, konnten sie so etwas wie den Geist eines Trios bewahren. Die Gruppe als Ganzes war kaum intelligenter — man kann nicht sonderlich tiefe Gedanken haben, wenn eine einzelne Idee Sekunden braucht, sich durch den Verstand auszubreiten. Aber die Kette hatte einen hervorragenden Überblick, was auf ihrer ganzen Länge geschah. Und wenn eins von ihren Mitgliedern angegriffen wurde, erfuhr es die ganze Kette mit Schallgeschwindigkeit. Wanderer hatte schon in Ketten gedient, es war ein zerflossenes Dasein, aber nicht annähernd so öde wie gewöhnlicher Wachdienst. Man konnte sich kaum langweilen, wenn man so stumpfsinnig wie eine Kette war.
Da! Ein einzelnes Glied reckte den Hals hinter einem Baum hervor und rief sie an. Wickwracknarb kannte natürlich die Parole, und sie durchquerten die äußere Kette. Aber die Passage und ihre Beschreibung waren jetzt der ganzen Kette bekannt — und bald auch gewöhnlichen Soldaten in der Hafenfestung.
Zum Teufel. Er konnte nichts dagegen tun, er würde dem verrückten Plan weiter folgen. Er und Schreiber und das fremde Glied passierten die beiden inneren Posten. Er konnte jetzt das Meer riechen. Sie kamen zwischen den Bäumen hervor zu dem steinummauerten Hafen. Silber glitzerte auf dem Wasser in einer Million unsteter Flecke. Ein großes Multiboot schaukelte zwischen zwei Piers. Seine Masten waren wie ein Wald von schrägen, laublosen Bäumen. Nur eine Meile jenseits des Wassers konnten sie die Verborgene Insel sehen. Ein Teil von ihm tat den Anblick als ganz gewöhnlich ab, ein Teil stockte vor Furcht. Das war das Zentrum der weltweiten Flenser-Bewegung. Dort oben in jenen abweisenden Türmen hatte der ursprüngliche Flenser seine Experimente durchgeführt, seine Aufsätze geschrieben — und Pläne für die Weltherrschaft geschmiedet.
Es waren wenig Leute auf den Piers. Die meisten waren mit Wartungsarbeiten beschäftigt: Segel nähen, Doppelrümpfe wieder festzurren. Sie beobachteten die Schleife mit gespannter Neugier, doch keiner kam näher. Wir brauchen also weiter nichts zu tun, als bis ans Ende einer Pier zu schlendern, die Leinen eines außen liegenden Doppelrumpfes zu durchschneiden und loszusegeln. Es gab wahrscheinlich allein auf der Pier genug Rudel, um das zu verhindern — und ihre Schreie würden gewiss die Soldaten herbeirufen, die sie in der Nähe der Hafenfestung sahen. Eigentlich war es etwas überraschend, dass dort oben noch niemand ernsthaft von ihnen Notiz genommen hatte.
Diese Boote waren gröber gebaut als die Version der Südmeere. Zum Teil war der Unterschied oberflächlich: Die Flenser-Lehre verbot nutzlose Verzierungen an Booten. Zum Teil war er in der Funktion begründet: Diese Fahrzeuge waren für den Einsatz im Sommer wie im Winter konstruiert, und zum Übersetzen von Truppen. Doch er war sich sicher, dass er sie steuern könnte, wenn er nur die Gelegenheit dazu erhielte. Er ging ans Ende der Pier. Hmm. Sie hatten Glück. Der Doppelrumpf, der den Bug-Steuerbord-Teil des Multibootes bildete, gleich rechts von ihm an der Pier, sah schnell und wohlversorgt aus. Es war vermutlich ein Boot für Fernerkundung.
»Psst. Da oben ist etwas im Gange.« Schreiber wies mit einem Kopf zur Festung hin.
Die Soldaten stellten sich in Formation auf — ein Massensalut? Fünf Diener schwärmten vor der Infanterie aus, und Hörner erschallten von den Türmen der Festung. Narb hatte dergleichen schon gesehen, doch Wanderer traute der Erinnerung nicht. Wie konnte…
Ein rot-gelbes Banner stieg über der Festung auf. Auf den Piers warfen sich Soldaten und Bootsarbeiter auf die Bäuche. Wanderer warf sich ebenfalls hin und zischte dem anderen zu: »Runter!«
»Wa…?«
»Das ist Flensers Fahne… seine persönliche Standarte!«
»Das kann nicht sein.« Flenser war vor sechs Zehntagen in der Republik ermordet worden. Die Meute, die ihn zerfetzt hatte, hatte gleichzeitig Dutzende seiner führenden Anhänger getötet… Doch es war nur eine Mitteilung der republikanischen Politischen Polizei gewesen, dass alle von Flensers Körpern gefunden worden seien.
Oben an der Festung spazierte ein einzelnes Rudel zwischen den Reihen der Soldaten und Weißjacks einher. Silber und Gold glänzten auf seinen Schultern. Schreiber ließ eins seiner Glieder hinter einem Pfosten verschwinden und holte verstohlen sein Augen-Werkzeug hervor. Nach einem Moment: »Seelentod… es ist Tyrathect.«
»Sie ist genauso wenig der Flenser, wie ich es bin«, sagte Wanderer. Sie waren zusammen von Osttor den ganzen Weg über die Eisfänge gereist. Sie war offensichtlich eine Neukunft, und nicht besonders gut beisammen. Sie hatte reserviert und nach innen gekehrt gewirkt, doch es hatte auch Ausbrüche von Wut gegeben. Wanderer wusste, dass etwas Tödliches in Tyrathect steckte… Nun konnte er sich denken, woher es kam. Zumindest einige von Flensers Gliedern waren dem Mordanschlag entgangen, und er und Schreiber hatten drei Zehntage in ihrer Gegenwart verbracht. Wanderer erschauderte.
Am Festungstor wandte sich das Tyrathect genannte Rudel den Soldaten und Dienern zu. Sie machte eine Geste, und wieder ertönten Hörner. Der neue Wanderer verstand das Signal: der Einruf. Er unterdrückte den plötzlichen Drang, den anderen auf der Pier zu folgen, die mit gesenkten Bäuchen auf die Festung zukrochen, alle Augen auf Den Meister gerichtet. Schreiber blickte zu ihm zurück, und Wanderer nickte. Sie hatten ein Wunder gebraucht, und da war eins — vom Feinde selbst vollbracht! Schreiber bewegte sich langsam zum Ende der Pier hin und zog die Schleife von Schatten zu Schatten.
Noch immer blickte sich niemand um. Aus gutem Grund: Wickwracknarb erinnerte sich, was mit denen geschah, die bei einem Einruf den Respekt vermissen ließen. »Zieh das Geschöpf auf das Bug-Steuerbord-Boot«, sagte er zu Yaqueramaphan. Er sprang von der Pier und verteilte sich über das Multiboot. Es war großartig, wieder auf schwankenden Decks zu sein, wo jedes Glied in eine andere Richtung trieb. Er schnüffelte zwischen den Bugkatapulten, lauschte den Rümpfen und dem Knarren der Verbindungstaue.
Doch Narb war kein Seemann und konnte sich des womöglich Wichtigsten nicht entsinnen.
»Was suchst du?«, zischte Schreiber in Hochsprache.
»Flutspunde.« Wenn es welche gab, sahen sie ganz anders aus als auf den Südmeeren.
»Oh«, sagte Schreiber, »das ist leicht. Das sind Nordgleiter. Mit abklappbaren Platten und einem dünnen Rumpf dahinter.« Zwei von ihm verschwanden für eine Sekunde, und es gab ein dröhnendes Geräusch. Die Köpfe tauchten wieder auf und schüttelten Wasser ab. Er grinste überrascht, perplex über seinen eigenen Erfolg. »Es ist ja ganz wie in den Büchern!«, schien sein Ausdruck zu sagen.
Wickwracknarb fand sie nun, die Platten hatten wie Lagerstätten für die Besatzung ausgesehen, doch sie ließen sich leicht herausziehen, und das Holz dahinter war leicht mit einer Streitaxt zu durchbrechen. Er ließ einen Kopf draußen, um zu sehen, ob sie Aufmerksamkeit erregten, während er gleichzeitig auf die Spundbretter einhackte. Wanderer und Schreiber arbeiteten sich durch die Bugreihen des Multiboots; wenn die absackten, würde es eine Weile dauern, die Doppelrümpfe dahinter flottzumachen.
Oh. Einer von den Bootsarbeitern schaute zu ihnen zurück. Ein Teil von dem Kerl ging weiter den Hügel hinan, den anderen drängte es, zur Pier zurückzukehren. Die Hörner ließen abermals ihren Befehl erschallen, und der Matrose folgte dem Ruf. Doch auf seine jaulenden Alarmrufe hin blickten weitere sich um.
Keine Zeit, sich davonzustehlen. Wanderer stürzte zurück auf den Doppelrumpf vorn steuerbord. Schreiber schlug die Verstrebungen aus Flechtenbein durch, die den Doppelrumpf am Rest des Schiffes hielten. »Kannst du mit einem Boot umgehen?«, fragte Wanderer. Dumme Frage.
»Tja, ich habe alles darüber gelesen…«
»Gut!« Wanderer scheuchte ihn ganz in den Steuerbordrumpf. »Sieh zu, dass das Fremde in Sicherheit ist. Duck dich und sei so still wie möglich.« Er konnte den Doppelrumpf allein segeln, aber er würde überall sein müssen, um das zu tun; je weniger Störgeräusche, um so besser.
Wanderer stieß ihr Boot mit einer Stange vom Multiboot weg. Das Fluten war noch nicht zu bemerken, doch er sah Wasser in den Bugrümpfen. Er drehte seine Stange um und benutzte ihren Haken, um das nächste Boot in die Lücke zu ziehen, die ihre Abfahrt gelassen hatte. In fünf Minuten würde nur noch eine Reihe von Masten aus dem Wasser ragen. Fünf Minuten. Es war nicht zu schaffen — wenn da nicht Flensers Einruf gewesen wäre. Oben an der Festung drehten sich Soldaten um und zeigten zum Hafen. Dennoch mussten sie Flenser/Tyrathect folgen. Wie lange würde es dauern, bevor jemand Wichtiges entschied, dass etwas sogar über einen Einruf gehen konnte?
Er setzte Segel.
Der Wind trieb sie von der Pier hinaus. Wanderer sprang hierhin und dorthin, die Segelleinen fest zwischen den Zähnen. Selbst ohne Rum — was für Erinnerungen der Geschmack von Salz und Tauwerk weckte! Er fühlte, wie straffe Spannung und Nachlassen bedeuteten, dass der Wind sein Bestes gab. Die Doppelrümpfe waren schnittig und schmal, der Mast von Eisenholz knarrte, während der Wind das Segel füllte.
Die Flenseristen strömten jetzt den Hügel hinab. Bogenschützen blieben stehen, und eine Wolke von Pfeilen stieg auf. Wanderer riss an den Segelleinen und ließ das Boot auf einem Rumpf nach links wenden. Schreiber sprang, um das Fremde zu decken. Vor ihnen auf Steuerbord wurde das Wasser geriffelt, doch nur ein paar Pfeile trafen das Boot. Wanderer zog wieder an den Leinen, und sie drehten sich in die andere Richtung. Noch ein paar Sekunden, und sie wären außer Schussweite. Soldaten rannten hinab zu den Piers, kreischten, als sie sahen, was von ihrem Schiff übrig war. Die Bugreihen waren geflutet: die ganze Vorderseite des Ankerplatzes war ein Trümmerhaufen von versunkenen Booten. Und die Katapulte befanden sich am Bug.
Wanderer ließ sein Boot zurückschwingen und hielt gerade nach Süden, aus dem Hafen hinaus. Auf Steuerbord konnte er sehen, wie sie die Südspitze der Verborgenen Insel passierten. Die Burgtürme ragten hoch und verhängnisvoll empor. Er wusste, dass es dort schwere Katapulte gab, und ein paar schnelle Boote im Inselhafen. Noch ein paar Minuten, und selbst das würde keine Rolle mehr spielen. Erst allmählich wurde ihm bewusst, wie wendig ihr Boot war. Er hätte sich denken können, dass sie das beste an einer Bugecke placieren würden. Vermutlich wurde es für Erkundungsfahrten und zum Übersetzen benutzt.
Yaqueramaphan hatte sich am Heck seines Rumpfes gesammelt und starrte übers Wasser auf den Festlandshafen. Soldaten, Arbeiter, Weißjacks drängten sich in geistbetäubendem Durcheinander an den Enden der Piers. Sogar von hier aus konnte man sehen, dass der Ort ein Tollhaus von Wut und Enttäuschung war. Ein närrisches Lächeln breitete sich über Schreiber aus, als ihm bewusst wurde, dass sie es wirklich schaffen würden. Er stützte sich auf die Reling und sprang in die Luft, um ihren Feinden ein Glied zu zeigen. Die obszöne Geste hätte ihn beinahe über Bord fallen lassen, doch sie wurde tatsächlich gesehen: die ferne Wut flammte für einen Augenblick noch heller auf.
Sie waren schon ein gutes Stück südlich der Verborgenen Insel, selbst deren Katapulte konnten sie jetzt nicht mehr erreichen. Die Rudel am Ufer des Festlands gerieten außer Sicht. Flensers persönliche Standarte flatterte noch munter in der Morgenbrise, ein kleiner werdendes Quadrat von Rot und Gelb vor dem Grün des Waldes.
Der ganze Wanderer schaute auf die Meerenge, wo sich die Walinsel im Bogen nahe an das Festland heranschob. Sein Narb erinnerte sich, dass die Inselspitze schwer befestigt war. Normalerweise wäre das ihr Ende gewesen. Doch die Bogenschützen waren abgezogen worden, um sich an dem Überfall zu beteiligen, und die Katapulte wurden gerade repariert.
… Das Wunder war also geschehen. Sie waren am Leben und frei und hatten den größten Fund seiner ganzen Pilgerschaft. Er schrie seine Freude so laut heraus, dass Yaqueramaphan sich duckte und der Klang von den grünen, mit Schneeflecken bedeckten Anhöhen zurückgeworfen wurde.
Jefri Olsndot besaß nur wenige klare Erinnerungen an den Hinterhalt und hatte nichts von der Gewalt gesehen. Draußen war Lärm gewesen und Muttis angsterfüllter Schrei, er solle drinnen bleiben. Es hatte eine Menge Qualm gegeben. Er wusste noch, wie er gehustet hatte und wie er versuchte, an die frische Luft zu kriechen. Dann hatte er das Bewusstsein verloren. Als er erwachte, war er auf eine Art Erste-Hilfe-Trage geschnallt, und ringsum waren die großen Hundewesen. Sie sahen so komisch aus mit ihren weißen Jacken und den Tressen. Er entsann sich, dass er sich gefragt hatte, wo ihre Besitzer waren. Sie machten sehr sonderbare Geräusche: Kollern, Summen, Zischen. Manches davon war so hoch, dass er es kaum hören konnte.
Eine Zeit lang war er in einem Boot, dann in einem Wagen. Vorher hatte er nur Bilder von Burgen gesehen, doch der Ort, an den sie ihn brachten, war echt, mit dunklen und überhängenden Türmen und großen, spitzwinklig verlaufenden Steinmauern. Sie fuhren schattige Straßen hinauf, die unter den Wagenrädern holperten. Die langhalsigen Hunde hatten ihm nicht wehgetan, aber die Bänder waren schrecklich eng. Er konnte sich nicht hinsetzen, er konnte nicht zur Seite schauen. Er fragte nach Mutti und Vati und Johanna, und er weinte ein bisschen. Eine lange Schnauze erschien neben seinem Gesicht und stupste ihn mit der weichen Nase in die Wange. Ein surrendes Geräusch erklang, das er durch Mark und Bein spürte. Er wusste nicht, ob die Geste Trost oder Drohung sein sollte, doch er schnappte nach Luft und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Sie gehörten sich ohnehin nicht für einen guten Straumer.
Jetzt sah er mehr Hunde in weißen Jacken, welche mit närrischen Schulterstücken von Gold und Silber.
Seine Trage wurde wieder gezogen, diesmal einen fackelerleuchteten Tunnel hinab. Sie machten an einer Doppeltür Halt, zwei Ellen breit, doch kaum eine hoch. Ein Paar Metalltriangel war in das helle Holz eingelassen. Später erfuhr Jefri, dass sie eine Zahl bedeuteten: fünfzehn oder dreiunddreißig, je nachdem, ob man nach Beinen oder nach Vorderkrallen zählte. Viel, viel später erfuhr er, dass sein Wärter nach Beinen gezählt hatte und der Erbauer der Burg nach Vorderkrallen. So geriet er in den falschen Raum. Es war ein Irrtum, der die Geschichte von Welten verändern sollte.
Irgendwie öffneten die Hunde die Türen und zogen Jefri hinein. Sie drängten sich um die Trage und lösten mit den Schnauzen die Haltebänder. Einen Moment lang sah er Reihen nadelscharfer Zähne. Das Kollern und Summen war sehr laut. Als sich Jefri aufsetzte, wichen sie zurück. Zwei von ihnen hielten die Türen fest, während die vier anderen hinausgingen. Die Türen fielen zu, und die Zirkusnummer war vorbei.
Jefri starrte eine Zeit lang die Türen an. Er wusste, dass es keine Zirkusnummer war, die Hundewesen mussten intelligent sein. Irgendwie hatten sie seine Eltern und seine Schwester überrascht. Wo sind sie? Beinahe hätte er wieder zu weinen begonnen. Er hatte sie nicht beim Raumschiff gesehen. Sie mussten auch gefangen genommen worden sein. Sie wurden alle in dieser Burg gefangen gehalten, aber in verschiedenen Verliesen. Irgendwie mussten sie einander finden!
Er stand auf und schwankte einen Augenblick lang benommen. Alles roch noch nach Rauch. Das machte nichts, es war an der Zeit, sich darum zu kümmern, dass er herauskam. Er ging den Raum ab. Er war groß und glich nicht den Verliesen, die er in Geschichten gesehen hatte. Die Decke war sehr hoch, ein Bogengewölbe. Es war von zwölf vertikalen Schlitzen durchbrochen. Sonnenlicht fiel in einem staubdurchsetzten Strom durch einen davon, reflektiert von der gepolsterten Wand. Es war die einzige Lichtquelle in dem Raum, doch mehr als genug an diesem sonnigen Tag. Balkons mit niedriger Brüstung ragten knapp unter dem Gewölbe in die vier Ecken des Raumes hinein. Er konnte die Türen in der Wand dahinter sehen. Schwere Stoffrollen hingen an den Seiten jedes Balkons. Es war Schrift darauf, wirklich große Buchstaben. Er ging zur Wand und nahm das steife Gewebe in die Hand. Die Buchstaben waren aufgemalt. Die einzige Art, die Darstellung zu verändern, war, sie auszuwischen. Toll. Ganz wie in den alten Zeiten auf der Nyjora, vor dem Straumli-Bereich! Die Fußleiste unter den Rollen war von schwarzem Stein und glänzte. Jemand hatte Kalkstückchen benutzt, um darauf zu zeichnen. Die Strichfiguren von Hunden waren grob, sie erinnerten Jefri an Bilder, wie sie kleine Kinder im Kindergarten malen.
Er blieb stehen und dachte an all die Kinder, die sie an Bord des Bootes und auf dem Boden ringsum zurückgelassen hatten. Es war erst ein paar Tage her, dass er mit ihnen in der Schule des Hochlabors gespielt hatte. Das letzte Jahr war so seltsam gewesen — langweilig und abenteuerlich zugleich. Die Unterkünfte hatten Spaß gemacht, mit all den Familien beisammen, doch die Erwachsenen hatten kaum jemals Zeit zum Spielen gehabt. Nachts war der Himmel so anders als auf Straum. »Wir sind jenseits des Jenseits«, hatte Mutti gesagt, »und erschaffen Gott.« Als sie es zum ersten Mal gesagt hatte, hatte sie gelacht. Wenn es später jemand sagte, wirkten die Leute immer ängstlicher. Die letzten Stunden waren verrückt gewesen, die Kälteschlaf-Übungen waren schließlich Wahrheit geworden. Alle seine Freunde waren in jenen Zellen… Er weinte in die schreckliche Stille hinein. Es war niemand da, der ihn hören, niemand, der ihm helfen konnte.
Nach ein paar Minuten überlegte er wieder. Wenn die Hunde nicht versuchten, die Zellen zu öffnen, würde mit seinen Freunden alles in Ordnung sein. Wenn Mutti und Vati den Hunden klarmachen könnten…
Sonderbare Möbel waren im Raum verstreut: niedrige Tische und Schränkchen, und Regale wie Klettergerüste von Kindern — alles aus demselben hellen Holz. Schwarze Kissen lagen rund um den größten Tisch. Dieser war mit Schriftrollen übersät, alle voll Schrift und unbeweglichen Zeichnungen. Er schritt die Länge einer Wand ab, zehn Meter oder so. Der Steinboden endete. Es gab eine zwei mal zwei Meter große Grube voll Kies, wo die Wände aufeinandertrafen. Etwas roch hier noch stärker als Rauch. Wie in einer Toilette. Jefri lachte: Sie waren wirklich wie Hunde!
Die gepolsterten Wände sogen sein Gelächter auf, ohne Echo. Etwas… ließ Jefri aufblicken. Er hatte nur angenommen, er sei allein hier, in Wirklichkeit gab es eine Menge Verstecke in diesem ›Verlies‹ . Einen Augenblick lang hielt er den Atem an und lauschte. Alles war still… fast: An der Obergrenze seines Gehörs, wo manche Maschinen heulen und wo Mutti und Vati, sogar Johanna nicht hören konnten, war etwas.
»Ich… ich weiß, dass du hier bist«, sagte Jefri scharf mit schriller Stimme. Er trat ein paar Schritte zur Seite und versuchte, um die Möbel herum zu schauen, ohne sich ihnen zu nähern. Der Klang hielt an, unüberhörbar nun, da er ihm lauschte.
Ein kleiner Kopf mit großen dunklen Augen schaute hinter einem Schränkchen hervor. Er war viel kleiner als der des Wesens, dass Jefri hergebracht hatte, aber die Schnauze hatte dieselbe Form. Sie starrten einander einen Moment lang an, dann ging Jefri langsam seitlich auf es zu. Ein Welpe? Der Kopf zog sich zurück, kam dann weiter hervor. Seitlich sah Jefri eine Bewegung — noch eine schwarze Gestalt musterte ihn unter dem Tisch hervor. Eine Sekunde lang erstarrte Jefri und kämpfte gegen die Panik an. Aber er konnte nirgendwohin weglaufen, und vielleicht würden ihm die Wesen helfen, Mutti zu finden. Jefri ließ sich auf ein Knie sinken und streckte langsam die Hand aus. »Hier… hier, Hundchen.«
Der Welpe kroch unter dem Tisch hervor, wobei er den Blick nie von Jefris Hand abwandte. Die Faszination war beiderseits, der Welpe war schön. Wenn man bedachte, seit wie viel Jahrtausenden Hunde von Menschen (und anderen) gezüchtet werden, konnte dies eine besonders ausgefallene Rasse sein — aber nur beinahe. Das Haar war kurz und dicht, ein tiefer Samt von Schwarz und Weiß. Die beiden Farben waren in großen Flecken ohne Grautöne dazwischen angeordnet. Bei diesem hier war der ganze Kopf schwarz, die Hüftpartie in Weiß und Schwarz gespalten. Der Schwanz war ein kurzer, unscheinbarer Lappen, der sein Hinterteil bedeckte. Es gab haarlose Stellen an den Schultern und am Kopf, wo Jefri schwarze Haut erkennen konnte. Doch am seltsamsten war der lange, geschmeidige Hals. Er hätte eher zu einem Seesäuger gepasst als zu einem Hund.
Jefri wackelte mit den Fingern, und die Augen des Welpen wurden groß und ließen einen Rand von Weiß um die Iris erkennen.
Etwas stieß gegen seinen Ellbogen, und Jefri wäre beinahe aufgesprungen. So viele! Noch zwei waren hervorgekrochen, um sich seine Hand anzuschauen. Und wo er den Ersten gesehen hatte, waren es jetzt drei, die wachsam dasaßen und ihn beobachteten. Wenn man sie so sah, hatten sie nichts Unfreundliches oder Furchteinflößendes an sich.
Einer der Welpen legte Jefri eine Pfote aufs Handgelenk und zog es sanft herab. Gleichzeitig streckte ein anderer die Schnauze aus und leckte Jefri die Finger. Die Zunge war rosa und rau, ein rundes schmales Ding. Das hohe Winseln wurde lauter, alle drei kamen herbei und grapschten mit ihren Mäulern nach seiner Hand.
»Seht euch vor!«, sagte Jefri und zog die Hand zurück. Er erinnerte sich an die Zähne der Erwachsenen. Mit einem Mal war die Luft von Kollern und Surren erfüllt. Hm. Sie klangen eher wie närrische Vögel als wie Hunde. Einer von den anderen Welpen kam vor. Er streckte Jefri eine glatte Nase entgegen. »Seht euch vor!«, sagte er, die Stimme des Jungen perfekt wiedergebend — doch sein Maul war geschlossen. Er legte den Kopf zurück…, um gestreichelt zu werden? Jefri streckte die Hand aus, das Fell war so weich! Das Surren war jetzt sehr laut. Jefri konnte es durch das Fell spüren. Aber es war nicht nur das eine Tier, das es erzeugte, der Klang kam von allen Seiten. Der Welpe drehte den Spieß um und ließ seine Schnauze über die Hand des Jungen gleiten. Diesmal erlaubte er, dass sich das Maul um seine Finger schloss. Zwar konnte er Zähne sehen, doch der Welpe gab sich Mühe, Jefris Haut damit nicht zu berühren. Der Druck seiner Schnauze fühlte sich wie ein Paar kleiner Finger an, die sich um die seinen schlossen und öffneten.
Drei schlüpften unter seinen Arm, als wollten sie auch gestreichelt werden. Er fühlte, wie Nasen gegen seinen Rücken drückten und versuchten, das Hemd aus seiner Hose zu ziehen. Das Vorgehen war bemerkenswert gut abgestimmt, fast, als ob ein Mensch mit zwei Händen sein Hemd ergriffen hätte. Wie viele sind das denn nur? Für einen Augenblick vergaß er, wo er war. Er drehte sich um und begann die Räuber zu streicheln. Ein überraschtes Quietschen kam aus allen Richtungen. Zwei krochen unter seine Ellbogen, mindestens drei sprangen auf seinen Rücken und blieben mit ihren Nasen an seinem Hals und seinen Ohren liegen.
Und da schien Jefri eine Erleuchtung zu haben. Die erwachsenen Fremden hatten erkannt, dass er ein Kind war, sie wussten nur nicht, wie alt. Sie hatten ihn in einen ihrer eigenen Kindergärten gebracht! Mutti und Vati waren wahrscheinlich gerade dabei, mit ihnen zu reden. Alles schien doch noch ins Lot zu kommen.
Fürst Stahl hatte seinen Namen nicht von ungefähr gewählt: Stahl, das modernste der Metalle, das die schärfste Schneide erlangt und sie niemals verliert, Stahl, der rot glühen und dennoch nicht versagen kann, Stahl, die Klinge, die für den Flenser schneidet. Stahl war eine komponierte Persönlichkeit, Flensers größter Erfolg.
In gewissen Sinne war die Komposition von Seelen nichts Neues. Zuchtwahl war eine beschränkte Form davon, wenngleich in der Hauptsache auf allgemeine physische Merkmale ausgerichtet. Selbst Züchter gaben zu, dass zu den geistigen Fähigkeiten eines Rudels die einzelnen Glieder in unterschiedlichem Maße beitrugen. Ein Paar oder Triplett war fast immer für Beredsamkeit verantwortlich, ein anderes für räumliche Intuition. Die Tugenden und Laster waren sogar noch komplexer. Kein einzelnes Glied war der Urquell von Mut oder Gewissen.
Flensers Beitrag zu diesem Gebiet — wie zu den meisten anderen — war eine grundlegende Skrupellosigkeit gewesen, das Wegschneiden von allem, was nicht wirklich wichtig war. Wie man einen Wal flenst, in langen Streifen Haut und Fleisch ablöst, so flenste er Seelen. Er hatte endlos lange experimentiert und alle Ergebnisse außer den erfolgreichsten verworfen. Er stützte sich auf Disziplin und Entzug und teilweisen Tod ebenso sehr wie auf die kluge Auswahl der Glieder. Er hatte schon siebzig Jahre Erfahrung, als er Stahl schuf.
Bevor er seinen Namen annehmen konnte, hatte Stahl Jahre im Entzug verbracht, während er feststellte, welche Teile von ihm zusammen das gewünschte Wesen ergaben. Das wäre ohne Flensers Verstärkung unmöglich gewesen. (Ein Beispiel: Wenn man einen Teil seiner selbst verwarf, der wesentlich zur Hartnäckigkeit beitrug, wo nahm man dann den Willen her, das Flensen fortzusetzen?) Für die betroffene Seele bedeutete der Schöpfungsprozess geistiges Chaos, ein Flickwerk von Grauen und Gedächtnisverlust. In zwei Jahren hatte er mehr Veränderung erfahren, als die meisten Leute in zwei Jahrhunderten — und zwar durchweg zielgerichtete Veränderung. Der Wendepunkt kam, als er und Flenser das Trio identifizierten, das ihn sowohl mit Gewissen als auch mit Langsamkeit des Intellekts belastete. Einer von den dreien war das Bindeglied zwischen den anderen. Dieses Glied ins Nichts zu schicken und es mit dem genau richtigen Element zu ersetzen, hatte den Unterschied ausgemacht. Danach war der Rest einfach, Stahl war geboren.
Als Flenser aufgebrochen war, um die Langseen-Republik zu bekehren, war es nur natürlich, dass seine brillanteste Schöpfung hier die Macht übernahm. Fünf Jahre lang hatte Stahl Flensers Kernland regiert. In dieser Zeit hatte er das von Flenser Aufgebaute nicht nur bewahrt, sondern es über seine vorsichtigen Anfänge hinaus ausgedehnt.
Doch heute, während eines einzigen Umlaufs der Sonne über der Verborgenen Insel, konnte er alles verlieren.
Stahl trat in den Versammlungssaal und sah sich um. Die Umbauten waren richtig angeordnet. Sonnenlicht strömte von einem Schlitz in der Decke auf genau die Stelle, wo er es wollte. Ein Teil von Sreck, seinem Gehilfen, stand an der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Er sagte zu ihm: »Ich werde mit dem Besucher allein sprechen.« Er vermied den Namen ›Flenser‹ . Das Weißjack wich zurück, und seine unsichtbaren Glieder stießen die Türen auf seiner Seite auf.
Ein Fünfsam — drei Männchen und zwei Weibchen — trat durch die Tür in den Flecken Sonnenlicht. Die Person war nicht weiter bemerkenswert. Aber Flenser war nie von beeindruckendem Äußeren gewesen.
Zwei Köpfe erhoben sich, um die Augen der anderen abzuschirmen. Das Rudel blickte quer durch den Raum und bemerkte Fürst Stahl in zwanzig Ellen Entfernung. »Ahh… Stahl.« Die Stimme war sanft, wie ein Skalpell, das einem die kurzen Haare an der Kehle streichelt.
Stahl hatte sich verneigt, als der andere eintrat, eine formelle Geste. Die Stimme ließ seine Eingeweide sich plötzlich zusammenkrampfen, und er brachte unwillkürlich die Bäuche an den Boden. Das war seine Stimme! Es gab mindestens ein Fragment des ursprünglichen Flensers in diesem Rudel. Die goldenen und silbernen Epauletten, die persönliche Standarte — das konnte jeder fälschen, der tollkühn genug war… Aber Stahl erinnerte sich an die Art. Es wunderte ihn nicht, dass die Anwesenheit des anderen an diesem Morgen die Disziplin aus dem Festland über den Haufen geworfen hatte.
Die Köpfe des Rudels, die sich im Sonnenlicht befanden, waren ausdruckslos. Glitt ein Lächeln über die Köpfe im Schatten? »Wo sind die anderen, Stahl? Was sich heute ereignet hat, ist die größte Chance in unserer Geschichte.«
Stahl erhob sich wieder und blieb am Geländer stehen. »Herr. Da sind zuerst ein paar Fragen, nur zwischen uns beiden. Zweifellos, Ihr seid viel vom Flenser, aber wie viel…«
Der andere grinste jetzt offensichtlich, und die Köpfe im Schatten wippten. »Ja, ich wusste, dass meine beste Schöpfung diese Frage sehen würde… Heute morgen habe ich behauptet, der wahre Flenser zu sein, mit ein oder zwei Ersatzgliedern verbessert. Die Wahrheit ist… härter. Du weißt, was in der Republik geschehen ist.« Das war Flensers größter Einsatz gewesen: einen ganzen Nationalstaat zu flensen. Millionen würden sterben, und dennoch würde es mehr Umgruppierungen als Tötungen geben. Am Ende würde das erste Großkollektiv außerhalb der Tropen stehen. Und der Flenser-Staat würde keine geistlose Zusammenballung sein, die irgendwo im Dschungel herumwühlte. Die Spitze würde so brillant, so skrupellos wie nur irgend ein Rudel in der Geschichte sein. Kein Volk der Welt konnte solch einer Kraft widerstehen.
»Es war ein gewaltiges Risiko für einen noch gewaltigeren Zweck. Aber ich habe Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Wir hatten Tausende von Bekehrten, viele davon ohne Verständnis für unsere wahren Ziele, aber gläubig und aufopferungsvoll — wie es sich gehört. Ich behielt immer eine besondere Gruppe von ihnen in meiner Nähe. Die Politische Polizei war schlau, Meutenmord gegen mich zu verwenden, das Letzte, was ich erwartet hätte — ich, der ich die Meuten geschaffen habe. Egal, meine Leibwächter waren gut ausgebildet. Als wir in der Parlaments-Senke in der Falle saßen, töteten sie ein oder zwei Glieder aus jedem von diesen besonderen Rudeln — und ich hörte einfach auf zu existieren, aufgeteilt auf drei gewöhnliche Leute in Panik, die versuchten, aus dem Blutbad zu entkommen.«
»Aber jeder rings um Euch wurde getötet, die Meute ließ niemanden übrig.«
Das Flenser-Wesen zuckte mit den Schultern. »Das war zum Teil republikanische Propaganda und zum Teil mein eigenes Werk: Ich hatte meinen Wachen befohlen, einander niederzuhacken, zusammen mit jedem, der nicht ich war.«
Stahl hätte seine Ehrfurcht beinahe laut werden lassen. Der Plan war typisch für Flensers Brillanz und für seine Seelenstärke. Bei Mordanschlägen bestand immer eine Möglichkeit, dass Fragmente entkamen. Es gab berühmte Geschichten von Helden, die sich wieder zu einem Ganzen zusammengefunden hatten. Im wirklichen Leben kamen derlei Dinge selten vor, in der Regel, wenn die Streitkräfte des Opfers ihren Führer während der Reintegration zusammenhalten konnten. Aber Flenser hatte diese Taktik von Anfang an geplant, hatte ins Auge gefasst, sich selbst mehr als tausend Meilen von den Langen Seen entfernt zusammenzufügen.
Dennoch… Fürst Stahl betrachtete den anderen abschätzend. Vergiss Stimme und Art. Denke an die Macht, nicht zum Nutzen anderer, nicht einmal Flensers. Stahl erkannte nur zwei in dem anderen Rudel wieder. Die Weibchen und das Männchen mit den weißen Ohrenspitzen stammten wahrscheinlich von dem geopferten Anhänger. Alles sprach dafür, dass nur zwei von Flenser ihm gegenüberstanden, schwerlich eine Bedrohung — außer in dem sehr realen Sinn, dass weitere auftauchten. »Und die anderen vier von Euch, Herr? Wann können wir Eure vollständige Anwesenheit erwarten?«
Das Flenser-Wesen lachte leise. So beschädigt es war, verstand es doch das Gleichgewicht der Macht. Es war fast wie in alten Zeiten: Wenn zwei Leute ein klares Verständnis für Macht und Verrat haben, wird Verrat selbst fast unmöglich. Es gibt nur den geordneten Ablauf der Ereignisse, der jenen Gutes bringt, die zu herrschen verdienen. »Die anderen haben ebenso gute… Transportmittel. Ich habe ausführliche Pläne gemacht, drei verschiedene Wege, drei verschiedene Netze von Agenten. Ich bin sicher angelangt. Kein Zweifel, dass es die anderen auch schaffen werden, in ein paar Zehntagen spätestens. Bis dahin« — er wandte Stahl alle Köpfe zu —, »bis dahin, lieber Stahl, beanspruche ich nicht die Rolle des vollständigen Flenser. Ich habe das zunächst getan, um Prioritäten zu setzen, um dieses Fragment zu schützen, bis ich beisammen bin. Aber dieses Rudel ist aus gutem Grund willensschwach geplant worden; ich weiß, dass es als Herrscher über meine früheren Schöpfungen nicht bestehen könnte.«
Stahl wunderte sich. Obwohl das Geschöpf nur über halben Verstand verfügte, waren seine Pläne perfekt. Beinahe perfekt. »Ihr wünscht also, für die nächsten Zehntage im Hintergrund zu bleiben? Sehr wohl. Aber Ihr habt Euch als Flenser angekündigt. Wie soll ich Euch präsentieren?«
Sein Gegenüber zögerte nicht. »Tyrathect, Flenser im Wartestand.«
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: Transceiver Relais03 bei Relais
SPRACHPFAD: Samnorsk -› Triskweline, SjK:Relais-Einheiten
VON: Straumli Haupt
GEGENSTAND: Archiv im Unteren Transzens eröffnet!
ZUSAMMENFASSUNG: Unsere Verbindungen zum Bekannten Netz werden zeitweise unterbrochen sein
SCHLAGWÖRTER: Transzens, gute Neuigkeiten, Geschäftsmöglichkeiten, neues Archiv, Kommunikationsprobleme
VERTEILER:
Interessengruppe »Wo sind sie jetzt«
Interessengruppe Homo sapiens
Verwaltungsgruppe Motley-Luke
Transceiver Relais03 bei Relais
Transceiver Windsang bei Debley Tief
Transceiver Nicht-mehr-lange bei Stippvisite
DATUM: 11:45:20 Dockzeit, 1.9. im Org-Jahr 52.089
TEXT DER BOTSCHAFT:
Wir können mit Stolz mitteilen, dass eine Forschungsgruppe von Menschen aus dem Straumli-Bereich ein zugängliches Archiv im Unteren Transzens entdeckt hat. Dies ist nicht die Ankündigung einer Transzendenz oder der Erschaffung einer neuen MACHT. Wir haben vielmehr diese Ankündigung verschoben, bis wir uns unserer Eigentumsrechte und der Sicherheit des Archivs gewiss wären. Wir haben Schnittstellen installiert, die das Archiv für Standardsyntax-Abfragen aus dem Netz interoperabel machen dürften. In wenigen Tagen wird dieser Zugang kommerziell verfügbar sein. (Siehe die Diskussion von Problemen der Zeitplanung weiter unten.) Seine Sicherheit, Verständlichkeit und sein Alter machen dieses Archiv bemerkenswert. Wir glauben, dass es hier ansonsten verlorene Informationen über Schiedsmanagement und zwischenartliche Koordination gibt. Wir werden den entsprechenden Nachrichtengruppen Einzelheiten zusenden. Wir sind davon sehr begeistert. Man beachte, dass keine Wechselwirkung mit den MÄCHTEN notwendig war, kein Teil des Straumli-Bereichs ist transzendiert.
Nun die schlechte Nachricht: Schieds- und Übersetzungsroutinen haben zu unglücklichen Clenirationen [?] bei der Gratweg-Armiphlage geführt. Die Einzelheiten dürften für die Leute in der Nachrichtengruppe Kommunikationsrisikos erbaulich sein, und wir werden sie ihnen später mitteilen. Aber mindestens für die nächsten hundert Stunden werden alle unsere (Haupt- und Neben-)Verbindungen zum Bekannten Netz unterbrochen sein. Einlaufende Nachrichten können evtl. gepuffert werden, aber ohne Garantie. Es können keine Nachrichten weitergegeben werden. Wir bedauern diese Unannehmlichkeit und werden sie sehr bald beheben!
Der physische Verkehr wird von diesen Problemen in keiner Weise beeinträchtigt. Der Straumli-Bereich ist weiterhin offen für Tourismus und Handel.
Wenn sie zurückblickte, sah Ravna Bergsndot, wie unausweichlich sie hatte Bibliothekarin werden müssen. Als Kind auf den Welten von Sjandra Kei war sie in Geschichten aus dem Zeitalter der Fürstinnen verliebt gewesen. Da gab es richtige Abenteuer, eine Zeit, in der eine Handvoll tapfere Fürstinnen die Menschheit zur Größe getrieben hatte. Sie und ihre Schwester hatten zahllose Nachmittage damit verbracht, die Großen Zwei zu spielen und die Gräfin vom See zu befreien. Später begriffen sie, dass die Nyjora und ihre Fürstinnen im Nebel der Vergangenheit verschollen waren. Schwester Lynne wandte sich praktischeren Dingen zu. Doch Ravna verlangte es noch immer nach Abenteuern. Als Halbwüchsige hatte sie davon geträumt, in den Straumli-Bereich zu emigrieren. Das war etwas sehr Reales. Man stelle sich nur vor: eine neue und größtenteils menschliche Kolonie, direkt an der Obergrenze des Jenseits. Und Leute aus der Mutterwelt waren auf Straum willkommen; die Kolonie war noch keine hundert Jahre alt. Sie oder ihre Kinder würden als erste Menschen in der ganzen Galaxis ihr eigenes Menschsein transzendieren. Sie könnte ein Gott werden, und reicher als eine Million Jenseitswelten. Der Traum war real genug, um fortwährend ein Streitpunkt zwischen ihr und ihren Eltern zu sein. Denn wo ein Himmel ist, kann es auch eine Hölle geben. Der Straumli-Bereich lag nahe am Transzens, und die Leute dort spielten mit ›den Tigern, die jenseits der Gitterstäbe hin und her gehen‹ . Vater hatte dieses abgegriffene Bild tatsächlich benutzt. Der Streit entzweite sie für etliche Jahre. Dann, als sie ihre Kurse in Computerwissenschaft und Angewandter Theologie absolvierte, begann Ravna, etwas über manche von den alten Schrecknissen zu lesen. Vielleicht, vielleicht… sollte sie ein bisschen vorsichtiger sein. Sich lieber erst einmal umschauen. Und es gab einen Weg, in alles Einblick zu nehmen, was Menschen im Jenseits nur verstehen konnten:
Ravna wurde Bibliothekarin. »Das Nonplusultra an Dilettantismus!«, hatte Lynne sie gefoppt. »Stimmt, na und?«, hatte Ravna geknurrt, doch der Traum von weiten Reisen lebte in ihr weiter.
Das Leben an der Herte-Universität bei Sjandra Kei hätte eigentlich wie für sie geschaffen sein müssen. So hätte es hier ein Leben lang glücklich weitergehen können — nur dass im Jahr ihrer Abschlussarbeit der Wettbewerb der Vrinimi-Organisation für eine Reiseaspirantur stattgefunden hatte. Der Preis war ein dreijähriges Arbeitsstudium am Archiv bei Relais. Ihn zu gewinnen, war eine einmalige Chance; sie würde mit mehr Erfahrung zurückkehren, als jeder Akademiker am Ort besaß.
So kam es, dass sich Ravna Bergsndot mehr als zwanzigtausend Lichtjahre von Zuhause wiederfand, im Zentrum des Netzes, das eine Million Welten verband.
Es war eine Stunde nach Sonnenuntergang, als Ravna über Parkstadt zum Sitz von Grondr Vrinimikalir schwebte. Sie war seit ihrer Ankunft im Relais-System nur ein paarmal auf dem Planeten gewesen. Den Großteil ihrer Arbeit machten die Archive selbst aus — mehr als tausend Lichtstunden weiter draußen. In diesem Teil von DaUnten herrschte Frühherbst, obwohl die Farben der Bäume in der Dämmerung zu Grau verblasst waren. In Ravnas Höhe von einhundert Metern lag in der Luft ein Vorgeschmack von Frost. Zwischen ihren Füßen sah sie Lagerfeuer und Spielfelder. Die Vrinimi-Organisation gab nicht viel für den Planeten aus, doch es war eine schöne Welt. Solange sie den Blick auf den dunkelnden Erdboden gerichtet hielt, konnte sich Ravna sogar vorstellen, irgendwo in ihrem heimatlichen Terraneum von Sjandra Kei zu sein. Wenn man jedoch gen Himmel schaute… dann wusste man sofort, dass man weit weg von Zuhause war: zwanzigtausend Lichtjahre entfernt sprühte der galaktische Strudel zum Zenit empor.
In der Dämmerung war er zwar nur schwach, und er würde diese Nacht vielleicht nicht viel heller werden: Tief am Westhimmel leuchtete eine Gruppe von Fabriken innerhalb des Systems heller als jeder Mond. Ihre Arbeitsabläufe waren ein strahlendes Flackern von Sternen und Strahlen, manchmal so intensiv, dass die Berge von Parkstadt scharfe Schatten nach Osten warfen. In einer halben Stunde würden die Docks aufgehen. Die Docks waren nicht so hell wie die Fabriken, doch zusammen würden sie alles Licht von den fernen Sternen überstrahlen.
Sie verschob sich in ihrem Agrav-Harnisch und schwebte tiefer. Der Geruch nach Herbst und Lagerfeuern wurde stärker. Plötzlich stand rings um sie klickendes Kalir-Gelächter; sie war in ein Luftball-Spiel hineingeraten. Ravna breitete in gespielter Scham die Arme aus und wich den Spielern aus.
Ihr Streifzug durch den Park war fast zu Ende, vor sich sah sie ihr Ziel. Der Sitz von Grondr ’Kalir war eine Rarität in der Landschaft von Parkstadt: ein erkennbares Gebäude. Es stammte aus der Zeit, als sich die Org in das Relais-Unternehmen eingekauft hatte. Aus nur acht Metern Höhe gesehen, war das Haus eine eckige Silhouette vor dem Himmel. Wenn Lichter der Fabriken aufblitzten, glänzten die glatten Wände des Monolithen in öligen Schattierungen. Grondr war der Chef vom Chef ihres Chefs. Sie hatte innerhalb von zwei Jahren genau dreimal mit ihm gesprochen.
Keine Verzögerungen mehr. Nervös und sehr neugierig glitt Ravna tiefer und ließ sich von der Elektronik des Hauses über die Baumwipfel zum Eingang leiten.
Grondr Vrinimikalir behandelte sie mit der in der Organisation üblichen Höflichkeit, dem gemeinsamen Nenner zwischen den verschiedenen Rassen der Org: Das Konferenzzimmer verfügte über Möbel, die von Menschen wie von Vrinimi benutzt werden konnten. Es gab Erfrischungen und Fragen nach ihrer Arbeit am Archiv.
»Gemischte Ergebnisse, Herr Direktor«, antwortete Ravna aufrichtig. »Ich habe eine Menge gelernt. Die Aspirantur erfüllt alle Erwartungen. Ich fürchte aber, die neue Teilung wird eine zusätzliche Indexschicht erfordern.« Das stand alles in Berichten, die der alte Knabe augenblicklich hätte einsehen können.
Grondr rieb sich geistesabwesend mit der Hand über die Augensprenkel. »Ja, eine absehbare Enttäuschung. Mit dieser Erweiterung sind wir an der Grenze der Informationsverwaltung. Egravan und Derche« — das waren Ravnas Chef und der Chef des Chefs — »sind recht froh über Ihre Fortschritte. Sie sind mit guter Ausbildung hergekommen und haben schnell gelernt. Ich glaube, Menschen haben ihren Platz in der Organisation.«
»Danke, Herr Direktor.« Ravna errötete. Grondrs Einschätzung, so beiläufig sie ausgesprochen wurde, war für sie sehr wichtig. Und wahrscheinlich würde das bedeuten, dass weitere Menschen herkamen, vielleicht sogar, ehe ihre Aspirantur vorüber war. War das also der Grund für das Gespräch?
Sie gab sich Mühe, den anderen nicht anzustarren. Mittlerweile hatte sie sich an die Rasse, die die Mehrheit der Vrinimi stellte, recht gut gewöhnt. Von weitem sahen die Kalir humanoid aus. Aus der Nähe betrachtet, war der Unterschied gravierend. Die Rasse stammte von einer Art Insektenwesen ab. Als sie größer wurden, hatte die Natur notwendigerweise die Stützelemente ins Körperinnere verlegt, bis außen eine Mischung aus larvenartiger Haut und Lappen von bleichem Chitin blieb. Auf den ersten Blick war Grondr ein nicht weiter bemerkenswertes Exemplar seiner Rasse. Wenn er sich jedoch bewegte, sei es auch nur, um seine Jacke zurechtzurücken oder sich an den Augensprenkeln zu kratzen, lag in ihm eine sonderbare Exaktheit. Egravan sagte, er sei sehr, sehr alt.
Grondr wechselte abrupt das Thema. »Sie sind informiert über die… Veränderungen im Straumli-Bereich?«
»Sie meinen den Untergang von Straum? Ja.« Obwohl es mich wundert, dass Sie davon wissen. Der Straumli-Bereich war eine wichtige Zivilisation der Menschen, hatte aber nur winzigen Anteil am Informationsfluss von Relais.
»Ich darf Sie meines Mitgefühls versichern.« Ungeachtet der optimistischen Botschaften von Straum war es klar, dass der Straumli-Bereich einer totalen Katastrophe zum Opfer gefallen war. Fast jede Rasse tappte früher oder später ins Transzens, und die meisten davon wurden dort zur Superintelligenz, zu einer MACHT. Doch mittlerweile war deutlich geworden, dass die Straumer eine MACHT geschaffen oder erweckt hatten, die tödliche Neigungen zeigte. Ihr Schicksal war so schrecklich wie nur je etwas von dem, was Ravnas Vater vorhergesagt hatte. Und ihr Unglück war jetzt zu einer Katastrophe geworden, die den ganzen ehemaligen Straumli-Bereich erfasste.
Grondr fuhr fort: »Werden sich diese Nachrichten auf Ihre Arbeit auswirken?«
Es wurde immer spannender; sie hätte schwören können, dass der andere allmählich zum Kern der Sache käme. Vielleicht war das schon der Kern? »Ah… nein, Herr Direktor. Die Sache mit Straumli ist schrecklich, vor allem für die Menschheit. Aber meine Heimat ist Sjandra Kei. Der Straumli-Bereich stammt von uns ab, aber ich habe keine Verwandten dort.« Obwohl ich dort hätte sein können, wären nicht Mutter und Vater dagegen gewesen. In Wahrheit war Sjandra Kei, als Straumli Haupt vom Netz abfiel, fast vierzig Stunden lang nicht zu erreichen gewesen. Das hatte sie sehr beunruhigt, da jedes Umschalten auf eine andere Route augenblicklich hätte erfolgen müssen. Schließlich war die Verbindung wiederhergestellt worden; das Problem hatte in verwahrlosten Routen-Tabellen auf einem anderen Pfad gelegen. Ravna hatte sogar die Ersparnisse eines halben Jahres für eine Botschaft mit Rückantwort geopfert. Lynne und ihren Eltern ging es gut, für die Leute bei Sjandra Kei war das Debakel von Straumli die Nachricht des Jahrhunderts, aber dennoch eine Katastrophe in großer Entfernung. Ravna fragte sich, ob wohl jemals Eltern einen besseren Rat erteilt hatten, als sie von ihren erhalten hatte!
»Gut, gut.« Seine Mundpartien bewegten sich in einer Weise, die dem Nicken eines Menschen entsprach. Sein Kopf neigte sich, sodass nur noch die äußeren Sprenkel sie anblickten: der Bursche schien tatsächlich zu zögern! Ravna erwiderte den Blick schweigend. Grondr ’Kalir war vielleicht der seltsamste Direktor in der Org. Offiziell unterstand ihm eine Sektion der Archive; in Wahrheit leitete er die Vrinimi-Marketing-Abteilung (d.h. den Geheimdienst). Es wurde erzählt, er habe die Obergrenze des Jenseits besucht; Egravan behauptete, er besitze ein künstliches Immunsystem. »Sehen Sie, durch die Straumli-Katastrophe sind Sie zufällig zu einer der wertvollsten Angestellten der Organisation geworden.«
»Ich… verstehe nicht.«
»Ravna, die Gerüchte in der Nachrichtengruppe Bedrohungen sind wahr. Die Straumer hatten ein Laboratorium im Unteren Transzens. Sie spielten mit Rezepten aus einem verschollenen Archiv herum, und sie haben eine neue MACHT erschaffen. Es scheint eine PERVERSION DER KLASSE ZWEI zu sein.«
Das Bekannte Netz meldete etwa einmal pro Jahrhundert eine PERVERSION DER KLASSE ZWEI. Solche MÄCHTE besaßen eine normale ›Lebensdauer‹ — ungefähr zehn Jahre. Doch sie waren eindeutig bösartig und konnten in zehn Jahren riesigen Schaden anrichten. Armes Straum.
»Sie sehen also, dass hier ein riesiges Gewinn- oder Verlustpotential liegt. Wenn sich die Katastrophe ausbreitet, werden wir Netzkunden verlieren. Andererseits möchte jedermann rings um den Straumli-Bereich verfolgen, was vor sich geht. Das könnte unseren Informationsfluss um etliche Prozent vergrößern.«
Grondr formulierte es kaltblütiger, als ihr lieb war, doch er hatte Recht. Die Gewinnmöglichkeiten hingen tatsächlich direkt mit den Aktionen zusammen, um die PERVERSION einzudämmen. Wenn sie nicht derart in der Arbeit am Archiv versunken gewesen wäre, hätte sie sich das alles denken können. Und nun, da sie wirklich daran dachte: »Es gibt sogar noch mehr spektakuläre Möglichkeiten. In der Vergangenheit sind diese PERVERSIONEN von Interesse für andere MÄCHTE gewesen. Sie werden Netzkapazität haben wollen… und Information über die Schöpferrasse.« Ihre Stimme verstummte, als ihr endlich der Grund dieser Besprechung klar wurde.
Grondrs Mundpartien klickten zustimmend. »In der Tat. Wir von Relais sind in einer guten Position, um das Transzens mit Nachrichten zu versorgen. Und wir haben auch unseren eigenen Menschen. In den letzten drei Tagen haben wir etliche Dutzend Anfragen von Zivilisationen im Hohen Jenseits erhalten, die behaupten, MÄCHTE zu vertreten. Dieses Interesse könnte für die Organisation einen großen Zuwachs an Einkommen in der nächsten Dekade bedeuten.
Das alles konnten Sie in der Nachrichtengruppe Bedrohungen lesen. Doch da ist noch ein Punkt, etwas, das ich Sie vorläufig geheim zu halten bitte: Vor fünf Tagen ist ein Schiff aus dem Transzens in unserer Region eingetroffen. Es behauptet, direkt unter der Kontrolle einer MACHT zu stehen.« Die Wand hinter ihm wurde zu einem Fenster, das den Besucher zeigte. Das Schiff war eine unregelmäßige Ansammlung von Dornen und Klumpen. Ein Maßstab behauptete, das Ding habe nur fünf Meter im Durchmesser.
Ravna spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten. Hier im Mittleren Jenseits müssten sie relativ sicher vor der Launen der MÄCHTE sein. Dennoch — der Besuch war beunruhigend. »Was will es?«
»Information über die Straumli-PERVERSION. Insbesondere ist es sehr an Ihrer Rasse interessiert. Es würde eine Menge dafür geben, einen lebenden Menschen mitzunehmen…«
Ravnas Antwort kam abrupt. »Ich bin daran nicht interessiert.«
Grondr breitete die bleichen Hände aus. Das Licht glitzerte auf dem Chitin seiner Fingerrücken. »Es wäre eine enorme Chance. Eine Aspirantur bei den Göttern. Dieser eine hat versprochen, dafür hier ein Orakel einzurichten.«
»Nein!« Ravna erhob sich halb vom Stuhl. Sie war ein einzelner Mensch, mehr als zwanzigtausend Lichtjahre von Zuhause entfernt. Das war in den ersten Tagen ihrer Aspirantur beängstigend gewesen. Seither hatte sie Freunde gewonnen, hatte mehr über die Ethik der Organisation erfahren, vertraute diesen Leuten jetzt fast so sehr, wie den Menschen daheim bei Sjandra Kei. Aber… es gab dieser Tage nur ein halbwegs vertrauenswürdiges Orakel im Netz, und das war fast zehn Jahre alt. Diese MACHT verlockte die Vrinimi-Org mit einem märchenhaften Schatz.
Grondrs Klicken bedeutete Verlegenheit. Er winkte sie zu ihrem Stuhl zurück. »Es war nur ein Vorschlag. Wir missbrauchen unsere Angestellten nicht. Wenn Sie einfach unser Experte vor Ort sein wollen…«
Ravna nickte.
»Gut. Offen gesagt, ich hatte nicht erwartet, dass Sie das Angebot annehmen würden. Wir haben jemanden, der wohl eher dazu bereit sein wird, der aber Betreuung braucht.«
»Einen Menschen? Hier?« Ravna ließ im örtlichen Verzeichnis eine ständige Abfrage nach anderen Menschen laufen. In den letzten zwei Jahren hatte sie ganze drei zu Gesicht bekommen, und die waren nur auf der Durchreise gewesen. »Seit wann ist sie — er? — hier?«
Grondr sagte etwas zwischen einem Lächeln und einem Lachen. »Etwas länger als ein Jahrhundert, obwohl wir es erst vor ein paar Tagen festgestellt haben.« Die Bilder rings um ihn wechselten. Ravna erkannte den ›Dachboden‹ von Relais, die Müllhalde von verlassenen Schiffen und Frachtgeräten, die gerade mal tausend Lichtsekunden von den Archiven entfernt im Raum trieb. »Wir bekommen eine Menge Einwegfracht, Dinge, die in der Hoffnung versandt werden, dass wir sie kaufen oder in Kommission nehmen.« Ins Bild kam ein altersschwaches Raumfahrzeug, an die zweihundert Meter lang, mit einer Wespentaille, die einem Staustrahlantrieb Halt bot. Seine Ultraantriebs-Dorne waren kaum mehr als Stummel.
»Ein Grundschlepper?«, sagte Ravna.
Grondr klickte verneinend. »Ein Bagger. Das Schiff ist ungefähr dreißigtausend Jahre alt. Die meiste Zeit davon war es tief in die Langsame Zone eingetaucht, und zehntausend Jahre in die Gedankenleeren Tiefen.«
Aus der Nähe konnte sie jetzt sehen, dass der Schiffsrumpf mit feinen Grübchen übersät war, dem Ergebnis jahrtausendelanger relativistischer Erosion. Selbst unbemannt waren solche Expeditionen selten: bei tiefem Eintauchen konnte das Schiff nicht zu Lebzeiten seiner Erbauer ins Jenseits zurückkehren. Manche kehrten nicht einmal zurück, solange die Rasse seiner Erbauer lebte. Die Leute, die derlei Expeditionen aussandten, waren halt ein bisschen sonderbar; die Leute, die die Expedition wieder auffanden, konnten ordentlichen Gewinn daraus ziehen.
»Dieses hier ist von sehr weit gekommen, selbst wenn die Mission nicht den absoluten Erfolg hatte. In den Gedankenleeren Tiefen hat es weiter nichts Interessantes zu Gesicht bekommen — kein Wunder, wenn man bedenkt, dass sogar simple Automatik dort versagt. Den größten Teil der Fracht haben wir sofort verkauft. Den Rest haben wir katalogisiert und vergessen… bis zur Straumli-Affäre.« Das Sternenpanorama verschwand. Sie blickten auf eine medizinische Anzeige, eine zufällige Ansammlung von Gliedern und Körperteilen. Sie sahen sehr menschlich aus. »In einem Sonnensystem am Grunde des Langsam hat der Bagger ein Wrack gefunden. Es besaß keinen Ultraantrieb, es war eine echte Konstruktion der Langsamen Zone. Das Sonnensystem war unbewohnt. Wir vermuten, dass das Schiff einen Strukturausfall hatte — oder vielleicht ist die Besatzung von den Tiefen in Mitleidenschaft gezogen worden. Jedenfalls blieb von ihnen nur ein gefrorener Mischmasch übrig.«
Eine Tragödie am Grunde des Langsam, Jahrtausende her. Ravna zwang sich, den Blick von dem Gemetzel abzuwenden. »Sie haben vor, das da an unseren Besucher zu verkaufen?«
»Es kommt noch besser. Nachdem wir erst einmal angefangen hatten, uns umzutun, entdeckten wir einen wesentlichen Fehler im Katalog. Einer von den Leichnamen ist fast intakt. Wir haben ihn mit Teilen von anderen zusammengeflickt. Es war teuer, aber jetzt haben wir einen lebendigen Menschen.« Das Bild flackerte abermals, und Ravna hielt den Atem an. In der medizinischen Animation ordneten sich die Teile zu einem Ganzen. Da war ein vollständiger Körper, am Bauch ein wenig aufgerissen. Teile fügten sich zusammen, und… das war keine Sie. Er schwebte heil und nackt, als schlafe er. Ravna zweifelte nicht an seiner menschlichen Natur, doch die ganze Menschheit im Jenseits stammte von der Nyjora ab. Dieser Bursche teilte dieses Erbe nicht. Die Haut war rauchgrau, nicht braun. Das Haar war ein rötliches Braun, eine Farbe, die sie nur in Historien aus der Zeit vor der Nyjora gesehen hatte. Die Gesichtsknochen zeigten feine Unterschiede gegenüber denen neuzeitlicher Menschen. Die kleinen Abweichungen machten einen stärkeren Eindruck als die völlige Fremdheit ihrer Arbeitskollegen.
Jetzt war die Gestalt bekleidet. Unter anderen Umständen hätte Ravna gelächelt. Grondr ’Kalir hatte ein absurdes Kostüm gewählt, etwas aus nyjoranischer Zeit. Die Gestalt trug ein Schwert und eine Kugelbüchse… Ein schlafender Prinz aus dem Zeitalter der Fürstinnen.
»Voilà: der Urtyp des Menschen«, sagte Grondr.
›Relais‹ ist eine weit verbreitete Ortsbezeichnung. Sie hat in fast jeder Umgebung eine Bedeutung. Wie Neustadt und Neuheim kommt sie immer wieder vor, wenn Leute umziehen oder Kolonien gründen oder sich an einem Kommunikationsnetz beteiligen. Man könnte eine Milliarde Lichtjahre weit oder eine Milliarde Jahre lang reisen und immer noch unter Rassen mit natürlicher Intelligenz derlei Namen finden.
Doch im gegenwärtigen Zeitalter gab es ein ›Relais‹ , das vor allen anderen bekannt war. Dieses Relais erschien auf der Routenliste von zwei Prozent des gesamten Informationsflusses im Bekannten Netz. Zwanzigtausend Lichtjahre über der galaktischen Ebene hatte Relais einen ungestörten Blick auf dreißig Prozent des Jenseits, einschließlich vieler Sternensysteme ganz am Grunde, wo Sternenschiffe nur ein Lichtjahr pro Tag zurücklegen können. Einige wenige metallhaltige Sonnensysteme befanden sich in ähnlich günstiger Lage, und sie bildeten eine Konkurrenz. Doch während andere Zivilisationen das Interesse verloren oder das Transzens kolonisierten oder in einer Apokalypse endeten, überdauerte die Vrinimi-Organisation. Nach fünfzigtausend Jahren gab es noch etliche Rassen der ursprünglichen Org unter den Mitgliedern. Keine von ihnen hatte noch eine Führungsrolle — doch der ursprüngliche Ansatz und die Politik waren dieselben geblieben. Position und Fortdauer: Relais war jetzt das wichtigste Bindeglied zu den Magellanschen Wolken und eine der wenigen Stationen, die überhaupt irgendeine Verbindung zum Jenseits der Sculptor-Galaxis hatten.
Bei Sjandra Kei hatte Relais einen märchenhaften Ruf besessen. In den beiden Jahren ihrer Aspirantur hatte Ravna festgestellt, dass die Wahrheit den Ruf noch übertraf. Relais lag im Mittleren Jenseits; das einzige Exportgut der Organisation waren die Relaisfunktion und der Zugang zum lokalen Archiv. Dennoch importierte sie die besten Biologate und Datenverarbeitungsausrüstungen aus dem Hohen Jenseits. Die Docks von Relais waren eine Extravaganz, die sich nur die absolut Reichen leisten konnten. Sie erstreckten sich tausend Kilometer weit: Anlegestellen, Reparatursektionen, Umladezentren, Parks und Spielflächen. Selbst bei Sjandra Kei gab es weitaus größere Habitate. Doch die Docks befanden sich nicht in einer Umlaufbahn. Sie schwebten tausend Kilometer über DaUnten auf dem größten Agrav, den Ravna je gesehen hatte. Bei Sjandra Kei reichte das Jahreseinkommen eines Akademikers vielleicht für einen Quadratmeter von Agravgewebe — billigem Kram, der womöglich nicht einmal ein Jahr lang hielt. Hier gab es Millionen Hektar von dem Zeug, die Milliarden von Tonnen im Gleichgewicht hielten. Schon der Ersatz für totes Gewebe erforderte mehr Handelsaustausch mit dem Hohen Jenseits, als die meisten Sternenhaufen aufbrachten.
Und jetzt habe ich hier mein Büro. Direkt für Grondr ’Kalir zu arbeiten, hatte seine guten Seiten. Ravna warf sich in den Sessel zurück und blickte über das Zentralmeer. In der Höhe der Docks betrug die Gravitation immer noch etwa dreiviertel Ge. Luftbrunnen erzeugten eine atembare Atmosphäre über dem mittleren Teil der Plattform. Tags zuvor hatte sie ein Segelboot über das Meer mit dem durchsichtigen Grund genommen. Das war wirklich eine sonderbare Erfahrung: Planetenwolken unter dem Kiel, oben Sterne und indigoblauer Himmel.
Am Morgen hatte sie die Brandung hochgedreht — man brauchte dazu nur die Agravs des Bassins zu biegen. Die Wellen schlugen in regelmäßigen Abständen an ihren Strand. Sogar dreißig Meter vom Wasser entfernt lag ein scharfer Salzgeruch in der Luft. Reihen weißer Wellenkämme zogen sich in die Ferne hin.
Sie musterte die Gestalt, die langsam den Strand entlang auf sie zu schlenderte. Vor ein paar Wochen noch hätte sie sich solch eine Situation nicht träumen lassen. Vor ein paar Wochen noch war sie draußen beim Archiv gewesen, in die Arbeit für ihre Qualifizierung vertieft und froh, mit einer der größten Datenbanken im Bekannten Netz zu tun zu haben. Jetzt… war es fast so, als habe sie den Kreis vollendet und sei zurückgekehrt zu ihren Kindheitsträumen von Abenteuern. Das einzige Problem bestand darin, dass sie sich manchmal wie einer von den Bösewichten fühlte: Pham Nuwen war ein lebendiger Mensch, keine Sache, die verkauft werden durfte.
Sie stand auf und ging ihrem rothaarigen Besucher entgegen.
Er hatte das Schwert und die Handbüchse nicht bei sich, mit der ihn Grondrs Phantasie ausgestattet hatte. Doch seine Kleidung war das gewebte Tuch aus alten Abenteuern, und er trat mit träger Selbstsicherheit auf. Seit ihrem Gespräch mit Grondr hatte sie sich ein wenig Anthropologie der Alten Erde angeschaut. Das rote Haar und die Lidfalten waren dort vorgekommen, wenngleich selten bei demselben Menschen. Seine rauchfarbene Haut wäre einem Bewohner der Erde gewiss aufgefallen. Wie sie selbst war der Bursche ein Produkt der nachirdischen Evolution.
Eine Armlänge vor ihr blieb er stehen und grinste sie mit herabgezogenen Mundwinkeln an. »Sie sehen ganz schön menschlich aus. Ravna Bergsndot?«
Sie lächelte und nickte ihm zu. »Herr Pham Nuwen?«
»Richtig. Wir scheinen beide sehr gut im Raten zu sein.« Er ging an ihr vorbei in den Schatten des Büroinnern. Ein großspuriger Kerl.
Sie folgte ihm, unsicher, welches Verhalten wohl angebracht wäre. Man sollte meinen, bei einem Mitmenschen dürfte es keine Probleme geben…
Das Gespräch verlief dann auch recht glatt. Es war über dreißig Tage her, seit Pham Nuwen wiedererweckt worden war. Der größte Teil der Zeit war mit Sprachenbüffeln vergangen. Der Bursche musste ziemlich helle sein, er sprach das Handels-Triskweline schon mit volkstümlicher Geläufigkeit. Er war wirklich ziemlich nett. Ravna war seit zwei Jahren von Sjandra Kei fort und hatte noch ein Jahr Aspirantur vor sich. Sie kam ganz gut zurecht, hatte viele gute Freunde hier — Egravan, Sarale. Doch schon mit diesem Burschen zu plaudern, ließ sie einen Großteil der Einsamkeit wieder empfinden. In mancher Beziehung war er fremder als alles andere bei Relais…
Grondr Vrinimikalir hatte die Wahrheit über diesen Pham Nuwen gesagt. Der Bursche war tatsächlich begeistert über die Pläne, die die Org mit ihm hatte! Theoretisch bedeutete das, dass sie ihrer Aufgabe mit reinem Gewissen nachgehen konnte. Wirklich jedoch…
»Herr Nuwen, meine Aufgabe ist, Ihnen zu helfen, sich in Ihrer neuen Welt zurechtzufinden. Ich weiß, dass Sie in den letzten paar Tagen intensiv geschult worden sind, aber solches Wissen zu verarbeiten, braucht seine Zeit.«
Der Rotschopf lächelte. »Nennen Sie mich Pham. Gewiss, ich komme mir vor wie eine Tasche, in die man zu viel hineingestopft hat. Meine Schlafenszeit ist angefüllt mit Stimmchen. Ich habe schrecklich viel gelernt, ohne etwas zu erleben. Schlimmer noch, diese ganze ›Bildung‹ ist gezielt für mich zusammengestellt worden. Das ist eine perfekt abgekartete Sache, falls die Vrinimi mich hereinlegen will. Deshalb lerne ich, mit der örtlichen Bibliothek umzugehen. Und darum habe ich darauf bestanden, dass sie jemanden wie Sie herbeischaffen.« Er sah die Überraschung auf ihrem Gesicht. »Ha! Das haben Sie nicht gewusst. Sehen Sie, mit einem richtigen Menschen zu sprechen, gibt mir Gelegenheit, Dinge zu sehen, die nicht alle im Voraus geplant wurden. Außerdem bin ich schon immer ein ziemlich guter Menschenkenner gewesen; ich glaube, ich begreife Sie ziemlich gut.« Sein Grinsen ließ erkennen, dass er durchaus wusste, wie sehr er sie irritierte.
Ravna hob den Blick zu den grünen Blütenblättern der Strandbäume. Vielleicht verdiente dieser Trottel, was ihm bevorstand. »Sie haben also viel Erfahrung im Umgang mit Menschen?«
»Wenn man die Schranken bedenkt, die das Langsam auferlegt, bin ich viel herumgekommen, Ravna. Ich weiß, dass man es mir nicht ansieht, aber ich bin sogar nach subjektiven Jahren ein ziemlich alter Bursche. Ich habe Ihrer Organisation zu danken, dass sie mich so gut aufgetaut hat.« Er zog einen nicht vorhandenen Hut vor ihr. »Meine letzte Reise hat über tausend Jahre Objektivzeit gedauert. Ich war Gefechtsprogrammierer auf einem Dschöng-Ho-Fernfahrtschiff…« Seine Augen weiteten sich abrupt, und er sagte etwas Unverständliches. Einen Moment lang sah er beinahe verletzlich aus.
Ravna streckte eine Hand zu ihm aus. »Das Gedächtnis?«
Pham Nuwen nickte. »Verdammt. Das ist etwas, wofür ich euch nicht zu danken habe.«
Pham Nuwen war infolge eines gewaltsamen Todes gefroren worden, nicht planmäßig. Es grenzte an ein Wunder, dass die Vrinimi-Org ihn überhaupt hatte wiederbeleben können — zumindest mit der Technik des Mittleren Jenseits. Doch das Gedächtnis war das Schwierigste. Die chemische Grundlage der Erinnerung übersteht ein chaotisches Einfrieren nicht gut.
Das Problem reichte aus, um selbst Pham Nuwens Ego um ein, zwei Größen schrumpfen zu lassen. Ravna hatte Mitleid mit ihm. »Es ist unwahrscheinlich, dass irgendetwas völlig verloren ist.
Sie müssen nur für manche Dinge einen anderen Ansatzpunkt finden.«
»… Ja. Ich bin darüber instruiert worden. Beginnen Sie mit anderen Erinnerungen, arbeiten Sie sich seitlich an Dinge heran, an die Sie sich nicht geradezu erinnern können. Tja…« Etwas von seiner Unbeschwertheit kehrte zurück, aber auf ein wirklich recht bezauberndes Niveau gedämpft. Sie unterhielten sich eine Weile, während der Rotschopf sich um die Stellen herumarbeitete, an die er ›sich nicht geradezu erinnern‹ konnte.
Und allmählich empfand Ravna etwas, das sie gegenüber einem aus dem Langsam nie erwartet hätte: Ehrfurcht. In einem einzigen Leben hatte Pham Nuwen anscheinend alles vollbracht, was einem Wesen im Langsam nur möglich war. Schon immer hatten ihr die Zivilisationen Leid getan, die da unten gefangen waren. Niemals konnten sie die Herrlichkeit erfahren, vielleicht nicht einmal die Wahrheit. Doch mit Glück und Geschicklichkeit und purer Willenskraft hatte dieser Bursche Barriere um Barriere übersprungen. Hatte Grondr die Wahrheit gekannt, als er das Bild des Rotschopfs mit Schwert und Kugelbüchse entworfen hatte? Denn Pham Nuwen war wirklich ein Barbar. Er war auf einer herabgesunkenen Kolonialwelt geborenen worden — Canberra nannte er sie. Der Ort klang sehr nach der mittelalterlichen Nyjora, allerdings ohne Matriarchat. Er war das jüngste Kind eines Königs gewesen. Er war mit Schwertern und Gift und Ränken aufgewachsen, hatte in steinernen Burgen an einem kalten, kalten Meer gelebt. Zweifellos wäre dieser kleinste Prinz am Ende ermordet oder allenfalls König geworden, wenn das Leben auf mittelalterliche Weise weitergegangen wäre. Doch als er dreizehn war, wurde alles anders. Eine Welt, die von Flugzeugen und Radio nur Legenden besaß, wurde mit interstellaren Kauffahrern konfrontiert. In einem Jahr Handel wurde Canberras Feudalpolitik auf den Kopf gestellt.
»Die Dschöng Ho hatte drei Schiffe in die Expedition nach Canberra investiert. Sie waren angeschmiert, hatten gedacht, wir wären auf einem höheren technischen Niveau. Wir konnten die Schiffe nicht mit dem Nötigen zum Rückflug versorgen, also blieben zwei zurück und haben meine arme Welt wahrscheinlich umgestülpt. Ich flog mit dem dritten ab — ein verrückter Geiseltausch, den mein Vater für einen guten Schachzug hielt. Ich hatte Glück, dass sie mich nicht im Raum ausgesetzt haben.«
Die Dschöng Ho bestand aus etlichen hundert Staustrahlschiffen, die in einem Hunderte von Lichtjahren großen Raumgebiet operierten. Ihre Schiffe konnten fast ein Drittel Lichtgeschwindigkeit erreichen. Sie waren größtenteils Kauffahrer, gelegentlich Retter, noch seltener Eroberer. Als Pham Nuwen zuletzt mit ihnen zu tun hatte, hatten sie dreißig Welten besiedelt und bestanden seit fast dreitausend Jahren. Als Zivilisation waren sie so extravagant wie nur sonst etwas im Langsam… Und natürlich hatte, bevor Pham Nuwen wiederbelebt wurde, niemand im Jenseits je davon gehört. Die Dschöng Ho war wie jede andere unter einer Million hoffnungsloser Zivilisationen Tausende von Lichtjahren tief im Langsam begraben. Nur mit viel Glück würden sie jemals ins Jenseits vordringen, wo Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit möglich waren.
Doch für einen dreizehnjährigen Jungen, der mit Schwertern und Kettenhemden aufgewachsen war, bedeutete die Dschöng Ho mehr Veränderung, als die meisten Lebewesen jemals erfahren. In ein paar Wochen wurde aus dem mittelalterlichen Fürstenspross der Schiffsjunge eines Sternenschiffs.
»Zuerst wussten sie nicht, was sie mit mir anfangen sollten. Sie dachten daran, mich einzufrieren und beim nächsten Halt auszuladen. Was macht man mit einem Kind, das glaubt, es gebe nur eine Welt, und die sei eine Scheibe, mit jemandem, der sein Leben damit verbracht hat zu lernen, wie man mit einem Schwert herumhackt?« Er hielt abrupt inne, wie er es alle paar Minuten tat, wenn der Fluss seiner Erinnerungen in beschädigtes Gebiet strömte. Dann schnellte sein Blick auf Ravna zu, und sein Lächeln war so großspurig wie eh und je. »Ich war ein gemeines Tier. Ich glaube, zivilisierte Menschen machen sich keine Vorstellung, was es bedeutet, aufzuwachsen, wenn die eigenen Onkel und Tanten Mordpläne gegen einen schmieden und man selbst übt, ihnen zuvorzukommen. In der Zivilisation habe ich größere Schurken angetroffen — Kerle, die einen ganzen Planeten in die Pfanne hauen und das ›Versöhnung‹ nennen konnten —, aber was die schiere Verräterei in der nächsten Umgebung betrifft, geht nichts über meine Kindheit.«
Wenn sie Pham Nuwen so erzählen hörte, dann bewahrte nur blindes Glück die Besatzung vor seinen Ränken. In den folgenden Jahren lernte er, sich einzufügen, erlernte die zivilisierten Fertigkeiten. Ordentlich gezähmt, konnte er der ideale Schiffsmeister für die Dschöng Ho sein. Und viele Jahre lang war er es. Das Raumgebiet der Dschöng Ho enthielt ein paar andere Rassen und eine Anzahl von Menschen kolonisierter Welten. Bei drei Zehnteln Lichtgeschwindigkeit verbrachte Pham Jahrzehnte im Kälteschlaf, während er von Stern zu Stern flog, dann ein, zwei Jahre an jedem Haltepunkt, wo er mit Waren und Informationen Gewinn zu machen versuchte, die womöglich tödlich veraltet waren. Der Ruf der Dschöng Ho gewährte einen gewissen Schutz. »Politik kommt und geht, doch die Habsucht geht immer weiter«, war das Motto der Flotte, und sie bestand schon länger als die meisten ihrer Kunden. Selbst Religionsfanatiker wurden etwas vorsichtiger, wenn sie an die Vergeltung der Dschöng Ho dachten. Doch meistens waren es Geschick und Verschlagenheit des Schiffsmeisters, die die Lage retteten. Und wenige waren dem kleinen Jungen in Pham Nuwen gewachsen.
»Ich war fast der perfekte Kapitän. Fast. Ich wollte immer sehen, was jenseits des Raumes lag, über den wir Berichte hatten. Jedes Mal, wenn ich wirklich reich wurde, so reich, dass ich meine eigene Flottille ausrüsten konnte, ging ich irgendein verrücktes Risiko ein und verlor alles. Ich war das Jojo der Flotte. Einmal war ich Fünferkapitän, das nächste Mal programmierte ich die Instandhaltungssysteme auf so einer verdammten 08/15-Route. Wenn man bedenkt, wie sich beim Unterlichthandel die Zeit zieht, gab es ganze Generationen, die mich für ein legendäres Genie hielten — und andere, die meinen Namen als Synonym für Blödian verwendeten.«
Er hielt inne, und seine Augen weiteten sich vor angenehmer Überraschung. »Ha! Ich weiß wieder, was ich da am Ende getan habe. Ich war gerade im Blödian-Teil meines Zyklus, aber das machte nichts. Da war dieser Zwanzigerkapitän, noch verrückter als ich. Ich kann mich an ihren Namen nicht entsinnen. Ihren? Das kann nicht sein; ich hätte nie unter einer Frau als Kapitän gedient.« Er führte fast ein Selbstgespräch. »Jedenfalls wollte der Bursche alles auf eine Karte von der Sorte setzen, über die normale Leute höchstens mal bei einem Bier diskutierten. Er nannte sein Schiff die — hm, es bedeutet so etwas wie ›wilder dummer Vogel‹ —, das gibt Ihnen eine Vorstellung von ihm. Er rechnete sich aus, dass es irgendwo im Weltall ein paar technisch wirklich hochentwickelte Zivilisationen geben müsse. Die Schwierigkeit bestand darin, sie zu finden. Auf seltsame Art hatte er fast erraten, dass es die Zonen gibt. Das Problem war nur, er war nicht verrückt genug; in einer Kleinigkeit irrte er sich. Können Sie sich denken, worin?«
Ravna nickte. Wenn man bedachte, wo Phams Wrack gefunden worden war, lag es auf der Hand.
»Tja. Ich wette, die Idee ist älter als die Raumfahrt: Die ›älteren Rassen‹ müssen sich zum Galaxiskern hin befinden, wo die Sterne dichter stehen und es exotische Schwarzloch-Phänomene gibt, aus denen man Energie gewinnen kann. Er nahm seine ganze Zwanzigerflotte mit. Sie sollten fliegen, bis sie jemanden fänden oder haltmachen und eine Kolonie gründen müssten. Dieser Kapitän rechnete sich aus, dass wir den Erfolg wahrscheinlich nicht mehr erleben würden. Doch bei richtiger Planung würden wir in eine dicht gestirnte Region gelangen, wo es leicht wäre, eine neue Dschöng Ho zu gründen — und die würde noch weiter vordringen.
Jedenfalls war ich froh, wenigstens als Programmierer anheuern zu können; dieser Kapitän wusste alles über mich, was nicht passte.«
Die Expedition dauerte tausend Jahre und drang zweihundertfünfzig Lichtjahre galaxiseinwärts vor. Das Raumgebiet der Dschöng Ho lag näher am Grunde des Langsam als die Alte Erde, und sie flogen von dort aus nach innen. Dennoch war es pures Pech, dass sie schon nach zweihundertfünfzig Lichtjahren auf den Rand der Tiefen trafen. Nach und nach verlor der Wilde Dumme Vogel den Kontakt zu den anderen Schiffen. Manchmal geschah es ohne Vorwarnung, ein andermal gab es Anzeichen von Computerversagen oder schweren Bedienfehlern. Die Überlebenden erkannten ein Muster, errieten, dass allgemeine Bauteile ausfielen. Natürlich brachte niemand die Probleme mit dem Raumgebiet in Verbindung, in das sie eintraten.
»Wir schalteten von den Staustrahlgeschwindigkeiten herunter, fanden ein Sonnensystem mit einem halb bewohnbaren Planeten. Zu allen anderen hatten wir die Verbindung verloren. Und was wir dann gemacht haben, ist mir nicht so recht klar.« Er lachte trocken. »Wir müssen direkt am Rand gewesen und mit einem IQ von ungefähr 60 herumgetappt sein. Ich weiß noch, dass ich mit dem Lebenserhaltungssystem irgendwelchen Unsinn anstellte. Das war es vermutlich, was uns das Leben kostete.« Einen Augenblick lang sah er traurig und verstört aus. Er zuckte die Achseln. »Und dann erwachte ich in den sanften Klauen der Vrinimi-Org, hier, wo Überlichtflüge möglich sind… und ich sehe sogar den Rand des Himmels.«
Einen Moment lang sagte Ravna nichts. Sie schaute über den Strand auf die Brandung. Das Gespräch dauerte schon lange. Die Sonne lugte unter den Blütenblättern der Bäume hervor, ihr Licht glitt durch das Büro. War sich Grondr bewusst, was sie hier vor sich hatten? Fast alles aus der Langsamen Zone besaß Sammlerwert. Menschen, frisch aus dem Langsam, waren noch wertvoller. Doch Pham Nuwen war vielleicht einmalig. Er allein hatte mehr erlebt, als manche Zivilisationen insgesamt, und er war zu Fuß in die Tiefen vorgedrungen. Sie begriff jetzt, warum er auf das Transzens schaute und es ›Himmel‹ nannte. Es war nicht bloß Naivität, auch kein Fehler im Bildungsprogramm der Organisation. Pham Nuwen hatte schon zwei Transformationen erfahren, von einer vortechnischen Welt zum Sternenreisenden und vom Sternenreisenden zum Jenseiter. Jede war ein Sprung, der fast das Vorstellungsvermögen überstieg. Jetzt sah er, dass noch ein Schritt möglich war, und er war vollends bereit, sich dafür zu verkaufen.
Warum sollte ich also meine Stelle riskieren, um seinen Sinn zu ändern? Doch ihr Mund entwickelte ein Eigenleben. »Warum nicht noch warten mit dem Transzens, Pham? Nehmen Sie sich etwas Zeit, um zu verstehen, was es hier im Jenseits gibt. Sie wären in fast jeder Zivilisation willkommen. Und auf Menschenwelten wären Sie das Wunder des Jahrhunderts.« Ein Blick auf die nicht-nyjoranische Menschheit. Die örtlichen Nachrichtengruppen auf Sjandra Kei hatten Ravna für ehrgeizig bis zum Äußersten gehalten, dass sie zwanzigtausend Lichtjahre entfernt eine Aspirantur annahm. Wenn sie davon zurückkehrte, würde sie sich eine Vollakademiker-Stelle auf jeder von einem Dutzend Welten aussuchen können. Das war nichts gegen Pham Nuwen; manche Leute waren so reich, dass sie ihm eine Welt geben würden, wenn er nur bliebe. »Sie könnten den Preis bestimmen.«
Das Lächeln des Rotschopfs wurde langsam breiter. »Hm, aber wissen Sie, ich habe meinen Preis schon bestimmt, und ich glaube, Vrinimi kann ihn zahlen.«
Ich würde wirklich gern etwas gegen dieses Lächeln tun, dachte Ravna. Pham Nuwens Fahrkarte ins Transzens beruhte auf dem plötzlichen Interesse einer MACHT für die Straumli-PERVERSION. Das Ego dieses Unschuldslamms konnte am Ende womöglich über eine Million Todeswürfel verschmiert sein und dort eine Billion von Simulationen der menschlichen Natur steuern.
Keine fünf Minuten, nachdem Pham Nuwen gegangen war, rief Grondr an. Ravna wusste, dass die Org mithören würde, und sie hatte Grondr schon mitgeteilt, dass sie diesen ›Verkauf‹ eines vernunftbegabten Wesens missbilligte. Dennoch war sie etwas nervös, als sie ihn erblickte.
»Wann wird er eigentlich nach der Transzens abreisen?«
Grondr rieb sich die Sprenkel. Er schien nicht verärgert zu sein. »Nicht in den nächsten zehn, zwanzig Tagen. Die MACHT, die ihn erwerben will, ist mehr daran interessiert, sich unsere Archive anzusehen und zu beobachten, was an Information über Relais geht. Außerdem… bei all seiner Begeisterung, ins Transzens zu gehen, ist der Mensch wirklich sehr vorsichtig.«
»Oh?«
»Ja. Er besteht auf einem Deputat für die Bibliothek und der Erlaubnis, das ganze System kreuz und quer zu bereisen. Er hat überall in den Docks mit Angestellten geplaudert, die ihm zufällig über den Weg liefen. Besonders nachdrücklich hat er auf dem Gespräch mit Ihnen bestanden.« Grondrs Mundpartien klickten ein Lächeln. »Haben Sie keine Bedenken, ihm Ihre wahre Meinung zu sagen. Hauptsächlich spürt er nach verborgenem Gift. Wenn er von Ihnen das Schlimmste hört, müsste das sein Vertrauen in uns stärken.«
Allmählich verstand sie Grondrs Zuversicht. Verdammt, dieser Pham war aber ein Dickkopf. »Ja, Herr Direktor. Er hat mich gebeten, ihm heute Abend das Fremdenviertel zu zeigen.« Wie Sie bestens wissen.
»Gut. Ich wünschte, der Rest des Geschäfts liefe ebenso glatt.« Grondr wandte sich so weit ab, dass nur noch Randsprenkel in ihre Richtung schauten. Er war umringt von Statusanzeigen der Kommunikations- und Datenbank-Operationen der Org. Soweit sie sehen konnte, war bemerkenswert viel los. »Vielleicht sollte ich das nicht zur Sprache bringen, aber möglicherweise können Sie uns helfen… Das Geschäft ist… sehr lebhaft.« Es schien Grondr keinen Spaß zu machen, die gute Nachricht mitzuteilen. »Wir haben neun Zivilisationen von der Obergrenze des Jenseits, die Breitband-Datenkanäle anfordern. Damit würden wir zurechtkommen. Aber diese MACHT, die ein Schiff zu uns entsandt hat…«
Ravna unterbrach ihn, fast ohne sich etwas dabei zu denken — ein Verhalten, das sie ein paar Tage zuvor in Schrecken versetzt hätte. »Wer ist das eigentlich? Kann es sein, dass wir eine Vorstellung für die Straumli-PERVERSION geben?« Der Gedanke, dass das sich des Rotschopfes bemächtigen könnte, ließ sie erschaudern.
»Nein — es sei denn, dass alle MÄCHTE ebenfalls irregeführt würden. Die Marketing-Abteilung nennt unseren gegenwärtigen Besucher den ALTEN.« Er lächelte. »Das ist eine Art Witz, aber trotzdem wahr. Wir kennen diese MACHT seit elf Jahren.« Niemand wusste wirklich, wie lange Transzendente Wesen lebten, doch selten blieb eine MACHT länger als fünf oder zehn Jahre an Kommunikation interessiert. Sie verloren das Interesse oder verwandelten sich in etwas anderes — oder starben tatsächlich. Es gab eine Million Erklärungen, Tausende, die angeblich von den MÄCHTEN selbst stammten. Ravna vermutete, dass die wahre Erklärung die einfachste war: Intelligenz ist die Magd von Flexibilität und Veränderung. Vernunftlose Tiere können sich nur mit dem Tempo der natürlichen Evolution verändern. Wenn menschliche und ihnen entsprechende Rassen erst einmal mit der technischen Entwicklung begonnen hatten, erreichten sie die Beschränkungen ihrer jeweiligen Zone in ein paar tausend Jahren. Im Transzens kann die Übermenschlichkeit so schnell eintreten, dass ihre Schöpfer vernichtet werden. Da war es kein Wunder, dass die MÄCHTE selbst vergänglich waren.
Es ergab also fast Sinn, eine elf Jahre alte MACHT ›den ALTEN‹ zu nennen.
»Wir glauben, dass dieser ALTE eine Variante des Typ-73-Musters ist. Solche sind selten bösartig — und wir wissen, von wem er transzendierte. Momentan bereitet er uns aber erhebliche Scherereien. Seit zwanzig Tagen nimmt er für sich allein einen riesigen und wachsenden Anteil von Relais’ Bandbreite ein. Seit sein Schiff eingetroffen ist, ist er überall im Archiv und in unseren lokalen Netzen. Wir haben den ALTEN gebeten, unkritische Daten per Sternenschiff zu verschicken, doch er hat abgelehnt. Heute Nachmittag war es bisher am schlimmsten. Fast fünf Prozent von Relais’ Kapazität waren für seine Bedürfnisse gebunden. Und das Geschöpf sendet fast ebenso viel, wie es empfängt.«
Das war in der Tat sonderbar, doch: »Er bezahlt doch noch für die Leistung, oder? Wenn der ALTE die besten Preise zahlen kann, was kümmert es Sie dann?«
»Ravna, wir hoffen, dass unsere Organisation noch viele Jahre lang da sein wird, nachdem der ALTE wieder fort ist. Er hat uns nichts anzubieten, was diese ganze Zeit über taugt.« Ravna nickte. Es gab wirklich gewisse ›magische‹ Apparate, die hier unten funktionieren konnten, doch über längere Zeit war ihre Wirksamkeit zweifelhaft. Sie hatten mit einer Geschäftssituation zu tun, nicht mit einer Übung während eines Kurses in Angewandter Theologie. »Der ALTE kann leicht jedes Gebot aus dem Mittleren Jenseits überbieten. Doch wenn wir ihm alle Dienstleistungen zur Verfügung stellen, die er verlangt, fallen wir für den Rest unserer Kundschaft praktisch aus — und das sind die Leute, auf die wir uns in der Zukunft stützen müssen.«
Anstelle seines Bilds erschien ein Bericht über Archivzugriffe. Mit dem Format war Ravna sehr vertraut, und Grondrs Klagen trafen ins Schwarze. Das Bekannte Netz war ein weit ausgebreitetes Etwas, eine hierarchische Anarchie, die Hunderte Millionen von Welten verband. Doch selbst die Hauptstränge hatten Bandweiten, als stammten sie aus der Frühzeit der Erde; ein Armband-Datio konnte in einem lokalen Netz mehr leisten. Darum fand der größte Teil der Archivzugriffe vor Ort statt — durch Medienfrachter, die das Relais-System besuchten. Nun jedoch… in den letzten hundert Stunden hatten die Fernzugriffe auf das Archiv sowohl an Anzahl wie auch an Umfang die lokalen übertroffen! Und neunzig Prozent dieser Zugriffe gingen auf ein einziges Konto — das des ALTEN.
Grondrs Stimme fuhr aus dem Hintergrund fort: »Wir haben jetzt eben einen Basis-Transceiver für diese MACHT reserviert… Offen gesagt, wir können das nicht länger als ein paar Tage dulden; auf lange Sicht wird es einfach zu teuer.«
Grondrs Gesicht erschien wieder auf dem Bildschirm. »Jedenfalls denke ich, dass das Geschäft mit dem Barbaren wirklich unsere geringste Sorge ist. Die letzten zwanzig Tage haben mehr als die letzten zwei Jahre eingebracht — viel mehr, als wir überprüfen und aufnehmen können. Unser eigener Erfolg bringt uns in Gefahr.« Er machte eine ironische Geste, die zugleich Lächeln und Stirnrunzeln bedeutete.
Sie sprachen noch ein paar Minuten über Pham Nuwen, dann schaltete sich Grondr ab. Später unternahm Ravna einen Spaziergang über ihren Strand. Die Sonne stand schon am Achterhorizont, und der Sand war einfach nur angenehm warm für ihre Füße; die Docks beschrieben einmal in zwanzig Stunden in etwa vierzig Grad nördlicher Breite einen Kreis um den Pol. Sie ging nahe an der Brandung entlang, wo der Sand flach und nass war. Der Nebel von See drang feucht an ihre Haut. Der blaue Himmel direkt über den Weißwipfeln verfärbte sich rasch zu Indigo und Schwarz. Flecken von Silber bewegten sich dort oben, Agrav-Schweber, die Sternenschiffe in die Docks brachten. Das alles war so märchenhaft, so unnütz teuer. Ravna war abwechselnd angewidert und geblendet. Doch nach zwei Jahren bei Relais begann sie den Sinn zu sehen. Vrinimi-Org wollte dem Jenseits deutlich machen, dass sie über die Ressourcen verfügten, jedweder an sie gestellten Anforderung auf dem Gebiet von Kommunikation und Archiven gerecht zu werden. Und sie wollten im Jenseits den Verdacht wecken, es gebe hier verborgene Geschenke aus dem Transzens, Dinge, die es für Invasoren mehr als nur ein bisschen gefährlich machen würden.
Sie starrte in die Gischt und spürte, wie sie gegen ihre Wimpern schlug. Grondr hatte also augenblicklich das große Problem: Wie sagt man einer MACHT, dass sie sich bitte empfehlen möchte? Ravna Bergsndot brauchte sich um nichts zu sorgen als um einen einzigen allzu selbstsicheren Trottel, der scharf darauf zu sein schien; sich umzubringen. Sie bog ab und ging parallel zum Wasser. Bei jeder dritten Welle überspülte es ihre Knöchel.
Sie seufzte. Pham Nuwen war zweifellos ein Trottel… doch was für ein beeindruckender. Verstandesmäßig hatte sie schon immer gewusst, dass es keinen Unterschied im Intelligenzpotential der Jenseiter und der Primitiven des Langsams gab. Die meiste Automatik funktionierte im Jenseits besser, Ultralichtkommunikation war möglich. Doch man musste ins Transzens gehen, um wirklich übermenschliche Intelligenzen zu schaffen. Also dürfte es nicht überraschend sein, dass Pham Nuwen begabt war. Sehr begabt. Er hatte sich Triskweline mit unglaublicher Leichtigkeit angeeignet. Sie zweifelte kaum daran, dass er der Meister-Kapitän war, der er zu sein behauptete. Und ein Kauffahrer im Langsam zu sein, Jahrhunderte zwischen den Sternen für ein Ziel zu riskieren, das vielleicht die Zivilisation verloren hatte oder Ankömmlingen von draußen mit Todfeindschaft begegnete — das erforderte einen Mut, den sie sich nur schwer vorzustellen vermochte. Sie konnte verstehen, dass er glaubte, die Reise ins Transzens sei einfach eine weitere Herausforderung. Er hatte etwa zwanzig Tage Zeit gehabt, sich ein ganzes neues Universum anzueignen. Das reichte einfach nicht aus, um zu begreifen, dass sich die Regeln ändern, wenn die Spieler mehr als menschlich sind.
Nun gut, ihm blieben noch ein paar Tage Gnadenfrist. Sie würde ihn dazu bringen, es sich anders zu überlegen. Und nachdem sie gerade mit Grondr gesprochen hatte, würde sie deswegen keine besonderen Gewissensbisse haben.
Das Fremdenviertel machte eigentlich etwa ein Drittel der Docks aus. Es grenzte an die atmosphärenlose Peripherie — wo die Schiffe andockten — und erstreckte sich nach innen bis zu einem Abschnitt des Zentralmeers. Vrinimi-Org hatte eine beachtliche Anzahl von Zivilisationen zu der Überzeugung gebracht, dies sei das Wunder des Mittleren Jenseits. Zusätzlich zum Frachtverkehr gab es Touristen — einige der wohlhabendsten Wesen im Jenseits.
Pham Nuwen hatte freien Zutritt zu allen diesen Belustigungen. Ravna führte ihn zu den spektakuläreren, darunter ein Agrav-Sprung über die Docks. Der Barbar zeigte sich von ihren Taschen-Raumanzügen mehr beeindruckt als von den Docks. »Ich habe unten im Langsam größere Bauten als das hier gesehen.« Aber garantiert keine, die im Gravitationsfeld eines Planeten schwebten.
Im Laufe des Abends schien Pham Nuwen aufzutauen. Zumindest wurden seine Kommentare einfühlsamer, weniger scharf. Er wollte sehen, wie richtige Kauffahrer im Jenseits lebten, und Ravna zeigte ihm die Börsen und die Residentur der Händler-Vereinigung.
Schließlich landeten sie kurz nach Mitternacht Dockzeit in der Wandergesellschaft. Das war kein Organisationsterritorium, doch einer von Ravnas Lieblingsorten, eine private Kneipe, die Kauffahrer von der Obergrenze bis zum Grunde anzog. Sie fragte sich, wie die Einrichtung auf Pham Nuwen wirken würde. Die Wirtschaft war als Versammlungshütte auf einer Welt in der Langsamen Zone gestaltet. Ein drei Meter großes Staustrahlmodell hing in der Luft über der Diele. Blaugrüne Antriebsfelder leuchteten von jeder Ecke und Seite des Schiffs und ergossen sich vage über die Gäste darunter.
Für Ravna bestanden Wände und Fußböden aus schweren Balken, grob geschnitten. Leute wie Egravan sahen Steinwände und enge Tunnel — die Art Brutstätte, die seine Rasse bei neuen Eroberungen vor langer Zeit unterhalten hatte. Es war ein optischer Trick — kein Herumfummeln im Geiste — und so ziemlich das Beste, was im Mittleren Jenseits zu machen war.
Ravna und Pham gingen zwischen weit auseinanderstehenden Tischen hindurch. Mit der Akustik hatten die Besitzer keine ganz so glückliche Hand wie mit dem optischen Eindruck: Die Musik klang leise und wechselte von Tisch zu Tisch. Auch die Gerüche wechselten und waren etwas schwerer zu ertragen. Die Luftversorgung war hart am Arbeiten, um jedermann bei Gesundheit zu halten, wenn schon nicht in voller Bequemlichkeit. An diesem Abend war es hier voll. Am anderen Ende der Diele waren die Nischen mit Spezialatmosphäre besetzt: niedriger Druck, hoher Druck, NOX unter Hochdruck, Aquarien. Manche Besucher waren Schemen in verwirbelten Atmosphären.
In mancherlei Hinsicht hätte es eine Hafenbar bei Sjandra Kei sein können. Doch das war Relais. Es zog Besucher aus dem Hohen Jenseits an, die niemals in solch verlassene Winkel wie Sjandra Kei gekommen wären. Die meisten von den Hochlern sahen nicht besonders fremdartig aus; die Zivilisationen an der Obergrenze waren oft einfach Kolonien von weiter unten. Doch die Kopfbänder, die sie hier erblickte, waren kein Schmuck. Interfaces für Gedankencomputer sind im Mittleren Jenseits nicht leistungsfähig, doch die meisten von den Hochlern wollten sich nicht davon trennen. Ravna starrte eine Gruppe von Tripoden mit Kopfbändern und ihre Maschinen an. Sollte sich Pham Nuwen doch mit Wesen unterhalten, die sich am Rande der Transsapienz bewegten.
Zu ihrer Überraschung berührte er sie am Arm und zog sie zurück. »Lassen Sie uns noch ein bisschen umhergehen.« Er ließ den Blick durch den ganzen Raum schweifen, als suche er nach einem vertrauten Gesicht. »Wir wollen erst ein paar andere Menschen finden.«
Wenn sich in der Bildung, die in Pham Nuwen hineingestopft worden war, Lücken auftaten, dann klafften sie weit auf. Ravna versuchte, ernst zu bleiben. »Andere Menschen? Außer uns gibt es bei Relais keine.«
»Aber die Freunde, von denen Sie gesprochen haben… Egravan, Sarale?«
Ravna schüttelte nur den Kopf. Für einen Augenblick wirkte der Barbar verletzlich. Pham Nuwen hatte sein Leben damit verbracht, im Unterlicht zwischen Sternensystemen hin und her zu kriechen, die von Menschen kolonisiert worden waren. Sie wusste, dass er in jenem ganzen Leben nur drei nichtmenschliche Rassen gesehen hatte. Jetzt war er allein in einem Meer von Fremdheit. Sie behielt ihr Mitgefühl für sich; diese eine Erkenntnis wirkte vielleicht stärker auf den Burschen als alle ihre Argumente.
Doch der Moment ging vorüber, und er lächelte wieder. »Um so größer ist das Abenteuer.« Sie verließen die Diele und gingen an Nischen mit Spezialatmosphäre vorbei. »Mein Gott, der Dschöng Ho würde das gefallen.«
Keine Menschen weit und breit, und Die Wandergesellschaft war der heimischste Ort, den sie kannte; viele Kunden der Org pflegten sich nur im Netz zu treffen. Sie spürte ihr eigenes Heimweh hochkommen. Im ersten Stock fiel ihr ein Wimpel mit einem Zeichen in die Augen. Daheim bei Sjandra Kei hatte sie etwas Ähnliches gekannt. Sie zog Pham Nuwen durch den Raum, und sie gingen die Holztreppe hinan.
Aus dem Hintergrundgemurmel hörte sie ein hohes Gezwitscher heraus. Es war kein Triskweline, doch die Worte ergaben Sinn! Bei den MÄCHTEN, es war Samnorsk: »Ich glaube wirklich, das ist ein Homo sap! Hier herüber, meine Dame.« Sie folgte dem Klang zu dem Tisch mit dem Wimpel.
»Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?«, fragte sie und genoss die vertraute Sprache.
»Bitte sehr.« Der Zwitscherer sah wie ein kleiner Zierbaum aus, der in einem sechsrädrigen Wagen saß. Der Wagen war mit Streifen und Quasten geschmückt; seine 150 mal 120 Zentimeter große Oberseite war von einem Frachttuch im selben Muster wie der Wimpel bedeckt. Das Wesen war ein Höherer Skrodfahrer. Seine Rasse trieb in einem großen Teil des Mittleren Jenseits Handel, auch mit Sjandra Kei. Die hohe Stimme des Skrodfahrers kam aus seinem Voder. Doch da sie Samnorsk sprach, klang sie vertrauter als alles, was sie seit langem gehört hatte. Ungeachtet der geistigen Eigenheiten der Skrodfahrer fühlte sie eine Welle nostalgischer Zuneigung, als sei sie in einer fremden Stadt unverhofft einem alten Mitschüler begegnet.
»Mein Name ist…« — es klang wie das Rascheln von Wedeln —, »doch Sie können mich einfach Blaustiel nennen. Es ist schön, ein vertrautes Gesicht zu sehen, hahaha.« Blaustiel sprach das Gelächter als Wort aus. Pham Nuwen hatte sich mit Ravna hingesetzt, doch er verstand kein Wort Samnorsk, und so entging ihm das große Wiedersehen. Der Fahrer schaltete auf Triskweline um und stellte seine vier Begleiter vor: eine Skrodfahrerin und drei Humanoide, die den Schatten zu lieben schienen. Keiner von den Humanoiden sprach Samnorsk, doch keiner befand sich von Triskweline weiter als einen Übersetzungsschritt entfernt.
Die Skrodfahrer waren die Besitzer/Betreiber eines kleinen interstellaren Frachtschiffs, der Aus der Reihe II. Die Humanoiden waren Frachtbeglaubiger für einen Teil der gegenwärtigen Schiffsladung. »Meine Partnerin und ich sind seit fast zweihundert Jahren im Geschäft. Wir haben frohe Gefühle für Ihre Rasse, meine Dame. Unsere ersten Fahrten haben wir zwischen Sjandra Kei und Forste Utgrep gemacht. Ihre Leute sind gute Kunden, und es kommt kaum vor, dass uns eine Ladung verdirbt…« Er fuhr mit seinem Skrod vom Tisch zurück und dann wieder vor — die Entsprechung einer kleinen Verbeugung.
Doch nicht alles war eitel Sonnenschein. Einer von den Humanoiden sprach. Die Klänge hätten beinahe aus einer menschlichen Kehle stammen können, obwohl sie keinen Sinn ergaben. Ein Moment verging, während das Übersetzungsgerät des Hauses seine Worte verarbeitete. Dann sagte die Brosche an seiner Jacke in klarem Triskweline: »Blaustiel hat festgestellt, dass Sie Homo sapiens sind. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir Ihnen nicht wohlgesonnen sind. Wir sind bankrott, beinahe hier gestrandet wegen des bösen Geschöpfs Ihrer Rasse. Der Straumli-PERVERSION.« Die Worte klangen emotionslos, doch Ravna sah die angespannte Haltung des Wesens, das unruhig an einem Trinkkolben fingerte.
Angesichts seiner Einstellung würde es wahrscheinlich nichts nützen, ihn darauf hinzuweisen, dass sie zwar ein Mensch war, Sjandra Kei aber Tausende von Lichtjahren von Straum entfernt lag. »Sie sind aus dem Bereich gekommen?«, fragte sie den Skrodfahrer.
Blaustiel antwortete nicht gleich. So ging das mit seiner Rasse; wahrscheinlich versuchte er sich zu erinnern, wer sie war und worüber sie eigentlich sprachen. Dann: »Ja, ja. Bitte entschuldigen Sie die Feindseligkeit meines Frachtbeglaubigers. Unsere Hauptladung ist eine Einwegmatrix, ein Verschlüsselungsprogramm, das für jede Übertragung einen anderen Code gewährleistet. Der Lieferant ist die Sicherheitsgesellschaft von Sjandra Kei, der Bestimmungsort die Hochkolonie der Frachtbeglaubiger. Es war die übliche Verfahrensweise: Wir befördern ein Drittel-XOR der Matrix. Unabhängige Schiffsunternehmer befördern die anderen. Am Bestimmungsort sollten die drei Teile zusammengeXORt werden. Das Resultat hätte den Crypto-Bedarf von einem Dutzend Welten im Netz decken können, und das für…«
Weiter unten kam Bewegung auf. Jemand rauchte etwas, das für die Luftreiniger ein bisschen zu stark war. Ravna bekam einen Hauch davon ab, genug, dass ihr für einen Moment alles vor den Augen verschwamm. Es hatte etliche Gäste im Erdgeschoss umgeworfen. Die Geschäftsführung verhandelte mit dem schuldigen Kunden. Blaustiel ließ ein abruptes Geräusch ertönen. Er rollte vom Tisch zurück und zur Brüstung. »Ich möchte nicht überrascht werden. Manche Leute können derart plötzlich sein…« Als der Zwischenfall keine Weiterungen hatte, kehrte er an den Tisch zurück. »Ähm… wo war ich?« Einen Augenblick lang schwieg er und konsultierte das in seinem Skrod eingebaute Kurzzeitgedächtnis. »Ja, ja… Wir wären relativ reich geworden, wenn unser Plan gelungen wäre. Leider machten wir bei Straum Halt, um ein paar Massendaten abzuladen.« Er drehte sich auf den hinteren vier Rädern. »Das war doch sicherlich ungefährlich? Straum selbst liegt über hundert Lichtjahre von ihrem Labor im Transzens entfernt. Trotzdem…«
Einer von seinen Frachtbeglaubigern unterbrach ihn mit lautem Gebrabbel. Nach einem Moment fiel der Hausübersetzer ein: »Ja. Es hätte ungefährlich sein müssen. Wir sahen keinerlei Gewalt. Die Aufzeichnungsgeräte des Schiffes zeigen, dass es keine Sicherheitslücken gab. Doch jetzt gehen Gerüchte um. Netzgruppen behaupten, der Straumli-Bereich sei der PERVERSION anheimgefallen. Absurd. Dennoch sind diese Gerüchte übers Netz bis an unseren Bestimmungsort gelangt. Unserer Fracht wird nicht vertraut, also ist unsere Fracht wertlos: Jetzt sind es nur noch ein paar Gramm Datenträger mit zufälligen…« Mitten in der gleichförmigen Übersetzung sprang der Humanoid aus dem Schatten hervor. Ravna erhaschte einen Blick auf Kiefern mit rasierklingenscharfen Zahnleisten. Er warf seinen Trinkkolben auf den Tisch vor ihr.
Pham Nuwens Hand schoss hervor und erfasste den Kolben, ehe er aufschlug — noch ehe ihr recht bewusst geworden war, was vor sich ging. Der Rotschopf erhob sich langsam. Aus den Schatten hervor standen die beiden anderen Humanoiden auf und näherten sich ihrem Freund. Pham Nuwen sagte kein Wort. Er stellte den Kolben vorsichtig hin und beugte sich nur leicht zu den anderen hin, die Hände locker und doch Klingen ähnlich. In billigen Geschichten ist von ›Blicken voll tödlicher Drohung‹ die Rede. Ravna hätte nie damit gerechnet, derlei in Wirklichkeit zu sehen. Doch die Humanoiden sahen es auch. Sie zogen ihren Freund sanft vom Tisch zurück. Das Großmaul sträubte sich nicht, doch als er erst einmal außer Reichweite Phams war, brach er in einen Schwall von Kreisch- und Zischlauten aus, die den Hausübersetzer sprachlos bleiben ließen. Der Humanoid machte eine scharfe Geste mit drei Fingern und verstummte.
Pham Nuwen setzte sich hin, die grauen Augen ruhig und gelassen. Vielleicht hatte er tatsächlich Grund, arrogant zu sein! Ravna blickte zu den beiden Skrodfahrern hinüber. »Es tut mir Leid, dass Ihre Fracht an Wert verloren hat.«
Die meisten Kontakte hatte Ravna bisher mit Minderen Skrodfahrern gehabt, deren Reflexe nur geringfügig über ihre angestammte sesshafte Lebensweise hinaus ergänzt wurden. Hatten diese beiden die Unterbrechung überhaupt wahrgenommen? Doch Blaustiel antwortete unverzüglich: »Entschuldigen Sie sich nicht. Seit wir hier sind, haben sich diese drei ständig beklagt. Und wenn sie auch unsere Vertragspartner sind, ich bin ihrer überdrüssig.« Er verfiel in den Topfpflanzen-Zustand.
Nach einer Weile sprach die andere von den beiden Fahrern — sie hieß wohl Grünmuschel. »Außerdem ist unsere Geschäftssituation vielleicht kein Totalausfall. Ich bin sicher, dass die anderen Drittel der Fracht dem Straumli-Bereich nicht nahe gekommen sind.« Das war die übliche Verfahrensweise: Jeder Teil der Ladung wurde von einem anderen Unternehmen transportiert, jeder auf einer anderen Route. Wenn die anderen beiden Drittel beglaubigt werden konnten, ging die Besatzung der Aus der Reihe vielleicht nicht mit leeren Händen aus. »Ja, es gibt vielleicht einen Weg für uns, die volle Beglaubigung zu bekommen. Wir waren zwar beim Straumli-Bereich, aber…«
»Wie lange ist es her, dass Sie dort abgereist sind?«
»Sechshundertfünfzig Stunden. Etwa zweihundert Stunden, nachdem sie vom Netz abgefallen sind.«
Plötzlich ging es Ravna auf, dass sie mit einer Art Augenzeugen sprach. Nach dreißig Tagen wurde die Gruppe Bedrohungen noch immer von der Ereignissen bei Straum beherrscht. Nach allgemeiner Ansicht war eine PERVERSION DER KLASSE ZWEI geschaffen worden — selbst die Vrinimi-Org glaubte das. Dennoch beruhte das meiste auf Vermutungen. Und jetzt sprach sie mit Wesen, die wirklich vor Ort gewesen waren. »Sie glauben nicht, dass die Straumer eine PERVERSION erschaffen haben?«
Es war Blaustiel, der antwortete. »Leider«, sagte er. »Unsere Beglaubiger bestreiten es, doch ich sehe da einen Gewissenskonflikt. Wir haben tatsächlich Seltsames auf Straum gesehen… Hatten Sie jemals mit künstlichen Immunsystemen zu tun? Diejenigen, die im Mittleren Jenseits funktionieren, bereiten mehr Scherereien, als sie wert sind, also wahrscheinlich nicht. Bei manchen Beamten der Crypto-Verwaltung habe ich unmittelbar nach dem Straumli-Sieg echte Veränderungen bemerkt. Es war, als wären sie auf einmal Teile einer schlecht abgestimmten Automatik, als wären sie jemandes… äh… Finger… Niemand kann daran zweifeln, dass sie im Transzens herumgespielt haben. Sie haben dort oben etwas gefunden, ein verschollenes Archiv. Aber darum geht es nicht.« Er schwieg eine ganze Weile; fast hätte Ravna geglaubt, er sei fertig. »Wissen Sie, kurz bevor wir Straumli Haupt verließen, haben wir…«
Doch nun sprach auch Pham Nuwen. »Darüber habe ich mich schon gewundert. Alle reden so, als sei dieser Straumli-Bereich zum Untergang verurteilt gewesen, sobald sie mit den Forschungen im Transzens begonnen hatten. Sehen Sie. Ich habe mit Software voller Programmfehler und mit fremdartigen Waffen herumgespielt. Ich weiß, dass man dabei ums Leben kommen kann. Doch es sieht so aus, als hätten die Straumers ihr Labor vorsorglich weit entfernt eingerichtet. Sie arbeiteten an etwas, das schiefgehen konnte, aber anscheinend war es ein Experiment, das schon vorher ausprobiert worden war — so ziemlich wie alles Hier Oben. Sie konnten die Arbeit jederzeit abbrechen, sobald sich Abweichungen von den Aufzeichnungen zeigten, bis kurz vor Schluss. Wie konnten sie es also derart vermasseln?«
Die Frage ließ den Skrodfahrer in seinem Redefluss innehalten. Man brauchte kein Doktor der Angewandten Theologie zu sein, um die Antwort zu kennen. Selbst die verdammten Straumer hätten die Antwort kennen müssen. Doch für jemanden mit Pham Nuwens Vergangenheit war es eine vernünftige Frage. Ravna hielt sich zurück. Gerade die Fremdheit der Skrodfahrer wirkte auf Pham vielleicht überzeugender als ein weiterer Vortrag von ihr.
Blaustiel zauderte; zweifellos benutzte er seinen Skrod, um die Argumente zu ordnen. Als er schließlich sprach, schien er über die Unterbrechung nicht verstimmt zu sein. »Ich höre mehrere falsche Annahmen, meine Dame Pham.« Er schien die alte nyjoranische höfliche Anrede ziemlich unterschiedslos zu verwenden. »Haben Sie einen Blick in das Archiv bei Relais geworfen?«
Pham bejahte. Ravna vermutete, dass er nie über die Oberfläche für Anfänger hinausgekommen war.
»Dann wissen Sie, dass ein Archiv etwas grundlegend Umfassenderes ist als die Datenbank in einem konventionellen lokalen Netz. Aus praktischen Gründen können die großen nicht einmal kopiert werden. Die wichtigsten Archive reichen Jahrmillionen zurück, sie sind von Hunderten unterschiedlicher Rassen unterhalten worden — von denen die meisten jetzt ausgestorben oder zu MÄCHTEN transzendiert sind. Sogar das Archiv bei Relais ist ein Dschungel, derart umfangreich, dass Indexsysteme zur Erfassung von Indexsystemen nötig sind. Nur im Transzens könnte solch eine Masse richtig organisiert sein, und selbst dann könnten nur die MÄCHTE sie verstehen.«
»So?«
»Es gibt Tausende von Archiven im Jenseits — Zehntausende, wenn man die mitzählt, die in irreparablen Zustand geraten oder vom Netz abgefallen sind. Zusammen mit endlosen Trivialitäten enthalten sie bedeutende Geheimnisse und bedeutende Lügen. Es gibt dort Fallen und Fußangeln.« Millionen von Rassen spielten mit den Ratschlägen, die unaufgefordert durchs Netz sickerten. Zehntausende hatten sich verbrannt. Manchmal war der Schaden relativ geringfügig, gute Erfindungen, die nicht ganz zu der Zielumgebung passten. Manchmal war er bösartig, Viren, die ein lokales Netz derart gründlich blockierten, dass eine Zivilisation ganz von vorn beginnen musste. ›Wo sind sie jetzt‹ und ›Bedrohungen‹ vermeldeten Geschichten von schlimmeren Tragödien: Planeten, die knietief im Schleim von Replikatoren versanken, Rassen, die von schlecht programmierten Immunsystemen in hirnlose Tiere verwandelt worden waren.
Pham Nuwen hatte seine skeptische Miene aufgesetzt. »Man braucht das Zeug bloß in sicherer Entfernung zu testen. Und muss auf örtliche Katastrophen gefasst sein.«
Die meisten hätten die Erklärungen an dieser Stelle aufgegeben. Ravna musste den Skrodfahrer bewundern: Er hielt inne, ging auf noch elementarere Begriffe zurück. »Gewiss, gewöhnliche Vorsicht kann viele Unglücke verhindern. Und wenn sich das Labor im Mittleren oder Unteren Jenseits befindet, braucht man weiter nichts als solche Vorsicht — egal, wie raffiniert die Bedrohung ist. Aber uns allen ist die Natur der Zonen klar…« Ravna hatte sichtlich kein Gefühl für die Körpersprache der Fahrer, doch sie hätte geschworen, dass Blaustiel den Barbaren erwartungsvoll beobachtete und versuchte, die Tiefe von Phams Unwissenheit auszuloten.
Der Mensch nickte ungeduldig.
Blaustiel fuhr fort: »Im Transzens kann eine wirklich scharfsinnige Ausrüstung Geräte steuern, die wesentlich klüger sind als alles hier unten. Natürlich kann die Seite mit den überlegenen Datenverarbeitungs-Kapazitäten fast jeden wirtschaftlichen oder militärischen Wettbewerb gewinnen. Derlei ist an der Obergrenze des Jenseits und im Transzens zu haben. Es gibt immer Rassen, die dorthin ziehen, in der Hoffnung, ihr eigenes Utopia zu bauen. Doch was tut jemand, wenn seine neuen Schöpfungen klüger sind als er selbst? Da gibt es grenzenlose Möglichkeiten für Katastrophen, sogar wenn eine vorhandene MACHT keinen Schaden verursacht. Also gibt es zahllose Rezepte, wie man das Transzens gefahrlos nutzt. Natürlich können sie nicht wirksam untersucht werden — außer eben im Transzens. Und wenn sie mit Geräten betrieben werden, die sie selbst beschreiben, erlangen die Rezepte selbst Vernunft.«
In Pham Nuwens Gesicht begann ein Funke von Verständnis aufzuleuchten.
Ravna beugte sich vor, um die Aufmerksamkeit des Rotschopfes auf sich zu lenken. »Es gibt komplexe Dinge in den Archiven. Keins davon ist vernunftbegabt, doch manche davon können es werden, wenn eine naive junge Rasse ihren Versprechen traut. Wir glauben, das ist es, was dem Straumli-Bereich widerfahren ist. Sie sind von Dokumentationen in die Falle gelockt worden, die ihnen Wunder versprachen, sind dazu gebracht worden, ein transzendentes Wesen zu erzeugen, eine MACHT — aber eine, die denkende Wesen im Jenseits zu ihren Opfern macht.« Sie erwähnte nicht, wie selten solche PERVERSIONEN vorkamen. Die MÄCHTE waren auf unterschiedliche Weise böswillig, verspielt, gleichgültig — doch augenscheinlich wussten fast alle mit ihrer Zeit Besseres anzufangen, als Küchenschaben in freier Natur zu untersuchen.
Pham Nuwen rieb sich in Gedanken das Kinn. »In Ordnung, ich glaube, ich habe verstanden. Aber ich habe das Gefühl, dass das allgemein bekannt ist. Wenn es derart tödlich ist, wie konnten die von Straum darauf reinfallen?«
»Pech und verbrecherische Unfähigkeit.« Die Worte sprangen ihr überraschend heftig von den Lippen. Ihr war noch nicht bewusst geworden, dass die Sache mit Straum ihr so nahe ging; irgendwo in ihr lebten ihre alten Empfindungen für den Straumli-Bereich weiter. »Sehen Sie: Operationen im Hohen Jenseits und im Transzens sind wirklich gefährlich. Zivilisationen dort oben sind nicht von langer Dauer, doch es gibt immer wieder Leute, die es versuchen. Sehr wenige von den Bedrohungen sind aktiv bösartig. Was den Straumern passiert ist… Sie sind auf dieses Rezept gestoßen, das ihnen wunder was für Schätze versprach. Es kann durchaus sein, dass es seit Jahrmillionen herumgelegen hatte und anderen Leuten ein bisschen zu riskant war, als dass sie es ausprobiert hätten. Sie haben Recht, die Straumer kannten die Gefahren.« Aber es war die klassische Situation, wo jemand die Risiken abwog und die falsche Wahl traf. Vielleicht ein Drittel der Angewandten Theologie befasste sich damit, wie man nahe am Feuer tanzen konnte, ohne eingeäschert zu werden. Niemand kannte die Einzelheiten des Straumli-Debakels, doch sie konnte sie sich nach Hunderten von ähnlichen Fällen zusammenreimen:
»Sie haben also im Transzens eine Basis bei diesem verschollenen Archiv errichtet — falls es so etwas war. Sie fingen an, die Pläne umzusetzen, die sie vorfanden. Sie können sicher sein, dass sie den größten Teil ihrer Zeit damit zubrachten, nach Anzeichen von Täuschung Ausschau zu halten. Zweifellos war das Rezept eine Folge von mehr oder weniger verständlichen Schritten mit einem klaren Ausgangspunkt. Die ersten Phasen werden mit Computern und Programmen abgelaufen sein, die wirksamer als alles im Jenseits waren, sich aber anscheinend ordentlich betrugen.«
»Hm… ja. Sogar im Langsam kann ein großes Programm voller Überraschungen stecken.«
Ravna nickte. »Und manche von diesen müssen der menschlichen Komplexität nahegekommen sein oder sie übertroffen haben. Natürlich haben die Straumer das gewusst und versucht, ihre Schöpfungen zu isolieren. Aber bei einem boshaften und schlauen Entwurf… wäre es kein Wunder, wenn die Geräte auf Umwegen Zugang zum lokalen Netz des Labors fanden und die Information dort störten. Von da an hätten die Straumer keine Chance mehr gehabt. Die vorsichtigsten Mitglieder der Gruppe wären als unfähig dargestellt worden. Phantomgefahren wären entdeckt, Notreaktionen verlangt worden. Man hätte raffinierte Geräte mit geringeren Sicherungen gebaut. Vermutlich sind die Menschen getötet oder umprogrammiert worden, noch ehe die PERVERSION die Transsapienz erlangte.«
Es folgte ein langes Schweigen. Pham Nuwen wirkte beinahe einsichtig. Tja. Es gibt ’ne Menge, was du nicht weißt, Kumpel. Überleg dir, was der ALTE vielleicht mit dir vorhat.
Blaustiel neigte eine Ranke herab, um von einem braunen Gebräu zu kosten, das wie Tang roch. »Gut erzählt, meine Dame Ravna. Doch in einem unterscheidet sich die gegenwärtige Situation. Das ist vielleicht ein Glücksfall, und sehr wichtig… Sehen Sie, kurz bevor wir den Straumli-Bereich verließen, waren wir auf einer Strandparty mit Minderen Fahrern. Bis zu diesem Zeitpunkt waren sie von den Ereignissen kaum betroffen gewesen; viele hatten nicht einmal bemerkt, dass Straum seine Unabhängigkeit verloren hatte. Wenn sie Glück haben, werden sie vielleicht die Letzten sein, die versklavt werden.« Seine quäkende Stimme wurde eine Oktave tiefer und versickerte. »Wo war ich? Ja, die Party. Da war einer, der war etwas lebendiger als die meisten. Irgendwann früher war er mit einem Reisenden in einer Nachrichtenagentur liiert gewesen. Jetzt fungierte er als geheime Datenquelle, so unscheinbar, dass er nicht einmal im eigenen Netz dieser Agentur registriert war…
Jedenfalls waren die Forscher im Straumli-Labor — zumindest ein paar von ihnen — nicht so unvorsichtig, wie Sie sagen. Sie argwöhnten eine perverse Fehlentwicklung und waren entschlossen, sie zu sabotieren.«
Das war in der Tat eine Neuigkeit, aber… »Sieht nicht so aus, als ob sie viel Erfolg gehabt hätten, oder?«
»Ich stimme dem zu. Sie haben es nicht verhindert, aber sie hatten vor, von dem Laborplaneten mit zwei Sternenschiffen zu fliehen. Und sie schafften es, die Nachricht von ihrem Versuch in Kanäle einzuspeisen, die zu meinem Gesprächspartner auf der Strandparty führten. Und jetzt kommt das Wichtige: Mindestens eins von diesen Schiffen sollte einige Abschlusselemente vom Rezept der PERVERSION fortbringen — bevor sie in den Entwurf eingefügt wurden.«
»Gewiss gab es Sicherheitskopien…«, begann Pham Nuwen.
Ravna hieß ihn mit einer Handbewegung schweigen. Für diesen Abend hatte es genug Grundschulerklärungen gegeben. Das war unglaublich. Sie hatte die Nachrichten über den Straumli-Bereich so intensiv wie nur jemand verfolgt. Der Bereich war die erste Tochterkolonie von Sjandra Kei im Hohen Jenseits; es war schrecklich, ihn vernichtet zu sehen. Doch nirgendwo in der Gruppe ›Bedrohungen‹ war auch nur gerüchtweise davon die Rede gewesen, dass die PERVERSION womöglich nicht vollständig war. »Wenn das wahr ist, dann haben die Straumer vielleicht eine Chance. Es hängt alles davon ab, welche Teile des Bauplans fehlen.«
»Genau. Und natürlich war das auch den Menschen klar. Sie hatten vor, geradewegs zum Grunde des Jenseits zu fliegen und sich dort mit ihren Verschworenen von Straum zu treffen.«
Was nie geschehen würde — wenn man das totale Ausmaß der Katastrophe bedachte. Ravna lehnte sich zurück; zum ersten Mal seit vielen Stunden hatte sie Pham Nuwen ganz vergessen. Höchstwahrscheinlich waren inzwischen beide Schiffe vernichtet. Wenn nicht — nun, die Straumer waren wenigstens halbwegs schlau gewesen, als sie Kurs zum Grund hin einschlugen. Wenn sie das hatten, was Blaustiel in ihrem Besitz glaubte, würde die PERVERSION sehr daran interessiert sein, sie zu finden. Kein Wunder, dass Blaustiel und Grünmuschel das nicht den Nachrichtengruppen mitgeteilt hatten. »Sie wissen also, wo sie sich treffen wollten?«
»Ungefähr.«
Grünmuschel schnarrte ihm etwas zu.
»Nicht wir selbst«, sagte er. »Die Koordinaten sind sicher in unserem Schiff verwahrt. Doch das ist noch nicht alles. Die Straumer hatten einen Reserveplan, falls das Rendezvous nicht gelingen sollte. Sie hatten vor, mit der Ultrawelle ihres Schiffs ein Signal an Relais zu senden.«
»Moment mal. Wie groß ist das Schiff denn?« Ravna war kein Ingenieur für die physische Ebene, doch sie wusste, dass Relais’ Basis-Transceiver eigentlich Schwärme von Antennenelementen waren, über etliche Lichtjahre hinweg verteilt, wobei jedes Element zehntausend Kilometer maß.
Blaustiel rollte vor und zurück, eine rasche Geste, die Erregung bedeutete. »Wir wissen es nicht, aber es ist nichts Besonderes. Wenn man nicht mit einer großen Antenne exakt in die Richtung schaut, ist es von hier aus nicht auszumachen.«
Grünmuschel fügte hinzu: »Wir glauben, dass das Teil ihres Planes war, obwohl das der Gipfel der Verzweiflungstaten ist. Seit wir bei Relais eingetroffen sind, sprechen wir mit der Org…«
»Diskret! Leise!«, warf Blaustiel abrupt ein.
»Ja. Wir haben die Organisation gebeten, nach diesem Schiff Ausschau zu halten. Ich fürchte, wir haben nicht mit den richtigen Leuten gesprochen. Niemand scheint uns sonderlich viel Glauben zu schenken. Immerhin stammt die Geschichte letzten Endes von einem Minderen Fahrer.« Nun ja. Was konnten die schon wissen, was weniger als hundert Jahre alt war? »Worum wir bitten, würde normalerweise sehr viel kosten, und anscheinend sind die Preise zur Zeit besonders hoch.«
Ravna versuchte ihre Begeisterung im Zaum zu halten. Wenn sie davon in einer Nachrichtengruppe gelesen hätte, wäre es einfach noch so ein interessantes Gerücht gewesen. Warum sollte sie beeindruckt sein, nur weil sie es von Angesicht zu Angesicht erzählt bekam? Bei den MÄCHTEN, welch eine Ironie. Hunderte von Kunden von der Obergrenze und aus dem Transzens — sogar der ALTE — befriedigten ihre Neugier über die Straumli-Katastrophe bis an die Grenzen von Relais’ Kapazität. Wie, wenn die Antwort die ganze Zeit über vor ihren Augen gesessen hätte, von eben diesem Eifer ihrer Nachforschungen in den Hintergrund gedrängt? »Mit wem haben Sie denn gesprochen? Ach, egal.« Vielleicht sollte sie einfach mit der Geschichte zu Grondr ’Kalir gehen. »Ich glaube, Sie sollten erfahren, dass ich eine« — sehr untergeordnete! — »Angestellte der Vrinimi-Organisation bin. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
Sie hatte angesichts solch eines glücklichen Zusammentreffens etwas Überraschung erwartet. Stattdessen trat eine Pause ein. Anscheinend hatte Blaustiel vergessen, an welcher Stelle in der Unterhaltung er war. Schließlich sprach Grünmuschel. »Ich erröte… Sehen Sie, wir haben das gewusst. Blaustiel hat Sie im Verzeichnis der Angestellten ausfindig gemacht; Sie sind der einzige Mensch in der Org. Sie sind nicht in der Kundenkontakt-Abteilung, aber wir dachten, wenn wir es mit Ihnen versuchten, würden Sie uns vielleicht freundlicherweise anhören.«
Blaustiels Ranken fuhren mit einem scharfen Rascheln zusammen. War er irritiert? Oder hatte er endlich wieder den Gesprächsfaden gefunden? »Ja. Gut, da wir alle derart offen reden, sollte ich wohl gestehen, dass es uns möglicherweise zum Nutzen gereichen kann. Wenn das Schiff der Flüchtlinge nachzuweisen vermag, dass die PERVERSION kein vollständiges Exemplar der Klasse Zwei ist, dann können wir unsere Kunden vielleicht davon überzeugen, dass unsere Fracht nicht kompromittiert ist. Wenn sie es nur wüssten, würden Ihnen meine Freunde, die Beglaubiger, zu Füßen liegen, meine Dame Ravna.«
Sie blieben bis nach Mitternacht in der Wandergesellschaft. Das Geschäft belebte sich zu dem allnächtlichen Höhepunkt, als etliche neue Gäste eintrafen. Ringsum standen die rauen Laute von Vorführungen in der Diele und an den Tischen. Phams Blick sprang hin und her, während er alles in sich aufnahm. Doch am meisten schien er von Blaustiel und Grünmuschel fasziniert zu sein. Die beiden waren ausgeprägt nichtmenschlich, in mancher Beziehung sogar für Aliens fremdartig. Die Skrodfahrer gehörten zu den ganz wenigen Rassen, die lang andauernde Stabilität im Jenseits erlangt hatten. Die Aufspaltung in verschiedene Arten lag schon lange zurück; die Varietäten waren nach draußen gestrebt oder ausgestorben. Und noch immer gab es welche, die zu den alten Skrods passten — ein einzigartiges Gleichgewicht von Gestalt und maschineller Schnittstelle, das seit mehr als einer Milliarde Jahre hielt. Doch Blaustiel und Grünmuschel waren auch Kauffahrer, und als solche ähnelten sie in vielem dem, was Pham Nuwen im Langsam kennen gelernt hatte. Und obwohl sich Pham so ignorant wie eh und je verhielt, war seine Umgangsform diplomatischer geworden. Vielleicht drang ihm auch endlich die furchtgebietende Gewalt des Jenseits ins Bewusstsein. Bessere Tischgenossen hätte er nicht finden können. Als Rasse gaben sich die Skrodfahrer lieber trägen Erinnerungen als fast jeder anderen Tätigkeit hin. Nachdem sie ihre kritische Botschaft losgeworden waren, erzählten die beiden ziemlich bereitwillig von ihrem Leben im Jenseits, erklärten so viele Einzelheiten, wie der Barbar sich nur wünschen konnte. Die Beglaubiger mit den Rasiermesser-Kiefern tauchten nicht mehr auf.
Ravna war ein wenig beschwipst und sah den dreien beim Fachsimpeln zu. Sie lächelte. Jetzt war sie die Außenseiterin, diejenige, die nie etwas getan hatte. Blaustiel und Grünmuschel waren überall herumgekommen, und manche von ihren Geschichten kamen sogar Ravna ausgefallen vor. Ravna hatte eine Theorie (die übrigens keine allzu breite Zustimmung fand), dass für Wesen, die eine gemeinsame Sprache finden, kaum etwas anderes zählt. Zwei von diesen dreien hätte man mit Topfpflanzen auf Spurt-Rollern verwechseln können, und der dritte glich keinem Menschen, dem sie je im Leben begegnet war. Ihre gemeinsame Sprache war ein künstliches Idiom, und zwei der Stimmen quäkten rau. Dennoch — nachdem sie ein paar Minuten zugehört hatte, schienen die Persönlichkeiten der drei vor ihrem geistigen Auge zu stehen, interessanter als viele von ihren Klassenkameraden, aber gar nicht so verschieden. Die beiden Skrodfahrer waren Lebensgefährten. Sie hatte nicht geglaubt, dass das viel ausmachen könnte; unter den Fahrern bedeutete Sex nicht viel mehr, als einander zur richtigen Jahreszeit benachbart zu sein. Dennoch spürte sie tiefe Zuneigung. Insbesondere Grünmuschel schien eine von Liebe erfüllte Persönlichkeit zu sein. Sie (er?) war schüchtern, aber starrköpfig, von einer Art Ehrlichkeit, die einen Kauffahrer vielleicht nachhaltig behinderte. Blaustiel machte diese Schwäche wett. Er (sie?) konnte aalglatt und beredt sein, durchaus imstande, den Lauf der Dinge in seine Richtung zu lenken. Unter dieser Oberfläche spürte Ravna eine zwanghafte Persönlichkeit, die über die eigene Gerissenheit nicht froh und daher dankbar war, wenn Grünmuschel ihn schließlich zügelte.
Und was war mit Pham Nuwen? Ja, worin liegt das Innere seines Wesens? Seltsamerweise war er rätselhafter als die beiden. Der arrogante Trottel vom Nachmittag schien jetzt größtenteils verschwunden zu sein. Vielleicht war es eine Tarnung für Unsicherheit gewesen. Der Bursche war in einer männlich dominierten Kultur aufgewachsen, sichtlich das Gegenteil des Matriarchats, von dem die ganze Menschheit im Jenseits abstammte. Unter der Arroganz steckte vielleicht eine sehr nette Person. Dann war da noch die Art, wie er den Rasiermesser-Kiefern entgegengetreten war. Und die Art, wie er die Skrodfahrer ausholte. Es dämmerte Ravna, dass sie, nachdem sie ein Leben lang romantische Geschichten gelesen hatte, ihrem ersten Helden begegnet war.
Es war halb drei durch, als sie die Wandergesellschaft verließen. Die Sonne würde in weniger als fünf Stunden über dem Bughorizont aufgehen. Die beiden Skrodfahrer begleiteten sie nach draußen. Blaustiel hatte wieder auf Samnorsk umgeschaltet, um Ravna eine Geschichte von ihrem letzten Besuch bei Sjandra Kei zuteil werden zu lassen — und um sie daran zu erinnern, dass sie nach dem Flüchtlingsschiff fragen sollte.
Die Skrodfahrer wurden unter ihnen kleiner, als Ravna und Pham in die dünner werdende Luft aufstiegen und auf die Wohntürme zu flogen.
Ein paar Minuten lang schwiegen die beiden Menschen. Möglicherweise war Pham Nuwen sogar von dem Anblick beeindruckt. Sie überquerten Lücken in den hell erleuchteten Docks, Schächte, wo man durch die Anlege- und Rangierstellen zur Oberfläche von DaUnten tausend Kilometer tiefer schauen konnte. Die Wolken dort waren Wirbel von Dunkel auf Dunkel.
Ravnas Wohnung lag am Außenrand der Docks. Hier hatten die Luftbrunnen keinen Zweck, ihr Hausturm ragte ins schiere Vakuum empor. Sie glitten auf ihren Balkon herab und wechselten von der Atmosphäre ihrer Anzüge in die der Wohnung. Ravnas Mund entwickelte ein Eigenleben und erklärte, dass ihr die Wohnung zugewiesen worden war, als sie im Archiv arbeitete, und dass sie keinem Vergleich mit ihrem neuen Büro standhielt. Pham Nuwen nickte unbewegten Gesichts. Die witzigen Bemerkungen von ihren früheren Ausflügen blieben aus.
Sie plapperte weiter, und dann waren sie drinnen und… Sie verstummte, und sie blickten einander einfach nur an. Eigentlich hatte sie diesen komischen Kerl schon die ganze Zeit seit Grondrs dummer Ermunterung gewollt. Doch erst seit dem Abend in der Wandergesellschaft fühlte sie sich wohl bei dem Gedanken, ihn mit zu sich nach Hause zu nehmen. »Tja, also ich…« So. Ravna, die beutelüsterne Fürstin. Wo ist deine flinke Zunge jetzt?
Sie entschloss sich, die Hand auszustrecken und auf seine zu legen. Pham Nuwen lächelte zurück, auch er schüchtern, bei den MÄCHTEN! »Ich glaube, Sie haben eine hübsche Wohnung«, sagte er.
»Ich habe sie im technoprimitiven Stil eingerichtet. Hier am Rande der Docks zu sitzen, hat seine guten Seiten: Die natürliche Aussicht wird nicht von den Lichtern der Stadt verdorben. Da, ich zeig’s Ihnen.« Sie dämpfte das Licht und zog die Vorhänge beiseite. Das Fenster war ein natürlicher Durchblick, der vom Rande der Docks nach draußen ging. Diese Nacht müsste der Anblick gewaltig sein. Beim Flug aus der Gesellschaft war der Himmel furchterregend dunkel gewesen. Die systeminternen Fabriken mussten abseits oder hinter DaUnten verborgen sein. Sogar der Verkehr wirkte spärlich.
Sie kam zurück und blieb neben Pham stehen. Das Fenster erstreckte sich als vages Rechteck über ihr Blickfeld. »Sie müssen eine Minute warten, bis sich die Augen eingewöhnen. Es gibt überhaupt keine Verstärkung.« Die Wölbung von DaUnten war jetzt deutlich zu sehen, Wolken mit gelegentlichen Lichtpunkten. Sie ließ den Arm um seinen Rücken gleiten, und einen Moment später fühlte sie den seinen um ihre Schultern.
Sie hatte richtig geraten: Diese Nacht beherrschte die Milchstraße den Himmel. Es war ein Anblick, den die alteingesessenen Angestellten von Vrinimi wohlgemut zu ignorieren pflegten. Für Ravna war er das Schönste an Relais. Ohne Verstärkung war das Licht schwach. Zwanzigtausend Lichtjahre sind ein weiter, weiter Weg. Zuerst sah man nur eine Andeutung von Nebel und hier und da einen Stern. Als sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnten, nahm der Nebel Gestalt an, gekrümmte Bögen, an manchen Stellen heller, an manchen schwächer. Noch eine Minute, und… da waren Knoten im Nebel…, Streifen von vollkommenem Schwarz, die die geschwungenen Arme trennten…, Komplexität über Komplexität, um die bleiche Radnarbe gewirbelt, die der Kern war. Ein Mahlstrom. Ein Strudel. Erstarrt, reglos, quer über den halben Himmel.
Sie hörte Pham atmen. Er sagte etwas, ein Singsang von Silben, die kein Trisk sein konnten und gewiss kein Samnorsk. »Mein ganzes Leben habe ich in einem winzigen Klümpchen davon zugebracht. Und ich hielt mich für einen Meister des Raumes. Ich hätte mir nie träumen lassen, dazustehen und das ganze verdammte Ding auf einmal zu sehen.« Seine Hand spannte sich um ihre Schulter, lockerte sich dann wieder und streichelte ihr den Nacken. »Und egal, wie lange wir hinschauen, werden wir irgendein Anzeichen von den Zonen sehen?«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Aber man kann sie sich leicht vorstellen.« Mit der freien Hand zeigte sie. Im Großen und Ganzen folgten die Zonen des Denkens der Masseverteilung der Galaxis: Die Gedankenleeren Tiefen erstreckten sich hinab zum weichen Leuchten des Galaxiskerns. Weiter draußen das Große Langsam, wo die Menschheit zur Welt gekommen war, wo kein Ultralicht möglich war und Zivilisationen lebten und starben, ohne die Wahrheit zu kennen und ohne selbst bekannt zu werden. Und das Jenseits, die Sterne, die ungefähr vier Fünftel vom Zentrum entfernt lagen, auch weit genug über der Ebene, um Orte wie Relais einzuschließen. Das Bekannte Netz existierte im Jenseits in gewisser Form seit Jahrmilliarden. Es war keine Zivilisation: wenige Zivilisationen dauerten länger als eine Million Jahre. Doch die Aufzeichnungen über die Vergangenheit waren ziemlich vollständig.
Manchmal waren sie verständlich. Häufiger erforderte ihre Lektüre Übersetzungen von Übersetzungen von Übersetzungen, von einer vergangenen Rasse an die nächste weitergegeben, ohne dass jemand die Texte hätte korrigieren können — schlimmer als jede Netzbotschaft mit vielen Sprachsprüngen jemals sein konnte. Dennoch waren manche Dinge ziemlich klar: Es hatte immer Zonen des Denkens gegeben, wenngleich sie sich vielleicht jetzt ein wenig weiter nach innen verlagert hatten. Immer hatte es Kriege und Frieden gegeben, Rassen, die aus dem Großen Langsam emporquollen, und Tausende von kleinen Reichen. Immer hatte es Rassen gegeben, die ins Transzens gingen, um MÄCHTE zu werden — oder deren Beute.
»Und das Transzens?«, fragte Pham. »Ist das einfach nur das ferne Dunkel?« Das Dunkel zwischen den Galaxien.
Ravna lachte leise. »Es umfasst das alles, aber… schau auf die äußeren Bereiche der Spiralarme. Sie liegen im Transzens.« Das galt für das meiste, was weiter als vierzigtausend Lichtjahre vom galaktischen Zentrum entfernt lag.
Pham Nuwen schwieg längere Zeit. Sie spürte, wie ihn ein winziger Schauder durchlief. »Nachdem ich mit denen mit den Rädern gesprochen habe, glaube ich…, dass ich besser verstehe, wovor du mich gewarnt hast. Es gibt eine Menge, was ich nicht weiß, eine Menge, was mich das Leben kosten könnte — oder schlimmer.«
Endlich siegt der gesunde Menschenverstand. »Stimmt«, sagte sie leise. »Aber das liegt nicht nur an dir oder daran, dass du erst so kurze Zeit hier bist. Man kann sein ganzes Leben lang studieren, ohne es zu begreifen. Wie lange muss ein Fisch lernen, um menschliche Beweggründe zu verstehen? Es ist kein guter Vergleich, aber es ist der einzige sichere; wir sind in der Tat wie dummes Vieh für die MÄCHTE im Transzens. Denk an all die verschiedenen Dinge, die Leute Tieren gegenüber tun — sinnreich, sadistisch, wohltätig, ausrottend —, jedes davon hat eine Million Entsprechungen im Transzens. Die Zonen sind ein natürlicher Schutz; ohne sie würde Intelligenz auf menschlichem Niveau wahrscheinlich nicht existieren.« Sie wies mit der Hand auf die nebligen Sternenschwärme. »Das Jenseits und was darunter liegt, sind wie die Tiefen eines Ozeans und wir die Geschöpfe, die darin schwimmen. Wir sind so weit unten, dass die Wesen an der Oberfläche — so überlegen sie auch sind — uns nicht wirksam erreichen können. Oh, sie fischen, und manchmal verpesten sie die oberen Schichten mit Giften, die wir nicht einmal verstehen. Doch die Tiefe bleibt ein verhältnismäßig sicherer Ort.« Sie hielt inne. An der Analogie war noch mehr dran. »Und ganz wie bei einem Ozean gibt es einen ständigen Strom von Sinkstoffen von der Oberfläche. Es gibt Dinge, die nur an der Obergrenze hergestellt werden können, für die es Fabriken mit nahezu eigenem Bewusstsein braucht, die aber hier unten noch funktionieren können. Blaustiel hat manche davon erwähnt, als er sich mit dir unterhielt — die Agravgewebe, die intelligenten Geräte. Derlei Dinge machen den größten physischen Reichtum des Jenseits aus, da wir sie nicht herstellen können. Und sie zu beschaffen, ist ein tödlich riskantes Unternehmen.«
Pham wandte sich ihr zu, weg von Fenster und Sternen. »Es gibt also immer ›Fische‹ , die nahe an die Oberfläche kommen.« Einen Augenblick glaubte sie ihn verloren zu haben, gebannt von der Romantik eines transzendenten Todeswunsches. »Kleine Fische, die alles für ein Stückchen Göttlichkeit aufs Spiel setzen… und den Himmel von der Hölle nicht unterscheiden können, selbst wenn sie sie finden.« Sie fühlte, wie er erschauderte, und dann umschlangen sie seine Arme. Sie hob den Kopf und fand seine Lippen bereit.
Es war zwei Jahre her, seit Ravna Bergsndot Sjandra Kei verlassen hatte. In mancher Beziehung war die Zeit schnell vergangen. Erst jetzt sagte ihr ihr Körper, was für eine lange, lange Zeit es in Wahrheit gewesen war. Jede Berührung war so voll Leben und weckte sorgsam unterdrückte Sehnsüchte. Mit einem Mal kribbelte ihre Haut überall. Sie brauchte bewundernswerte Beherrschung, um beim Ausziehen nichts zu zerreißen.
Ravna war aus der Übung. Und natürlich stand ihr aus jüngerer Zeit kein Vergleich zur Verfügung… Aber Pham Nuwen war sehr, sehr gut.
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: Transceiver Relais01 bei Relais
SPRACHPFAD: Acquileron -› Triskweline, SjK:Relais-Einheiten
VON: Netzverantwortlicher für Transceiver Windsang bei Debley Tief
GEGENSTAND: Klagen über Relais, ein Vorschlag
ZUSAMMENFASSUNG: Es wird schlimmer; versucht es lieber mit uns
SCHLAGWÖRTER: Kommunikationsprobleme, Relais unzuverlässig, Transzens
VERTEILER:
Sonder-Interessengruppe Kommunikationskosten
Verwaltungsgruppe Motley-Luke
Transceiver Relais01 bei Relais
Transceiver Nicht-mehr-lange bei Stippvisite
ANTWORTEN AN: Interessengruppe Windsang-Erweiterung
DATUM: 07:21:21 Dockzeit, 36.9. im Org-Jahr 52.089
TEXT DER BOTSCHAFT:
In den letzten fünfhundert Stunden weist KomKosten 9834 Beschwerden über Stau in Transceiver-Zweigen aus, die sich gegen die Vrinimi-Bedienung bei Relais richten. Jede von diesen Beschwerden umfasst Dienstleistungen für Zehntausende von Planeten. Vrinimi hat wieder und wieder versprochen, dieser Stau sei nur durch vorübergehende Zunahme transzendenter Nutzung bedingt.
Als Relais’ wichtigster Konkurrent in dieser Region haben wir in Maßen aus dem Überschuss Nutzen gezogen, es bisher jedoch nicht für angebracht gehalten, eine koordinierte Reaktion auf das Problem vorzuschlagen.
Die Ereignisse der letzten sieben Stunden zwingen uns, diese Linie zu ändern. Wer diese Meldung liest, kennt den Zwischenfall bereits; die meisten von euch haben darunter gelitten. Ab [00:00:27 Dockzeit] hat die Vrinimi-Org begonnen, Transceiver vom Netz zu trennen, eine außerplanmäßige Abschaltung. R01 fiel um 00:00:27 aus, R02 um 02:50:32, R03 und R04 um 03:12:01. Vrinimi teilte mit, ein transzendenter Kunde verlange dringend Bandbreite. (R00 war vorher schon zur Benutzung durch diesen Kunden bereitgestellt worden.) Der Kunde verlangte sowohl Sende- als auch Empfangskanäle. Wie die Org selbst eingesteht, überstieg die außerplanmäßige Nutzung sechzig Prozent ihrer gesamten Kapazität. Man beachte, dass die zusätzliche Nutzung der vorangehenden fünfhundert Stunden — die zu völlig berechtigten Klagen Anlass gab — niemals mehr als fünf Prozent der Organisations-Kapazität betrug.
Freunde, wir von Windsang befassen uns mit Langstrecken-Kommunikation. Wir wissen, wie schwierig es ist, Transceiver-Elemente von der Masse eines Planeten zu unterhalten. Wir wissen, dass die Anbieter in unserer Branche einfach keine strikten vertraglichen Verpflichtungen eingehen können. Gleichzeitig aber ist das Verhalten der Vrinimi-Org unzumutbar. Es ist wahr, dass die Org in den letzten drei Stunden R01 bis R04 der Allgemeinheit wieder zur Verfügung gestellt und versprochen hat, die von der MACHT geleisteten zusätzlichen Zahlungen an all jene weiterzugeben, die ›Unannehmlichkeiten‹ hatten. Doch nur Vrinimi weiß, wie hoch diese zusätzlichen Zahlungen tatsächlich sind. Und niemand (nicht einmal Vrinimi!) weiß, ob dies das Ende der Abschaltungen ist.
Was für Vrinimi ein plötzlicher, unglaublicher Geldstrom ist, bedeutet für euch andere eine nicht abzuschätzende Katastrophe.
Daher erwägt Windsang bei Debley Tief eine erhebliche — und dauernde -Erweiterung unserer Dienstleistungen: den Bau von fünf zusätzlichen Haupttransceivern. Selbstverständlich wird das enorme Kosten verursachen. Transceiver sind niemals billig, und Debley Tief hat nicht ganz die Geometrie, derer sich Relais erfreut. Wir gehen davon aus, dass die Kosten über viele Jahrzehnte guter Geschäfte hinweg amortisiert werden müssen. Wir können es nicht ohne deutliches Engagement der Kunden in Angriff nehmen. Um den Bedarf festzustellen und zu sichern, dass wir bauen, was wirklich gebraucht wird, gründen wir eine zeitweilige Nachrichtengruppe, die Interessengruppe Windsang-Erweiterung, die bei Windsang moderiert und archiviert wird. Sende- und Empfangsgebühren werden in dieser Gruppe für Transceiver-Zweig-Kunden nur zehn Prozent unseres üblichen Satzes betragen. Wir fordern euch, unsere Transceiver-Zweig-Kunden, auf, diese Dienstleistung zu nutzen, um miteinander zu sprechen und zu entscheiden, was ihr in Zukunft mit einiger Sicherheit von der Vrinimi-Org erwarten könnt und wie ihr zu unserem Angebot steht. Wir warten auf Antwort von euch.
Danach schlief Ravna gut. Der Vormittag war halb vorbei, als sie allmählich wieder munter wurde. Ihr Telefon klingelte mit monotoner Beharrlichkeit, laut genug, um in die angenehmsten Träume zu dringen. Sie öffnete die Augen, desorientiert und glücklich. Sie lag da und hielt fest in den Armen… ein großes Kissen. Verdammt. Er war schon weg. Sie ließ sich für eine Sekunde zurückfallen und erinnerte sich. Diese letzten beiden Jahre war sie einsam gewesen, und bis vergangene Nacht hatte sie nicht einmal gewusst, wie einsam. Glück, derart unerwartet, derart heftig… war etwas Seltsames.
Das Telefon klingelte unbeirrt weiter. Schließlich rollte sie sich aus dem Bett und trottete durchs Zimmer; dieser technoprimitive Unsinn müsste seine Grenzen haben. »Ja?«
Es war ein Skrodfahrer. Grünmuschel? »Entschuldigen Sie, dass ich Sie belästige, Ravna, aber — ist mit Ihnen alles in Ordnung?« Der Fahrer verstummte.
Ravna kam plötzlich zu Bewusstsein, dass sie vielleicht ein wenig sonderbar aussah: ein breites Grinsen über beide Backen, die Haare nach allen Richtungen abstehend. Sie fuhr sich mit der Hand über den Mund, um ein Lachen zurückzuhalten. »Ja, mir geht es gut.« Gut! »Was ist?«
»Wir möchten Ihnen für Ihre Hilfe danken. Wir hätten uns nie träumen lassen, dass Sie so eine hochgestellte Persönlichkeit sind. Wir hatten Hunderte von Stunden lang versucht, die Org zu überzeugen, dass sie nach den Flüchtlingen Ausschau halten soll. Doch nach dem Gespräch mit Ihnen war keine Stunde vergangen, und wir erhielten die Mitteilung, dass die Suche unverzüglich aufgenommen wird.«
»Hm.« Wie das? »Das ist wunderbar, aber ich bin nicht sicher, ob ich… Wer bezahlt denn dafür?«
»Ich weiß nicht, aber es ist wirklich sehr teuer. Man hat uns gesagt, dass ein Basis-Transceiver für die Suche eingesetzt wird. Wenn irgendwer auf Sendung ist, müssten wir es binnen Stunden wissen.«
Sie plauderten noch ein paar Minuten lang. Ravna fand allmählich wieder die Zusammenhänge, während sie die Ereignisse der letzten zehn Stunden nach Dienst und Vergnügen sortierte. Sie hatte halbwegs damit gerechnet, dass die Org sie in der Wandergesellschaft abhören würde. Vielleicht hatte Grondr die Geschichte einfach dort gehört und ihr vollen Glauben geschenkt. Doch erst tags zuvor hatte er über die Überlastung der Transceiver geklagt. Jedenfalls war es eine gute Nachricht — vielleicht eine außerordentlich gute. Wenn sich die wüste Geschichte der Fahrer bewahrheitete, war die Straumli-PERVERSION vielleicht weniger als transzendent. Und wenn das Flüchtlingsschiff über Hinweise verfügte, wie man sie zu Fall bringen konnte, konnte vielleicht sogar der Straumli-Bereich gerettet werden.
Nachdem sich Grünmuschel verabschiedet hatte, ging Ravna in der Wohnung umher, brachte sich in Ordnung und wog verschiedene Möglichkeiten gegeneinander ab. Ihre Handlungen wurden zweckmäßiger, fast erreichte sie ihre normale Geschwindigkeit. Es gab eine Menge, was sie nachprüfen wollte.
Dann klingelte wieder das Telefon. Diesmal sah sie sich den Anrufer an, ehe sie sich einschaltete. Huch! Es war Grondr Vrinimikalir. Sie strich sich mit der Hand die Haare zurück; sie sahen immer noch strubbelig aus, und dieses Telefon brachte keine Täuschung zustande. Plötzlich bemerkte sie, dass auch Grondr nicht besonders blendend aussah. Sein Gesichts-Chitin war fleckig, sogar über manche von den Sprenkeln hinweg. Sie nahm den Anruf entgegen.
»Ah!« Seine Stimme quäkte erst einmal, fand dann den normalen Ton. »Danke, dass Sie sich gemeldet haben. Ich hätte früher angerufen, aber die Lage war allzu… chaotisch.« Wo war nur seine kühle Distanz hin? »Ich möchte nur, dass Sie wissen: Die Org hatte damit nichts zu tun. Wir sind bis vor ein paar Stunden völlig überfahren worden.« Er erging sich in einer zusammenhanglosen Beschreibung, wie massive Nachfrage die Ressourcen der Org aufgesogen hatte.
Während er erzählte, holte Ravna eine Zusammenfassung von Relais’ gegenwärtigen Geschäften auf den Bildschirm. Bei allen MÄCHTEN: Sechzig Prozent Umleitung? Auszüge von KomKosten:
Sie überflog rasch die Meldung von Windsang. Die Gasbeutel waren so aufgeblasen wie eh und je, doch ihr Angebot, Relais zu ersetzen, war wahrscheinlich ernst gemeint. Just dergleichen hatte Grondr befürchtet.
»… Der ALTE verlangte immer mehr und mehr. Als wir schließlich erkannten, was los war, und ihm entgegneten… Nun ja, wir waren nahe daran, ihm Gewalt anzudrohen. Wir haben wirklich die Mittel, sein abgesandtes Schiff zu zerstören. Nicht abzusehen, worin seine Rache hätte bestehen können, aber wir sagten dem ALTEN, dass seine Forderungen schon jetzt im Begriff waren, uns zu vernichten. Den MÄCHTEN sei Dank schien er nur belustigt zu sein; er zog sich zurück. Er beschränkt sich jetzt auf einen einzelnen Transceiver, und der ist mit der Suche nach einem Signal befasst, womit wir nichts zu tun haben.«
Hmm. Ein Rätsel wäre gelöst. Der ALTE musste in der Wandergesellschaft herumgeschnüffelt und die Geschichte der Skrodfahrer mitgehört haben. »Vielleicht kommt dann alles ins Lot. Aber es ist wichtig, ebenso hart zu bleiben, wenn der ALTE noch einmal versucht, uns zu missbrauchen.« Die Worte waren schon heraus, ehe sie sich überlegte, wem sie da eigentlich Ratschläge erteilte.
Grondr schien es nicht zu beachten. Zumindest war er es, der sich beeilte, ihr beizupflichten. »Ja, ja. Ich kann Ihnen sagen, wenn der ALTE ein gewöhnlicher Kunde wäre, würden wir ihn wegen dieses Betrugs für immer auf die schwarze Liste setzen… Aber wenn er gewöhnlich wäre, hätte er uns nie hereinlegen können.«
Grondr fuhr sich mit weißen Wurstfingern übers Gesicht. »Kein gewöhnlicher Jenseiter hätte unsere Aufzeichnungen über die Baggerexpedition verändern können. Nicht einmal jemand von der Obergrenze hätte in die Müllhalde einbrechen und die Überbleibsel manipulieren können, ohne dass wir es überhaupt merkten.«
Bagger? Überbleibsel? Es dämmerte Ravna, dass sie und Grondr von verschiedenen Dingen sprachen. »Was hat denn der ALTE eigentlich getan?«
»Die Einzelheiten? Wir wissen inzwischen ziemlich gut darüber Bescheid. Seit dem Untergang von Straum hat sich der ALTE sehr für Menschen interessiert. Leider standen hier keine Freiwilligen zur Verfügung. Er begann uns zu manipulieren, indem er unsere Aufzeichnungen über die Müllhalde umschrieb. Wir haben eine saubere Aufzeichnung von einem Filialbüro restauriert: Der Bagger ist wirklich dem Wrack eines Menschenschiffs begegnet, es gab menschliche Körperteile darin — aber nichts, was wir hätten wiederbeleben können. Der ALTE muss das, was er dort vorgefunden hat, zusammengesetzt und angepasst haben. Vielleicht hat er Erinnerungen hergestellt, indem er von Daten über menschliche Kultur extrapolierte. Im Nachhinein können wir seine ersten Anforderungen mit seinem Eindringen in unsere Müllhalde in Zusammenhang bringen.«
Grondr rasselte weiter, doch Ravna hörte nicht hin. Ihre Augen starrten blicklos durch den Bildschirm hindurch. Wir sind kleine Fische in der Tiefe, durch die Entfernung geschützt vor den Fischern da oben. Doch selbst wenn sie hier unten nicht leben können, haben die schlauen Fischersleute immer noch ihre Verlockungen und tödlichen Tricks. Und Pham… »Pham Nuwen ist also nur ein Roboter«, sagte sie leise.
»Nicht ganz. Er ist ein Mensch, und mit seinen gefälschten Erinnerungen kann er autonom operieren. Doch wenn der ALTE volle Bandbreite kauft, ist das Geschöpf voll und ganz ein ferngesteuerter Abgesandter Apparat.« Hand und Auge einer MACHT.
Grondrs Mundpartien klickten in demütiger Verlegenheit. »Ravna, wir wissen nicht, was vergangene Nacht alles geschehen ist; es gab keinen Grund, Sie unter strikter Beobachtung zu halten. Doch der ALTE versichert uns, dass sein Bedarf an direkter Untersuchung erledigt sei. Jedenfalls werden wir ihm nie wieder genug Bandbreite geben, dass er es abermals versuchen kann.«
Ravna nickte kaum. Ihr Gesicht fühlte sich auf einmal kalt an. Nie zuvor hatte sie solche Wut und solche Furcht gleichzeitig verspürt. Sie stand da in einer Welle von Benommenheit und ging vom Telefon weg, ignorierte Grondrs besorgte Rufe. Die Geschichten aus der Schule taumelten ihr durch den Sinn, dazu die Mythen von einem Dutzend Religionen. Konsequenzen, Konsequenzen. Vor manchen konnte sie sich schützen, bei anderen war nichts mehr zu machen.
Und irgendwo aus einem entlegenen Winkel ihres Denkens kroch ein verrückter Gedanke unter dem Entsetzen und der Wut hervor. Acht Stunden lang hatte sie einer MACHT von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden. Das war ein Erlebnis von der Art, der ein Kapitel in Lehrbüchern gewidmet wurde, so etwas, wie es immer weit weg geschah und falsch berichtet wurde. Und es war etwas, das niemand in ganzen Gebiet von Sjandra Kei auch nur annähernd für sich in Anspruch nehmen konnte. Bis jetzt.
Johanna war lange Zeit in dem Boot. Die Sonne ging nie unter, obwohl sie bald tief hinter ihr stand, bald hoch vor ihr; jetzt war alles bewölkt, und Regen spritzte von dem Öltuch über ihren Decken. Sie verbrachte die Stunden in einem bedrückenden Dämmerzustand. Dinge geschahen, die nur Träume sein konnten. Da waren Kreaturen, die an ihrer Kleidung zerrten, überall klebte Blut. Sanfte Hände und Rattenschnauzen verbanden ihre Wunden und flößten ihr kühles Wasser ein. Wenn sie sich herumwarf, richtete Mutti ihre Laken und tröstete sie mit den sonderbarsten Lauten. Stundenlang lag jemand Warmes neben ihr. Manchmal war es Jefri, öfter war es ein großer Hund, ein Hund, der schnurrte.
Der Regen hörte auf. Die Sonne stand links vom Boot, aber hinter einem kalten, knatternden Schatten verborgen. Nach und nach konnte sie den Schmerz unterscheiden. Ein Teil davon war in ihrer Brust und in der Schulter, er durchfuhr sie, wann immer das Boot schwankte. Der andere Teil war in ihren Eingeweiden, eine Leere, die nicht einfach Übelkeit war… sie hatte solchen Hunger, solchen Durst.
Immer mehr erinnerte sie sich, statt zu träumen. Es gab Albträume, die nicht weichen wollten. Sie waren wirklich geschehen. Sie geschahen jetzt.
Die Sonne schaute bald aus dem Gewirr von Wolken hervor, bald verschwand sie dahinter. Sie glitt langsam tiefer über den Himmel, bis sie fast hinter dem Boot stand. Johanna versuchte sich zu erinnern, was Vati gesagt hatte, kurz bevor… alles schlimm wurde. Sie waren in der Arktis dieses Planeten, im Sommer. Also musste der tiefste Punkt der Sonnenbahn im Norden sein, und ihr Doppelrumpfboot segelte ungefähr südwärts. Wohin sie auch fuhren, sie entfernten sich mit jeder Minute weiter vom Raumschiff und von jeder Hoffnung, Jefri zu finden.
Manchmal war das Wasser wie offene See, wenn die Berge fern oder in tiefhängenden Wolken verborgen waren. Manchmal fuhren sie durch Meerengen, nahe an nackten Felswänden vorbei. Sie hatte nicht geahnt, dass ein Segelboot so schnell fahren oder so gefährlich sein könnte. Vier von den Rattenwesen arbeiteten verzweifelt, um sie von den Felsen fernzuhalten. Sie sprangen flink von der Mastplattform zur Reling, manchmal stellte sich einer auf des anderen Schultern, um ihre Reichweite zu vergrößern. Das doppelrümpfige Boot neigte sich und ächzte in dem plötzlich aufgewühlten Wasser. Dann waren sie hindurch, die Berge wichen in friedliche Entfernung zurück und glitten langsam nach hinten.
Eine Zeit lang täuschte sie ein Delirium vor. Sie stöhnte, sie wand sich. Sie beobachtete. Die Bootsrümpfe waren lang und schmal, fast wie Kanus. Der Segelmast war zwischen ihnen aufgerichtet. Der Schatten in ihren Träumen war das Segel gewesen, das im kalten, klaren Wind knatterte. Der Himmel war eine Lawine von Grautönen, hell und dunkel. Es gab Vögel dort oben. Sie stießen hinter dem Mast herab, umkreisten ihn wieder und wieder. Ein Zwitschern und Zischen war rings um sie. Doch das Geräusch kam nicht von den Vögeln.
Es waren die Monster. Sie beobachtete sie unter gesenkten Lidern hervor. Sie waren von derselben Art, die Mutti und Vati umgebracht hatten. Sie trugen sogar die gleiche komische Kleidung, graugrüne Jacken mit Steigbügeln und Taschen. Hunde oder Wölfe, hatte sie zuvor gedacht. Das war nicht die richtige Beschreibung. Gewiss, sie hatten vier schlanke Beine und spitze kleine Ohren. Aber mit ihren langen Hälsen und den gelegentlich rötlichen Augen konnten sie ebenso gut große Ratten sein.
Und je länger sie sie beobachtete, um so schrecklicher erschienen sie ihr. Ein unbewegliches Bild konnte diesen Schrecken niemals wiedergeben, man musste sie in Aktion sehen. Sie schaute zu, wie vier von ihnen — die auf ihrer Seite des Bootes — mit ihrem Datio spielten. Der Rosa Olifant war in einem Netzbeutel im Heckteil des Bootes befestigt. Jetzt wollten die Bestien ihn sich näher anschauen. Zuerst sah es wie eine Zirkusnummer aus, wie die Köpfe der Wesen hin und her schnellten. Doch jede Bewegung war so präzise, so abgestimmt auf alle anderen. Sie hatten keine Hände, aber sie konnten Knoten lösen, indem jeder ein Stück Tau im Maul hielt und sie ihre Hälse um die der anderen schlangen. Gleichzeitig presste einer mit den Krallen das lose Netz fest gegen die Reling. Es war, als betrachtete sie Puppen, die als Gruppe ferngesteuert wurden.
Es dauerte nur Sekunden, und sie hatten das Datio aus dem Beutel geholt. Hunde hätten es auf den Boden des Rumpfes gleiten lassen und dann mit ihren Nasen herumgeschoben. Nicht so diese Wesen: Zwei legten es auf eine Querbank, während ein dritter es mit der Pfote festhielt. Sie stocherten an den Rändern herum, vor allem an den Plüschseiten und den Schlappohren. Sie drückten und schnüffelten, doch mit klar erkennbarem Zweck. Sie versuchten es zu öffnen.
Zwei Köpfe tauchten über der Reling des anderen Rumpfes auf. Sie machten die kollernden, zischenden Laute, die eine Mischung aus einem Vogelruf und dem Geräusch waren, wenn sich jemand übergibt. Einer von denen auf ihrer Seite blickte zurück und stieß ähnliche Laute aus. Die drei anderen spielten weiter an den Verschlüssen des Datios.
Schließlich zogen sie gleichzeitig an den großen Schlappohren: das Datio klappte auf, und das obere Fenster begann mit Johannas Startroutine — einer Abbildung von ihr selbst, die sagte: »Schäm dich, Jefri. Lass meine Sachen in Ruhe!« Die vier Kreaturen erstarrten mit plötzlich weit aufgerissenen Augen.
Johannas vier drehten das Gerät so, dass die anderen es sehen konnten. Einer hielt es fest, während ein anderer auf das obere Fenster schaute und ein dritter sich am Tastenfenster zu schaffen machte. Die Kerle in dem anderen Rumpf wurden fast wahnsinnig, aber keiner von ihnen versuchte näher zu kommen. Das zufällige Herumtasten der vier beendete ihre Startgrüße abrupt. Einer von ihnen schaute zu den Kerlen im anderen Rumpf hinüber, zwei weitere beobachteten Johanna. Sie blieb mit beinahe geschlossenen Augen liegen.
»Schäm dich, Jefri. Lass meine Sachen in Ruhe!« Wieder erklang Johannas Stimme, doch sie kam von einem der Tiere. Es war eine perfekte Wiedergabe. Dann stöhnte eine Mädchenstimme und rief: »Mutti, Vati.« Es war wieder ihre eigene Stimme, aber verängstigter und kindlicher, als ihr lieb war.
Sie schien auf eine Antwort des Datios zu warten. Als nichts geschah, begann einer von ihnen wieder, mit seiner Nase gegen die Fenster zu drücken. Alles von Wert und alle gefährlichen Programme waren mit Passwörtern geschützt. Beleidigungen und Protestgekreisch drangen aus dem Kasten, all die kleinen Überraschungen, die sie für ihren herumschnüffelnden kleinen Bruder eingebaut hatte. O Jefri, werde ich dich jemals wiedersehen?
Die Klänge und Bilder belustigten die Monster ein paar Minuten lang. Schließlich überzeugten ihre willkürlichen Tastendrücke das Datio davon, dass jemand wirklich Junges den Kasten geöffnet hatte, und es schaltete sich in den Kindermodus.
Die Kreaturen wussten, dass sie zusah. Von den vier, die sich an ihrem Olifanten zu schaffen machten, beobachtete sie immer einer — nicht unbedingt derselbe. Sie spielten mit ihr, indem sie so taten, als wüssten sie nicht, dass sie sich verstellte.
Johanna öffnete die Augen weit und starrte die Kreatur an. »Verdammt!« Sie schaute in die andere Richtung. Und schrie. Die Meute im anderen Rumpf stand auf einem Haufen. Ihre Köpfe ragten auf gekrümmten Hälsen aus der Ansammlung von Körpern hervor. Im Licht der tiefstehenden Sonne glitzerten ihre Augen rot: ein Rudel Ratten oder Schlangen, das sie still anstarrte, wer weiß wie lange schon.
Die Köpfe beugten sich auf ihren Schrei hin vor, und sie hörte ihn wieder. Hinter ihr rief ihre eigene Stimme »Verdammt!« Irgendwo anders rief sie nach ›Mutti‹ und ›Vati‹ . Wieder schrie Johanna, und sie gaben einfach das Echo zurück. Sie unterdrückte ihr Entsetzen und blieb still. Die Monster machten noch eine halbe Minute lang weiter mit dem Nachäffen, dem Vermischen von Dingen, die sie im Schlaf gesagt haben musste. Als sie sahen, dass sie sie damit nicht mehr ängstigen konnten, hörten die Stimmen auf, menschlich zu sein. Das Kollern ging hin und her, als ob zwei Gruppen etwas aushandelten. Schließlich schlossen die vier auf ihrer Seite das Datio und steckten es in den Netzbeutel.
Die sechs entwirrten sich. Drei sprangen an die Außenseite des Rumpfes. Sie packten den Rand fest mit den Zähnen und lehnten sich in den Wind. Jetzt sahen sie einmal fast wie Hunde aus — große Hunde, die an einem Autofenster saßen und in den Luftzug schnüffelten. Die langen Hälse schwangen vor und zurück. Alle paar Sekunden tauchte einer den Kopf außer Sicht, ins Wasser. Tranken sie? Fingen sie Fische?
Sie fischten. Ein Kopf schnellte hoch und schleuderte etwas Kleines und Grünes ins Boot. Die drei anderen Tiere schnüffelten herum und packten es. Flüchtig sah sie winzige Beine und einen glänzenden Rückenpanzer. Eine von den Ratten hielt es in der Spitze des Mauls, während die beiden anderen es zerrissen. Alles geschah mit jener unheimlichen Präzision. Das Rudel wirkte wie ein einziges Wesen und jeder Hals wie ein schwerer Fangarm, der in einem Paar Kiefer endete. Der Magen drehte sich ihr bei dem Gedanken um, doch da war nichts, was sie hätte erbrechen können.
Das Fischen dauerte noch eine Viertelstunde. Sie hatten mindestens sieben von den grünen Dingern erwischt. Aber sie fraßen sie nicht, jedenfalls nicht alle. Die zerteilten Reste sammelten sich in einer kleinen Holzschüssel.
Weiteres Kollern zwischen den beiden Seiten. Einer von den sechs packte den Schüsselrand mit seinem Maul und kroch über die Mastplattform. Die vier auf Johannas Seite drängten sich zusammen, als fürchteten sie sich vor dem Besucher. Erst als die Schüssel auf dem Boden stand und der Eindringling auf seine Seite zurückgekehrt war, reckten die vier in Johannas Schiffsrumpf wieder die Köpfe empor.
Eine der Ratten nahm die Schüssel auf. Dieser und ein anderer kamen auf sie zu. Johanna schluckte. Was für eine Folter war das? Ihr Magen krampfte sich wieder zusammen… sie hatte solchen Hunger. Sie schaute abermals auf die Schüssel und begriff, dass sie sie zu füttern versuchten.
Die Sonne war gerade unter Wolken im Norden hervorgekommen. Das flach fallende Licht war wie ein sonniger Herbstnachmittag, kurz nach dem Regen: dunkler Himmel oben, aber alles in der Nähe war hell und glänzte. Die Kreaturen hatten dichtes Fell, wie Plüsch. Einer hielt die Schüssel zu ihr hin, während der andere seine Schnauze hineinsteckte und… etwas Glitschiges und Grünes herauszog. Sie hielt das kleine Stück vorsichtig, nur mit der Spitze ihres langen Mauls. Sie drehte sich herum und warf Johanna das grüne Ding zu.
Johanna schreckte zurück. »Nein!«
Die Kreatur hielt inne. Einen Augenblick lang glaubte Johanna, sie würde das Echo zurückgeben. Dann ließ sie das Stück zurück in die Schüssel fallen. Das erste Tier stellte sie auf die Bank neben ihr. Es schaute für einen Moment zu ihr auf, dann ließ es den maulbreiten Ring am Rande der Schüssel los. Sie erhaschte einen Blick auf schmale, spitze Zähne.
Johanna starrte in die Schüssel, Übelkeit kämpfte mit Hunger. Schließlich brachte sie eine Hand unter ihrer Decke hervor und langte in die Schüssel. Köpfe erhoben sich rings um sie, und kollernde Kommentare wurden zwischen den beiden Seiten des Bootes ausgetauscht.
Ihre Finger schlossen sich um etwas Weiches und Kaltes. Sie hob es ins Sonnenlicht. Der Körper war graugrün, seine Seiten glänzten im Licht. Die Kerle im anderen Rumpf hatten die kleinen Beine ausgerissen und den Kopf abgetrennt. Was übrig blieb, war nur zwei oder drei Zentimeter lang. Es sah aus wie Filet von Meeresfrüchten. Einst hatten sie solche Speisen gern gegessen. Doch die waren gekocht gewesen. Beinahe ließ sie das Ding fallen, als sie fühlte, wie es in ihrer Hand zitterte.
Sie brachte es nahe an den Mund, berührte es mit der Zunge. Salzig. Auf Straum würden einen die meisten Meeresfrüchte sehr krank machen, wenn man sie roh aß. Wie sollte sie es wissen, ganz allein ohne Eltern oder ein lokales Kom-Netz? Sie fühlte Tränen aufsteigen. Sie sagte ein schmutziges Wort, stopfte sich das grüne Ding in den Mund und versuchte zu kauen. Fade, mit der Konsistenz von Nierenfett und Knorpel. Sie würgte, spuckte es aus… und versuchte ein anderes zu essen. Alles in allem brachte sie Teile von zweien hinunter. Vielleicht war es so am besten; sie würde abwarten und sehen, wie viel davon wieder hoch kam. Sie lehnte sich zurück und sah, wie Augenpaare sie betrachteten. Das Kollern mit der anderen Seite des Bootes nahm wieder zu. Dann kam einer von ihnen auf sie zu und brachte einen Ledersack mit einem Verschlussstopfen. Eine Feldflasche.
Die Kreatur war die größte von allen. Der Anführer? Er brachte seinen Kopf nahe an ihren und den Hals der Flasche an ihren Mund. Der Große schien scheu zu sein, vorsichtiger als die anderen, wenn er ihr nahe kam. Johannas Augen wanderten seine Flanken entlang nach hinten. Hinter dem Rand der Jacke war das Fell seines Hinterteils größtenteils weiß… und tief von einer Y-förmigen Narbe durchzogen. Dieser hatte Vati umgebracht.
Johannas Angriff war nicht geplant, vielleicht klappte er gerade deshalb so gut. Sie warf sich an der Feldflasche vorbei und schlang ihren freien Arm um den Hals des Wesens. Sie wälzte sich über das Tier und drückte es gegen den Bootsrumpf. Allein war es kleiner als sie und nicht stark genug, um sie abzuschütteln. Sie fühlte seine Krallen durch die Decken reichen, ohne sie indes zu verletzen. Sie legte ihr ganzes Gewicht auf das Rückgrat des Wesens, krallte sich fest, wo Kehle und Kiefer aufeinandertrafen, und begann seinen Kopf gegen das Holz zu schlagen.
Dann waren die anderen über ihr, Schnauzen, die unter sie fuhren, Kiefer, die ihren Ärmel packten. Sie fühlte Reihen von Zähnen gerade knapp durch den Stoff stechen. Ihre Körper surrten mit einem Klang aus ihren Träumen, einem Klang, der direkt durch ihre Kleidung drang und ihre Knochen erzittern ließ.
Sie zerrten ihre Hand von der Gurgel des anderen weg und drehten sie herum, sie fühlte, wie die Pfeilspitze innerlich an ihr riss. Doch eines konnte sie noch tun: Johanna stieß sich mit den Füßen ab, rammte ihren Kopf gegen den Kieferansatz des anderen und schmetterte so die Oberseite seines Kopfes gegen den Bootsrumpf. Die Körper rings um sie krampften sich zusammen, und sie wurde auf den Rücken geschleudert. Schmerz war das Einzige, was sie jetzt fühlen konnte. Weder Wut noch Angst konnten sie bewegen.
Dennoch nahm ein Teil von ihr die vier noch wahr. Sie hatte ihnen wehgetan. Sie hatten ihnen allen wehgetan. Drei taumelten umher und stießen pfeifende Laute aus, die diesmal aus ihren Mäulern zu kommen schienen. Der mit der Narbe am Hintern lag zuckend auf der Seite. Sie hatte eine sternförmige Wunde oben in seinen Kopf geschlagen. Blut tropfte an seinen Augen vorbei, rote Tränen.
Minuten verstrichen, und das Pfeifen hörte auf. Die vier Kreaturen drängten sich zusammen, und das vertraute Zischen begann wieder. Johannas Brust blutete wieder.
Sie starrten einander eine Zeit lang an. Sie lächelte ihren Feinden entgegen. Sie konnten verletzt werden. Sie fühlte sich besser denn je seit der Landung.
Vor der Flenser-Bewegung war Holzschnitzerheim der berühmteste Stadtstaat westlich der Eisfänge gewesen. Sein Gründer blickte auf sechs Jahrhunderte zurück. In jener Zeit war das Leben im Norden härter gewesen: Schnee hatte den größten Teil des Jahres hindurch sogar die Tiefebenen bedeckt. Der Holzschnitzer hatte allein angefangen, ein einzelnes Rudel in einer kleinen Hütte einer Inlandbucht. Das Rudel war Jäger und Denker ebenso wie Künstler. Im Umkreis von hundert Meilen hatte es keine Siedlung gegeben. Nur ein paar von den frühen Statuen des Schnitzers gelangten je aus seiner Hütte, doch diese Statuen hatten ihm ersten Ruhm eingebracht. Drei davon existierten noch. Es gab eine Stadt an den Langen Seen, die nach der einen Statue in ihrem Museum benannt war.
Mit dem Ruhm waren Schüler gekommen. Aus einer Hütte wurden zehn, verstreut über Holzschnitzers Fjord. Ein, zwei Jahrhunderte vergingen, und natürlich veränderte sich der Holzschnitzer allmählich. Er fürchtete die Veränderung, das Gefühl, dass seine Seele entwich. Er versuchte, sich selbst festzuhalten, fast jeder tut das in dem einen oder anderen Maße. Im schlimmsten Fall verfällt das Rudel in Perversion, wird vielleicht seelenleer. Für Holzschnitzer war die Suche selbst die Veränderung. Er studierte, wie sich jedes Glied in die Seele einfügt. Er studierte Welpen und ihre Aufzucht, und wie man den Beitrag eines Neuen abschätzen konnte. Er lernte die Seele zu formen, indem er die Glieder trainierte.
Natürlich war wenig davon neu. Es war die Grundlage der meisten Religionen, und jede Stadt hatte Liebesberater und Züchter. Solches Wissen, mag es den Tatsachen entsprechen oder nicht, ist in jeder Kultur wichtig. Holzschnitzer tat weiter nichts, als alles aus neuem Blickwinkel zu betrachten, ohne die traditionellen Vorurteile. Sanft experimentierte er an sich selbst und den anderen Künstlern in seiner kleinen Kolonie. Er beobachtete die Ergebnisse und benutzte sie zur Planung neuer Experimente. Er ließ sich eher von dem leiten, was er sah, als von dem, was er glauben wollte.
Nach den verschiedenen Normen seines Zeitalters war das, was er tat, Ketzerei oder Perversion oder einfach Wahnsinn. In den frühen Jahren wurde König Holzschnitzer fast ebenso gehasst, wie Flenser drei Jahrhunderte später. Aber der hohe Norden machte noch eine Periode harter Winter durch. Die Nationen des Südens konnten nicht ohne weiteres Armeen bis zu Holzschnitzer schicken. Und als sie es doch einmal taten, brachte er ihnen eine gründliche Niederlage bei. Und Holzschnitzer war weise genug, dass er niemals versuchte, den Süden zu unterwandern, zumindest nicht direkt. Doch seine Siedlung wuchs und wuchs, und der gute Ruf ihrer Kunst und ihrer Möbel verblasste vor ihrem Ruhm auf anderen Gebieten. Wer sich alt fühlte, reiste nach der Stadt und kam nicht gerade jünger, doch klüger und glücklicher zurück. Ideen strahlten von der Stadt aus: Webmaschinen, Zahnradgetriebe und Windmühlen, Fabrikanordnungen. Etwas Neues war an diesem Ort geschehen. Es waren nicht die Erfindungen. Es waren die Leute, denen Holzschnitzer zum Dasein verholten, und die Perspektive, die er geschaffen hatte.
Wickwracknarb und Yaqueramaphan erreichten Holzschnitzerheim am späten Nachmittag. Es hatte den größten Teil des Tages über geregnet, doch nun hatten sich die Wolken verzogen, und der Himmel war von jenem wolkenlosen Blau, das nach einer Reihe trüber Tage besonders schön ist.
Wanderer erschien Holzschnitzers Domäne wie ein Paradies. Er war die rudellose Wildnis müde. Er war es müde, sich um das Fremde zu sorgen.
Doppelrumpfboote eskortierten sie misstrauisch auf den letzten paar Meilen. Die Boote waren bewaffnet, und Wanderer und Schreiber kamen aus einer ganz falschen Richtung. Aber sie waren allein, offensichtlich harmlos. Langrufer tuteten und gaben ihre Geschichte voraus weiter. Als sie den Hafen erreichten, waren sie Helden, zwei Rudel, die den Schurken des Nordens einen nicht näher bezeichneten Schatz gestohlen hatten. Sie segelten um den Wellenbrecher, der bei Wanderers letztem Besuch noch nicht dagewesen war, und machten am Anlegeplatz fest.
Die Pier wimmelte von Soldaten und Wagen. Stadtvolk stand den ganzen Weg entlang, der hinauf zu den Stadtmauern führte.
Es kam einer Meutensituation so nahe, wie es nur ging, solange man noch nüchtern denken konnte. Schreiber sprang aus dem Boot und stolzierte herum, sichtlich erfreut über die Hochrufe von der Anhöhe. »Schnell! Wir müssen mit dem Holzschnitzer sprechen.«
Wickwracknarb nahm den Leinenbeutel, der den Bilderkasten des Fremden enthielt, und stieg vorsichtig aus dem Boot. Ihm war schwindlig von den Schlägen des Fremdwesens. Narbs Stirntrommelfell war bei dem Angriff gerissen. Für einen Augenblick verlor er sein Selbst. Die Pier war sehr seltsam — auf den ersten Blick von Stein, aber mit einem elastischen schwarzen Material verbunden, das er seit den Südmeeren nicht mehr gesehen hatte; hier im Norden hätte es spröder sein müssen… Wo bin ich? Ich sollte mich über etwas freuen, einen Sieg. Er hielt inne, um sich wieder zu sammeln. Nach einem Moment wurden sowohl der Schmerz als auch seine Gedanken schärfer; so würde es nun tagelang sein, mindestens. Hilfe für das Fremdwesen holen. Es an Land bringen.
König Holzschnitzers Reichskämmerer war ein größtenteils übergewichtiger Geck, Wanderer hätte nicht erwartet, so etwas in Holzschnitzerheim zu sehen. Doch der Bursche wurde sofort hilfsbereit, als er das Fremdwesen sah. Er ließ einen Arzt herabkommen, um nach dem Zweibeiner zu sehen — und bei der Gelegenheit auch nach Wanderer. Das Fremde hatte in den letzten beiden Tagen an Kraft gewonnen, es war aber nicht mehr zu Gewalttaten gekommen. Sie brachten es ohne größere Mühe an Land. Es starrte Wanderer aus seinem flachen Gesicht heraus an, ein Blick, in dem er ohnmächtige Wut erkannte. Er berührte Narbs Kopf nachdenklich… der Zweibeiner wartete nur auf die beste Gelegenheit, noch mehr Schaden anzurichten.
Minuten später befanden sich die Reisenden in Cherhog-Wagen und fuhren über das Kopfsteinpflaster der Straße hinauf zu den Stadtmauern. Soldaten bahnten den Weg durch die Menge. Schreiber Yaqueramaphan winkte hierhin und dahin, ganz der noble Held. Wanderer kannte mittlerweile die scheue Unsicherheit, die in Schreiber verborgen war. Das mochte der Höhepunkt seines ganzen bisherigen Lebens sein.
Selbst wenn er es gewollt hätte, konnte sich Wickwracknarb nicht so verausgaben. Da eins von Narbs Trommelfellen verletzt war, ließen ausholende Gesten den Gang seiner Gedanken stocken. Er hockte sich auf die Wagenbänke und hielt nach allen Seiten Ausschau:
Abgesehen vom äußeren Hafen, glich der Ort überhaupt nicht dem, woran er sich von seinem Besuch vor fünfzig Jahren erinnerte. Ein Pilger, der nach solch einem Zeitraum zurückkehrte, konnte es sogar langweilig finden, wenn sich kaum etwas verändert hatte. Das aber — es war fast unheimlich.
Der große Wellenbrecher war neu. Es gab doppelt so viele Piers, und Multiboote mit Flaggen, die er auf dieser Seite der Welt niemals gesehen hatte. Die Straße war schon dagewesen, aber schmal, und es waren nur ein Drittel so viel Nebenstraßen abgegangen. Die Stadtmauern hatten damals eher dazu gedient, die Cherhogs und Froschhennen in der Stadt zu halten, als Feinde draußen. Nun waren die Mauern zehn Fuß hoch, schwarzer Stein, der sich hinzog, soweit Wanderer sehen konnte… Und letztes Mal hatte es kaum Soldaten gegeben, jetzt waren sie überall. Das war keine gute Veränderung. Er fühlte, wie Narbs Magen schwerer wurde; Soldaten und Kämpfe waren nicht gut.
Sie fuhren durch die Stadttore und an einem Marktlabyrinth vorbei, das sich über Morgen weit erstreckte. Die Nebenstraßen waren nur fünfzig Fuß breit, und enger, wo Tuchballen, Möbelstände und Kisten mit frischem Obst vorstanden. Gerüche von Früchten und Gewürzen und Lack hingen in der Luft. Der Ort war so überfüllt, dass das Feilschen beinahe zur Orgie wurde und der benommene Wanderer um ein Haar das Bewusstsein verloren hätte. Dann waren sie in einer engen Straße, die im Zickzack durch Reihen von teilweise aus Fachwerk errichteten Gebäuden lief. Hinter den Dächern ragten schwere Befestigungen auf. Zehn Minuten später befanden sie sich im Hof der Burg.
Sie stiegen von den Wagen, und der Reichskämmerer ließ den Zweibeiner auf eine Trage legen.
»Holzschnitzer — wird er uns jetzt empfangen?«, fragte Schreiber.
Der Bürokrat lachte. »Sie. Holzschnitzerin hat ihr Geschlecht vor mehr als zehn Jahren gewechselt.«
Wanderers Köpfe fuhren überrascht herum. Was hatte das zu bedeuten? Die meisten Rudel verändern sich mit der Zeit, doch er hatte von Holzschnitzer nie anders als von ›ihm‹ gehört. Beinahe verpasste er, was der Reichskämmerer als Nächstes sagte.
»Noch besser. Ihr ganzer Rat muss sehen…, was ihr gebracht habt. Kommt herein.« Er scheuchte die Wachen beiseite.
Sie durchquerten einen Vorsaal, fast breit genug, dass zwei Rudel nebeneinander gehen konnten. Der Kämmerer ging voran, gefolgt von den Reisenden und dem Arzt mit der Trage des Fremden. Die Wände waren hoch, mit silberdurchwirktem Steppstoff gepolstert. Es war weitaus großartiger als damals… und abermals beunruhigend. Es gab kaum Statuen, abgesehen von ein paar, die aus früheren Jahrhunderten stammten.
Aber es gab Bilder. Er stockte, als er die ersten erblickte, und hörte hinter sich Schreiber nach Luft schnappen. Wanderer hatte Kunst in aller Welt gesehen: Die Meuten in den Tropen bevorzugten abstrakte Wandmalereien, Kleckse von irrsinnigen Farben. Die Inselbewohner der Südmeere hatten nie die Perspektive entdeckt, auf ihren Aquarellen rutschten entfernte Objekte einfach in die obere Hälfte des Bildes. In der Langseen-Republik waren repräsentative Stile gegenwärtig in Mode, vor allem Polyptychen, die den Seheindruck eines ganzen Rudels vermittelten.
Aber so etwas wie dies hier hatte Wanderer nie zu Gesicht bekommen. Die Bilder waren Mosaiken, jedes Element ein Keramikquadrat von etwa einem Zoll Seitenlänge. Es gab keine Farbe, nur vier Grautöne. Aus ein paar Fuß Entfernung verlor sich das Grau, und… es waren die vollkommensten Landschaften, die Wanderer je gesehen hatte. Alle zeigten Blicke von Bergen rings um Holzschnitzerheim. Abgesehen vom Fehlen der Farben hätten es Fenster sein können. Unten war jedes Bild von einem rechteckigen Rahmen umgeben, aber oben waren sie unregelmäßig, das Mosaik hörte einfach am Horizont auf. Die stoffbespannte Wand des Saals stand da, wo auf den Bildern Himmel hätte sein müssen.
»Also nun, mein Lieber! Ich denke, du wolltest mit Holzschnitzerin sprechen.« Die Bemerkung war an Schreiber gerichtet. Yaqueramaphan war längs der Bilder ausgeschwärmt, den ganzen Saal entlang saß jeder von ihm vor einem anderen Bild. Er wandte einen Kopf, um nach dem Kämmerer zu schauen. Seine Stimme klang wie betäubt. »Seelentod! Es ist, als wäre ich Gott, als hätte ich ein Glied auf jedem Berg und könnte alles gleichzeitig sehen.« Aber er raffte sich auf und beeilte sich, den anderen zu folgen.
Der Vorsaal führte in einen der größten Versammlungsräume in einem Gebäude, die Wanderer je gesehen hatte.
»Größer haben sie es in der Republik auch nicht«, sagte Schreiber mit sichtlicher Bewunderung, während er die drei Reihen von Logen hinaufblickte. Sie standen allein mit dem Fremden unten.
»Hmm.« Außer dem Kämmerer und dem Arzt waren schon fünf weitere Rudel im Raum. Allmählich erschienen noch mehr. Die meisten waren wie Magnaten der Republik gekleidet, ganz in Edelsteinen und Pelz. Einige wenige trugen die einfachen Jacken, an die er sich vom letzten Besuch erinnerte. Schade. Holzschnitzers kleine Siedlung war zu einer Großstadt geworden und nun zu einem Nationalstaat. Wanderer fragte sich, ob der König — die Königin — jetzt noch wirkliche Macht hatte. Er richtete einen Kopf exakt auf Schreiber aus und hochsprach zu ihm: »Sage vorläufig nichts über den Bilderkasten.«
Yaqueramaphan blickte zugleich verwundert und verschwörerisch drein. »Ja… ja. Ein Faustpfand?«
»So ähnlich.« Wanderers Blicke glitten hin und her über die Logen. Die meisten Rudel traten mit einer Pose krampfhaften Dünkels ein. Er lächelte in sich hinein. Ein Blick auf den Boden des Raumes war genug, um ihre Selbstgefälligkeit zu erschüttern. Die Luft über ihm war mit surrenden Gesprächen erfüllt. Keins von den Rudeln sah wie Holzschnitzerin aus. Allerdings dürfte sie nur noch wenige von ihren alten Gliedern haben, er konnte sie nur an ihrer Art und ihrem Verhalten erkennen. Das sollte keine Rolle spielen. Er hatte manche Freundschaften länger bewahrt, als die Lebensdauer jedes einzelnen Gliedes betrug. Aber in anderen Fällen hatte sich der Freund binnen eines Jahrzehnts verändert, hatte andere Ansichten, und aus Zuneigung war Feindseligkeit geworden. Er hatte damit gerechnet, dass Holzschnitzer der Alte wäre. Nun jedoch…
Ein kurzer Trompetenton erklang, fast wie ein Ruf zur Ordnung. Die Breittüren einer unteren Loge glitten auf, und ein Fünfsam erschien. Wanderer fühlte, wie ihn ein Schrecken durchzuckte. Das war wirklich Holzschnitzer, doch so… falsch zusammengesetzt. Ein Glied war so alt, dass die übrigen ihm helfen mussten. Zwei waren kaum mehr als Welpen, und einer davon sabberte andauernd. Das größte Glied hatte blinde weiße Augen. Dergleichen konnte man in einer verkommenen Gegend des Hafenviertels sehen oder in der letzten Generation von Inzucht.
Sie blickte auf Wanderer herab und lächelte beinahe so, als habe sie ihn erkannt. Sprechen ließ sie das blinde Glied. Die Stimme war klar und fest. »Fahr bitte fort, Feilonius.«
Der Kämmerer nickte. »Wie Ihr wünscht, Euer Majestät.« Er deutete nach unten auf das Fremde. »Das ist der Grund für diese eilige Zusammenkunft.«
»Ungeheuer können wir im Zirkus sehen, Feilonius.« Die Stimme kam von einem geckenhaft gekleideten Rudel auf der oberen Galerie. Nach den Rufen von allen Seiten zu urteilen, war es mit dieser Ansicht in der Minderheit. Ein Rudel auf der unteren Galerie sprang übers Geländer und versuchte, den Arzt von der Trage des Fremden zu verscheuchen.
Der Kämmerer hob einen Kopf, bat um Ruhe und blickte hinab zu dem Kerl, der hinuntergesprungen war. »Würdest du dich bitte in Geduld fassen, Scrupilo. Jeder wird eine Gelegenheit erhalten, näher hinzuschauen.«
›Scrupilo‹ stieß ein unzufriedenes Zischen aus, zog sich aber zurück.
»Gut.« Feilonius wandte seine ganze Aufmerksamkeit Wanderer und Schreiber zu. »Euer Boot war schneller als alle Nachrichten aus dem Norden, Freunde. Niemand außer mir weiß viel von eurer Geschichte — und was ich weiß, sind Wachcodes, die über die Bucht getutet wurden. Ihr habt dieses Geschöpf aus dem Himmel herabfliegen sehen?«
Es war eine Einladung, eine Rede zu halten, und Wanderer überließ das Schreiber Yaqueramaphan. Schreiber tat es nur zu gern. Er erzählte die Geschichte von dem fliegenden Haus, von dem Überfall und den Morden und der Rettungsaktion. Er zeigte ihnen sein Augenwerkzeug und erklärte sich für einen Agenten der Langseen-Republik. Aber welcher echte Spion würde das tun? Jedes Rudel des Rates hatte Augen auf den Fremden, manche voll Furcht, manche — wie Scrupilo — wahnsinnig vor Neugier. Holzschnitzerin sah nur mit ein paar Köpfen zu. Der Rest hätte schlafen können. Sie sah so müde aus, wie Wanderer sich fühlte. Er legte seine eigenen Köpfe auf seine Pfoten. Der Schmerz pulsierte in Narb; es wäre leicht gewesen, das Glied schlafen zu lassen, doch dann hätte er sehr wenig von dem verstanden, was gesagt wurde. He! Vielleicht war das gar keine schlechte Idee. Narb dämmerte weg, und der Schmerz ließ nach.
Das Reden dauerte noch ein paar Minuten, ergab aber nicht viel Sinn für das Dreisam, das Wickwrack war. Er verstand jedoch den Tonfall des Gesprächs. Scrupilo — das Rudel unten im Raum — beschwerte sich ein paarmal ungeduldig. Feilonius sagte etwas und stimmte ihm zu. Der Arzt zog sich zurück, und Scrupilo trat an Wickwracks Fremdes heran.
Wanderer zwang sich, ganz wach zu werden. »Sei vorsichtig. Das Geschöpf ist nicht freundlich.«
Scrupilo erwiderte unwillig: »Dein Freund hat mich schon gewarnt.« Er umkreiste die Trage und starrte auf das braune, unbehaarte Gesicht des Fremden. Das Fremde starrte teilnahmslos zurück. Scrupilo langte vorsichtig nach vorn und zog die Decke des Fremden zurück. Immer noch keine Reaktion. »Seht ihr?«, sagte Scrupilo. »Es weiß, dass ich ihm nichts Böses will.« Wanderer sagte nichts, um ihn zu berichtigen.
»Es geht wirklich nur auf diesen Hinterpfoten?«, fragte einer der anderen Ratgeber. »Könnt ihr euch vorstellen, wie es uns überragt? Ein kleiner Schubs würde es umwerfen.« Gelächter. Wanderer erinnerte sich, wie sehr das Fremde einer Gottesanbeterin geähnelt hatte, als es wie ein Pfahl aufrecht stand.
Scrupilo rümpfte eine Nase. »Das Ding ist dreckig.« Er umringte das Fremde, eine Stellung, von der Wanderer wusste, dass sie den Zweibeiner ärgerte. »Dieser Pfeilschaft muss entfernt werden, wisst ihr. Die Blutung ist größtenteils zum Stillstand gekommen, aber wenn dieses Geschöpf lange leben soll, braucht es medizinische Betreuung.« Er schaute verächtlich auf Wanderer und Schreiber, als sei ihnen ein Vorwurf zu machen, dass sie an Bord des Bootes keinen chirurgischen Eingriff vorgenommen hatten. Etwas zog seinen Blick an, und sein Ton veränderte sich schlagartig: »Beim Rudel aller Rudel! Seht euch seine Vorderpfoten an!« Er löste die Stricke um die Vorderbeine des Geschöpfs. »Zwei Pfoten von der Sorte wären so gut wie fünf Paar Lippen. Stellt euch vor, was ein Rudel von solchen Wesen tun könnte!« Er trat nahe an die mit fünf Tentakeln besetzte Pfote heran.
»Sei…«, vorsichtig, wollte Wanderer sagen. Das Fremde ballte die Tentakel plötzlich zu einem Klumpen zusammen. Sein Vorderbein fuhr in einem unmöglichen Winkel heraus und rammte die Pfote gegen Scrupilos Kopf. Der Schlag konnte nicht besonders kräftig gewesen sein, war aber genau auf das Trommelfell gezielt.
»Au! Jau! Wau. Wau.« Scrupilo taumelte zurück.
Das Fremde schrie ebenfalls. Es war alles Mundgeräusch, dünn und in tiefen Tonlagen. Der unheimliche Klang ließ alle Köpfe hochfahren, sogar die von Holzschnitzerin. Wanderer hatte ihn mittlerweile schon viele Male gehört. Er zweifelte nicht daran, dass das die Sprache zwischen den Rudeln der Fremden war. Nach ein paar Sekunden wurde das Geräusch zu einer Art regelmäßigem Husten, das allmählich nachließ.
Eine Zeit lang sprach niemand. Dann stand ein Teil von Holzschnitzerin auf. Sie schaute auf Scrupilo. »Bist du in Ordnung?« Es war das erste Mal, dass sie seit Beginn der Versammlung gesprochen hatte.
Scrupilo leckte seine Stirn. »Ja. Es brennt nur.«
»Deine Neugier wird dich eines Tages noch umbringen.«
Scrupilo schnaufte entrüstet, doch die Prophezeiung schien ihm auch zu schmeicheln.
Königin Holzschnitzerin betrachtete ihre Ratgeber. »Ich sehe hier eine wichtige Frage. Scrupilo glaubt, dass ein einzelnes Glied dieses Fremdwesens so geschickt wie ein ganzes Rudel von uns wäre. Ist es so?« Sie richtete die Frage eher an Wanderer als an Schreiber.
»Ja, Euer Majestät. Wenn diese Stricke in seiner Reichweite zusammengebunden gewesen wären, hätte es sie leicht selber aufknoten können.« Er wusste, wohin das führte, er hatte drei Tage gehabt, um selbst darauf zu kommen. »Und die Geräusche, die es macht, scheinen mir koordinierte Sprache zu sein.«
Stimmengewirr erhob sich, als die anderen die Bedeutung erfassten. Ein sprachbegabtes Glied konnte oft halbverständliche Dinge sagen, doch für gewöhnlich ging das auf Kosten der körperlichen Geschicklichkeit.
»Ja… Ein Geschöpf, das in unserer Welt nicht seinesgleichen hat und dessen Boot hoch vom Himmel herabgeflogen kam. Ich frage mich, was muss so ein Rudel für einen Verstand haben, wenn ein einzelnes Glied fast so klug ist, wie alle Glieder von unsereinem?« Ihr Blinder blickte umher, während er diese Worte sprach, fast, als könnte er sehen. Zwei andere wischten die Schnauze des Sabberers ab. Sie bot keinen begeisternden Anblick.
Scrupilo reckte einen Kopf hoch. »Ich höre keine Spur von Gedankentönen von diesem hier. Es hat kein Stirntrommelfell.« Er zeigte auf die zerrissene Kleidung rings um die Wunde des Geschöpfs. »Und ich sehe kein Anzeichen von Schultertrommelfellen. Vielleicht ist es wirklich als Solo so klug wie ein Rudel…, und vielleicht sind diese Fremden nie anders.« Wanderer lächelte vor sich hin; dieser Scrupilo war eine Nervensäge, aber keiner, der es mit der Tradition hielt. Jahrhundertelang hatten Akademiker den Unterschied zwischen Leuten und Tieren erörtert. Manche Tiere hatten ein größeres Gehirn, manche hatten Pfoten oder Lippen, die geschickter waren als die eines Gliedes. In den Savannen von Osterlee gab es Wesen, die sogar wie Leute aussahen und in Gruppen liefen, aber ohne sonderlich großes Denkvermögen. Wenn man von Wolfsnestern und Walen absah, bildeten nur Leute Rudel. Es war die Koordination des Denkens zwischen den Gliedern, das sie überlegen machte. Scrupilos Theorie war eine Ketzerei.
Yaqueramaphan sagte: »Aber während des Überfalls haben wir Gedankentöne gehört, und zwar laute. Vielleicht ist dieses hier wie unsere Säuglinge, unfähig zu denken…«
»Und dennoch fast so klug wie ein Rudel«, beendete Holzschnitzerin düster den Satz. »Wenn diese Wesen nicht klüger sind als wir, dann könnten wir ihre Mittel und Wege erlernen. Wie großmächtig sie auch sein mögen, wir könnten ihnen früher oder später ebenbürtig werden. Wenn dieses Glied aber nur eins von einem Superrudel ist…« Einen Moment lang war keine Sprache zu hören, nur das gedämpfte unterschwellige Geräusch von den Gedanken der Ratgeber. Wenn die Fremden Superrudel waren und ihr Gesandter ermordet worden war — dann konnten sie vielleicht nichts tun, um sich zu retten.
»Also. Unsere vorrangige Aufgabe muss es sein, dieses Geschöpf zu retten, es zum Freund zu machen und seine wahre Natur in Erfahrung zu bringen.« Ihre Köpfe senkten sich, und sie schien in sich selbst verloren zu sein — oder vielleicht einfach nur müde. Unvermittelt wandte sie ihrem Kämmerer mehrere Köpfe zu. »Schafft das Wesen in die Hütte neben meiner.«
Feilonius fuhr überrascht zusammen. »Gewiss nicht, Euer Majestät! Wir haben gesehen, dass es feindselig ist. Und es braucht medizinische Behandlung.«
Holzschnitzerin lächelte, und ihre Stimme wurde samten. Wanderer kannte diesen Tonfall von früher her »Vergisst du, dass ich mich auf Operationen verstehe? Vergisst du, dass ich… die Holzschnitzerin bin?«
Feilonius leckte sich die Lippen und blickte hin zu den anderen Ratgebern, dann sagte er: »Nein, Euer Majestät. Es soll sein, wir Ihr es wünscht.«
Und Wanderer hätte am liebsten Hurra gerufen. Vielleicht hatte Holzschnitzerin doch noch das Sagen.
Wanderer saß Rücken an Rücken auf den Stufen seiner Wohnung, als Holzschnitzerin ihn tags darauf besuchen kam. Sie kam allein und trug die einfachen grünen Jacken, an die er sich von seinem letzten Besuch erinnerte.
Er verneigte sich nicht, noch ging er ihr entgegen. Sie blickte ihn einen Moment lang kühl an und setzte sich nur ein paar Ellen entfernt hin.
»Wie geht es dem Zweibeiner?«, fragte er.
»Ich habe den Pfeil herausgeholt und die Wunde genäht. Ich glaube, das Geschöpf wird überleben. Meine Ratgeber waren zufrieden: Es verhielt sich nicht wie ein vernünftiges Wesen. Es kämpfte sogar noch, als es festgebunden war, als hätte es keine Vorstellung von Chirurgie… Wie geht es deinem Kopf?«
»Gut, solange ich mich nicht bewege.« Der Rest von ihm — Narb — lag hinter der Türöffnung im dunklen Innern der Hütte. »Das Trommelfell heilt gut zu, denke ich. In ein paar Tagen werde ich wohlauf sein.«
»Gut.« Ein zerstörtes Trommelfell konnte andauernde geistige Schwierigkeiten bedeuten oder ein neues Glied notwendig machen, und dann war es schwer, für das in die Stille geschickte Solo eine Verwendung zu finden. »Ich erinnere mich an dich, Wanderer. Alle Glieder sind andere, aber du bist wirklich der Wanderer von früher. Du hattest ein paar großartige Geschichten zu erzählen. Ich hatte Freude an deinem Besuch.«
»Und mir war es eine Freude, dem großen Holzschnitzer zu begegnen. Aus diesem Grunde bin ich zurückgekehrt.«
Sie legte ironisch einen Kopf schief. »Dem großen Holzschnitzer von einst oder dem Wrack von jetzt?«
Er zuckte mit den Schultern. »Was ist geschehen?«
Sie antwortete nicht sofort. Einen Moment lang saß sie da und blickte über die Stadt. Es war bewölkt diesen Nachmittag, Regen zog auf. Der Wind von See her stach ihm kühl in Lippen und Augen. Holzschnitzerin erzitterte und plusterte ihr Fell auf. Schließlich sagte sie: »Ich habe meine Seele sechshundert Jahre lang beisammengehalten — und das nach Vorderkrallen gerechnet. Ich sollte meinen, es ist offensichtlich, was aus mir geworden ist.«
»Die Perversion hat dich nie zuvor befallen.« Für gewöhnlich war Wanderer nicht so direkt. Etwas an ihr drängte ihn zur Offenheit.
»Ja, ein durchschnittliches Inzucht-Rudel sinkt in ein paar Jahrhunderten auf meinen Zustand herab und wird lange vorher schon ein Idiot. Meine Methoden waren viel klüger. Ich wusste, wen ich mit wem kreuzen musste, welche Welpen ich zu behalten und welche ich fortzugeben hatte. So war es immer mein eigenes Fleisch, das meine Erinnerungen bewahrte, und meine Seele blieb rein. Doch ich wusste nicht genug — oder vielleicht habe ich das Unmögliche versucht. Die Auswahl fiel immer schwerer, bis mir nichts weiter übrig blieb, als mich zwischen geistigen und körperlichen Defekten zu entscheiden.« Sie wischte den Sabber weg, und ihrer alle außer dem Blinden schauten über die Stadt hinweg. »Das sind die besten Tage des Sommers, weißt du. Das Leben ist jetzt ein grüner Wahnsinn, es versucht, das letzte bisschen Wärme aus der Jahreszeit herauszupressen.« Und das Grün schien überall zu sein, wo es nur möglich war: Federlaub die Hügelseite hinab und in der Stadt, Farne auf allen näheren Hügelflanken und Heidekraut, das sich zu den grauen Berggipfeln jenseits der Meerenge hinankämpfte. »Ich liebe diesen Ort.«
Er hätte nie geglaubt, dass er den Holzschnitzer von Holzschnitzerheim trösten würde. »Du hast hier ein Wunder vollbracht. Ich habe davon überall auf der anderen Seite der Welt gehört… Und ich wette, dass die Hälfte aller Rudel hier in der Gegend mit dir verwandt ist.«
»J-ja, ich hatte mehr Erfolg, als es sich der kühnste Lebemann je träumen ließe. Es hat mir nie an Geliebten gemangelt, auch wenn ich die Welpen nicht selbst gebrauchen konnte. Manchmal glaube ich, mein Nachwuchs war mein größtes Experiment. Scrupilo und Feilonius stammen größtenteils von mir ab — aber auch Flenser.«
Huch! Das hatte Wanderer nicht gewusst.
»In den letzten Jahrzehnten hatte ich mehr oder weniger mein Schicksal akzeptiert. Ich konnte die Ewigkeit nicht überlisten, irgendwann bald würde ich meine Seele freigeben. Ich ließ den Rat mehr und mehr Macht übernehmen; wie könnte ich die Herrschaft beanspruchen, wenn ich nicht länger ich selbst wäre? Ich wandte mich wieder der Kunst zu — du hast diese einfarbigen Mosaiken gesehen.«
»Ja! Sie sind schön.«
»Ich werde dir gelegentlich meinen Bilderwebstuhl zeigen. Die Arbeit ist langweilig, geht aber fast von selbst. Es war ein hübsches Vorhaben für die letzten Jahre meiner Seele. Aber jetzt — du und dein Fremdes haben alles verändert. Verdammt! Wenn das doch nur vor hundert Jahren geschehen wäre. Was hätte ich daraus gemacht! Weißt du, wir haben mit deinem ›Bilderkasten‹ herumgespielt. Die Bilder sind feiner als alles auf unserer Welt. Sie ähneln ein wenig unseren Mosaiken — so, wie die Sonne einem Leuchtkäfer ähnelt. Millionen von bunten Punkten machen jedes einzelne Bild aus, die einzelnen Stücke sind so klein, dass man sie nur mit einer von Schreibers Linsen sehen kann. Ich habe jahrelang gearbeitet, um ein paar Dutzend Mosaiken zu machen. Der Bilderkasten kann Tausende und Abertausende erzeugen, so schnell, dass sie sich zu bewegen scheinen. Deine Fremden lassen mein Leben geringer erscheinen, als die ersten Lebenszeichen eines Welpen in seiner Wiege.«
Die Königin von Holzschnitzerheim weinte leise, doch ihre Stimme war zornig. »Und nun wird sich die ganze Welt verändern, aber zu spät für solch einen Trümmerhaufen wie mich!«
Fast ohne bewusste Überlegung streckte Wanderer eins seiner Glieder nach der Holzschnitzerin aus. Er ging unangemessen nahe heran: acht Ellen, fünf. Die Interferenz machte ihre Gedanken plötzlich unscharf, doch er spürte, wie sie ruhiger wurde.
Sie lachte vage. »Danke… Seltsam, dass du es nachfühlen kannst. Das größte Problem meines Lebens ist nichts für einen Pilger.«
»Es tat weh, dich so zu sehen.« Das war alles, was ihm zu sagen einfiel.
»Aber ihr Pilger verändert euch immerzu…« Sie schickte eins von sich nahe an ihn heran, sie berührten sich beinahe, und das Denken fiel noch schwerer.
Wanderer sprach langsam, er konzentrierte sich auf jedes einzelne Wort und hoffte, er würde seinen Gedanken nicht vergessen. »Aber ich bewahre doch etwas von einer Seele. Die Teile, die ein Pilger bleiben, müssen eine bestimmte Lebensauffassung haben.« Manchmal kommen große Erkenntnisse im Lärm der Schlacht oder der Intimität. So war es jetzt. »Und — ich glaube, die Welt selbst ist reif für eine Veränderung, nun, da bei uns Zweibeiner vom Himmel fallen. Welche Zeit könnte besser für die Holzschnitzerin sein, um das Alte aufzugeben?«
Sie lächelte, und die Verwirrung wurde lauter, war aber angenehm. »Ich… hatte es nicht… so gesehen. Jetzt ist die Zeit für Veränderung…«
Wanderer ging mitten in sie hinein. Die beiden Rudel standen für einen Moment da, umhalsten sich, und die Gedanken flossen zu einem süßen Chaos zusammen. Ihre letzte klare Erinnerung war, wie sie die Stufen hinauf in seine Hütte stolperten.
Spät am Nachmittag brachte Holzschnitzerin den Bilderkasten in Scrupilos Laboratorium. Als sie eintraf, waren Scrupilo und Feilonius schon da. Schreiber Yaqueramaphan war ebenfalls zugegen, stand aber weiter von den anderen entfernt, als es die Höflichkeit erfordern mochte. Sie hatte eine Diskussion unterbrochen. Vor ein paar Tagen hätte derlei Gezänk sie nur deprimiert. Nun zog sie ihr Lahmes in den Raum und betrachtete die anderen durch die Augen des Sabberers — und lächelte. Holzschnitzerin fühlte sich so gut wie seit Jahren nicht mehr. Sie hatte ihren Entschluss gefasst und danach gehandelt, und nun lagen neue Abenteuer vor ihr.
Schreibers Mienen hellten sich auf, als sie eintrat. »Habt Ihr Wanderer untersucht? Wie geht es ihm?«
»Er ist in Ordnung, einfach in Ordnung.« Huch, sie brauchte ihnen nicht zu zeigen, wie sehr in Ordnung er wirklich war. »Ich meine, er wird vollständig genesen.«
»Euer Majestät, ich bin Euch und den Ärzten sehr dankbar. Wickwracknarb ist ein gutes Rudel, und ich… ich meine, sogar ein Pilger kann die Glieder nicht alle Tage wechseln wie die Kleidung.«
Holzschnitzerin nickte beiläufig zum Zeichen ihrer Zustimmung. Sie ging in die Mitte des Raumes und legte den Bilderkasten des Fremden dort auf den Tisch. Am ehesten glich es einem großen rosa Kissen — mit Schlappohren und einer sonderbaren Tiergestalt, die auf den Deckel genäht war. Nachdem sie anderthalb Tage lang damit gespielt hatte, verstand sie es ziemlich gut, das Ding zu öffnen. Wie immer erschien das Gesicht des Zweibeiners und machte Mundgeräusche. Wie immer wurde Holzschnitzerin für einen Moment von ehrfürchtiger Bewunderung ergriffen, als sie das bewegliche Mosaik sah. Eine Million bunte ›Einzelteile‹ musste absolut synchron auftauchen und sich bewegen, um die Illusion zu erzeugen. Dennoch geschah es jedesmal auf exakt dieselbe Weise. Sie drehte den Bildschirm, sodass Scrupilo und Feilonius ihn sehen konnten.
Yaqueramaphan schob sich an die anderen heran und reckte ein paar Köpfe, um zu schauen. »Du hältst den Kasten immer noch für ein Tier?«, sagte er zu Feilonius. »Vielleicht solltest du ihm Süßigkeiten zu essen geben, damit er uns seine Geheimnisse verrät, hm?« Holzschnitzerin lächelte in sich hinein. Schreiber war kein Pilger, Pilger hängen zu sehr vom guten Willen ab, als dass sie umhergingen und an die Mächtigen Spitzen austeilten.
Feilonius ignorierte ihn einfach. Alle seine Augen waren auf sie gerichtet. »Euer Majestät, nehmt es mir bitte nicht übel. Ich — wir vom Rat — müssen Euch abermals bitten. Dieser Bilderkasten ist zu wichtig, als dass er in den Mündern eines einzigen Rudels bleiben dürfte, selbst eines so großartigen wie Ihr. Bitte. Überlasst es uns anderen, wenigstens, wenn Ihr schlaft.«
»Ich nehme es nicht übel. Wenn ihr darauf besteht, könnt ihr an meinen Untersuchungen teilnehmen. Weiter werde ich nicht gehen.« Sie blickte ihn unschuldig an. Feilonius war ein hervorragender Spionagechef, ein mittelmäßiger Verwaltungsbeamter und ein inkompetenter Wissenschaftler. Vor einem Jahrhundert hätte sie seinesgleichen zur Feldarbeit hinausgeschickt, wenn er überhaupt geblieben wäre. Vor einem Jahrhundert hatte kein Bedarf an Spionagechefs bestanden, und ein Verwalter war genug gewesen. Nun hatten sich die Dinge geändert. Gedankenverloren schnüffelte sie an dem Bilderkasten; vielleicht würden sich die Dinge abermals ändern.
Scrupilo nahm Schreibers Frage ernst. »Ich sehe drei Möglichkeiten, mein Herr. Erstens, dass er Zauberei ist.« Feilonius zuckte von ihm weg. »Wirklich, der Kasten kann unser Verständnis so weit übersteigen, dass er tatsächlich Zauberei ist. Aber das ist die eine Ketzerei, die Holzschnitzerin niemals akzeptiert hat, also werde ich sie höflicherweise ausschließen.« Er warf Holzschnitzerin ein sardonisches Lächeln zu. »Zweitens, dass er ein Tier ist. Ein paar im Rat dachten das, als Schreiber ihn zum ersten Mal sprechen ließ. Aber er sieht wie ein ausgestopftes Kissen aus, sogar bis hin zu der komischen Gestalt, die auf die Seite gestickt ist. Was wichtiger ist: Er reagiert auf äußere Einflüsse in perfekter Wiederholung. Das ist etwas, das ich kenne. Es ist das Verhalten einer Maschine.«
»Das ist deine dritte Möglichkeit?«, sagte Schreiber. »Aber eine Maschine zu sein, heißt, bewegliche Teile zu haben, und außer den…«
Holzschnitzerin winkte mit einem Schwanz ab. Scrupilo konnte stundenlang so weitermachen, und sie sah, dass Schreiber derselbe Typ war. »Ich sage, lasst uns mehr herausfinden, und dann Spekulationen anstellen.« Sie tippte auf die Ecke des Kastens, genauso, wie es Schreiber bei der ersten Vorführung getan hatte. Das Gesicht des Fremden verschwand aus dem Bild, an seiner Stelle erschien ein verwirrendes Farbmuster. Es gab ein Geprassel von Klängen, dann nur noch das Summen in mittlerer Tonlage, das der Kasten immer machte, wenn er offen war. Sie wussten, dass der Kasten hohe Töne hören und dass er mit dem rechteckigen Belag im unteren Teil fühlen konnte. Doch der Belag war an sich eine Art Bildschirm: bestimmte Befehle veränderten das Gitter von Berührungspunkten zu ganz neuen Mustern. Als sie das zum ersten Mal getan hatten, hatte der Kasten keinerlei weitere Befehle angenommen. Feilonius war sicher gewesen, dass sie ›das kleine Fremde getötet‹ hatten. Doch sie hatten den Kasten geschlossen und wieder geöffnet — und er verhielt sich wie eh und je. Holzschnitzerin war sich fast sicher, dass sie das Ding weder durch Sprechen noch durch Berührung in irgendeiner Weise beschädigen konnten.
Holzschnitzerin probierte abermals die bekannten Signale in der üblichen Reihenfolge. Die Ergebnisse waren sichtbar und identisch mit denen beim letzten Mal. Man brauchte aber nur die Reihenfolge irgendwie zu verändern, und die Wirkung war anders. Sie wusste nicht, ob sie Scrupilo zustimmen sollte: Der Kasten verhielt sich mit der Wiederholbarkeit einer Maschine…, die Vielfalt seiner Reaktionen glich jedoch eher der eines Tieres.
Hinter ihr schoben Schreiber und Scrupilo Glieder vor. Ihre Köpfe waren hoch in die Luft gereckt, angestrengt bemüht, einen klaren Blick auf den Bildschirm zu bekommen. Das Surren ihrer Gedanken kam lauter und lauter. Holzschnitzerin versuchte sich zu erinnern, was sie als Nächstes vorgehabt hatte. Schließlich wurde ihr der Lärm einfach zu viel. »Wollt ihr beiden bitte zurückgehen! Ich kann die eigenen Gedanken nicht mehr hören.« Das ist doch kein Chor.
»Verzeihung… Geht es so?« Sie wichen etwa fünfzehn Fuß zurück. Holzschnitzerin nickte. Die beiden Glieder waren keine zwanzig Fuß voneinander entfernt. Scrupilo und Schreiber mussten wirklich scharf darauf sein, den Bildschirm zu sehen. Feilonius hatte den rechten Abstand und eine Miene wachen Interesses aufrechterhalten.
»Ich habe einen Vorschlag«, sagte Schreiber. Die Anstrengung, sich über Scrupilos Gedanken hinweg zu konzentrieren, machte seine Stimme undeutlich. »Wenn man das Vierdrei-Quadrat berührt und sagt« — er machte die fremden Klänge, sie waren alle leicht nachzuahmen —, »dann zeigt der Schirm eine Ansammlung von Bildern. Sie scheinen den Quadraten zu entsprechen. Ich glaube, wir… wir bekommen eine Auswahl angeboten.«
Hm. »Der Kasten könnte am Ende uns unterweisen.« Wenn das eine Maschine ist, brauchen wir ein paar neue Definitionen. »… Gut, spielen wir damit.«
Drei Stunden vergingen. Zum Schluss war sogar Feilonius ein bisschen näher an den Bildschirm herangerückt, der Lärm im Raum war hart an der Grenze zum vernunftlosen Chaos. Und jeder machte Vorschläge: »Sagt dies«, »drückt dort«, »als er voriges Mal jenes gesagt hat, sind wir so und so vorgegangen«. Es gab verwickelte farbige Muster, hier und da mit etwas, das geschriebene Sprache sein musste. Winzige zweibeinige Gestalten trippelten über den Bildschirm, verschoben Symbole, öffneten kleine Fenster… Schreiber Yaqueramaphans Gedanke war ganz richtig gewesen. Die ersten Bilder waren wirklich eine Auswahl. Doch manche davon führten zu weiteren Auswahlbildern. Die Möglichkeiten verzweigten sich — wie ein Baum, sagte Schreiber. Er hatte nicht völlig Recht: Manchmal kamen sie an einen früheren Punkt zurück, es war ein sinnbildliches Netz von Straßen. Viermal gerieten sie in Sackgassen und mussten den Kasten schließen, um von vorn zu beginnen. Feilonius zeichnete fieberhaft Karten der Pfade. Das würde von Nutzen sein, es gab Stellen, die sie wiedersehen wollen würden. Doch selbst ihm war klar, dass es zahllose andere Pfade gab, Stellen, wohin blindes Probieren niemals führen würde.
Und Holzschnitzerin hätte einen Gutteil ihrer Seele für die Bilder hingegeben, die sie schon gesehen hatte. Es gab Sternenlandschaften. Es gab Monde, die blau und grün schienen, oder gestreift orange. Es gab bewegte Bilder von fremden Städten, von Tausenden von Fremden so nahe beieinander, dass sie sich wirklich berührten. Wenn sie in Rudeln lebten, dann waren diese Rudel größer als alles auf der Welt, sogar in den Tropen… Und vielleicht war die Frage unwesentlich; die Städte überstiegen alles, was sie sich jemals vorgestellt hatte.
Schließlich wich Yaqueramaphan zurück. Er ballte sich zusammen. Es lag ein Zittern in seiner Stimme. »D-da ist ein ganzes Weltall drin. Wir könnten es ewig verfolgen, ohne jemals zu wissen…«
Sie schaute auf die beiden anderen. Dieses eine Mal hatte Feilonius seine Selbstgefälligkeit verloren. Er hatte Tintenspuren an allen Lippen. Die Schreibbänke rings um ihn waren mit Dutzenden von Skizzen übersät, manche deutlicher als andere. Er ließ seine Feder fallen und schnappte nach Luft. »Ich sage, wir nehmen, was wir haben, und studieren es.« Er begann die Skizzen einzusammeln und ordentlich aufzustapeln. »Morgen, wenn wir ausgeschlafen sind, werden wir klare Köpfe haben und…«
Scrupilo ließ sich zurückfallen und dehnte sich. Seine Augen hatten vor Aufregung rote Ränder. »Gut. Aber lass die Skizzen hier, Freund Feilonius.« Er ließ einen Kopf nach den Zeichnungen stoßen. »Seht ihr diese hier und diese? Es ist klar, dass wir bei unserem Herumtappen eine Menge leere Ergebnisse kriegen. Manchmal sperrt uns der Bilderkasten einfach aus, aber öfter bekommen wir dieses Bild: Keine Wahlmöglichkeiten, nur ein paar Fremde, die im Walde tanzen und rhythmische Geräusche machen. Wenn wir… sagen« — er wiederholte einen Teil der Lautfolge —, »erhalten wir dieses Bild mit den Stapeln von Stöcken. Der erste mit einem, der zweite mit zweien, und so weiter.«
Holzschnitzerin sah es auch. »Ja. Und eine Gestalt kommt heraus, zeigt auf jeden von den Stapeln und macht ein kurzes Geräusch bei jedem.« Sie und Scrupilo starrten einander an, und jeder sah dasselbe Leuchten in den Augen des anderen: die Begeisterung, etwas zu begreifen, eine Ordnung zu finden, wo scheinbar nur Chaos gewesen war. Es war hundert Jahre her, seit sie zum letzten Mal so etwas gefühlt hatte. »Was immer dieses Ding ist — es versucht, uns die Sprache der Zweibeiner beizubringen.«
An den folgenden Tagen hatte Johanna Olsndot reichlich Zeit zum Nachdenken. Der Schmerz in Brust und Schulter ließ allmählich nach; wenn sie sich vorsichtig bewegte, war es nur wie eine pulsierende wunde Stelle. Sie hatten den Pfeil herausgenommen und die Wunde vernäht. Sie hatte das Schlimmste befürchtet, als sie sie festgebunden hatten und sie die Messer in ihren Mäulern und den Stahl an ihren Krallen sah. Dann hatten sie zu schneiden begonnen; sie hatte nicht gewusst, dass es so großen Schmerz geben könnte.
Noch immer erschauderte sie bei der Erinnerung an die Qual. Aber sie hatte keine Alpträume darüber, wie über…
Mutti und Vati waren tot, sie hatte sie mit eigenen Augen sterben sehen. Und Jefri? Jefri konnte noch am Leben sein. Manchmal vermochte sich Johanna einen ganzen Nachmittag lang Hoffnung zu machen. Sie hatte gesehen, wie die Kälteschläfer am Boden neben dem Schiff verbrannt waren, aber die drinnen hatten vielleicht überlebt. Dann erinnerte sie sich jedesmal daran, wie die Angreifer wahllos alles niedergebrannt und hingemetzelt hatten, bis alle rings um das Schiff tot waren.
Sie war eine Gefangene. Doch vorerst wollten ihr die Mörder wohl. Die Wachen waren nicht bewaffnet — abgesehen von ihren Zähnen und den Klauen. Wenn sie konnten, hielten sie sich von ihr fern. Sie wussten, dass sie sie verletzen konnte.
Sie hielten sie in einer großen dunklen Hütte gefangen. Wenn sie allein war, lief sie hin und her. Die Hundewesen waren Barbaren. Die Operation ohne Betäubung war vermutlich nicht einmal als Folter gedacht gewesen. Sie hatte weder Flugzeuge noch ein Anzeichen von Elektrizität gesehen. Die Toilette war ein Schlitz, den man in eine Marmorplatte geschnitten hatte. Das Loch reichte so tief, dass man kaum ein Aufplatschen am Grunde hörte. Dennoch roch es schlecht. Diese Kreaturen waren so rückständig wie die Menschen in den finstersten Zeitaltern auf der Nyjora. Sie hatten niemals Technik gehabt, oder sie hatten sie gründlich vergessen. Fast hätte Johanna gelächelt. Mutti hatte Romane über schiffbrüchige Heldinnen in verlorenen Kolonien gemocht. Die Hauptsache war meistens, die Technik wieder zu erfinden und das Raumschiff zu reparieren. Mutti interessierte sich…, hatte sich so sehr für Wissenschaftsgeschichte interessiert; sie liebte die Einzelheiten in solchen Geschichten.
Anfangs besaß sie nur Decken, um sich warm zu halten. Dann hatten sie ihr Kleidung gegeben, die wie ihr Overall geschnitten war, aber aus plustrigem Steppstoff. Sie war warm und robust, die Nähte feiner, als sie jemals geglaubt hätte, dass man es ohne Maschine fertigbrächte. Nun konnte sie bequem draußen umhergehen. Der Garten hinter ihrer Hütte war das Beste an dem Ort. Er war ungefähr hundert Meter im Quadrat groß und folgte der Neigung der Hügelflanke. Es gab eine Menge Blumen und Bäume mit langen, federförmigen Blättern. Mit Steinplatten ausgelegte Wege wanden sich durch moosigen Rasen. Es war ein friedlicher Ort, wenn sie ihn friedlich sein ließ, ein wenig wie ihr Hinterhof auf Straum.
Es gab Mauern, doch vom oberen Ende des Gartens konnte sie darüber hinweg sehen. Die Mauern gingen im Zickzack hin und her, und an manchen Stellen sah sie die andere Seite. Die Fensterschlitze waren wie aus dem Geschichtsunterricht: Sie erlaubten einem, seine Pfeile oder Kugeln abzuschießen, ohne selbst ein Ziel abzugeben.
Wenn die Sonne schien, saß Johanna gern da, wo der Geruch der Federblätter am stärksten war, und schaute über die unteren Mauern auf die Bucht. Sie wusste noch nicht sicher, was sie da eigentlich sah. Es gab einen Hafen, der Wald von Spieren war fast wie die Marinas auf Straum. Die Stadt hatte weite Straßen, aber sie liefen im Zickzack, und die Häuser standen alle schief. Stellenweise waren es Steinlabyrinthe mit offenem Dach, von hier oben konnte sie das Muster sehen. Und es gab eine weitere Mauer, die so weit lief, wie sie blicken konnte. Die Berge jenseits waren von grauem Fels und Schneeflecken gekrönt.
Sie konnte die Hundewesen unten in der Stadt sehen. Einzeln konnte man sie wirklich beinahe für Hunde halten (mit Schlangenhälsen und Rattenköpfen). Aber wenn man sie von weitem betrachtete, sah man ihre wahre Natur. Sie bewegten sich immer in kleinen Gruppen, selten mehr als sechs. Innerhalb des Rudels berührten sie einander und arbeiteten mit klugem Geschick zusammen. Aber nie sah sie, dass eine Gruppe einer anderen näher als etwa zehn Meter gekommen wäre. Von ihrem fernen Blickpunkt aus schienen die Glieder eines Rudels zusammenzufließen…, und sie konnte sich vorstellen, dass sie ein einziges Tier mit vielen Gliedmaßen vorsichtig einherschlendern sah, darauf bedacht, keinem ähnlichen Ungeheuer zu nahe zu kommen. Die Schlussfolgerung war mittlerweile unvermeidlich: ein Rudel, ein Geist. Geister, die so böse waren, dass sie die Nähe eines anderen nicht aushielten.
Ihr fünfter Ausflug in den Garten war der bisher schönste, er zwang sie geradezu zur Freude. Die Blumen hatten Samen wie Flaumfedern in die Luft gesprüht. Das Licht der sinkenden Sonne glitzerte auf ihnen, als sie zu Tausenden im leichten Windhauch segelten, Klumpen in einem unsichtbaren Sirup. Sie stellte sich vor, was Jefri hier tun würde: erst Erwachsensein vortäuschen, dann von einem Fuß auf den anderen hüpfen. Schließlich würde er den Hang hinabrennen und versuchen, so viele von den fliegenden Büscheln zu fangen, wie er nur konnte. Und dabei lachen und lachen…
»Eins, zwei, drei, vier, wie geht es dir?« Es war eine Kinderstimme, hinter ihr.
Johanna sprang so schnell auf, dass beinahe ihre Naht aufgerissen wäre. Natürlich, hinter ihr stand ein Rudel. Es war dasjenige, das die Pfeilspitze aus ihr herausgeschnitten hatte. Ein räudiger Haufen. Die fünf waren geduckt, bereit, wegzulaufen. Sie sahen fast so überrascht aus, wie Johanna sich fühlte.
»Eins, zwei, drei, vier, wie geht es dir?« Die Stimme kam wieder, genauso wie zuvor. Es hätte ebenso gut eine Aufzeichnung sein können, abgesehen davon, dass eins von den Tieren die Laute irgendwie mit den vibrierenden Hautflecken auf Schultern, Hüften und Kopf erzeugte. Die Papageiennummer war ihr nicht neu. Aber diesmal… waren die Worte fast angebracht. Die Stimme war nicht ihre, aber sie hatte den Singsang schon früher gehört. Sie stemmte die Hände in die Hüften und starrte das Rudel an. Zwei von den Tieren starrten zurück, die anderen schienen die Umgebung zu bewundern. Einer leckte sich nervös die Lippen.
Die beiden hinteren trugen ihr Datio! Mit einem Mal wusste sie, woher sie diese gesungene Frage hatten. Und sie wusste, was sie als Antwort erwarteten. »Mir geht’s gut, und wie geht’s dir?«, sagte sie.
Das Rudel bekam große Augen, dass es fast komisch aussah. »Mir geht’s gut, also uns allen!« Es brachte das Spiel zum Ende, dann stieß es einen Schwall von Gekoller hervor. Jemand antwortete von weiter unten am Hügel. Dort war noch ein Rudel, das im Gebüsch lauerte. Sie wusste, dass sie nur in der Nähe dieses einen hier zu bleiben brauchte, und das andere würde nicht herbei kommen.
Die Klauenwesen — immer, wenn sie an sie dachte, standen ihr jene Metallklauen an den Vorderpfoten vor Augen, sie würde sie niemals vergessen — hatten also mit dem Rosa Olifanten gespielt und waren von den Fallen nicht aufgehalten worden. Das war mehr, als Jefri jemals geschafft hatte. Es war klar, dass sie in die Sprachprogramme des Kindermodus geraten waren. Sie hätte daran denken sollen. Wenn das Datio hinreichend idiotische Reaktionen feststellte, passte es sein Verhalten an, zuerst für jüngere Kinder, und wenn das nichts half, für ganz Kleine, die nicht einmal Samnorsk sprachen. Mit ein wenig Unterstützung von Johanna konnten sie ihre Sprache erlernen. Wollte sie das?
Das Rudel kam ein Stückchen näher, wobei mindestens zwei davon sie ständig beobachteten. Sie sahen nicht mehr ganz so wie vorher aus, als wollten sie jeden Moment Reißaus nehmen. Das nächste Tier ließ sich auf den Bauch fallen und schaute zu ihr auf. Sehr zahm und hilflos, wenn man die Krallen nicht sah. »Mein Name ist…« Johanna hörte einen kurzen Ausbruch von Gekoller mit einem Oberton, der geradewegs durch ihren Kopf zu schwirren schien. »Wie ist dein Name?«
Johanna wusste, dass das alles Teil des Programms war. Die Kreatur konnte unmöglich die einzelnen Wörter verstehen, die sie sagte. Dieses Paar ›mein Name, dein Name‹ wurde immer wieder zwischen den Kindern im Sprachprogramm wiederholt. Letzten Endes würde es sogar eine Pflanze begreifen. Allerdings, die Aussprache des Klauenwesens war so perfekt…
»Mein Name ist Johanna«, sagte sie.
»Schohanna«, sagte das Rudel mit Johannas Stimme und teilte den Stimmfluss falsch auf.
»Johanna«, korrigierte Johanna. Sie würde nicht einmal versuchen, den Namen des Klauenwesens auszusprechen.
»Hallo, Johanna. Lass uns das Namensspiel spielen!« Das war auch aus dem Programm, samt der dummen Begeisterung. Johanna setzte sich. Gewiss, wenn sie Samnorsk lernten, würden die Klauenwesen Macht über sie gewinnen…, aber es war die einzige Möglichkeit, wie Johanna etwas über sie herausfinden konnte, der einzige Weg, etwas über Jefri zu erfahren. Und wenn sie Jefri auch umgebracht hatten? Nun gut, sie würde lernen, ihnen so weh zu tun, wie sie es verdienten.
In Holzschnitzerheim und dann — ein paar Tage später — auch auf Flensers Verborgener Insel gingen die langen Tage des arktischen Sommers zu Ende. Zunächst wurde es gegen Mitternacht, wenn selbst der höchste Berg im Schatten lag, etwas dämmrig. Und dann nahmen die Stunden der Dunkelheit schnell zu. Der Tag kämpfte gegen die Nacht, und die Nacht war am Gewinnen. Das Federlaub in den tiefen Tälern färbte sich herbstlich. Wenn man im Tageslicht einen Fjord hinauf schaute, sah man Orangerot auf den Hügeln, dann das Grün des Heidekrauts, das unmerklich ins Grau der Flechten überging, und schließlich das dunklere Grau der nackten Felsen. Die Schneeflecken warteten auf ihre Zeit, bald würde sie kommen.
Bei jedem Sonnenuntergang, Tag für Tag ein paar Minuten früher, ging Tyrathect die Wälle von Flensers Außenmauer ab. Es war ein Weg von drei Meilen. Die unteren Ebenen wurden von Postenketten bewacht, hier oben aber gab es nur ein paar Ausguckposten. Wenn sie sich näherte, traten sie mit militärischer Exaktheit zur Seite. Mehr als militärische Exaktheit: sie sah die Angst in ihren Augen. Es war schwer, sich daran zu gewöhnen. Fast seit sie klare Erinnerungen besaß — seit zwanzig Jahren —, hatte Tyrathect in Furcht vor anderen gelebt, mit Scham und Schuldgefühlen, auf der Suche nach jemandem, dem sie folgen könnte. Nun war das alles auf den Kopf gestellt. Es war keine Verbesserung. Sie kannte nun von innen her das Böse, dem sie sich hingegeben hatte. Sie wusste, warum die Wachtposten sie fürchteten. Für sie war sie wirklich Flenser.
Natürlich ließ sie sich diese Gedanken niemals anmerken. Ihr Leben war nur so sicher wie die Quellen ihres Betrugs. Tyrathect hatte hart daran gearbeitet, ihr natürliches scheues Verhalten zu unterdrücken. Seit sie auf die Verborgene Insel gekommen war, hatte sie sich kein einziges Mal bei ihrer alten Gewohnheit ertappt, verlegen die Köpfe zu senken und die Augen zu schließen.
Statt dessen verfügte Tyrathect über den stechenden Blick Flensers — und sie machte Gebrauch davon. Ihr Rundgang auf der Mauerkrone war so geradezu und unheilschwanger, wie nur jemals bei Flenser. Sie ließ über ihr — sein — Herrschaftsgebiet denselben harten Blick wie früher schweifen, alle Köpfe vorn, als sähe sie eine Vision weit jenseits des niederen Verstandes ihrer Jünger. Sie durften niemals erraten, warum sie wirklich diese Spaziergänge bei Sonnenuntergang unternahm: eine Zeit lang waren die Tage und Nächte wie in der Republik. Fast konnte sie sich vorstellen, wieder dort zu sein, vor Flensers Bewegung und dem Massaker in der Parlaments-Senke, bevor sie ihr die Kehlen durchgeschnitten und Teile von Flenser mit den Stümpfen ihrer Seele gepaart hatten.
In den goldenen und braungelben Feldern jenseits der Außenwälle konnte sie Bauern sehen, die sich um die Felder und die Herden kümmerten. Flenser beherrschte Länder weit über ihr Blickfeld hinaus, doch er hatte niemals Nahrungsmittel importiert. Das Korn und das Fleisch, die die Speicher füllten, waren alle nicht weiter als zwei Tagesmärsche von der Meerenge entfernt erzeugt worden. Die strategische Absicht war klar, doch immerhin sorgte das für ein friedliches Abendbild und weckte Erinnerungen an ihr Zuhause und ihre Schule.
Die Sonne glitt seitlich in die Berge, lange Schatten ergossen sich über das Ackerland. Flensers Burg wurde zur Insel in einem Meer von Schatten. Tyrathect konnte die Kälte riechen. Es würde diese Nacht wieder Frost geben. Am Morgen würden die Felder von falschem Schnee bedeckt sein, der eine Stunde nach Sonnenaufgang überdauern würde. Sie zog die langen Jacken fest um sich und ging zum östlichen Ausguck. Jenseits der Meerenge lag eine der nahen Anhöhen noch in der Sonne. Das fremde Schiff war dort gelandet. Es stand noch immer dort, nun aber hinter Holz und Stein. Stahl hatte unmittelbar nach der Landung zu bauen begonnen. In den Steinbrüchen am Nordende der Verborgenen Insel wurde jetzt mehr gearbeitet als jemals zu Flensers Zeit. Die Barken, die Steine zum Festland schafften, fuhren ständig über die Meerenge hin und her. Sogar jetzt, da es nicht mehr den ganzen Tag über hell blieb, gingen Stahls Bauarbeiten ohne Pause weiter. Seine Einrufe und die kleineren Inspektionen waren härter, als es Flensers gewesen waren.
Fürst Stahl war ein Mörder, schlimmer, ein Manipulator. Doch seit der Landung des Fremden wusste Tyrathect, dass er noch etwas anderes war: zu Tode geängstigt. Er hatte guten Grund. Und obwohl diejenigen, die er fürchtete, sie möglicherweise alle töten würden, wünschte sie ihnen im Geheimsten ihrer Seele das Beste. Stahl und seine Flenseristen hatten die Sternenleute ohne Warnung angegriffen, eher aus Gier als aus Angst. Sie hatten Dutzende von Fremdwesen umgebracht. In gewisser Weise waren diese Morde schlimmer als das, was die Bewegung ihr angetan hatte. Tyrathect war dem Flenser aus eigenem freiem Willen gefolgt. Sie hatte Freunde gehabt, die sie vor der Bewegung warnten. Es hatte düstere Geschichten über den Flenser gegeben, und nicht alle waren Regierungspropaganda. Aber sie hatte so sehr gewünscht, jemandem zu folgen, sich einer größeren Sache hinzugeben… Sie hatten sie buchstäblich als Werkzeug benutzt. Doch sie hätte es vermeiden können. Den Sternenleuten war diese Möglichkeit versagt gewesen, Stahl hatte sie einfach abgeschlachtet.
Sodass Stahl jetzt aus Angst am Werk war. An den ersten drei Tagen hatte er das fliegende Schiff mit einem Dach überzogen: ein versprengtes, dummes Bauernhaus war auf der Hügelkuppe erschienen. Nicht lange, und das fremde Gefährt würde hinter Steinwällen verborgen sein. Am Ende konnte die neue Festung größer als die auf der Verborgenen Insel sein. Stahl wusste, dass seine Schurkerei, wenn sie nicht sein Ende bedeutete, ihn zum mächtigsten Rudel der Welt machen würde.
Und ebendarum blieb Tyrathect hier, setzte sie ihre Maskerade fort. Sie konnte nicht ewig so weitermachen. Früher oder später würden die anderen Fragmente auf der Verborgenen Insel eintreffen, Tyrathect würde umgebracht werden und der ganze Flenser wieder leben. Vielleicht würde sie nicht einmal das erleben. Zwei von Tyrathect waren in der Tat von Flenser. Der Meister hatte sich verrechnet, als er glaubte, die beiden könnten die anderen drei beherrschen. Statt dessen hatte das Gewissen der drei den scharfen Verstand der beiden erworben. Sie erinnerte sich fast an alles, was der große Flenser gewusst hatte, all die Tricks und all den Verrat. Die beiden hatten ihr eine Intensität verliehen, die sie nie zuvor besessen hatte. Tyrathect lachte still in sich hinein. In gewissem Sinne hatte sie erlangt, was sie in der Bewegung so naiv gesucht hatte, und der große Flenser hatte genau den Fehler begangen, den er in seiner Arroganz für unmöglich hielt. Solange sie es vermochte, die beiden unter Kontrolle zu halten, hatte sie eine Chance. Wenn sie ganz wach war, gab es kaum Probleme; sie fühlte sich immer noch als ›sie‹ , erinnerte sich an ihr Leben in der Republik immer noch deutlicher als an Flensers Vergangenheit. Etwas anderes war es, wenn sie schlief. Sie hatte Alpträume. Die Erinnerungen an anderen zugefügte Qualen erschienen plötzlich süß. Sex während der Schlafenszeit sollte eigentlich besänftigen; bei ihr war es ein Kampf. Sie erwachte wund und wie zerschlagen, als hätte sie mit einem Vergewaltiger gekämpft. Wenn die beiden jemals die Oberhand gewännen, wenn sie jemals als ›Er‹ erwachte… Es würde nur ein paar Sekunden dauern, bis die beiden die Maskerade aufdeckten, und nur wenig mehr, um die drei zu töten und die Glieder Flensers einem besser lenkbaren Rudel zuzuteilen.
Dennoch blieb sie. Stahl hatte vor, die Fremden und ihr Schiff zu benutzen, um Flensers Alptraum weltweit zu verbreiten. Doch sein Plan war anfällig, mit Risiken gespickt. Wenn sie irgendetwas tun konnte, um den Plan und die Flenser-Bewegung scheitern zu lassen, würde sie es tun.
Auf der anderen Seite der Burg hing nur noch der Westturm im Sonnenlicht. Kein Gesicht zeigte sich in den Schießscharten, doch Augen blickten dahinter hervor: Stahl beobachtete das Flenser-Fragment — den Flenser im Wartestand, wie es sich nannte — auf der Mauerkrone weiter unten. Das Fragment wurde von allen Befehlshabern akzeptiert. Sie begegneten ihm fast mit der Ehrfurcht, die sie dem ganzen Flenser entgegengebracht hatten. In gewissem Sinne hatte Flenser sie alle erschaffen, es war also kein Wunder, dass es ihnen in der Gegenwart des Meisters kalt die Rücken hinablief. Sogar Stahl empfand so. Während er ihn formte, hatte Flenser den entstehenden Stahl zum Versuch gezwungen, ihn zu töten; jedesmal hatte man Stahl gefasst und seine schwächsten Glieder gefoltert. Stahl kannte die Konditionierung, die in ihm steckte, und das half ihm, dagegen anzukämpfen. Wenn es überhaupt eine Rolle spielte, sagte er sich, dann war deswegen das Flenser-Fragment in größerer Gefahr: Beim Versuch, der Furcht zu begegnen, konnte sich Stahl verrechnen und gewaltsamer handeln, als angebracht war.
Früher oder später musste sich Stahl entschließen. Wenn er es nicht umbrachte, bevor die anderen Fragmente die Verborgene Insel erreichten, dann würde der ganze Flenser wieder dasein. Wenn zwei Glieder Stahls Herrschaft dominieren konnten, dann würden sechs sie völlig auslöschen. Wollte er, dass der Meister tot wäre? Und wenn er es wollte, gab es einen absolut sicheren Weg?…
Stahls Gedanken kreisten flüchtig um diese Fragen, während er das schwarzgekleidete Rudel beobachtete.
Stahl war es gewohnt, um hohe Einsätze zu spielen. Er war geboren worden, indem er es tat. Furcht und Tod und Sieg waren sein ganzes Leben. Doch niemals war der Einsatz so hoch wie jetzt gewesen. Flenser war drauf und dran gewesen, die größte Nation auf dem Kontinent zu unterwandern, und hatte von der Weltherrschaft geträumt… Fürst Stahl schaute zu dem Hügel jenseits der Meerenge hinüber, auf die neue Burg, die er baute. In dem Spiel, das er jetzt spielte, würde die Eroberung der Welt ein Kinderspiel sein, wenn er siegte, und die Vernichtung der Welt wäre denkbar, wenn er verlor.
Stahl hatte das fliegende Schiff kurz nach dem Überfall besucht. Der Boden dampfte noch. Jede Stunde schien er heißer zu werden. Die Bauern auf dem Festland redeten von Dämonen, die in der Erde erwacht seien; Stahls Berater brachten kaum etwas Besseres zustande. Die Weißjacks brauchten gefütterte Stiefel, um näher herangehen zu können. Stahl hatte den Dampf ignoriert, die Stiefel angezogen und war unter den gekrümmten Schiffsrumpf gegangen. Das Unterteil erinnerte vage an den Rumpf eines Bootes, wenn man von den Stelzen absah. In der Nähe der Mitte gab es eine zitzenförmige Ausstülpung, im Boden unmittelbar darunter gurgelte geschmolzenes Gestein. Die ausgebrannten Särge standen hangaufwärts vom Schiff. Etliche von den Leichen waren herausgeholt worden, um seziert zu werden. In den ersten Stunden waren seine Berater voller phantastischer Theorien gewesen: dass die Pfahlwesen Krieger seien, die aus einer Schlacht geflohen und gekommen waren, um hier ihre Toten zu begraben…
Zu diesem Zeitpunkt war noch niemand imstande gewesen, das Innere des Fahrzeugs eingehend zu betrachten.
Die graue Leiter war aus etwas gemacht, das fest wie Stahl war, aber federleicht. Doch es war sichtlich eine Leiter, obwohl die Stufen für ein durchschnittliches Glied zu hoch waren. Stahl kletterte hinauf und ließ Sreck und seine übrigen Ratgeber draußen.
Er steckte einen Kopf durch die Luke — und zuckte zurück. Die Akustik war tödlich. Er begriff, worüber sich die Weißjacks beklagten. Wie konnten die Fremden das aushalten? Einen nach dem anderen zwang er sich durch die Öffnung.
Echos schrien auf ihn ein — schlimmer als von ungepolstertem Quarz. Er zwang sich zur Ruhe, wie er es so oft in der Gegenwart des Meisters getan hatte. Die Echos ließen nach, waren aber immer noch eine wilde Horde, die in den Wänden ringsum wütete. Nicht einmal seine besten Weißjacks hielten es hier länger als fünf Minuten aus. Der Gedanke ließ Stahl seine Haltung straffen. Disziplin. Stille heißt nicht immer Unterordnung, sie kann auch Jagd bedeuten. Er blickte sich um und ignorierte dabei das heulende Gemurmel.
Licht kam von bläulichen Streifen an der Decke. Als sich seine Augen eingewöhnt hatten, sah er, was seine Leute ihm beschrieben hatten: Das Innere bestand nur aus zwei Räumen. Er stand im größeren — einem Frachtraum? In der gegenüberliegenden Wand war eine Luke, und dahinter das zweite Zimmer. Die Wände hatten keine Kanten. Sie verliefen in Winkeln zueinander, die nicht mit der Außenhülle zusammenpassten; es musste toten Raum geben. Ein Luftzug wehte stoßweise durchs Zimmer, doch die Luft war viel wärmer als draußen. Er war nie an einem Ort gewesen, der ein stärkeres Gefühl von Macht und Bösem vermittelt hätte. Sicherlich war das nur ein akustischer Effekt. Sie würden etwas absorbierendes Füllmaterial hereinbringen, ein paar Seitenreflektoren, und das Gefühl würde verschwinden. Dennoch…
Das Zimmer war voller Särge, jenen, die nicht verbrannt waren. Der Ort stank noch nach dem Körpergeruch der Fremden. Schimmel wuchs in den dunkleren Ecken. In gewisser Weise war das beruhigend: Die Fremden atmeten und schwitzten wie andere Lebewesen, und bei all ihren wunderbaren Erfindungen konnten sie den eigenen Bau nicht sauberhalten. Stahl ging an den Särgen entlang. Die Kästen ruhten auf Regalen mit Seitenborden. Wenn die draußen hier gewesen waren, musste der Raum gerammelt voll gewesen sein. Unbeschädigt waren die Särge Wunder feiner Handwerksarbeit. Warme Luft drang aus Schlitzen an den Seiten hervor. Er schnüffelte: komplex, leicht bedrückend, aber nicht der Geruch des Todes. Und nicht die Quelle des überwältigenden Gestanks nach dem Schweiß der Fremden, der überall hing.
Jeder Sarg hatte ein an der Oberseite angebrachtes Fenster. Welcher Aufwand, um den Überbleibseln einzelner Glieder Ehre zu erweisen! Stahl sprang auf einen der Särge und schaute nach unten. Der Leichnam war vollkommen erhalten, das blaue Licht ließ alles gefroren erscheinen. Er reckte einen zweiten Kopf über den Rand des Kastens und erhielt einen zweiten Blickwinkel auf das Geschöpf darin. Es war viel kleiner als die beiden, die sie unter dem Schiff umgebracht hatten. Es war sogar kleiner als dasjenige, das sie gefangen genommen hatten. Manche von Stahls Beratern glaubten, die kleinen seien Welpen, vielleicht noch nicht entwöhnt. Das ergab Sinn; ihr Gefangener ließ nie Gedankentöne hören.
Zum Teil um der Disziplin willen starrte er lange Zeit auf das sonderbare flache Gesicht des Fremden. Das Echo seines Denkens war ein andauernder Schmerz, der seine Aufmerksamkeit aufzehrte und verlangte, er solle endlich gehen. Lass den Schmerz andauern. Er hatte schon Schlimmerem widerstanden, und die Rudel draußen sollten wissen, dass Stahl stärker als jedes von ihnen war. Er konnte den Schmerz bezwingen und größeres Verständnis erlangen… Und dann würde er sie bis zum Umfallen arbeiten lassen — den Raum auspolstern und den Inhalt studieren.
So starrte Stahl fast ohne zu denken auf das Gesicht. Das Schreien in den Wänden schien ein wenig nachzulassen. Das Gesicht war so hässlich. Er hatte die verkohlten Leichen draußen betrachtet, ihre kleinen Kiefer und die regellos missgebildeten Zähne bemerkt. Wie konnte das Geschöpf essen?
Ein paar Minuten vergingen, der Lärm und die Hässlichkeit vermengten sich wie im Traum… Und dann erlebte Stahl aus seiner Trance heraus einen Alptraum von Schrecken: Das Gesicht bewegte sich. Die Veränderung war gering und erfolgte sehr, sehr langsam. Doch im Verlauf von ein paar Minuten hatte sich das Gesicht verändert.
Stahl fiel von dem Sarg, die Wände schrien Grauen zurück. Ein paar Sekunden lang glaubte er, der Lärm würde ihn umbringen. Dann fand er mit ruhigem Denken wieder zu sich selbst. Er kroch abermals auf den Kasten. Alle seine Augen starrten durch den Kristall, warteten wie ein Rudel auf Jagd… Die Veränderung war regelmäßig. Das Fremde in dem Kasten atmete, aber fünfzigmal langsamer als jedes normale Glied. Er ging zu einem anderen Kasten, beobachtete das Geschöpf darin. Irgendwie waren sie alle am Leben. In diesen Kästen wurde ihr Leben einfach verlangsamt.
Er blickte von den Kästen auf, fast wie benommen. Dass der Raum nach Bösem stank, war eine Klangillusion — und auch die reinste Wahrheit.
Das Pfahlwesen war weit entfernt von den Tropen gelandet, weitab von den Großkollektiven; vielleicht hatte es geglaubt, die nordwestliche Arktis sei eine rückständige Wildnis. Es war mit Hunderten seiner Welpen gekommen. Diese Kästen waren wie Larvenhüllen: Das Rudel würde landen, die Kleinen großziehen — von der Zivilisation unbemerkt. Stahl fühlte, wie sich ihm bei dem Gedanken die Felle sträubten. Wenn das fremde Rudel nicht überrascht worden wäre, wenn sich Stahls Truppen auch nur eine Spur weniger aggressiv gezeigt hätten — es wäre das Ende der Welt gewesen.
Stahl stolperte zur Außenluke, indes seine Ängste immer lauter von den Wänden zurückgeworfen wurden. Dennoch hielt er für einen Moment inmitten der Schatten und der Schreie inne. Als seine Glieder die Leiter hinabschritten, bewegte er sich gelassen, jede Jacke ordentlich an ihrem Platz. Seine Berater würden von der Gefahr früh genug erfahren, doch sie würden niemals Furcht in ihm sehen. Er ging leichten Schritts über das dampfende Erdreich, unter dem Schiffsrumpf hervor. Doch selbst er konnte einen schnellen Blick zum Himmel nicht unterdrücken. Das war ein Schiff, ein Rudel Fremde. Es hatte das Pech gehabt, auf die Bewegung zu stoßen. Dennoch war der Sieg darüber zum Teil Glückssache gewesen. Wie viele andere Schiffe würden landen, waren schon gelandet? Blieb ihm genug Zeit, aus seinem Sieg zu lernen?
Stahls Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, zu seinem Beobachtungshorst über dem Schloss. Jene erste Begegnung mit dem Schiff lag viele Zehntage zurück. Die Gefahr bestand noch, doch nun verstand er sie besser, und wie alle großen Gefahren barg sie große Verheißungen in sich.
Auf der Außenmauer glitt Flenser im Wartestand durch die zunehmende Dämmerung. Stahls Augen folgten dem Rudel, wie es unter den Fackeln einherging und eins nach dem anderen abwärts verschwand. Es war eine schreckliche Menge von dem Meister in diesem Fragment; es hatte vieles an der Landung des Fremden früher als jeder andere verstanden.
Stahl warf einen einzigen raschen Blick über die im Dunkel versinkende Berglandschaft, als er sich umwandte und den Weg die Wendeltreppe hinab antrat. Es war ein langer, beengter Abstieg, der Ausguck befand sich an der Spitze eines Turms von vierzig Fuß. Die Treppe war kaum fünfzehn Zoll breit, die Decke weniger als dreißig Zoll über den Stufen. Kalter Stein drängte von allen Seiten heran, so dicht, dass es keine Echos gab, die die Gedanken hätten verwirren können — jedoch auch so dicht, dass der Verstand in einen langen Schlauch gepresst wurde. Die Spirale hinaufzusteigen, erforderte eine verdrehte, auseinandergezogene Haltung, die jeden Angreifer zur leichten Beute eines Verteidigers im Horst machte. So war die Militärarchitektur. Für Stahl war das Steigen durch die enge Finsternis eine angenehme Übung.
Die Treppe mündete in einen öffentlichen Korridor, zehn Fuß breit, mit Ausweichnischen aller fünfzig Fuß. Sreck und ein Leibwächter erwarteten ihn.
»Ich habe das Neueste aus Holzschnitzerheim«, sagte Sreck. Er hielt Blätter von Seidenpapier.
Das andere Fremde an Holzschnitzerheim zu verlieren, war ihm einst als schwerer Schlag erschienen. Erst allmählich wurde ihm klar, wie nützlich das werden konnte. Er hatte seine Leute in Holzschnitzerheim. Zuerst hatte er vorgehabt, das andere Fremde töten zu lassen; es wäre leicht gewesen. Aber die Information, die nach Norden durchsickerte, war interessant. Es gab ein paar kluge Köpfe in Holzschnitzerheim. Sie fanden Dinge heraus, die Stahl und dem Meister — dem Fragment des Meisters — entgangen waren. So. Im Grunde war Holzschnitzerheim zu Stahls zweitem Laboratorium für die Fremden geworden, und die Feinde der Bewegung dienten ihm wie jedes andere Werkzeug auch. Die Ironie war unwiderstehlich.
»Sehr gut, Sreck. Bring es in meinen Bau. Ich werde bald dort sein.« Stahl winkte das Weißjack in eine der Nischen und schritt an ihm vorbei. Den Bericht bei Branntwein zu lesen, würde eine angenehme Belohnung für das Tagewerk sein. In der Zwischenzeit gab es andere Pflichten und andere Freuden.
Der Meister hatte mit dem Bau der Burg auf der Verborgenen Insel vor mehr als einem Jahrhundert begonnen, sie wuchs noch immer. In den ältesten Fundamenten, wo ein gewöhnlicher Herrscher vielleicht Verliese eingerichtet hätte, befanden sich die ersten Laboratorien des Flensers. Viele konnten mit Verliesen verwechselt werden — und waren es für ihre Insassen.
Stahl inspizierte alle Labors mindestens einmal pro Zehntag. Nun eilte er durch die tiefsten Etagen. Griller flohen vor dem Licht der Fackeln, die sein Leibwächter trug. In der Luft lag der Geruch faulenden Fleisches. Stahls Pfoten glitten aus, wo Schlick auf dem Stein lag. In regelmäßigen Abständen waren Löcher in den Boden eingelassen. Jedes konnte ein einzelnes Glied aufnehmen, dessen Beine dicht an den Körper gepresst waren. Ein Glied brauchte im Durchschnitt drei Tage, um in solcher Isolation wahnsinnig zu werden. Das resultierende ›Rohmaterial‹ konnte benutzt werden, um leere Rudel zusammenzustellen. In der Regel waren sie nicht mehr als pflanzenhaft dahinvegetierende Körper, doch das war ja alles, was die Bewegung von manchen verlangte. Und manchmal kamen bemerkenswerte Wesen aus jenen Gruben: Sreck zum Beispiel. Sreck der Farblose, wie ihn manche nannten. Sreck der Sture. Ein Rudel jenseits des Schmerzes, jenseits von Wünschen. Sreck hatte die Loyalität eines Uhrwerks, doch eines aus Fleisch und Blut. Er war kein Genie, aber Stahl hätte eine Provinz im Osten für weitere fünf von seiner Sorte hergegeben. Und die Verheißung von mehr solchen Erfolgen ließ Stahl die Isolationsgruben immer wieder verwenden. Er hatte die meisten Trümmer des Überfalls auf diese Weise wiederverwertet…
Stahl stieg auf höhere Etagen zurück, wo die wirklich interessanten Experimente durchgeführt wurden. Die Welt betrachtete die Verborgene Insel mit fasziniertem Grauen. Sie hatten von den unteren Etagen gehört. Doch den wenigsten war klar, welch geringe Rolle jene dunklen Räume in der Wissenschaft der Bewegung spielten. Um eine Seele richtig zu sezieren, brauchte man mehr als Bänke mit Abflusslöchern für das Blut. Die Ergebnisse von den unteren Etagen waren einfach die ersten Schritte in Flensers intellektueller Suche. Es gab große Fragen auf der Welt, Dinge, die jahrtausendelang den Geist von Rudeln beschäftigt hatten. Wie denken wir? Warum glauben wir? Warum ist das eine Rudel ein Genie und das andere ein Tölpel? Vor Flenser hatten die Philosophen endlos darüber debattiert, ohne jemals der Wahrheit näher zu kommen. Selbst Holzschnitzerin war um den Kern der Sache herumstolziert, weil sie ihre traditionelle Ethik nicht aufgeben wollte. Flenser war darauf vorbereitet, die Antworten zu erhalten. In diesen Labors wurde die Natur selbst verhört.
Stahl ging durch eine Kammer, die einhundert Ellen breit war und deren Dach von Dutzenden von Steinsäulen getragen wurde. Auf jeder Seite gab es dunkle Trennschirme, Schiebewände auf winzigen Rädern. Die Höhle konnte wie ein Labyrinth nach jedem beliebigen Muster unterteilt werden. Flenser hatte mit allen möglichen Denkhaltungen experimentiert. In den Jahrhunderten vor ihm hatte es nur einige wenige wirksame Haltungen gegeben: die instinktiv zusammengesteckten Köpfe, der Wachring, verschiedene Arbeitshaltungen. Flenser hatte Dutzende weitere erprobt: Sterne, Doppelringe, Gitternetze. Die meisten waren nutzlos und verwirrend. Im Stern konnte ein einzelnes Glied alle anderen hören, und jedes von diesen konnte nur das eine hören. Folglich mussten alle Gedanken durch das eine Mittelglied hindurchfließen. Das Mittlere konnte nichts Vernünftiges beitragen, doch alle seine Fehleinschätzungen wurden unberichtigt an die Übrigen weitergegeben. Das Ergebnis war trunkene Narrheit… Natürlich war dieses Experiment der Außenwelt mitgeteilt worden.
Doch mindestens eins von den anderen — noch geheim — funktionierte sonderbar gut: Flenser postierte acht Rudel ringsum auf dem Fußboden und auf provisorischen Podesten, trennte sie voneinander durch Schiebewände und brachte dann Glieder aus jedem Rudel in Kontakt mit den entsprechenden in drei anderen Rudeln. In gewissem Sinne schuf er ein Rudel von acht Rudeln. Stahl war mit diesen Experimenten noch befasst. Wenn die Verbindungsglieder hinreichend gut zueinander passten (und das war das Schwierige dabei), war das resultierende Geschöpf viel klüger als ein Wachring. In vielerlei Hinsicht war es nicht so intelligent wie ein einzelnes Rudel mit zusammengesteckten Köpfen, doch manchmal kam es zu frappierenden Einsichten. Ehe er in die Langseen-Republik abreiste, hatte der Meister den Plan entwickelt, den Hauptsaal der Burg so umzubauen, dass die Ratssitzungen in dieser Haltung durchgeführt werden konnten. Stahl hatte diese Idee nicht weiter verfolgt. Es war einfach ein bisschen zu riskant, Stahl hatte andere nie ganz so vollständig dominieren können, wie Flenser es vermochte…
Egal. Es gab andere, wichtigere Projekte. Die Räume vor ihm waren das wahre Herz der Bewegung. Stahls Seele war in diesen Räumen geboren worden, alle von Flensers größten Schöpfungen hatten hier ihren Anfang. In den letzten fünf Jahren hatte Stahl die Tradition fortgeführt… und sie vervollkommnet.
Er ging durch den Saal, der die einzelnen Zimmerfluchten verband. Jede trug ihre Nummer in Gold eingelegt. Bei jeder öffnete er eine Tür und trat teilweise ein. Sein Personal hinterlegte den Bericht über den vergangenen Zehntag immer gleich drinnen. Stahl las jeden rasch durch, dann lugte er mit einem Kopf über die Brüstung der Loge, um einen Blick auf das Experiment darin zu werfen. Die Logen waren gut gepolstert und abgeschirmt; man konnte leicht beobachten, ohne selbst gesehen zu werden.
Flensers einzige Schwäche (nach Ansicht Stahls) war sein Wunsch, das Überwesen zu schaffen. Der Meister war so voller Zuversicht, er glaubte, jeder Erfolg in dieser Richtung ließe sich auf seine eigene Seele anwenden. Stahl hatte derlei Illusionen nicht. Es war altbekannt, dass Lehrer von ihren Schöpfungen übertroffen werden — von Schülern, Spaltungskindern, Adoptionen oder welchen auch immer. Er, Stahl, war dafür ein perfektes Beispiel, obwohl der Meister das noch nicht wusste.
Stahl hatte beschlossen, Wesen zu schaffen, die jedes auf eine einzige Art überlegen wären — während sie in anderen Beziehungen gebrechenhaft und formbar blieben. In Abwesenheit des Meisters hatte er mit einer Reihe von Experimenten begonnen. Stahl begann von der Pike auf, er identifizierte Vererbungslinien unabhängig von der Rudelzugehörigkeit. Seine Agenten kauften oder stahlen Welpen, die möglicherweise besondere Anlagen hatten. Anders als Flenser, der für gewöhnlich in Annäherung an die Natur Welpen in bestehende Rudel einfügte, schuf Stahl völlig neugeborene Rudel. Seine Welpenrudel hatten keine Erinnerungen oder Seelenfragmente, Stahl besaß von Anfang an die totale Kontrolle.
Natürlich starben die meisten derartigen Konstruktionen rasch. Die Welpen mussten von ihren Säugammen getrennt werden, ehe sie begannen, am Bewusstsein des Erwachsenen teilzuhaben. Das dabei entstehende Rudel wurde ausschließlich durch gesprochene und geschriebene Sprache unterrichtet. Alles, was den Verstand erreichte, konnte unter Kontrolle gehalten werden.
Stahl blieb vor Tür Nummer 33 stehen: Experiment Amdiranifani, Hervorragende Mathematische Fähigkeiten. Es war nicht der einzige Versuch in dieser Richtung, doch bei weitem der erfolgreichste. Stahls Agenten hatten die Bewegung nach Rudeln mit Abstraktionstalent abgesucht. Sie waren weitergegangen: Die berühmteste Mathematikerin der Welt lebte in der Langseen-Republik. Das Rudel hatte sich auf die Spaltung vorbereitet, sie hatte etliche Welpen von sich selbst und einem mathematisch begabten Liebhaber. Stahl hatte die Welpen wegnehmen lassen. Sie passten so gut zu seinen anderen Erwerbungen, dass er beschloss, ein Achtsam zu schaffen. Wenn es klappte, könnte dieses Rudel mit seiner Intelligenz alles Naturmögliche übertreffen.
Stahl ließ seinen Leibwächter vor die Fackeln treten, um sie abzuschirmen. Er öffnete Tür 33 und schlich mit einem Glied an den Rand der Loge. Er blickte hinab und brachte dabei vorsorglich das Stirntrommelfell dieses Gliedes zum Schweigen. Das von oben hereinfallende Licht war trübe, aber er konnte sehen, wie sich die Welpen aneinanderkuschelten — mit ihrem neuen Freund. Dem Pfahlwesen. Ein Glückstreffer, anders konnte er es nicht nennen, der Lohn des Forschers, der lange und sorgfältig genug gearbeitet hatte. Er hatte zwei Probleme gehabt. Das erste hatte sich ein Jahr lang verschärft: Amdiranifani schwand langsam dahin, seine Glieder verfielen in den üblichen Autismus von völlig neugeborenen Rudeln. Das zweite Problem war das gefangene Fremde gewesen, eine gewaltige Bedrohung, ein gewaltiges Geheimnis, eine gewaltige Chance. Wie mit ihm kommunizieren? Ohne Kommunikation gab es nur sehr beschränkte Möglichkeiten, es zu manipulieren.
Doch ein einziger blindlings geführter Schlag, ein inkompetenter Diener hatte den Weg zur Lösung beider Probleme gewiesen. Nun, da seine Augen auf das Dämmerlicht eingestellt waren, konnte Stahl das Fremde unter dem Haufen Welpen sehen. Als er gehört hatte, dass das Geschöpf zu einem Experiment gesteckt worden war, war Stahl zunächst in Raserei verfallen; der Diener, der den Fehler begangen hatte, war wiederverwertet worden. Doch die Tage vergingen. Experiment Amdiranifani wurde lebendiger denn je, seit seine Welpen entwöhnt worden waren. Die Sektion der anderen Fremden und die Beobachtung dieses einen machte rasch deutlich, dass das Volk der Pfahlwesen nicht in Rudeln lebte. Stahl hatte ein komplettes Fremdes.
Das Fremde bewegte sich im Schlaf und gab mit dem Mund tiefe Töne von sich, es war völlig außerstande, andere Laute zu erzeugen. Die Welpen verschoben sich, um sich der neuen Position anzupassen. Sie schliefen ebenfalls und dachten dabei vage zu sich selbst. Das untere Ende ihres Klangspektrums war eine perfekte Imitation des Fremden… Und das war der größte Erfolg von allen. Experiment Amdiranifani war dabei, die Sprache des Fremden zu lernen. Für das Rudel Neugeborener war das einfach eine weitere Art Zwischenrudel-Sprache, und anscheinend war sein neuer Freund interessanter als die Lehrer, die auf diesen Balkons erschienen. Das Flenser-Fragment behauptete, dass es der Körperkontakt sei, dass die Welpen auf das Fremde wie auf einen Elternersatz reagierten, so gedankenleer das Fremde auch war.
Es war eigentlich unwichtig. Stahl brachte einen weiteren Kopf an den Rand der Loge. Er stand still da, keins der beiden Glieder dachte direkt zum anderen. Die Luft roch leicht nach Welpen und nach dem Schweiß des Pfahlwesens. Diese beiden waren der größte Schatz der Bewegung: der Schlüssel zum Überleben und mehr. Mittlerweile wusste Stahl, dass das fliegende Schiff nicht zu einer Invasionsflotte gehört hatte. Ihre Besucher ähnelten eher schlecht gerüsteten Flüchtlingen. Es hatte keine Nachrichten von anderen Landungen gegeben, und die Spione der Bewegung waren weit verteilt.
Der Sieg über die Fremdwesen war knapp gewesen. Ihre einzige Waffe hatte den größten Teil eines Regiments getötet. In den richtigen Kiefern konnten solche Waffen Armeen besiegen. Er zweifelte nicht daran, dass das Schiff noch mehr mächtige Tötungsmaschinen enthielt — die noch funktionierten. Abwarten und beobachten, sagte sich Stahl. Sollte doch Amdiranifani die Hebel aufdecken, mit denen man dieses Fremde steuern konnte. Die ganze Welt würde der Siegespreis sein.
Mutti hatte manchmal gesagt, etwas sei ›lustiger als ein Fass voll Welpen‹ . Jefri Olsndot hatte nie mehr als ein Haustier gehabt, und nur einmal war es ein Hund gewesen. Doch nun verstand er, was sie gemeint hatte. Vom allerersten Tage an, obwohl er so müde und verängstigt war, hatten ihn die acht Welpen in Entzücken versetzt. Und er sie. Sie waren rings um ihn, zogen an seiner Kleidung, banden seine Schuhe auf, saßen bei ihm auf dem Schoß oder rannten einfach um ihn herum. Drei oder vier starrten ihn ständig an. Ihre Augen waren völlig braun oder rosa und wirkten zu groß für ihre Köpfe. Von Anfang an hatten ihn die Welpen nachgeahmt. Sie waren besser als Singvögel auf Straum; was immer er sagte, konnten sie als Echo zurückgeben — oder später wiederholen. Und wenn er weinte, weinten die Welpen oft mit ihm und kuschelten sich an ihn.
Es gab andere Hunde, große, die Kleidung trugen und den Raum durch Türen hoch oben an den Wänden betraten. Sie ließen Nahrung in den Raum herab und machten manchmal sonderbare Geräusche. Aber die Nahrung schmeckte abscheulich, und sie reagierten nicht auf Jefris Schreie, nicht einmal durch Nachahmung.
Zwei Tage waren vergangen, dann eine Woche. Jefri hatte alles im Raum erforscht. Es war nicht wirklich ein Verlies, dafür war er zu groß. Außerdem gibt man Gefangenen keine Kuscheltiere. Er hatte begriffen, dass diese Welt unzivilisiert war, dass sie nicht zum Straumli-Bereich gehörte, vielleicht nicht einmal ans Netz angeschlossen war. Wenn sich Mutti oder Vati oder Johanna nicht in der Nähe befanden, war vielleicht niemand hier, der den Hunden Samnorsk beibringen konnte! Dann wäre es an Jefri, die Hunde zu unterrichten und seine Familie zu finden… Wenn nun die Hunde in den weißen Jacken auf die Eckbalkons kamen, rief ihnen Jefri Fragen zu. Es nutzte nicht viel. Nicht einmal der mit den roten Streifen antwortete. Aber die Welpen taten es! Sie riefen zusammen mit Jefri und wiederholten dabei manchmal seine Worte, manchmal machten sie Töne ohne Sinn.
Jefri brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass die Welpen von einem einzigen Verstand beherrscht wurden. Wenn sie um ihn herumliefen, saßen immer einige ein wenig abseits und bogen ihre eleganten Hälse hierhin und dahin — und die Läufer schienen genau zu wissen, was die anderen sahen. Er konnte nichts hinter seinem Rücken verstecken, wenn da auch nur einer saß, der die anderen warnen konnte. Eine Zeit lang glaubte er, sie würden irgendwie miteinander sprechen. Aber es war mehr als das: Wenn er zusah, wie sie seine Schuhe öffneten oder ein Bild zeichneten — die Köpfe und Mäuler und Pfoten arbeiteten so perfekt zusammen, wie die Finger an einer Hand. Jefri durchdachte die Dinge nicht derart ausdrücklich, doch nach einer Weile begann er, alle Welpen zusammen als einen einzigen Freund zu betrachten. Zur gleichen Zeit bemerkte er, dass Welpen seine Worte umstellte — und manchmal eine neue Bedeutung hervorbrachte.
»Du ich spiel.« Die Worte klangen wie schlecht zusammengeklebt, aber für gewöhnlich folgte ihnen ein wildes Fangspiel rund um alle Möbel.
»Du ich Bild.« Die Schiefertafel bedeckte den unteren Meter der Wand rings um den Raum. Sie war ein Anzeigegerät, wie Jefri in seinem Leben noch keins gesehen hatte: schmutzig, ungenau, weder ordentlich zu löschen noch zu speichern. Jefri liebte sie. Sein Gesicht und seine Hände — und die meisten Lippen von Welpen — waren mit Kreide beschmiert. Sie zeichneten einander und sich selbst. Welpen malte keine hübschen Bilder wie Jefri, seine Hundegestalten hatten große Köpfe und Pfoten, und die Körper waren ganz ineinander verwischt. Wenn er Jefri malte, waren die Hände immer groß, jeder Finger sorgfältig gezeichnet.
Jefri malte seine Familie und versuchte, es Welpen verständlich zu machen.
Tag für Tag fiel das Sonnenlicht von weiter oben auf die Wände. Manchmal war der Raum jetzt dunkel. Mindestens einmal täglich kamen Rudel, um mit Welpen zu reden. Das war eins von den wenigen Dingen, die die Kleinen von Jefri losreißen konnten. Welpen saß dann unter den Balkons und kreischte und krächzte hinauf zu den Erwachsenen. Es war ein Klassenzimmer! Sie ließen Rollen herab, damit er sie sich anschaute, und zogen die wieder hoch, die er gekennzeichnet hatte.
Jefri saß schweigend da und beobachtete den Unterricht. Er zappelte, rief den Lehrern aber nichts mehr zu. Noch ein bisschen, und er würde mit Welpen richtig reden. Noch ein bisschen, und Welpen könnte für ihn herausfinden, wo Mutti und Vati und Johanna waren.
Manchmal sind Schrecken und Schmerz nicht die besten Hebel; Betrug ist, wenn er funktioniert, die eleganteste und billigste Art der Manipulation. Nachdem Amdiranifani die Sprache der Pfahlwesen fließend sprach, ließ Stahl ihn eine Erklärung über den ›tragischen Tod‹ von Jefris Eltern und seinem Zuchtgeschwister abgeben. Das Flenser-Fragment hatte Einwände dagegen, doch Stahl wollte schnell die unangefochtene Kontrolle erlangen.
Nun schien es, als könnte das Fragment Recht gehabt haben; er hätte wenigstens die Hoffnung aufrechterhalten sollen, dass das Zuchtgeschwister lebte. Stahl blickte ernst zu dem Amdiranifani-Experiment hinab. »Was können wir tun?«
Das junge Rudel schaute vertrauensvoll empor. »Jefri ist so schrecklich traurig wegen seiner Eltern und seiner Schwester.« Amdiranifani benutzte viele Worte der Pfahlwesen, oft ohne Notwendigkeit: Schwester statt Zuchtgeschwister. »Er hat nicht viel gegessen. Er will nicht spielen. Es macht mich sehr traurig.«
Stahl behielt die Loge auf der anderen Seite im Auge. Das Flenser-Fragment war dort. Es versteckte sich nicht, obwohl die meisten von seinen Gesichtern nicht vom Kerzenlicht erhellt wurden. Bisher war sein Problemverständnis hervorragend gewesen. Doch das Fragment hatte den starren Blick wie in alten Zeiten, als ein Fehler Verstümmelung oder Schlimmeres bedeuten konnte. Gut so. Der Einsatz war jetzt höher als je zuvor; wenn die Angst, die Stahl an den Kehlen gepackt hielt, ihm zum Erfolg verhelfen konnte, dann war sie willkommen. Er schaute aus der Loge hinab und legte auf alle seine Gesichter den Ausdruck zärtlichen Mitgefühls für den Kummer des armen Jefris. »Du musst nur dafür sorgen, dass es — er — versteht: Niemand kann seine Eltern oder Schwester wieder zum Leben erwecken. Aber wir wissen jetzt, wer die Mörder sind. Wir tun alles, was in unseren Kräften steht, um uns gegen sie zu verteidigen. Sag ihm, wie schwer das ist. Holzschnitzerheim ist ein Reich, das seit Jahrhunderten besteht. In einem Kampf sind wir ihnen nicht ebenbürtig. Deshalb brauchen wir alle Hilfe, die er uns geben kann. Er muss uns beibringen, wie man das Schiff seiner Eltern benutzt.«
Das Welpenrudel senkte einen Kopf. »Ja. Ich will es versuchen, aber…« Die drei Glieder bei Jefri machten tiefe grunzende Töne. Das Fremde saß mit gesenktem Kopf da und hielt sich die tentakelbewehrten Pfoten vor die Augen. Das Geschöpf befand sich seit etlichen Tagen in diesem Zustand und wurde immer verschlossener. Nun schüttelte es heftig den Kopf und machte scharfe kleine Laute, höher als gewöhnlich.
»Jefri sagt, er weiß nicht, wie das Schiff funktioniert. Er ist nur ein kleiner…« Das Rudel suchte nach einer Übersetzung. »Er ist wirklich sehr jung. Wisst Ihr, so wie ich.«
Stahl nickte verständnisvoll. Es war eine offensichtliche Folge der Solo-Natur der Fremden, und dennoch unheimlich: Jedes von ihnen begann ganz als Welpe. Jedes von ihnen war wie Stahls experimentelle Welpenrudel. Das Wissen der Eltern wurde durch das Gegenstück zur Zwischenrudel-Sprache übermittelt. Das machte es leicht, das Geschöpf irrezuführen, war aber jetzt verdammt lästig. »Trotzdem, wenn es irgendetwas gibt, was er uns helfen kann zu erklären.«
Wieder Grunzen von dem Pfahlwesen. Stahl sollte diese Sprache lernen. Die Klänge waren einfach, diese armseligen Geschöpfe benutzten ihre Mäuler zum Sprechen, wie ein Vogel oder eine Waldschnecke. Vorerst war er von Amdiranifani abhängig. Vorerst war das in Ordnung, das Welpenrudel vertraute ihm. Noch ein Glückstreffer. Bei einigen wenigen von seinen neueren Experimenten hatte es Stahl mit Liebe versucht, statt mit Flensers ursprünglicher Kombination von Furcht und Liebe; es hatte eine schmale Chance gegeben, dass dies günstiger sein könnte. Mit einer Menge Glück war Amdiranifani in die Liebeskategorie geraten. Selbst seine Ausbilder hatten negative Stimuli vermieden. Das Rudel würde alles glauben, was er sagte — und das Pfahlwesen, hoffte Stahl, ebenfalls.
Amdiranifani übersetzte: »Da ist noch etwas; er hat mich schon früher danach gefragt. Jefri weiß, wie man die anderen Kinder« — das Wort bedeutete eigentlich ›Welpenrudel‹ — »im Schiff aufwecken kann. Ihr seht überrascht aus, mein Fürst Stahl?«
Obwohl er nicht länger voller Schrecken von monströsen Zusammenballungen von Verstand träumte, wollte Stahl vorerst keine weiteren hundert Fremden herumlaufen lassen. »Ich habe nicht gewusst, dass sie so einfach aufgeweckt werden können… Aber wir sollten es nicht jetzt gleich tun. Wir haben Mühe, Nahrung zu finden, die Jefri essen kann.« Das war wahr, das Geschöpf war ein unglaublich mäkliger Esser. »Ich glaube nicht, dass wir jetzt noch mehr ernähren könnten.«
Wieder Grunzen. Wieder scharfe Schreie von Jefri. Schließlich: »Da ist noch etwas, mein Fürst. Jefri glaubt, es könnte möglich sein, die Ultrawelle des Schiffes zu benutzen, um Hilfe von anderen solchen Wesen wie seine Eltern herbeizurufen.«
Das Flenser-Fragment schnellte aus den Schatten hervor. Ein paar Köpfe blickten hinab auf das Pfahlwesen, während andere bedeutungsvoll zu Stahl herüberstarrten. Stahl reagierte nicht, er konnte beherrschter als irgend ein lockeres Rudel sein. »Darüber muss ich nachdenken. Vielleicht könnt ihr mehr darüber sprechen. Ich möchte es nicht versuchen, bis wir sicher sind, dass das Schiff dabei keinen Schaden nimmt.« Das war schwach. Er sah, wie das Flenser-Fragment amüsiert eine Lippe verzog.
Während er sprach, übersetzte Amdiranifani. Jefri antwortete fast augenblicklich.
»Oh, das geht in Ordnung. Er meint einen besonderen Ruf. Jefri sagt, das Schiff hat sowieso Signale ausgesandt… ganz von selbst… die ganze Zeit seit der Landung.«
Und Stahl fragte sich, ob er jemals eine tödliche Drohung gehört hatte, die in so süßer Unschuld ausgesprochen wurde.
Sie fingen damit an, Amdi und Jefri draußen spielen zu lassen. Im Voraus war Amdi nervös, dass er hinausgehen sollte. Er war es nicht gewohnt, Kleidung zu tragen. Sein ganzes Leben — alle vier Jahre — hatte er in dem einen großen Raum verbracht. Er hatte über die Welt draußen gelesen und war neugierig, hinauszukommen, aber auch ein wenig ängstlich. Doch der Menschenjunge schien es zu wollen. Jeden Tag war er verschlossener gewesen, hatte leiser geweint. Meistens weinte er um seine Eltern und seine Schwester, manchmal aber auch, weil er so tief unten eingesperrt war.
Also hatte Amdi mit Herrn Stahl gesprochen, und jetzt kamen sie fast jeden Tag heraus, wenigstens in einen Innenhof. Zuerst hatte Jefri einfach dagesessen, ohne sich wirklich umzusehen. Doch Amdi entdeckte, dass es ihm draußen gefiel, und jedesmal brachte er seinen Freund dazu, ein wenig mehr zu spielen.
Rudel von Lehrern und Wachen standen in den Ecken des vergilbenden Mooses und schauten zu. Amdi — und mitunter auch Jefri — machten sich einen großen Spaß daraus, sie herumzuscheuchen. Es war ihnen unten in dem Raum, wo Besucher auf die Balkons kamen, nicht klar geworden, aber die meisten Erwachsenen wurden in Jefris Anwesenheit unsicher. Der Junge war anderthalbmal so groß wie ein gewöhnliches Glied eines Rudels im Stehen. Wenn er näher kam, ballten sich die meisten Rudel zusammen und wichen zurück. Es gefiel ihnen nicht, zu ihm aufschauen zu müssen. Das war dumm, dachte Amdi. Jefri war so groß und dürr, er sah aus, als könne er jeden Moment umfallen. Und wenn er lief, sah es aus, als versuche er verzweifelt das Hinfallen zu vermeiden, ohne es je ganz zu schaffen. Also war Amdis Lieblingsspiel an jenen ersten Tagen Fangen gewesen. Wenn er der Fänger war, legte er es darauf an, Jefri mitten durch das pomadigste Weißjack zu treiben. Und zusammen mit Jefri schafften sie es, an dem Fangspiel drei Personen teilnehmen zu lassen, indem Amdi Jefri verfolgte und ein Weißjack herumrannte, um beiden aus dem Weg zu gehen.
Manchmal taten ihm die Wachen und die Weißjacks Leid. Sie waren so steif und erwachsen. Verstanden sie denn nicht, wie lustig es war, einen Freund zu haben, an den man einfach herangehen, den man richtig berühren konnte?
Es war jetzt meistens Nacht. Das Tageslicht ließ sich ein paar Stunden lang um Mittag herum blicken. Die Dämmerung davor und danach war hell genug, um die Sterne und das Nordlicht auszulöschen, doch zu schwach, als dass man Farben erkannt hätte. Obwohl Amdi sein Leben im geschlossenen Raum verbracht hatte, verstand er die Geometrie der Situation, und er beobachtete gern den Lichtwechsel. Jefri machte sich nicht viel aus dem dunklen Winter — bis der erste Schnee fiel.
Amdi bekam seine ersten Jacken. Und Herr Stahl ließ für den Menschenjungen besondere Kleidung anfertigen, großes plustriges Zeug, das seinen ganzen Körper bedeckte und ihn wärmer hielt, als es ein gutes Fell getan hätte.
Auf einer Seite des Hofes war der Schnee nur sechs Zoll tief, an anderen Stellen aber türmte er sich zu Wehen, höher als Amdis Köpfe. Fackeln waren in Windschirmen an den Wänden angebracht, ihr Licht glitzerte golden auf dem Schnee. Amdi wusste, dass es Schnee gab — doch er hatte noch nie welchen gesehen. Er liebte es, ihn auf eine seiner Jacken zu werfen. Dann starrte er unablässig hin und versuchte, die Schneeflocken zu sehen, ohne dass sein Atem sie schmelzen ließ. Das sechseckige Muster war faszinierend, gerade an der Grenze seiner Sehschärfe.
Aber Fangen machte keinen Spaß mehr, der Mensch konnte durch Schneewehen rennen, wo Amdi im weißen Zeug steckenblieb. Es gab andere Dinge, die der Mensch tun konnte, wunderbare Dinge. Er konnte Kugeln aus Schnee machen und damit werfen. Die Wachen waren deswegen sehr ärgerlich, vor allem, wenn Jefri ein paar Glieder traf. Es war das erste Mal, dass er sie zornig werden sah.
Amdi rannte auf der von Wind blankgefegten Seite des Hofes herum, wich Schneebällen aus und der durchdringenden Frustration. Menschenhände waren solch böse, böse Dinge. Wie gern er ein Paar gehabt hätte — vier Paare! Er umzingelte den Menschen von drei Seiten und rannte geradewegs auf ihn zu. Jefri zog sich rasch in tieferen Schnee zurück, doch zu spät. Amdi traf ihn überall und warf den Zweibeiner rücklings in eine Schneewehe. Es gab ein Scheingefecht, zuschlagende Lippen und Pfoten gegen Jefris Hände und Füße. Doch nun war Amdi obenauf. Der Mensch musste für seine Schneebälle mit einer Menge Schnee büßen, die ihm hinten in die Jacke gesteckt wurde.
Manchmal saßen sie einfach da und betrachteten den Himmel so lange, dass Rümpfe und Pfoten gefühllos wurden. Wenn sie hinter der größten Schneewehe saßen, waren sie von den Fackeln der Burg abgeschirmt und hatten einen klaren Blick auf die Lichter am Himmel.
Zuerst war Amdi vom Nordlicht verzaubert gewesen. So ging es sogar manchen von seinen Lehrern. Sie sagten, dieser Teil der Welt sei einer der besten, wenn man das Glühen am Himmel sehen wolle. Mitunter war es so schwach, dass es vom Widerschein der Kerzen auf dem Schnee ausgelöscht wurde. Ein andermal lief es von Horizont zu Horizont: grünes Licht mit Spuren von Rosa dazwischen, das sich bog, als ob es von einem langsamen Wind gekräuselt würde.
Er und Jefri konnten sich jetzt sehr leicht unterhalten, freilich immer in Jefris Sprache. Der Mensch vermochte viele Laute der Zwischenrudel-Sprache nicht hervorzubringen, selbst Amdis Name war in seiner Aussprache kaum wiederzuerkennen. Aber Amdi verstand ziemlich gut Samnorsk; es machte Spaß, eine Geheimsprache zu haben.
Jefri war vom Nordlicht nicht sonderlich beeindruckt. »Zu Hause haben wir das massenhaft. Es ist bloß Licht von…« Er sagte ein neues Wort und warf einen Blick auf Amdi. Es war komisch, dass der Mensch nur an eine Stelle zugleich schauen konnte. Seine Augen und sein Kopf bewegten sich andauernd. »… weißt du, die Orte, wo die Menschen Dinge herstellen. Ich glaube, das Gas oder Abfall strömt durch ein kleines Leck aus und wird von der Sonne beleuchtet, oder es wird…« Wieder etwas Unverständliches.
»Orte, wo die Menschen Dinge herstellen?« 7m Himmel? Amdi hatte einen Globus, er kannte die Größe der Welt und ihre Ausrichtung im Raum. Wenn das Nordlicht den Sonnenschein reflektierte, musste es Hunderte von Meilen über dem Erdboden sein! Amdi lehnte einen Rücken gegen Jefris Jacke und stieß ein sehr menschliches Pfeifen aus. Seine Kenntnis der Geographie reichte nicht an die in Geometrie heran, aber: »Die Rudel arbeiten nicht im Himmel, Jefri. Wir haben nicht einmal fliegende Boote.«
»Hm, das ist wahr… Dann weiß ich nicht, was das für ein Zeug ist. Aber es gefällt mir nicht. Es verdeckt die Sterne.« Amdi wusste alles über die Sterne, Jefri hatte es ihm gesagt. Irgendwo da draußen waren die Freunde von Jefris Eltern.
Ein paar Minuten lang schwieg Jefri. Er schaute nicht mehr zum Himmel. Amdi schob sich ein bisschen näher heran, während er das wogende Licht am Himmel beobachtete. Hinter ihnen glänzte das gelbe Licht der Fackeln auf dem vom Wind geschärften Kamm der Schneewehe. Amdi konnte sich vorstellen, woran der andere dachte. »Die Kom-Geräte im Boot, sie taugen wirklich nicht, um Hilfe zu rufen?«
Jefri schlug mit der Hand auf den Boden. »Nein! Das habe ich dir doch gesagt. Sie sind bloß Radio. Ich denke, ich kann sie in Gang bringen, aber wozu? Das Zeug für die Ultrawelle ist noch im Boot, und es ist zu groß, um es zu bewegen. Ich begreife einfach nicht, warum mich Herr Stahl nicht an Bord lassen will… Ich bin acht Jahre alt, weißt du. Ich könnte es herausbekommen. Mutti hatte alles schon eingestellt, ehe…« Seine Worte verrannen in der vertrauten Stille der Verzweiflung.
Amdi rieb einen Kopf an Jefris Schulter. Er hatte eine Theorie über Herrn Stahls Zögern. Es war eine Erklärung, die er Jefri noch nicht mitgeteilt hatte: »Vielleicht hat er Angst, dass du einfach davonfliegst und uns verlässt.«
»So ein Unsinn! Ich würde dich niemals verlassen. Außerdem ist das Boot echt schwer zu fliegen. Es sollte eigentlich nie auf einer Welt landen.«
Jefri sagte die seltsamsten Dinge, manchmal verstand ihn Amdi einfach falsch — aber manchmal waren sie buchstäblich wahr. Hatten die Menschen wirklich Schiffe, die niemals auf den Erdboden herabkamen? Wohin flogen sie dann? Amdi konnte geradezu fühlen, wie sich in seinem Verstand neue Bezugsskalen klickend zusammenfügten. Herrn Stahls Globus stellte nicht die Welt dar, sondern etwas sehr, sehr Kleines im wirklichen Gefüge der Dinge.
»Ich weiß, dass du uns nicht verlassen würdest. Aber du verstehst, dass Herr Stahl es befürchten könnte. Er kann nicht einmal mit dir reden, außer durch mich. Wir müssen ihm beweisen, dass er uns vertrauen kann.«
»Das glaube ich auch.«
»Wenn wir beide die Radios in Gang bekommen könnten, könnte es uns helfen. Ich weiß, dass meine Lehrer nicht damit zurecht gekommen sind. Herr Stahl hat eins, aber ich glaube, er versteht es auch nicht.«
»Hm. Wenn wir das andere in Gang bringen könnten…«
An diesem Nachmittag erhielten die Wachen eine Ruhepause: Ihre beiden Schützlinge kamen frühzeitig aus der Kälte herein. Die Wachen zweifelten nicht an ihrem Glück.
Stahls Bau hatte ursprünglich dem Meister gehört. Er unterschied sich sehr von den Versammlungssälen der Burg. Abgesehen von Chören passte nur ein einzelnes Rudel in jeden Raum. Nicht, dass die Zimmerflucht klein gewesen wäre. Es gab fünf Räume, das Bad nicht gerechnet. Doch außer der Bibliothek war keiner von ihnen breiter als fünfzehn Fuß. Die Decken waren niedrig, weniger als fünf Fuß; es gab keinen Platz für Besuchergalerien. Diener standen immer in den beiden Korridoren bereit, die mit einer Wand an die Wohnung grenzten. Esszimmer, Schlafzimmer und Bad hatten kleinere Öffnungen, eben groß genug, um Befehle zu geben oder Speise und Trank zu erhalten, oder um sie als Garderobe zu benutzen.
Der Haupteingang wurde außen von drei Rudeln Soldaten bewacht. Natürlich hätte der Meister niemals in einem Bau mit nur einem Ausgang gewohnt. Stahl hatte acht geheime Durchgänge gefunden (drei im Schlafraum). Sie konnten nur von innen geöffnet werden und führten in ein Labyrinth, das Flenser im Innern der Burgmauern gebaut hatte. Niemand kannte die Ausdehnung dieses Labyrinths, nicht einmal der Meister. In den Jahren seit Flensers Abreise hatte Stahl Teile davon umbauen lassen — insbesondere die Gänge, die aus diesem Bau führten.
Die Wohnung war beinahe uneinnehmbar. Selbst wenn die Burg fiel, war die Speisekammer der Zimmer für ein halbes Jahr versorgt; für die Belüftung sorgte ein Netz von Kanälen, das fast ebenso ausgedehnt wie die Geheimgänge des Meisters war. Alles in allem fühlte sich Stahl hier nur halbwegs sicher. Es war allemal möglich, dass es mehr als acht geheime Eingänge gab, vielleicht auch einen, der von der anderen Seite geöffnet werden konnte.
Und natürlich kamen Chöre nicht in Frage, weder hier noch sonstwo. Der einzige Sex außerhalb des Rudels, den sich Stahl erlaubte, fand mit Solos statt — und das als Teil seiner Experimente; es war einfach zu gefährlich, das eigene Selbst mit anderen zu vermischen.
Nach dem Essen schlenderte Stahl in die Bibliothek. Er machte es sich rund um sein Lesepult gemütlich. Zwei von ihm nippten am Branntwein, während ein anderer südliche Kräuter rauchte. Das tat er zum Vergnügen, aber auch aus Berechnung: Stahl wusste genau, welche Laster bei welchen Gliedern seine Phantasie aufs Äußerste schärften.
… Und immer deutlicher wurde ihm klar, dass im gegenwärtigen Spiel Phantasie mindestens so wichtig war wie die bloße Intelligenz. Das Pult in seiner Mitte war bedeckt von Karten, Berichten aus dem Süden, internen Sicherheitsnotizen. Doch zwischen all dem Seidenpapier lag wie eine Elfenbeinschnecke in ihrem Nest das fremde Radio. Sie hatten zwei aus dem Schiff geborgen. Stahl nahm das Ding, strich mit einer Nase die glatten gekrümmten Seiten entlang. Nur das feinste gespannte Holz — und das in Musikinstrumenten und Plastiken — kam ihm an Anmut gleich. Und doch behauptete das Pfahlwesen, man könnte damit über Dutzende von Meilen hinweg sprechen, so schnell wie ein Sonnenstrahl. Wenn das wahr war… Stahl fragte sich, wie viele verlorene Schlachten mit diesen Geräten hätten gewonnen werden können, wie viele neue Eroberungen sicher in Angriff genommen werden konnten. Und wenn sie lernen könnten, wie man Weitsprecher herstellte…, dann würden die Unterführer der Bewegung, über den Kontinent verstreut, so nahe wie die Wachen vor Stahls Bau sein. Keine Macht der Welt könnte ihnen widerstehen.
Stahl griff nach dem neuesten Bericht aus Holzschnitzerheim. In vielerlei Beziehung hatten sie dort mehr Erfolg mit ihrem Fremden als Stahl mit seinem. Augenscheinlich war ihrer fast erwachsen. Wichtiger noch, er hatte eine wunderbare Bibliothek, die fast wie ein lebendes Wesen befragt werden konnte. Es hatte drei andere Datios gegeben. Stahls Weißjacks hatten ihre Überreste in den ausgebrannten Trümmern rings um das Schiff gefunden. Jefri glaubte, die Prozessoren des Schiffs ähnelten ein bisschen einem Datio, ›nur dümmer‹ (Amdis bestmögliche Übersetzung), doch bislang waren die Prozessoren nutzlos gewesen.
Mit ihrem Datio aber hatten etliche von Holzschnitzerins Leuten schon die Sprache der Pfahlwesen erlernt. Jeden Tag entdeckten sie mehr über die Zivilisation der Fremden als Stahls Diener in zehn Tagen. Er lächelte. Sie wussten nicht, dass alles von Bedeutung zuverlässig zur Verborgenen Insel weitergemeldet wurde… Er würde ihnen ihr Spielzeug vorerst lassen, und ihr Pfahlwesen auch; sie hatten etliche Dinge bemerkt, die ihm entgangen wären. Dennoch haderte er mit dem Glück.
Stahl durchblätterte den Bericht… Gut. Das Fremde in Holzschnitzerheim war noch nicht zur Zusammenarbeit bereit. Er fühlte, wie sein Lächeln zum Gelächter anwuchs: es war eine Kleinigkeit, das Wort des Geschöpfs für die Rudel. Der Bericht versuchte, das Wort zu buchstabieren. Egal, die Übersetzung lautete ›Krallen‹ oder ›Klauen‹ . Das Pfahlwesen hatte besonders große Angst vor den Stahlklauen, die die Soldaten an den Vorderpfoten trugen. Stahl leckte nachdenklich am schwarzen Emaille seiner manikürten Krallen. Interessant. Krallen konnten etwas Bedrohliches sein, aber sie machten zum Teil auch die Person aus. Klauen waren ihre mechanische Verlängerung und konnten mehr Angst machen. Es war die Art Name, den man sich für eine Elitetruppe von Killern vorstellen konnte — aber niemals für alle Rudel. Schließlich gehörten zur Rasse der Rudel auch die Schwachen, die Armen, die Freundlichen, die Naiven… ebenso wie Personen vom Schlage Stahls und Flensers. Man konnte etwas sehr Interessantes über die Psychologie der Pfahlwesen daraus entnehmen, dass das Geschöpf Klauen als den charakteristischsten Zug der Rudel ausgewählt hatte.
Stahl lehnte sich vom Pult zurück und schaute auf die Landschaft, die rundum auf die Wände der Bibliothek gemalt war. Es war ein Blick von den Burgtürmen. Hinter der Farbe wurden die Wände von Mustern aus Glimmer und Quarz und Fasern durchzogen, die Echos erzeugten einen vagen Eindruck von dem, was man hören konnte, wenn man über den Stein und die Leere hinwegschaute. Kombinierte Tonbilder waren selten in der Burg, und dieses war besonders gut gemacht; Stahl konnte fühlen, wie er sich bei der Betrachtung entspannte. Für einen Moment ließ er sich treiben und seiner Phantasie freien Lauf.
Klauen. Es gefällt mir. Wenn das die Vorstellung des Fremden war, dann war es der richtige Name für seine Rasse. Seine armseligen Berater — und manchmal sogar das Flenser-Fragment — waren immer noch von dem Schiff von den Sternen eingeschüchtert. Zweifellos enthielt dieses Schiff Macht, die alles in der Welt überstieg. Doch nach der ersten Panik hatte Stahl begriffen, dass die Fremden nicht übernatürlich begabt waren. Sie waren einfach über den gegenwärtigen Zustand der Wissenschaft seiner Welt hinaus fortgeschritten, in einem Sinne, von dem Holzschnitzerin so viel redete. Gewiss war die fremde Zivilisation im Augenblick eine tödliche Unbekannte. Sie mochte wirklich imstande sein, diese Welt zu Asche zu verbrennen. Doch je mehr Stahl sah, umso deutlicher erkannte er die immanente Minderwertigkeit der Fremden: Was für eine bizarre Missbildung waren sie doch, eine Rasse von intelligenten Solos. Jedes von ihnen musste von Null auf aufgezogen werden, wie ein ganz neugeborenes Rudel. Erinnerungen konnten nur durch Stimme und Schrift weitergegeben werden. Jedes Geschöpf wuchs und alterte und starb sogar als Ganzes. Gegen seine Natur erschauderte Stahl.
Er hatte einen langen Weg von den ersten Fehleinschätzungen, den ersten Ängsten zurückgelegt. Seit mehr als dreißig Tagen schmiedete er nun Pläne, wie er das Sternenschiff zur Weltherrschaft benutzen könnte. Das Pfahlwesen sagte, dass das Schiff Signale an andere aussandte. Das hatte manche von seinen Dienern so verängstigt, dass sie das Wasser nicht mehr halten konnten. Also: Früher oder später würden weitere Schiffe eintreffen. Die Weltherrschaft war kein praktikables Ziel mehr… Es war an der Zeit, nach mehr zu streben, nach Dingen, die sich nicht einmal der Meister je hatte träumen lassen. Man brauchte ihnen nur ihre technischen Vorteile zu nehmen, und die Pfahlwesen waren solch beschränkte, verletzliche Wesen. Sie sollten leichte Beute für einen Eroberer sein. Selbst ihnen schien das klar zu sein. Klauen nennt uns das Geschöpf. So wird es sein. Eines Tages werden die Klauen zwischen den Sternen einherschreiten und dort herrschen.
Doch in den Jahren bis dahin würde das Leben sehr gefährlich sein. Wie ein neugeborener Welpe konnten all ihre Chancen mit einem kleinen Schlag vernichtet werden. Das Überleben der Bewegung — das Überleben der Welt — würde von der Überlegenheit ihrer Intelligenz, Vorstellungskraft, Disziplin, Heimtücke abhängen. Zum Glück waren das immer Stahls starke Seiten gewesen.
Stahl träumte in dem Kerzenschein und dem Dunst… Intelligenz, Vorstellungskraft, Disziplin, Heimtücke. Wenn man es richtig anfing… konnten die Fremden dazu gebracht werden, alle Feinde Stahls auszulöschen… und ihm dann die bloßen Kehlen darzubieten? Es war gewagt, fast jenseits aller Vernunft, doch es konnte gelingen. Jefri behauptete, er könnte das Signalgerät des Schiffes bedienen. Allein? Stahl bezweifelte es. Das Fremde war gründlich übertölpelt worden, aber nicht allzu fähig. Bei Amdiranifani war das anders. Er ließ die ganze Genialität seiner Vererbungslinien erkennen. Und die Prinzipien von Loyalität und Opferbereitschaft, die seine Lehrer ihm eingeimpft hatten, saßen tief, obwohl er ein bisschen… verspielt war. Sein Gehorsam hatte nicht die Schärfe, die man mit Furcht erzielen konnte. Egal. Als Werkzeug war er nützlicher als alle anderen. Amdiranifani verstand Jefri, und er schien die Geräte der Fremden sogar besser zu verstehen, als Jefri selbst.
Es musste riskiert werden. Er würde die beiden an Bord des Schiffes lassen. Sie würden seine Botschaft anstatt des automatischen Notsignals senden. Und wie sollte diese erste Botschaft lauten? Wort für Wort würde es das Wichtigste und das Gefährlichste sein, was jemals ein Rudel gesagt hatte.
Dreihundert Ellen entfernt, tief im Experimentalflügel, stießen ein Junge und ein Rudel Welpen auf eine unerwartete Glückssträhne: eine unverschlossene Tür und eine Gelegenheit, mit Jefris Kom-Gerät zu spielen.
Der Apparat war komplizierter als mancher andere. Er war für die Arbeit im Krankenhaus wie auch außerhalb vorgesehen, für die Fernsteuerung von Vorrichtungen wie auch für die Sprechverbindung. Durch Versuch und Irrtum engten die beiden allmählich das Feld der Möglichkeiten ein.
Jefri Olsndot zeigte auf Zahlen, die auf der Seite des Geräts erschienen waren. »Ich glaube, das bedeutet, wir sind in Verbindung mit einem Empfänger.« Er schaute nervös zur Tür hin. Etwas sagte ihm, dass sie eigentlich nicht hier sein sollten.
»Das ist dieselbe Anordnung wie auf dem Radio, das Herr Stahl genommen hat«, sagte Amdi. Kein einziger von seinen Köpfen beobachtete die Tür.
»Ich wette, wenn wir hier drücken, dann kommt das, was wir sagen, aus seinem Radio. Jetzt wird er verstehen, dass wir ihm helfen können… Also was sollen wir tun?«
Drei von Amdi rannten im Raum umher, wie Hunde, die ihre Aufmerksamkeit nicht auf das Gespräch konzentrieren können. Jefri wusste mittlerweile, dass das dem entsprach, wenn ein Mensch in Gedanken wegschaute und vor sich hin summte. Der Blickwinkel war auch eine Geste, in diesem Falle ein breiter werdendes schadenfrohes Lächeln. »Ich glaube, wir sollten ihn überraschen. Er ist immer so ernst.«
»Hm.« Herr Stahl war ziemlich ernsthaft. Aber so waren ja alle Erwachsenen. Sie erinnerten ihn an die älteren Wissenschaftler im Hochlabor.
Amdi nahm das Radio und blickte ihn an, als wolle er sagen: »Und nun pass auf!« Er drückte mit der Nase den Sprechschalter und sang ein langes Geheul ins Mikro. Es klang nur annähernd wie Rudelsprache. Einer von Amdi flüsterte Jefri die Übersetzung ins Ohr. Der Menschenjunge fühlte, wie ein Kichern in ihm hochstieg.
In seinem Bau war Fürst Stahl ins Pläneschmieden versunken. Seine Phantasie — von Kräutern und Branntwein gelöst — schwebte frei dahin und spielte mit den Möglichkeiten. Er lag tief in Samtkissen, geruhsam in der Sicherheit des Baus. Die verbliebenen Kerzen schienen schwach von der Mauerlandschaft wider und hell von den polierten Möbeln. Die Geschichte, die er den Fremden erzählen würde, er hatte sie fast beisammen…
Das Geräusch auf seinem Pult begann klein, von seinen Träumen überdeckt. Es war größtenteils tief, hatte aber Obertöne im Bereich des Denkens, wie Schichten eines anderen Verstandes. Es war eine Anwesenheit, und es nahm zu. Jemand ist in meinemBau! Der Gedanke schnitt wie die tötende Klinge Flensers. Stahls Glieder zuckten in Panik, vom Rauch und vom Branntwein desorientiert.
Da war eine Stimme inmitten des Wahnsinns. Sie war verzerrt, es fehlten Töne, die in jeder normalen Sprache dasein mussten. Sie heulte zitternd auf ihn ein: »Fürst Stahl! Grüße vom Rudel aller Rudel, dem Allmächtigen Herrgott!«
Ein Teil von Stahl war schon durch den Haupteingang hinausgestürmt und starrte mit aufgerissenen Augen auf die Soldaten im Gang. Die Anwesenheit der Soldaten brachte ein bisschen Ruhe, und eiskalte Verlegenheit. Das ist Unsinn. Er streckte einen Kopf zu dem fremden Gerät auf seinem Pult hin. Die Echos waren überall, doch die Töne hatten ihren Ursprung in dem Weitsprecher… Es kam keine Rudelsprache mehr, nur noch die hohen Klangfetzen, die gedankenlos im mittleren Denkspektrum trällerten. Halt. Hinter alledem, schwach und tief… waren die hustenden Grunzlaute, die er als das Lachen des Pfahlwesens erkannte.
Stahl ließ seiner Wut freien Lauf. Das Fremde sollte sein Werkzeug sein, nicht sein Gebieter. Aber wenn er dem Lachen lauschte und an die Worte dachte… Stahl fühlte, wie schwarze Raserei erst in einem von seinen Gliedern hochstieg, dann in noch einem. Fast ohne zu überlegen holte er aus und zerschmetterte das Kom-Gerät. Es verstummte sofort. Er warf einen Blick auf die Wachen, die im Korridor in Habachtstellung standen. Ihre Denkgeräusche waren still vor starrer Angst.
Jemand würde dafür mit seinem Leben bezahlen.
An dem Tag nach ihrem Erfolg mit dem Radio sprach Herr Stahl mit Amdi und Jefri. Sie hatten ihn überzeugt. Sie zogen aufs Festland um. Jefri würde Gelegenheit erhalten, Rettung herbeizurufen!
Stahl war noch ernsthafter als sonst; er betonte, wie wichtig es wäre, Hilfe zu erhalten, um sich gegen einen weiteren Angriff der Holzschnitzer zu verteidigen. Aber er schien nicht böse wegen Amdis kleinem Streich zu sein. Jefri atmete im Stillen erleichtert auf. Zuhause hätte ihm Vati wegen so was den Hintern versohlt. Ich glaube, Amdi hat Recht. Herr Stahl war so ernst, weil er so viel Verantwortung trug und sie sich solchen Gefahren gegenüber sahen. Aber im Grunde war er sehr nett.
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EMPFANGEN VON: Transceiver Relais03 bei Relais
SPRACHPFAD: Feuersprech -› Wolkenzeichen -› Triskweline, SjK-Einheiten [Feuersprech und Wolkenzeichen sind Verkehrssprachen des Hohen Jenseits. Diese Übersetzung gibt nur den Bedeutungskern wieder.]
VON: Gesellschaft für Schiedskünste im Feuerwolken-Nebel [eine militärische [?] Organisation des Hohen Jenseits. Bekanntes Alter ca. 100 Jahre]
GEGENSTAND: Gründe zur Besorgnis
ZUSAMMENFASSUNG: Drei Einzelsystem-Zivilisationen sind anscheinend vernichtet
SCHLAGWÖRTER: Maßstab interstellare Katastrophen, Maßstab interstellare Kriegführung?, Straumli-Bereich-PERVERSION
VERTEILER:
Interessengruppe Kriegsbeobachter
Interessengruppe Bedrohungen
Interessengruppe Homo sapiens
DATUM: 53,57 Tage seit dem Untergang des Straumli-Bereichs
TEXT DER BOTSCHAFT:
Unlängst hat eine obskure Zivilisation die Erschaffung einer neuen MACHT im Transzens mitgeteilt. Sie ist dann ›zeitweise‹ vom Bekannten Netz losgefallen. Seither hat es in ›Bedrohungen‹ etwa eine Million Meldungen über den Vorfall gegeben — eine Menge Spekulationen, dass eine PERVERSION DER KLASSE ZWEI geboren worden sei —, aber keine Hinweise auf Wirkungen außerhalb des ehemaligen ›Straumli-Bereichs‹ .
›Schiedskünste‹ ist auf Treck-Lansing-Streitfälle spezialisiert. Daher haben wir wenig gemeinsame Geschäftsinteressen mit natürlichen Rassen oder der Gruppe »Bedrohungen«. Das wird sich möglicherweise ändern müssen: Vor 65 Stunden haben wir anscheinend die Ausrottung dreier isolierter Zivilisationen im Hohen Jenseits nach dem Straumli-Bereich bemerkt. Zwei davon waren Vorposten der ›Auge-im-U‹ -Religion und die dritte eine Pentragische Fabrik. Vorher war ihre Hauptverbindung zum Netz der Straumli-Bereich gewesen. Somit waren sie vom Netz los, seit Straumli untergegangen ist, abgesehen von gelegentlichen Rufzeichen unsererseits.
Wir haben drei Flüge umgeleitet, um Durchflüge durchzuführen. Die Signalerkundung hat eine Breitbandkommunikation festgestellt, die eher einer neuralen Kontrolle als lokalem Netzverkehr ähnelt. Alle unsere Flugkörper sind zerstört worden, ehe sie detaillierte Informationen senden konnten. Angesichts des Hintergrundes dieser Vorgänge kommen wir zu dem Schluss, dass es sich nicht um die normalen Nachwirkungen einer Transzendation handelt.
Diese Beobachtungen entsprechen einem Angriff der Klasse Zwei aus dem Transzens (wenngleich einem verdeckten). Als offensichtlichste Quelle kommt die neue vom Straumli-Bereich geschaffene MACHT in Frage. Wir fordern alle Zivilisationen des Hohen Jenseits in diesem Gebiet zu erhöhter Wachsamkeit auf. Wir größeren haben wenig zu befürchten, doch die Bedrohung ist sehr deutlich.
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EMPFANGEN VON: Transceiver Relais03 bei Relais
SPRACHPFAD: Feuersprech -› Wolkenzeichen -› Triskweline, SjK-Einheiten [Feuersprech und Wolkenzeichen sind Verkehrssprachen des Hohen Jenseits. Diese Übersetzung gibt nur den Bedeutungskern wieder.]
VON: Gesellschaft für Schiedskünste im Feuerwolken-Nebel [eine militärische [?] Organisation des Hohen Jenseits. Bekanntes Alter ca. 100 Jahre]
GEGENSTAND: Neue Dienstleistungen verfügbar
ZUSAMMENFASSUNG: Schiedskünste, um Netzrelaisdienst zu gewährleisten
SCHLAGWÖRTER: Sondergebühren, Sensible Übersetzungsprogramme, Ideal für Zivilisationen im Hohen Jenseits
VERTEILER:
Interessengruppe Kommunikationskosten
Verwaltungsgruppe Motley-Luke
DATUM: 61,00 Tage seit dem Untergang des Straumli-Bereichs
TEXT DER BOTSCHAFT:
›Schiedskünste‹ kann mit Stolz einen Transmitter-Abzweig-Dienst vorstellen, der speziell für Regionen im Hohen Jenseits entworfen wurde [Gebührentabellen nach dem Text dieser Mitteilung]. Zonenstatus-Programme werden Übersetzungen und Übertragungen in hoher Qualität gewährleisten. Es ist beinahe hundert Jahre her, seit eine Zivilisation des Hohen Jenseits in diesem Teil der Galaxis daran interessiert war, solch eine Kommunikations-Dienstleistung anzubieten. Uns ist klar, dass diese Arbeit stumpfsinnig ist und die Armiphlage kaum den Aufwand lohnt, aber wir alle sind in der Lage, aus Protokollen Nutzen zu ziehen, die der Zone entsprechen, in der wir leben. Details folgen unter Syntax 8139… [Das Wolkenzeichen:Triskweline-Übersetzungsprogramm bockt bei der Arbeit mit Syntax 8139.]
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: Transceiver Relais03 bei Relais
SPRACHPFAD: Wolkenzeichen -› Triskweline, SjK-Einheiten [Wolkenzeichen ist eine Verkehrssprache des Hohen Jenseits. Trotz der umgangssprachlichen Wiedergabe kann nur der Bedeutungskern gewährleistet werden.]
VON: Transzendentale Verblüffungs Handels Union bei Wolkenmitte
GEGENSTAND: Frage von Leben und Tod
ZUSAMMENFASSUNG: ›Schiedskünste‹ ist über Netzangriff der Straumli-PERVERSION anheimgefallen. Benutzt Relais im Mittleren Jenseits, bis die Notlage vorüber ist!
SCHLAGWÖRTER: Netzangriff, Maßstab interstellare Kriegführung, Straumli-PERVERSION
VERTEILER:
Interessengruppe Kriegsbeobachter
Interessengruppe Bedrohungen
Interessengruppe Homo sapiens
DATUM: 61,12 Tage seit dem Untergang des Straumli-Bereichs
TEXT DER BOTSCHAFT.
WARNUNG! Der Partner, der sich als ›Schiedskünste‹ identifiziert, wird jetzt von der Straumli-PERVERSION kontrolliert. Das jüngste Angebot von Kommunikations-Dienstleistungen seitens der ›Künste‹ ist ein tödlicher Trick. In Wahrheit verfügen wir über gewichtige Beweise, dass die PERVERSION sensible Netzpakete benutzt hat, um die Verteidigung der ›Künste‹ zu durchdringen und auszuschalten. Große Teile der ›Künste‹ scheinen jetzt unter direkter Kontrolle der Straumli-MACHT zu stehen. Teile der ›Künste‹ , die nicht von der ursprünglichen Invasion infiziert worden sind, wurden von den befallenen Teilen vernichtet: Durchflüge lassen mehrere Stellifikationen erkennen.
Was zu tun ist: Wenn ihr in den letzten tausend Sekunden irgendwelche Hochjenseits-Protokollpakete von ›Schiedskünste‹ erhalten habt, sondert sie sofort aus. Wenn sie gelaufen sind, müssen der Ort des Durchlaufs und alle lokal vernetzten Orte sofort physisch vernichtet werden. Uns ist klar, dass das die Zerstörung von ganzen Sonnensystemen bedeutet, aber erwägt die Alternative. Ihr befindet euch unter Transzendentalem Angriff.
Wenn ihr die erste Gefahr übersteht (die nächsten dreißig Stunden oder so), dann liegt auf der Hand, welche Prozeduren relative Sicherheit geben können: Nehmt keine Hochjenseits-Protokollpakete an. Lasst allerwenigstens alle Verbindungen über Orte im Mittleren Jenseits laufen und alles hinab auf örtliche Verkehrssprachen und dann wieder hinauf übersetzen. Für die weitere Zukunft: Offensichtlich ist in unserer Region der Galaxis eine außerordentlich mächtige PERVERSION DER KLASSE ZWEI aufgeblüht. Für die nächsten dreizehn Jahre oder so werden alle fortgeschrittenen Zivilisationen in unserer Nähe in großer Gefahr sein.
Wenn wir den Hintergrund der gegenwärtigen PERVERSION feststellen können, können wir vielleicht ihre Schwäche und einen brauchbaren Schutz herausfinden. An PERVERSIONEN DER KLASSE ZWEI ist immer eine deformierte MACHT beteiligt, die im Hohen Jenseits symbiotische Strukturen bildet — aber es gibt eine enorme Vielzahl von Quellen. Manche sind schlecht geformte Witze von MÄCHTEN, die nicht mehr auf der Bildfläche sind. Andere sind Waffen, die von unlängst Transzendierten und niemals ordentlich Entwaffneten gebaut wurden.
Die unmittelbare Quelle dieser Gefahr ist gut belegt: eine Species, die in jüngerer Zeit aus dem Mittleren Jenseits heraufgekommen ist, hat den Straumli-Bereich gegründet. Wir neigen dazu, uns der in den Botschaften […] geäußerten Theorie anzuschließen, nämlich dass die Straumli-Forscher mit Information aus der Quer-Durch-Gruppe experimentiert haben und dass das Rezept ein selbststartendes Übel aus einer früheren Zeit war. Eine Möglichkeit: Ein Verlierer aus grauer Vorzeit hat Knowhow in das Netz (oder in ein verschollenes Archiv) implementiert, damit seine eigenen Nachkommen es nutzen könnten. Daher sind wir an jeder Information mit Bezug zum Homo sapiens interessiert.
Am nächsten Tag machte sich Amdi auf die weiteste Reise in seinem jungen Leben. In Windjacken eingehüllt, fuhren sie auf breiten, gepflasterten Straßen zur Meerenge unter der Burg hinab. Herr Stahl fuhr auf einem von drei Cherhogs gezogenen Wagen voran. Er sah großartig aus in seinen Jacken mit den roten Streifen. In weiße Pelze gekleidete Wachen fuhren zu beiden Seiten neben ihnen, und die strenge Tyrathect bildete die Nachhut. Das Nordlicht war so hell, wie Amdi es nur je gesehen hatte, insgesamt heller als der Vollmond, der über dem nördlichen Horizont lag. Eiszapfen wuchsen von den Dächern der Gebäude herab, manche bis zum Erdboden: im Lichte glitzernde, silbriggrüne Säulen.
Dann waren sie in den Booten und wurden über die Meerenge gerudert. Das Wasser schwappte wie kaltes schwarzes Gestein um die Bootsrümpfe.
Als sie das andere Ufer erreichten, ragte der Schiffsberg über ihnen auf, höher, als je eine Burg sein konnte. Jede Minute brachte neue Eindrücke, neue Welten.
Sie brauchten eine halbe Stunde, um den Gipfel dieses Berges zu erreichen, obwohl ihre Wagen von Cherhogs gezogen wurden und niemand zu Fuß ging. Amdi schaute in alle Richtungen, ergriffen von der Landschaft, die sich im Schein des Nordlichts unter ihnen ausbreitete. Anfangs schien Jefri genauso begeistert zu sein, doch als sie den Gipfel erreicht hatten, blickte er sich nicht mehr um und klammerte sich an seinen Freund, dass es fast weh tat.
Herr Stahl hatte Schutzmauern um das Sternenschiff errichten lassen. Drinnen war die Luft ruhig und ein wenig wärmer. Jefri stand am Fuß der zerbrechlich wirkenden Stufenleiter und blickte hinauf zu dem Licht, das aus der offenen Luke des Schiffes strömte. Amdi fühlte, wie er zitterte.
»Macht ihm seine eigene Flugmaschine Angst?«, fragte Tyrathect.
Doch Amdi kannte mittlerweile die meisten von Jefris Ängsten und verstand den größten Teil der Verzweiflung. Wie wäre mir zumute, wenn Herr Stahl umgebracht würde? »Nein, keine Angst. Es ist die Erinnerung an das, was hier geschehen ist.«
Stahl sagte sanft: »Sag ihm, wir können wiederkommen. Er muss nicht heute hineingehen.«
Jefri schüttelte den Kopf, als er den Vorschlag hörte, konnte aber nicht gleich antworten. »Ich muss weitermachen. Ich muss tapfer sein.« Er ging langsam die Leiter hinauf und blieb auf jeder Stufe stehen, um sich zu vergewissern, dass Amdi noch bei ihm war. Die Welpen wurden hin und her gerissen zwischen der Sorge um Jefri und dem wilden Verlangen, sich in das wunderbare Geheimnis zu stürzen.
Dann waren sie durch die Luke hindurch und in der seltsamen Welt der Zweibeiner: helles bläuliches Licht, Luft so warm wie in der Burg… und Dutzende von geheimnisvollen Dingen. Sie gingen an die andere Seite des großen Raums, und Herr Stahl steckte ein paar Köpfe durch den Eingang. Seine Gedankentöne erzeugten laute Echos rings um ihn. »Ich habe die Wände gepolstert, Amdi, aber trotzdem ist hier nur für einen von uns Platz.«
»Hm… ja.« Es gab Echos, und Stahls Verstand klang sonderbar grimmig.
»Es ist an dir, unseren Freund hier zu beschützen und mich alles wissen zu lassen, was du siehst.« Er zog sich zurück, sodass nur noch ein Kopf zu ihnen hereinschaute.
»Ja. Ja! Das werde ich tun.« Es war das erste Mal, dass jemand außer Jefri ihn wirklich brauchte.
Jefri ging schweigend in dem Raum mit seinen schlafenden Freunden umher. Er weinte nicht mehr und war nicht in der stillen Beklemmung, die ihn oft ergriff. Er strich mit den Händen leicht über die Särge und schaute auf die Gesichter darin. So viele Freunde, dachte Amdi, die darauf warten, erweckt zu werden. Wie werden sie sein?
»Die Wände? Ich erinnere mich nicht an das da…«, sagte Jefri. Er berührte die schwere Polsterung, die Stahl hatte anbringen lassen.
»Es lässt den Raum besser klingen«, sagte Amdi. Er zog an den Lappen, neugierig, was wohl dahinter sein mochte: Grüne Wand, wie Stein und Stahl zugleich…, und bedeckt von winzigen Buckeln und Fäden von Grau. »Was ist das?«
Jefri blickte über Amdis Schultern. »Och. Schimmel. Er hat sich ausgebreitet. Ich bin froh, dass Herr Stahl ihn zugedeckt hat.« Der Menschenjunge ging wieder weg. Amdi blieb eine Sekunde länger stehen und streckte mehrere Köpfe nahe zu dem Zeug hinauf. Schimmel und Pilz waren ein ständiges Problem in der Burg, die Leute machten andauernd sauber — und Amdi hielt das für abwegig. Er mochte Pilz gut leiden, es war etwas, das auf dem härtesten Fels wachsen konnte. Und dieses Zeug war besonders seltsam. Manche von den Klümpchen waren fast einen halben Zoll hoch, aber fein wie fester Rauch.
Der zurückblickende Teil von ihm sah, dass Jefri zu der inneren Kabine gegangen war. Zögernd folgte ihm Amdi.
Dieses erste Mal blieben sie nur eine Stunde lang im Schiff. In der inneren Kabine schaltete Jefri die Zauberfenster an, die nach allen Richtungen schauten. Amdi saß da, und ihm gingen die Augen über; das war ein Ausflug in den Himmel.
Für Jefri war es etwas anderes. Er hockte sich in eine Hängematte und starrte die Steuerpulte an. Die Spannung wich langsam aus seinem Gesicht.
»Mir… mir gefällt es hier«, sagte Amdi zögernd, leise.
Jefri wiegte sich sachte in der Hängematte. »… Ja.« Er seufzte. »Ich hatte solche Angst…, aber wenn ich hier bin, fühle ich mich näher bei…« Er streckte die Hand aus, um zärtlich über die Steuertafel zu streichen, die neben der Hängematte hing. »Mein Vati ist mit dem Ding gelandet, hier hat er gesessen.« Er wandte sich um, schaute auf eine glänzende Lichttafel über sich. »Und Mutti hat die Ultrawelle schon eingestellt… Sie haben alles getan. Und jetzt sind nur noch wir beide da, Amdi. Sogar Johanna ist fort… Es liegt alles an uns.«
VRINIMI-KLASSIFIKATION: Organisationsintern GEHEIM. Nicht zur Verbreitung außerhalb von Ring 1 des lokalen Netzes.
TRANSCEIVER RELAIS00 SUCHLOG:
BEGINN: 19:40:40 Dockzeit, 17.1. im Org-Jahr 52.090 [128,13 Tage seit dem Untergang des Straumli-Bereichs]
Sendeschleife nach Verbindungszweigsyntax 14 auf zugeordnetem Überwachungsmodul entdeckt. Signalstärke und S/N kompatibel zu vorher entdecktem Automatiksignal.
SPRACHPFAD: Samnorsk, SjK:Relais-Einheiten
VON: Jefri Olsndot in ich weiß nicht wo
GEGENSTAND: Hallo. Ich heiß Jefri Olsndot. Unser Schiff ist kaput udnd wir brauchen hilfe. bBitte antwortet.
ZUSAMMENFASSUNG: Tut mir Leid wenn ich was falsch mach. Diese Tasten sind DOOF!
SCHLAGWÖRTER: Weiß nicht
AN: jeden zum Weitergeben
TEXT DER BOTSCHAFT: [leer]
Zwei Skrodfahrer spielten in der Brandung.
»Glaubst du, dass sein Leben in Gefahr ist?«, fragte der eine mit der grünen unteren Muschelschale.
»Wessen Leben?«, erwiderte der andere, ein großer Fahrer mit schlankem bläulichen Stiel.
»Von Jefri Olsndot, dem Menschenkind.«
Blaustiel seufzte und befragte seinen Skrod. An den Strand kommt man, um die Alltagssorgen zu vergessen, doch Grünmuschel wollte sie nicht sein lassen. Er durchmusterte den Gedächtnisverstärker nach ›Gefahr für Jefri‹ . »Natürlich ist er in Gefahr, du Schussel! Sieh dir die letzten Botschaften von ihm an.«
»Oh.« Grünmuschels Ton drückte Verlegenheit aus. »Entschuldige die unvollständige Erinnerung« — genug, um sich Sorgen zu machen, mehr aber nicht. Sie verstummte; nach einer Weile hörte er sie wohlig summen. Die Brandung schlug endlos an ihnen vorbei.
Blaustiel öffnete sich dem Wasser und schmeckte das Leben, das in der Kraft der Wellen wirbelte. Es war ein schöner Strand. Er war wahrscheinlich einmalig — und das konnte man von den wenigsten Dingen im Jenseits sagen. Wenn die Gischt von ihren Körpern zurückwich, sahen sie den indigofarbenen Himmel, der sich von einer Seite der Docks zur anderen breitete, und das Glitzern der Sternenschiffe. Wenn die Brandung herankam, tauchten die beiden Fahrer in dem kalten Strudel unter, umgeben von Korallesken und Geschöpfen der Gezeitenzone, die hier ihre kleinen Behausungen bauten. Und bei ›Hochwasser‹ blieb die Beugung des Meeres für etwa eine Stunde konstant. Dann wurde das Wasser klarer, und bei Tageslicht konnten sie Fleckchen von dem glasigen Meeresgrund sehen — und durch sie hindurch tausend Kilometer tiefer die Oberfläche von DaUnten.
Blaustiel versuchte, sein Denken von den Kümmernissen zu befreien. Für jede Stunde friedlicher Kontemplation würden sich ein paar weitere natürliche Erinnerungen ansammeln… Vergebens. Momentan konnte er die Sorgen ebenso wenig verbannen wie Grünmuschel. Nach einer Weile sagte er: »Manchmal wünschte ich, ich wäre ein Minderer Fahrer.« Ein Leben lang am selben Ort zu stehen und nur ein Minimum an Skrod zu besitzen.
»Ja«, sagte Grünmuschel. »Aber wir haben beschlossen umherzuwandern. Das heißt, bestimmte Dinge aufzugeben. Manchmal müssen wir uns an Dinge erinnern, die nur ein- oder zweimal geschehen. Manchmal haben wir große Abenteuer; ich bin froh, dass wir den Vertrag über die Rettungsexpedition abgeschlossen haben, Blaustiel.«
Keiner von ihnen war also gerade in der richtigen Stimmung fürs Meer. Blaustiel senkte die Räder ihres Skrods ab und fuhr ein bisschen dichter an Grünmuschel heran. Er blickte tief ins mechanische Gedächtnis seines Skrods und durchforstete die allgemeinen Datenbanken. Es stand eine Menge über Katastrophen darin. Wer immer die ursprünglichen Datenbanken der Skrods angelegt hatte, hatte Kriege und PEST-Epidemien und PERVERSIONEN sehr wichtig gefunden. Es waren aufregende Sachen, und sie konnten einen umbringen.
Doch Blaustiel sah auch, dass im richtigen Verhältnis betrachtet solche Katastrophen einen kleinen Teil der Zivilisationserfahrung ausmachten. Nur etwa einmal pro Jahrtausend gab es eine massive PERVERSION. Es war einfach Pech für sie, dass es sie in der Nähe von dergleichen erwischte. In den letzten zehn Wochen war ein Dutzend Zivilisationen im Hohen Jenseits vom Netz abgefallen, waren in das symbiotische Amalgam absorbiert worden, das man jetzt die Straumli-PEST nannte. Der Handel mit dem Hohen Jenseits hatte Schaden genommen. Seit sie ihr Schiff erworben hatten, hatten er und Grünmuschel etliche Aufträge geflogen, doch alle im Mittleren Jenseits.
Die beiden waren immer sehr vorsichtig gewesen, nun aber — wie Grünmuschel sagte — mochte es sein, dass ihnen Großtaten aufgezwungen wurden. Die Vrinimi-Org wollte einem geheimen Flug zum Grunde des Jenseits in Auftrag geben. Da er und Grünmuschel schon in das Geheimnis eingeweiht waren, fiel die Wahl naturgemäß auf sie. Zur Zeit befand sich die Aus der Reihe II in den Werftanlagen der Vrinimi-Org, wo zusätzliche Grundschlepper-Ausrüstungen eingebaut und ein großer Vorrat von ferngesteuerten Antennenprojektilen an Bord gebracht wurden. Auf einen Schlag hatte sich der Wert der ADR verzehntausendfacht. Sie hatten nicht einmal feilschen müssen!… und das war das Beängstigendste. Jeder Zusatz war offensichtlich für den Ausflug unerlässlich. Sie würden bis ganz nahe an den Rand des Langsam hinabsteigen. Unter den günstigsten Umständen wäre das eine langweilige Übung, doch die letzten Berichte meldeten Bewegung in den Zonengrenzen. Wenn sie Pech hatten, konnten sie auf die falsche Seite geraten, wo die Lichtgeschwindigkeit das Maximum war. Falls das geschähe, wäre der neue Staustrahlantrieb ihre einzige Hoffnung.
All dies lag im Rahmen dessen, was Blaustiel als Geschäft akzeptieren konnte. Ehe er Grünmuschel begegnet war, war er auf Grundschleppern gefahren, sogar ein-, zweimal gestrandet gewesen. Doch… »Ich mag das Abenteuer so sehr wie du«, sagte Blaustiel, und ein grantiger Ton schlich sich in seine Stimme. »Zum Grunde zu reisen, Vernunftwesen aus den Klauen wilder Bestien zu befreien — wenn man genug Geld hat, hat das vielleicht alles Sinn. Aber… was, wenn das Schiff der Straumer wirklich so wichtig ist, wie Ravna glaubt? Nach all der Zeit wirkt es absurd, doch sie hat die Vrinimi-Org von der Möglichkeit überzeugt. Wenn es da unten etwas gibt, das der Straumli-PEST schaden könnte…« Wenn der PEST jemals dieser Verdacht kam, konnte sie eine Flotte von zehntausend Kriegsschiffen zu ihrem Ziel hinabschicken. Unten am Grunde würden sie nicht viel besser als konventionelle Schiffe sein, aber er und Grünmuschel wären trotz allem tot.
Abgesehen von einem Summen wie im Tagtraum schwieg Grünmuschel. Hatte sie den Gesprächsfaden verloren? Dann drang ihre Stimme durchs Wasser zu ihm, eine Sicherheit gebende Liebkosung. »Ich weiß, Blaustiel, es könnte unser Ende sein. Und dennoch will ich es wagen. Wenn es ungefährlich ist, machen wir riesigen Gewinn. Wenn unser Flug der PEST Schaden zufügen könnte…, nun, dann ist er schrecklich wichtig. Unsere Hilfe könnte vielleicht Dutzende von Zivilisationen retten — und nebenbei Millionen von Stränden mit Skrodfahrern.«
»Hmm. Du gehst nach dem Stiel statt dem Skrod.«
»Wahrscheinlich.« Sie hatten das Vordringen der PEST von ihren Anfängen an verfolgt. Die Gefühle von Entsetzen und Mitleid waren jeden Tag verstärkt worden, bis sie sich in ihren natürlichen Persönlichkeiten festsetzten. Daher waren Grünmuschels Gefühle (und auch Blaustiels — er konnte es nicht leugnen) in bezug auf die PEST stärker als jene gegenüber der Gefahr, die mit ihrem neuen Vertrag verknüpft war. »Wahrscheinlich. Meine Befürchtungen wegen der Rettungsaktion sind noch analytisch« — noch an ihren Skrod gebunden. »Dennoch… glaube ich, wir könnten ein Jahr lang hier stehen bleiben, ehe wir wirklich alle Aspekte empfinden würden… Ich glaube, wir sollten uns trotzdem für den Flug entscheiden.«
Blaustiel rollte unstet vor und zurück. Der feine Sand wurde hoch und zwischen seinen Wedeln hindurch gewirbelt. Sie hatte Recht, sie hatte Recht. Doch er konnte es nicht laut sagen; der Auftrag flößte ihm immer noch Angst ein.
»Und bedenke, Partner: Wenn es wirklich so wichtig ist, können wir vielleicht Hilfe bekommen. Du weißt, dass die Org mit dem Abgesandten Apparat verhandelt. Mit etwas Glück erhalten wir am Ende einen Geleitschutz, entworfen von einer Transzendenten MACHT.«
Das Bild hätte Blaustiel beinahe zum Lachen gebracht. Zwei kleine Skrodfahrer auf der Reise zum Grunde des Jenseits — umgeben von Hilfe aus dem Transzens. »Ich will es hoffen.«
Nicht nur die Skrodfahrer hegten diesen Wunsch. Weiter oben am Strand ging Ravna Bergsndot in ihrem Büro auf und ab. Welch grausame Ironie, dass selbst die größten Katastrophen anständigen Leuten Chancen eröffnen können. Beim Untergang der Schiedskünste war ihre Übernahme in die Marketing-Abteilung auf Dauer festgelegt worden. In dem Maße, wie sich die PEST ausbreitete und die Märkte im Hohen Jenseits zusammenbrachen, wuchs das Interesse der Org noch weiter, Informationsdienste über die Straumli-PERVERSION bereitzustellen. Ihre ›Fachkenntnisse‹ in menschlichen Angelegenheiten erhielten mit einem Mal außerordentlich hohen Wert — ungeachtet der Tatsache, dass der Straumli-Bereich selbst nur ein kleiner Teil von dem war, was jetzt die PEST ausmachte. Das wenige, was die PEST über sich selbst sagte, kam oft in Samnorsk. Grondr & Co. waren weiterhin lebhaft an ihrer Analyse interessiert.
Nun ja, sie hatte einiges geleistet. Sie hatten das ›Hier bin ich‹ des Flüchtlingsschiffs aufgefangen und dann, neunzig Tage später, eine Botschaft von einem überlebenden Menschen, Jefri Olsndot. Gerade einmal vierzig Botschaften hatten sie ausgetauscht, doch genug, um von den Klauenwesen und Herrn Stahl und den bösen Holzschnitzern zu erfahren. Genug, um zu wissen, dass ein kleines Menschenleben ausgelöscht würde, wenn sie nicht helfen könnte. Bei aller Ironie war es natürlich: Meistens bedeutete ihr dieses einzelne Leben mehr als alle Schrecken der PERVERSION, selbst der Untergang des Straumli-Bereichs. Den MÄCHTEN sei Dank, dass Grondr die Rettungsexpedition gebilligt hatte: Es war eine Gelegenheit, etwas Wichtiges über die Straumli-PERVERSION in Erfahrung zu bringen. Und die Klauenrudel schienen ihn auch zu interessieren; Gruppenpersönlichkeiten waren im Jenseits rar und vergänglich. Grondr hatte die ganze Angelegenheit geheimgehalten und seine Chefs davon überzeugt, die Mission zu unterstützen. Doch all seine Hilfe reichte vielleicht nicht aus. Wenn das Flüchtlingsschiff so wichtig war, wie Ravna glaubte, konnten riesige Gefahren jeden Retter erwarten.
Ravna blickte über die Brandung hin. Wenn die Wellen über den Sand zurückrollten, sah sie die Wedel der Skrodfahrer aus der Gischt ragen. Wie sie sie beneidete: Wenn ihnen Spannungen lästig wurden, konnten sie sie einfach abschalten. Die Skrodfahrer gehörten zu den am weitesten verbreiteten Vernunftwesen im Jenseits. Es gab viele Abarten, doch in einem stimmten Analyse und Legenden überein: Vor sehr langer Zeit waren sie eine einzige Art gewesen. Irgendwann in der Vergangenheit außerhalb des Netzes waren sie sesshafte Bewohner von Meeresstränden gewesen. Sich selbst überlassen, hatten sie eine Form der Intelligenz entwickelt, der fast jedes Kurzzeitgedächtnis abging. Sie saßen in der Brandung und dachten Gedanken, die keine Spuren in ihrem Geist hinterließen. Nur die Wiederholung eines Stimulus über eine gewisse Zeit hinweg konnte das bewirken. Dennoch hatten die Intelligenz und das Gedächtnis, die sie besaßen, einen Überlebenswert: Sie ermöglichten es ihnen, die besten Stellen zum Ausstreuen ihres Puppensamens auszuwählen, Orte, die Sicherheit und Nahrung für die nächste Generation bedeuteten.
Dann war eine unbekannte Rasse auf die Träumer gestoßen und hatte beschlossen, ihnen ›aus der Klemme zu helfen‹ . Jemand hatte sie auf fahrbare Untersätze gesetzt, die Skrods. Mit Rädern konnten sie sich die Strände entlang bewegen, konnten mit ihren Wedeln und Ranken zufassen und hantieren. Mit Hilfe des mechanischen Kurzzeitgedächtnisses ihrer Skrods konnten sie schnell genug lernen, um von ihrer neu erworbenen Beweglichkeit nicht umgebracht zu werden.
Ravna wandte den Blick von den Skrodfahrern ab — jemand schwebte über die Bäume heran. Der Abgesandte Apparat. Vielleicht sollte sie Grünmuschel und Blaustiel aus dem Wasser rufen. Nein. Sollten sie es noch eine Weile genießen. Wenn sie es nicht fertigbrachte, die Spezialausrüstung zu bekommen, würde es für sie später noch schwer genug werden…
Außerdem komme ich auch ohne Zeugen aus. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte in den Himmel. Die Vrinimi-Org hatte versucht, mit dem ALTEN darüber zu sprechen, doch neuerdings wollte die MACHT nur durch ihren Abgesandten Apparat agieren… und er hatte auf einem Treffen von Angesicht zu Angesicht bestanden.
Der Abgesandte landete ein paar Meter entfernt und verneigte sich. Sein schiefes Grinsen verdarb den Effekt. »Pham Nuwen, zu Diensten.«
Ravna deutete ihrerseits eine Verbeugung an und führte ihn in den Schatten ihres Büroinneren. Wenn er glaubte, sie Angesicht zu Angesicht nervös machen zu können, dann hatte er Recht. »Danke, dass Sie gekommen sind, mein Herr. Die Vrinimi-Org hat ein wichtiges Anliegen an Ihren Prinzipal« — Besitzer? Meister? Lenker?
Pham Nuwen ließ sich auf einen Stuhl fallen und räkelte sich. Seit jener Nacht in der Wandergesellschaft war er ihr nicht über den Weg gelaufen. Grondr sagte allerdings, dass der ALTE ihn bei Relais behielt und die Archive nach Information über die Menschheit und ihre Ursprünge durchforsten ließ. Es ergab jetzt Sinn, dass der ALTE überredet worden war, seine Netznutzung einzuschränken: Der Abgesandte konnte die Information vor Ort verarbeiten, d.h. menschliche Intelligenz für die Suche und Zusammenfassung verwenden und nur das nach oben weitergeben, was der ALTE wirklich brauchte.
Ravna beobachtete ihn aus dem Augenwinkel, während sie vorgab, ihr Datio zu studieren. Pham hatte sein altes, träges Lächeln. Sie fragte sich, ob sie wohl jemals den Mut aufbringen würde, sich bei ihm zu erkundigen, wie viel an ihrer… Affäre… menschlich gewesen war. Hatte Pham Nuwen etwas für sie empfunden? Verdammt, hatte er wenigstens Spaß daran gehabt?
Aus transzendentem Blickwinkel war er vielleicht ein einfaches Gerät zur Verdichtung von Daten und für ferngesteuerte Manipulationen — doch aus ihrer Sicht war er immer noch ein Mensch. »Äh… ja… Also… Die Org hat das Flüchtlingsschiff der Straumer weiterhin beobachtet, obwohl Ihr Prinzipal das Interesse verloren hat.«
Phams Augenbrauen hoben sich mit höflichem Interesse. »Oh?«
»Vor zehn Tagen ist das einfache Signal ›Hier bin ich‹ von einer neuen Botschaft unterbrochen worden, anscheinend von einem überlebenden Besatzungsmitglied.«
»Gratulation. Ihr habt es geschafft, das geheim zu halten, sogar vor mir.«
Ravna nahm den Köder nicht an. »Wir tun unser Bestes, um es vor jedermann geheim zu halten, mein Herr. Aus Gründen, die Sie kennen müssen.« Sie legte die bisherigen Botschaften auf einen Bildschirm zwischen ihnen. Eine Handvoll von Rufen und Antworten, über zehn Tage verstreut. Die Triskweline-Übersetzung für Pham enthielt nicht mehr die ursprünglichen grammatischen und Schreibfehler, doch der Tonfall blieb unverändert. Ravna war auf sehen der Org für die Gespräche zuständig. Es war, als spräche man in einem dunklen Zimmer mit jemandem, den man nie gesehen hat. Manches konnte man sich leicht vorstellen: eine schrille, fiepsige Stimme hinter den großgeschriebenen Worten und den Ausrufezeichen. Sie besaß keine Videoaufnahme von dem Kind, aber über das Menschheits-Archiv bei Sjandra Kei hatte die Marketing-Abteilung Bilder von den Eltern des Jungen aufgetrieben. Sie sahen wie typische Straumer aus, aber mit den braunen Augen der Linden-Sippen. Der kleine Jefri dürfte schlank und dunkel sein.
Pham Nuwens Blick huschte über den Text abwärts und schien dann an den letzten paar Zeilen hängen zu bleiben:
Org[17]: Wie alt bist du, Jefri?
Ziel[18]: Ich bin acht. Ich meine, ich bin acht Jahre alt. ICH BIN ALT GENUG, ABER ICH BRAUCHE HILFE.
Org[18]: Wir werden helfen. Wir kommen so schnell wir können, Jefri.
Ziel[19]: Tut mir Leid, dass ich gestern nicht reden konnte. Die bösen Leute waren gestern wieder auf dem Berg. Es war gefährlich zum Schiff zu gehen.
Org[19]: Sind die Bösen so nahe?
Ziel[20]: Ja ja. Ich konnte sie von der Insel sehen. Ich bin jetzt mit Amdi im Schiff, aber als wir heraufgekommen sind, waren überall tote Soldaten. Holzschnitzerin macht hier oft Überfälle. Mutter ist tot. Vater ist tot. Johanna ist tot. Herr Stahl wird mich beschützen, so gut wie er kann. Er sagt ich muss tapfer sein.
Für einen Moment verschwand sein Lächeln. »Armer Junge«, sagte er leise. Dann zuckte er die Achseln und stieß mit der Hand nach einer der Botschaften. »Gut, ich bin froh, dass Vrinimi eine Rettungsexpedition ausschickt. Das ist großzügig von euch.«
»Eigentlich nicht, mein Herr. Schauen Sie sich die Nummern sechs bis vierzehn an. Der Junge beklagt sich über die Automatik des Schiffes.«
»Tja, bei ihm klingt das wie aus einer grauen Vorzeit: Tastaturen und Bildschirme, keine Stimmerkennung. Eine ganz und gar benutzerunfreundliche Schnittstelle. Sieht aus, als ob die Bruchlandung ziemlich alles zu Schrott gemacht hat, hm?«
Er war ausgesucht begriffsstutzig, doch Ravna hatte beschlossen, grenzenlose Geduld zu beweisen. »Vielleicht nicht, wenn man die Herkunft des Schiffes bedenkt.« Pham lächelte nur, also fuhr Ravna mit ihren Erklärungen fort. »Die Prozessoren stammen wahrscheinlich aus dem Hohen Jenseits oder dem Transzens und sind von ihrer gegenwärtigen Umgebung auf fast idiotisches Niveau beschränkt worden.«
Pham Nuwen seufzte. »Passt alles zur Theorie der Skrodfahrer, nicht wahr? Ihr hofft immer noch, dass diese Kiste irgendein gewaltiges Geheimnis birgt, das die PEST wegpustet.«
»Ja!… Sieh doch. Einmal war der ALTE auf alles das sehr neugierig. Warum jetzt das totale Desinteresse? Gibt es einen Grund, warum das Schiff nicht der Schlüssel zum Kampf gegen die PERVERSION sein kann?« Das war Grondrs Erklärung für den neuerlichen Mangel an Interesse seitens des ALTEN. Ihr Leben lang hatte Ravna Geschichten über die MÄCHTE gehört, und immer aus großer Entfernung. Hier war sie schrecklich nahe daran, einer direkt Fragen zu stellen. Es war ein sehr sonderbares Gefühl.
Nach einer Weile sagte Pham: »Nein. Es ist unwahrscheinlich, aber du könntest Recht haben.«
Ravna atmete aus — sie war sich gar nicht bewusst gewesen, dass sie die Luft angehalten hatte. »Gut. Dann ist es vernünftig, worum wir bitten. Angenommen, das nach unten geflogene Schiff enthält etwas, das die PERVERSION braucht, oder etwas, das sie fürchtet. Dann weiß die PERVERSION wahrscheinlich von seiner Existenz — vielleicht beobachtet sie sogar den Verkehr mit Ultraantrieb in jenem Teil des Grundes. Eine Rettungsexpedition könnte die PERVERSION geradewegs zu dem Schiff führen. In diesem Falle wäre die Mission selbstmörderisch für die Besatzung — und sie könnte die Gesamtkraft der PEST verstärken.«
»Also?«
Ravna schlug gegen ihr Datio — ihre Vorsätze, Geduld zu bewahren, zerrannen. »Also bittet die Vrinimi-Org den ALTEN um Hilfe, um eine Expedition auf die Beine zu bringen, gegen die die PEST nichts ausrichten kann!«
Pham Nuwen schüttelte nur den Kopf. »Ravna, Ravna. Du redest von einer Expedition zum Grunde des Jenseits. Es ist nicht möglich, dass eine MACHT dich dort unten bei der Hand nimmt. Sogar ein Abgesandter Apparat wäre dort größtenteils auf sich selbst gestellt.«
»Benimm dich nicht blöder als du bist, Pham Nuwen. Dort unten wird die PERVERSION genau dieselben Handicaps haben. Worum wir bitten, ist Ausrüstung aus transzendenter Produktion, für jene Tiefen konstruiert und in ausreichender Menge geliefert.«
»Blöd?« Pham Nuwen straffte sich, doch auf seinem Gesicht stand noch immer der Schatten eines Lächelns. »Ist das deine übliche Art, eine MACHT anzusprechen?«
Vor diesem Jahr wäre ich lieber gestorben, als eine MACHT überhaupt anzusprechen, egal wie. Sie lehnte sich zurück und zeigte ihm ihre eigene Version eines unverschämten Grinsens. »Sie haben einen direkten Draht zu Gott, mein Herr, aber ich will Ihnen ein kleines Geheimnis verraten: Ich kann unterscheiden, ob die Verbindung eingeschaltet ist.«
Höfliche Neugier: »Oh? Wie das?«
»Pham Nuwen — sich selbst überlassen — ist ein heller, egoistischer Bursche und ungefähr so einfühlsam wie eine Kopfnuss.« Sie dachte an die gemeinsam verbrachten Stunden zurück. »Ich mache mir keine echten Sorgen, solange die Arroganz und die klugen Sprüche nicht verschwinden.«
»Hm. Deine Logik ist etwas schwach. Wenn der ALTE mich direkt steuern würde, könnte er den Blödian ebenso leicht spielen« — er reckte den Kopf vor — »wie den Mann deiner Träume.«
Ravna bleckte die Zähne. »Mag sein, aber ich habe ein bisschen Unterstützung von meinem Chef. Er hat mir die Genehmigung verschafft, die Nutzung der Transceiver zu überwachen.« Sie schaute auf ihr Datio. »Momentan bekommt der ALTE weniger als zehn Kilobit pro Sekunde vom ganzen Relais…, was bedeutet, mein Freund, dass du gerade nicht ferngesteuert bist. Alle groben Manieren, die ich heute erlebe, gehen auf das Konto des echten Pham Nuwen.«
Der Rotschopf kicherte und konnte eine leichte Verlegenheit nicht verhehlen. »Du hast mich ertappt. Ich bin schon die ganze Zeit, seit die Org den ALTEN zum Rückzug überredet hat, im Außendienst. Aber du sollst wissen, dass diese ganzen zehn Kb/s dieser bezaubernden Unterhaltung gewidmet sind.« Er hielt inne, als horche er, und winkte dann. »Der ALTE sagt ›Hallo‹ .«
Wider Willen musste Ravna lachen; es lag etwas Absurdes in der Geste und der Annahme, dass sich eine MACHT zu so trivialem Humor herablassen könnte. »In Ordnung. Ich bin froh, dass er… äh… dabeisein kann. Wie du siehst, Pham, verlangen wir nach transzendenten Maßstäben nicht viel, und es könnte für ganze Zivilisationen die Rettung bedeuten. Gebt uns ein paar tausend Schiffe; Robotschiffe zum einmaligen Gebrauch wären gut.«
»Der ALTE könnte so viele herstellen, aber sie wären nicht viel besser, als was hier unten gebaut wird. Die Zonen auszutricksen« — er hielt inne und wirkte erstaunt über seine eigene Wortwahl —, »die Zonen auszutricksen ist eine heikle Sache.«
»Na schön. Qualität oder Menge. Wir akzeptieren alles, was der ALTE für angebracht hält…«
»Nein.«
»Pham! Wir reden über ein paar Tage Arbeit für den ALTEN. Er hat für das Studium der PEST schon mehr bezahlt.« Ihre einzige wilde Nacht hatte vielleicht ebenso viel gekostet — doch das sagte sie nicht.
»Ja, und Vrinimi hat das meiste davon ausgegeben.«
»Um die Kunden zu entschädigen, denen ihr auf die Zehen getreten seid!… Pham, kannst du uns nicht wenigstens sagen, warum nicht?«
Das träge Lächeln wich von seinem Gesicht. Sie warf einen raschen Blick auf ihr Datio. Nein, Pham Nuwen war nicht besessen. Sie erinnerte sich an seinen Gesichtsausdruck, als er die Post von Jefri Olsndot las; hinter all der Arroganz verbarg sich ein anständiger Mensch. »Ich will es versuchen. Beachte, dass ich zwar ein Teil des ALTEN bin, bei meinen Erinnerungen und Erklärungen aber menschlichen Beschränkungen unterliege.
Du hast Recht, die PERVERSION schluckt immer mehr von der Obergrenze des Jenseits. Vielleicht werden fünfzig Zivilisationen umkommen, ehe diese MACHT die Lust verliert — und ein paar tausend Jahre danach wird es ›Echos‹ der Katastrophe geben, vergiftete Sternensysteme, künstliche Rassen mit hirnverbrannten Ideen. Aber — tut mir Leid, es so zu sagen — na und? Der ALTE hat über das Problem nachgedacht, seit mehr als hundert Tagen. Das ist eine lange Zeit für eine MACHT, vor allem für den ALTEN. Er existiert jetzt seit über zehn Jahren, seine Persönlichkeiten treiben schnell auf… Veränderungen… zu, die ihn über jede Kommunikation hinaus entrücken werden. Warum sollte er sich um all das kümmern?«
Es war ein Standardthema in der Schule, doch Ravna konnte nicht an sich halten. »Aber die Geschichte ist voll von Fällen, wo MÄCHTE Rassen des Jenseits, manchmal sogar Individuen geholfen haben.« Sie hatte bereits herausgefunden, welche Rasse den ALTEN geschaffen hatte. Sie waren Gasbeutel-Geschöpfe. Ihre Netzpost war selbst nach Ravnas bester Deutung größtenteils Kauderwelsch. Anscheinend hatten sie keinen besonderen Einfluss auf den ALTEN. Ihr blieb wohl nur der direkte Appell. »Sieh doch. Nimm es von der anderen Seite: Selbst gewöhnliche Menschen brauchen keine besonderen Erklärungen, um Tieren in Not zu helfen.«
Phams Lächeln kehrte allmählich zurück. »Du bist so stark in Analogien. Vergiss nicht, dass jeder Vergleich hinkt, und je komplexer der Automatismus, um so komplexer sind seine möglichen Beweggründe. Aber… gut, wie wäre es mit dieser Analogie: Der ALTE ist ein im Grunde anständiger Bursche mit einem hübschen Haus in einer guten Gegend der Stadt. Eines Tages bemerkt er, dass er einen neuen Nachbarn hat, einen verlotterten Kerl, dessen Wohnung nach giftigem Dreck stinkt. Wenn du der ALTE wärst, würde dich das bekümmern, nicht wahr? Du würdest vielleicht die Umgebung deines Grundstücks kontrollieren. Du würdest auch mit dem Neuen schwatzen und herauszubekommen versuchen, wo er herkommt und was los ist. Die Vrinimi-Org hat einen Teil dieser Nachforschungen mitangesehen.
Du stellst also fest, dass der neue Nachbar ungesund und nichtsnutzig ist. Sein Leben beruht im Wesentlichen darauf, dass er Sumpfgebiete vergiftet und den dabei entstehenden Dreck isst. Das ist lästig: es stinkt, und es schadet einer Menge harmloser Tiere. Aber den Nachforschungen zufolge ist klar, dass der Schaden deinen eigenen Besitz nicht betreffen wird, und du bringst den Nachbarn dazu, mit geeigneten Maßnahmen den Gestank zu vermindern. Schließlich ist giftigen Dreck zu essen eine Lebensweise, die sich früher oder später von selbst erledigt.« Er hielt inne. »Für einen Vergleich finde ich diesen ziemlich gut. Nachdem ihm anfangs manches rätselhaft war, ist der ALTE zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei dieser PERVERSION um eines von den üblichen Mustern handelt, so unbedeutend und banal, dass sogar Wesen wie du und ich sie als böse erkennen. In der einen oder anderen Form kommt sie seit Hunderten von Jahrmillionen aus Archiven der Jenseiter hoch.«
»Verdammt! Ich würde meine Nachbarn zusammentrommeln und den perversen Kerl aus der Stadt jagen.«
»Davon war die Rede, aber es wäre teuer… und richtige Leute könnten dabei zu Schaden kommen.« Pham Nuwen erhob sich geschmeidig und entließ sie mit einem Lächeln. »Nun, das wäre in etwa alles, was wir dir zu sagen hatten.« Er trat unter den Bäumen hervor. Ravna sprang auf, um ihm zu folgen.
»Mein persönlicher Rat: Nimm das nicht so schwer, Ravna. Ich habe das alles gesehen, weißt du. Vom Grunde des Langsam bis ins Innere einer transzendenten MACHT hat jede Zone ihre besonderen Misslichkeiten. Die ganze Grundlage der PERVERSION — thermodynamisch, ökonomisch, wie du es auch darstellen willst — liegt in der hohen Qualität von Denken und Kommunikation an der Obergrenze des Jenseits. Die PERVERSION hat keine einzige Zivilisation im Mittleren Jenseits angetastet. Hier unten sind die Zeitlücken und die Kosten bei der Kommunikation zu groß, und sogar die beste Ausrüstung kann nicht denken. Um hier alles zu kontrollieren, bräuchte man stehende Flotten, Geheimpolizei, schwerfällige Transceiver — es wäre fast genauso umständlich wie jedes Imperium der Jenseiter und für eine MACHT ohne Nutzen.« Er wandte sich um und sah ihren finsteren Blick. »He, ich sage doch, dein hübscher Po ist in Sicherheit.« Er langte nach unten, um ihr einen Klaps zu geben.
Ravna schob seine Hand weg und trat zurück. Sie hatte sich gerade noch ein kluges Argument zurechtgelegt, das den Kerl vielleicht zum Nachdenken brachte; es hatte tatsächlich schon Fälle gegeben, wo Abgesandte Apparate ihren ursprünglichen Entschluss geändert hatten. Nun waren die halbfertigen Ideen wie weggeblasen, und ihr fiel nichts weiter ein, als zu sagen: »Und wie sicher ist dein eigener Hintern, hm? Du sagst, dass der ALTE im Begriff ist, seine Sachen zu packen und dahin zu gehen, wohin auch immer überalterte MÄCHTE gehen mögen. Wird er dich mitnehmen oder vielleicht einfach beseitigen, ein Haustier, das nun lästig wird?«
Es war ein dummer Ausbruch, und Pham Nuwen lachte nur. »Noch mehr Analogien? Nein… höchstwahrscheinlich wird er mich einfach zurücklassen. Du weißt, wie eine Robotersonde, die nach der letzten Verwendung frei weiterfliegt.« Wieder eine Analogie, aber eine, die ihm entsprach. »Wenn das bald genug geschieht, dann könnte vielleicht sogar ich gewillt sein, diese Rettungsexpedition zu unternehmen. Es sieht aus, als befände sich Jefri Olsndot in einer mittelalterlichen Zivilisation. Ich wette, es gibt in der Org niemanden, der solch einen Ort besser als ich versteht. Und unten am Grunde könnte sich eure Besatzung schwerlich einen besseren Kameraden wünschen als einen alten Dschöng-Ho-Typ.« Er sprach lässig, als seien Mut und Erfahrung für ihn selbstverständlich — auch wenn andere Leute feige Schlappschwänze waren.
»Oh, wirklich?« Ravna stemmte die Arme in die Hüften und neigte den Kopf. Das war einfach ein bisschen zu viel, wo doch sein ganzes Dasein ein Schwindel war. »Du bist der kleine Prinz, der mit Intrigen und Mordanschlägen aufgewachsen ist und dann mit der Dschöng Ho zu den Sternen fortgeflogen ist… Denkst du jemals wirklich an diese Vergangenheit, Pham Nuwen? Oder ist der ALTE so taktvoll, dich davon zurückzuhalten? Nach unserem bezaubernden Abend in der Wandergesellschaft habe ich darüber nachgedacht. Weißt du was? Es gibt nur wenige Dinge, die du mit Sicherheit wissen kannst: Du warst wirklich ein Raumfahrer aus der Langsamen Zone — vermutlich zwei oder drei Raumfahrer, da keiner von den Leichnamen vollständig war. Irgendwie haben du und deine Kumpel sich am unteren Ende des Langsam zu Tode gebracht. Was noch? Nun ja, dein Schiff verfügte nicht über ein wiederherstellbares Gedächtnis. Die einzige Aufzeichnung, die wir fanden, schien in einer ostasiatischen Sprache geschrieben zu sein. Das ist alles, alles, worauf sich der ALTE stützen konnte, als er den Schwindel zusammenfügte.«
Phams Lächeln wirkte ein wenig frostig. Ravna fuhr fort, ehe er zu Wort kam. »Aber mach dem ALTEN keinen Vorwurf. Er war ein bisschen in Eile, ja? Er musste Vrinimi und mich davon überzeugen, dass du echt seiest. Er hat in den Archiven herumgekramt und eine Mischmasch-Wirklichkeit für dich zusammengeschustert. Vielleicht hat er einen Nachmittag dazu gebraucht — bist du dankbar für die Mühe? Hier ein Schnäppchen, da ein Schnäppchen. Es hat wirklich jemanden namens Dschöng Ho gegeben, weißt du. Auf der Erde, tausend Jahre vor der Raumfahrt. Und es muss Sternenkolonien asiatischer Abstammung gegeben haben, obwohl das eine offensichtliche Extrapolation seinerseits ist. Der ALTE hat wirklich einen hübschen Sinn für Humor. Er hat dein ganzes Leben als phantastische Romanze erschaffen, bis hin zur letzten tragischen Expedition. Das hätte mich übrigens stutzig machen sollen. Es ist eine Kombination von etlichen Legenden aus der Zeit vor Nyjora.«
Sie holte Luft und sprach rasch weiter. »Es tut mir Leid für dich, Pham Nuwen. Solange du nicht allzu intensiv über dich nachdenkst, kannst du der zuversichtlichste Bursche im Weltraum sein. Aber alle Geschicklichkeit, all die erworbenen Fähigkeiten — hast du die jemals aus der Nähe betrachtet? Ich wette, nein. Ein großer Krieger oder ein erfahrener Pilot zu sein, schließt eine Million untergeordnete Fertigkeiten ein, bis hinab zu Bewegungsabläufen unter der Ebene bewussten Denkens. Der Schwindel des ALTEN benötigte nur die Erinnerungen in der obersten Schicht und eine forsche Persönlichkeit. Schau unter die Oberfläche, Pham. Ich denke, du wirst dort eine Menge leere Stellen finden.« Ein Traum von Tüchtigkeit, aus zu großer Nähe gesehen.
Der Rotschopf tippte sich mit einem Finger an die Schläfe. Als ihr endlich die Worte ausgingen, wurde sein Lächeln breit und gönnerhaft. »Ach, dumme kleine Ravna. Selbst jetzt begreifst du noch nicht, wie weit überlegen die MÄCHTE sind. Der ALTE ist nicht irgendein Despotenregime im Mittleren Jenseits, das seinen Opfern eine Gehirnwäsche mit oberflächlichen Erinnerungen verpasst. Sogar ein transzendenter Schwindel hat mehr Tiefe als das Abbild der Wirklichkeit in einem menschlichen Geist. Und woher willst du wissen, dass es wirklich ein Schwindel ist? Du hast also die Archive von Relais durchgesehen und meine Dschöng Ho nicht gefunden.« Meine Dschöng Ho. Er hielt inne. Erinnerte er sich? Versuchte er sich zu erinnern? Einen winzigen Augenblick lang sah Ravna auf seinem Gesicht Panik aufschimmern. Dann war es vorüber, und nur das träge Lächeln blieb. »Kann irgendjemand von uns sich die Archive des Transzens vorstellen, all die Dinge, die der ALTE über die Menschheit wissen muss? Die Vrinimi-Org sollte dem ALTEN dankbar sein, dass er meine Herkunft erklärt hat; sie selbst hätten es niemals herausfinden können.
Sieh doch. Es tut mir wirklich Leid, dass ich nicht helfen kann. Selbst wenn es in anderer Beziehung ein sinnloses Unternehmen ist, würde ich dieses Kind gern gerettet sehen. Aber mach dir keine Sorgen wegen der PEST. Sie hat jetzt fast das Maximum ihrer Expansion erreicht. Sogar wenn ihr sie vernichten könntet, würde das den armen Wichten nichts nützen, die von ihr absorbiert worden sind.« Er lachte, eine Spur zu laut. »Nun, ich muss jetzt gehen; der ALTE hat heute noch andere Aufträge für mich. Er war nicht froh darüber, dass das eine persönlichen Begegnung war, aber ich habe darauf bestanden. Die Vorteile des Außendienstes, weißt du. Du und ich…, du und ich hatten allerhand Spaß, und ich dachte, es wäre nett zu plaudern. Ich wollte dich nicht aufbringen.«
Pham warf seinen Agrav an und schwebte vom Sand auf. Er winkte lakonisch zum Gruß. Ravna starrte empor und hob die Hand, um zurückzuwinken. Seine Gestalt wurde kleiner und bekam einen schwachen Nimbus, als er die atembare Atmosphäre der Docks verließ und sich sein Raumanzug einschaltete.
Ravna winkte noch ein paar Minuten, bis die Gestalt zu einem weiteren Pendler am indigofarbenen Himmel geworden war. Verdammt. Verdammt. Verdammt.
Hinter ihr erklang das Geräusch von Rädern, die über den Sand knirschten. Blaustiel und Grünmuschel waren aus dem Wasser gekommen. Nässe glänzte an den Seiten ihrer Skrods und machte aus den Zierstreifen gezackte Regenbogen. Ravna ging hinab, ihnen entgegen. Wie soll ich ihnen sagen, dass keine Hilfe kommt?
Mit einem Repräsentanten wie Pham Nuwen hatte der ALTE so anders gewirkt als alles, was sie sich in der Schule daheim bei Sjandra Kei vorgestellt hatte. Beinahe hätte sie geglaubt, nur mit Reden etwas ändern zu können. Was für ein Witz. Jetzt eben hatte sie einen Blick hinter die Kulissen erhascht: von einem Wesen, das mit Seelen wie ein Programmierer mit einer geschickten Grafik spielen konnte, einem Wesen, das so hoch über ihr stand, dass nur seine Gleichgültigkeit sie schützen konnte. Sei froh, kleiner Falter Ravna. Du bist von der Flamme nur geblendet worden.
Die nächsten paar Wochen verliefen überraschend gut. Ungeachtet des Misserfolgs mit Pham Nuwen waren Blaustiel und Grünmuschel immer noch bereit, die Rettungsaktion durchzuführen. Die Vrinimi-Org ließ sogar ein paar zusätzliche Ressourcen springen. Jeden Tag unternahm Ravna einen Teleausflug zu den Reparaturdocks. Auch wenn die Aus der Reihe II keine transzendenten Verstärkungen erhielt, würde es nach der Umrüstung ein außergewöhnliches Schiff sein. Sie schwebte jetzt in einer Aura von ’struktoren — Billionen winziger Roboter, die Abschnitte des Schiffsrumpfes in die charakteristische Form eines Grundschleppers wachsen ließen. Manchmal erschien das Schiff Ravna wie ein fragiler Falter… und manchmal wie ein Tiefseefisch. Das umgebaute Schiff konnte in einer Reihe von Umgebungen überleben: Es besaß die Dorne des Ultraantriebs, doch der Rumpf war stromlinienförmig und hatte eine Wespentaille — die klassische Form eines staustrahlgetriebenen Schiffes. Grundschlepper müssen gefährlich nahe an der Langsamen Zone fliegen. Die Zonenoberfläche war von weitem schwer auszumachen, noch schwerer zu kartographieren, und es gab kurzfristige Positionsänderungen. Für einen Grundschlepper war es nicht ausgeschlossen, ein, zwei Lichtjahre tief im Langsam gefangen zu werden. Das war dann die Gelegenheit, wo man Gott für den Staustrahlantrieb und die Kälteschlafvorrichtungen dankte. Natürlich konnte man bei der Rückkehr in die Zivilisation völlig den Anschluss verpasst haben, aber wenigstens konnte man zurückkehren.
Ravna ließ ihren Blickpunkt durch die Antriebsdorne schweben, die aus dem Rumpf hervorragten. Sie waren breiter als bei den meisten Schiffen, die nach Relais kamen. Für das Mittlere oder Hohe Jenseits waren sie nicht optimal, doch mit den richtigen (also dem Unteren Jenseits angepassten) Computern würde das Schiff so schnell wie nur irgendetwas fliegen, wenn es den Grund erreichte.
Grondr ließ sie die Hälfte ihrer Zeit auf das Projekt verwenden, und nach ein paar Tagen erkannte Ravna, dass er ihr damit nicht nur einen Gefallen tat. Sie war für diese Arbeit tatsächlich am besten geeignet. Sie kannte Menschen, und sie kannte die Archivverwaltung. Jefri Olsndot brauchte jeden Tag Zuspruch. Und was Jefri ihr erzählte, war von unmittelbarer Wichtigkeit. Selbst wenn alles nach Plan ging — selbst wenn die PERVERSION gänzlich aus dem Spiel blieb —, würde diese Rettungsaktion heikel sein. Das Kind und sein Schiff schienen sich mitten in einem blutigen Krieg zu befinden. Es dort herauszuholen, würde bedeuten, augenblicklich richtige Entscheidungen zu treffen und entsprechend zu handeln. Sie würden an Bord ein wirksames Datenbank- und Strategieprogramm brauchen. Aber es gab nicht viel, wovon man erwarten konnte, dass es am Grunde funktionierte, und die Speicherkapazität würde beschränkt sein. Es war an Ravna zu entscheiden, welches Bibliotheksmaterial ins Schiff gebracht werden sollte, die leichte Verfügbarkeit vor Ort gegen die größeren Ressourcen abzuwägen, die über die Ultrawelle von Relais zugänglich wären.
Grondr war übers lokale Netz zu erreichen, und oft in Realzeit. Er wollte, dass diese Sache klappte: »Machen Sie sich keine Sorgen, Ravna. Wir werden einen Teil von R00 für diese Mission einsetzen. Wenn ihr Antennenschwarm richtig funktioniert, müssten die Skrodfahrer eine Verbindung von 30 Kb/s nach Relais haben. Sie werden ihr wichtigster Ansprechpartner hier sein und Zugang zu unseren besten Strategen haben. Wenn nichts… dazwischen kommt, dürfte es Ihnen nicht schwer fallen, diese Rettungsaktion zu leiten.«
Noch vor vier Wochen hätte es Ravna nicht wagen können, mehr zu verlangen. Jetzt aber: »Herr Direktor, ich habe eine bessere Idee. Lassen Sie mich mit den Skrodfahrern fliegen.«
Alle Mundteile Grondrs klappten gleichzeitig aufeinander. Sie hatte so viel Überraschung bei Leuten wie Egravan gesehen, aber nie bei dem gesetzten Grondr. Einen Moment lang schwieg er. »Nein. Wir brauchen Sie hier. Sie sind unsere beste Vernunftprobe, wenn es um Fragen über die Menschheit geht.« Die Nachrichtengruppen, die sich für die Straumli-PERVERSION interessierten, enthielten über hunderttausend Botschaften pro Tag, davon etwa ein Zehntel mit Bezug zur Menschheit. Tausende von Botschaften waren aufgewärmte alte Ideen oder perfekte Absurditäten oder allem Anschein nach Lügen. Die Automatik von Marketing brachte es ziemlich gut fertig, die Redundanz und einen Teil der Absurditäten herauszufiltern, doch wenn es zu Fragen über die menschliche Natur kam, hatte Ravna nicht ihresgleichen. Etwa die Hälfte ihrer Zeit verbrachte sie damit, Wege für die Analyse zu weisen und Anfragen über die Menschheit bei den Archiven zu bearbeiten. Das alles wäre nahezu unmöglich, wenn sie mit den Skrodfahrern abflog.
Die nächsten paar Tage über bedrängte Ravna ihren Chef in dieser Frage. Wer immer den Rettungsflug unternahm, würde eine unmittelbare Beziehung zu Menschen haben müssen — das hieß zu Menschenkindern. Höchstwahrscheinlich war Jefri Olsndot niemals einem Skrodfahrer begegnet. Das war ein gutes Argument, und es trieb sie allmählich zur Verzweiflung — doch an sich hätte es den alten Grondr niemals umgestimmt. Dazu bedurfte es einiger äußerer Ereignisse: Im Laufe der Wochen verlangsamte sich die Ausdehnung der PEST. Ganz nach der allgemeinen Erfahrung (und wie der ALTE durch Pham Nuwen behauptet hatte) schien es natürliche Grenzen zu geben, über die die PERVERSION ihre Interessen nicht ausdehnen konnte. Die erbärmliche Panik verschwand allmählich aus dem Nachrichtenverkehr des Hohen Jenseits. Die Zahl der Gerüchte und der Flüchtlinge aus den absorbierten Raumgebieten ging langsam gegen Null. Die Leute in den Verpesteten Gebieten waren dahingegangen, doch nun glich es mehr dem Tod auf einem Friedhof als dem Tod von ansteckender Fäulnis. Mit der PEST befasste Nachrichtengruppen plapperten weiterhin über die Katastrophe, doch der Anteil an unproduktivem Durchkauen von Bekanntem stieg stetig. Es ging einfach wenig Neues vor sich. Die nächsten zehn Jahre lang würde sich körperlicher Tod durch die Verpestete Region ausbreiten. Die Kolonisation würde wieder beginnen, sich dabei vorsichtig durch die Ruinen und Informationsfallen und die Rest-Rassen vortasten. Doch all das lag in weiter Ferne, und augenblicklich ging der von der PEST verursachte ›warme Regen‹ für Relais zurück.
… Und die Marketing-Abteilung war sogar noch stärker an dem Flüchtlingsschiff interessiert. Keins von den Strategieprogrammen — erst recht nicht Grondr — glaubte, dass das Geheimnis des Schiffes der PEST schaden könnte, doch es bestanden gute Chancen, dass es einen kommerziellen Vorteil bringen könnte, wenn die PERVERSION ihres transzendenten Spiels endlich müde wurde.
Und die Rudelintelligenzen der Klauenwesen hatten ihr Interesse geweckt. Es war angebracht, dass man äußerste Anstrengungen unternahm, dass Ravna ihre Arbeit bei den Docks aufgab und vor Ort ging.
So würden auf wunderbare Weise ihre Kindheitsphantasien von Rettungen und Abenteuerfahrten wirklich wahr werden. Und was noch überraschender ist, ich habe nur halbwegs Angst angesichts dieser Aussicht.
Ziel[56]: Tut mir Leid das ich ne Weile nicht geantwortet habe. Ich fühl mich gar nicht gut. Herr Stahl sagt ich soll mit euch reden. Er sagt ich brauche mehr Freunde, damit ich mich besser fühle. Amdi sagt das auch und er is mein bester Freund… wie Rudel von Hunden aber klug und lustig. Ich würde gern Bilder schicken. Herr Stahl wird versuchen Antworten auf alle eure Fragen zu bekommen. Er tut alles was er kann um zu helfen, aber die bösen Rudel werden wiederkommen. Amdi und ich haben das was ihr gesagt habt mit dem Schiff versucht. Es tut mir Leid, es funktioniert noch nicht… Ich hasse diese dummen Tasten…
Org[57]: Hallo, Jefri. Amdi und Herr Stahl haben Recht. Ich rede immer gern, und du wirst dich dabei besser fühlen… Hier sind Erfindungen, die Herrn Stahl vielleicht helfen. Wir haben an ein paar Verbesserungen für seine Armbrüste und Flammenwerfer gedacht. Ich schicke auch ein paar Informationen über Festungsbau. Bitte sag Herrn Stahl, dass wir ihm nicht mitteilen können, wie man mit dem Schiff fliegt. Es wäre sogar für einen erfahrenen Piloten gefährlich, es zu versuchen…
Ziel[57]: Ja, sogar Vati hatte es schwer, damit zu landen. ikocxljikersw89iou-43e5 Ich glaube Herr Stahl versteht nicht, und er wird irnwie verzweifelt… Gibts denn nichts andres wie sie früher hatten. Weißt du, Bomben und Flugzeuge die sie bauen könnten?…
Org[58]: Es gibt andere Erfindungen, aber Herr Stahl würde Zeit brauchen, um sie herzustellen. Unser Sternenschiff fliegt bald von Relais ab, Jefri. Wir werden viel früher da sein, als andere Erfindungen etwas nützen würden…
Ziel[58]: Ihr kommt? Ihr kommt endlich!!! Wann fliegt ihr ab? Wann werdet ihr hier sein???
Für gewöhnlich stellte Ravna ihre Botschaften für Jefri auf einer Tastatur zusammen — das verlieh ihr ein gewisses Gefühl für die Situation des Kindes. Er schien den Kopf hoch zu halten, obwohl es Tage gab, an denen er nicht schrieb (es war ein seltsamer Gedanke, dass ›geistige Depression‹ etwas mit einem Achtjährigen zu tun haben konnte). An anderen Tagen schien er an der Tastatur einen Wutanfall zu haben, und über einundzwanzigtausend Lichtjahre hinweg sah sie die Indizien von kleinen Fäusten, die auf Tasten schlugen.
Ravna grinste den Bildschirm an. Heute hatte sie endlich mehr als nur nebelhafte Versprechungen für ihn: Sie kannte den definitiven Abflugtermin. Die Botschaft [59] würde Jefri gefallen. Sie tippte: »Wir werden in sieben Tagen starten, Jefri. Die Reise wird etwa dreißig Tage dauern.« Sollte sie sich dazu genauer äußern? Die jüngsten Meldungen in den Nachrichtengruppen für Zonengrenzen besagten, dass der Grund ungewöhnlich aktiv war. Die Klauenwelt lag so nahe an der Langsamen Zone… Wenn der ›Sturm‹ schlimmer wurde, würde die Reisezeit darunter leiden. Es bestand eine Wahrscheinlichkeit von etwa einem Prozent, dass der Flug länger als sechzig Tage dauern würde. Sie lehnte sich von der Tastatur zurück. Wollte sie das wirklich sagen? Verdammt. Sie sollte lieber offen sein; diese Angaben konnten für die Einheimischen Bedeutung haben, die Jefri halfen. Sie erklärte die Wenn und Aber, fuhr dann fort mit einer Beschreibung des Schiffs und der wunderbaren Dinge, die sie mitbringen würden. Der Junge schrieb für gewöhnlich nicht lange (außer wenn er Informationen von Stahl weitergab), doch er schien lange Briefe von ihr wirklich zu mögen.
Die Aus der Reihe II durchlief die letzten Funktionsproben. Der Ultraantrieb war rekonstruiert und getestet worden; die Skrodfahrer hatten das Schiff ein paar tausend Lichtjahre hinausgeflogen, um den Antennenschwarm zu überprüfen. Der Schwarm funktionierte auch großartig. Sie und Jefri würden den größten Teil der Reise hindurch miteinander sprechen können. Am Vortag war das Schiff mit Verbrauchsgütern verproviantiert worden. (Das klang wie aus einem mittelalterlichen Abenteuer. Aber man musste allerlei Vorräte mitnehmen, wenn man so tief hinab wollte, dass den Realitätskurven nicht zu trauen war.) Bald würden Grondrs Leute das Schiff mit Gerätschaften beladen, die bei einer Rettungsaktion wirklich zupass kommen konnten. Sollte sie die erwähnen? Manche davon hätten für Jefris Freunde vor Ort ein bisschen kränkend klingen können.
Am Abend hatten sie und die Skrodfahrer eine Strandparty. So nannten sie es, obwohl es viel mehr der menschlichen Version als der echten der Fahrer glich. Blaustiel und Grünmuschel waren nämlich vom Wasser weggerollt, dahin, wo der Sand warm und trocken lag. Ravna hatte auf Blaustiels Frachttuch Erfrischungen ausgebreitet. Sie saßen auf dem Sand und bewunderten den Sonnenuntergang.
Es war in erster Linie eine Feier — dass Ravna die Erlaubnis erhalten hatte, mit der ADR zu fliegen, dass das Schiff fast startbereit war. Doch Blaustiel fragte: »Sind Sie wirklich froh, dass Sie auf die Reise gehen, meine Dame? Wir beide werden sehr gutes Geld verdienen, aber Sie…«
Ravna lachte. »Ich werde einen Reisezuschlag bekommen.« Sie hatte immer wieder Argumente für ihre Mitreise vorgebracht; da war nicht viel Spielraum geblieben, als dass sie um die Bezahlung hätte feilschen können. »Und ja doch. Darum ging es mir eigentlich.«
»Ich bin so froh«, sagte Grünmuschel.
»Ich lache«, sagte Blaustiel. »Meine Partnerin ist besonders erfreut, dass unser Passagier nicht mürrisch sein wird. Wir haben unsere Zuneigung zu Zweibeinern fast verloren, nachdem wir mit diesen Frachtbeglaubigern unterwegs waren. Aber jetzt brauchen wir vor nichts Angst zu haben. Haben Sie in den letzten fünfzehn Stunden die Bedrohungen-Gruppe gelesen? Die PEST hat aufgehört zu wachsen, und ihre Ränder sind jetzt scharf umrissen. Die PERVERSION tritt in ihr mittleres Lebensalter ein. Von mir aus könnten wir sofort abfliegen.«
Blaustiel war voller Spekulationen über die ›Rudel‹ der Klauenwesen, auch voller Pläne, wie man Jefri und alle anderen Überlebenden dort herausholen sollte. Grünmuschel warf hie und da einen Gedanken ein. Sie war nicht mehr so scheu wie zuvor, wirkte aber immer noch weicher, zurückhaltender als ihr Partner. Und ihre Zuversicht war ein bisschen realistischer. Sie war froh, dass es bis zum Abflug noch eine Woche dauern würde. Die letzten Funktionstests mussten auf der ADR noch durchgeführt werden — und Grondr hatte die Org dahin gebracht, eine kleine Flotte von Schiffen zu finanzieren, die als Köder dienen sollten. Fünfzig waren bisher fertig. Ende der Woche würden hundert bereit sein.
Die Docks trieben in die Nacht hinein. Bei der niedrigen Atmosphäre war die Dämmerung kurz, doch die Farben waren sehenswert. Der Strand und die Bäume glänzten in den waagerechten Lichtstrahlen. Der Duft von Dämmerblumen vermischt mit dem scharfen Geruch von Seesalz. Am anderen Ufer des Meeres war alles scharf hell und dunkel, Silhouetten, die Launen der Vrinimi oder Dockausrüstungen sein mochten — Ravna hatte nie erfahren, welches von beiden. Die Sonne glitt hinters Meer. Orange und Rot breiteten sich über den Achterhorizont aus, überlagert von einem breiteren Band Grün, vermutlich ionisiertem Sauerstoff.
Die Fahrer wendeten ihre Skrods nicht, um besser sehen zu können — soviel sie wusste, hatten sie die ganze Zeit über in diese Richtung geblickt —, doch sie hörten auf zu sprechen. Während die Sonne unterging, ließen die Brecher sie in Tausende von Bildern zersplittern, Funken von Grün und Gelb inmitten der Gischt. Sie vermutete, die beiden wäre jetzt lieber draußen gewesen. Sie hatte sie oft genug gegen Sonnenuntergang gesehen, wie sie ausgerechnet da saßen, wo die Brandung am heftigsten war. Wenn das Wasser zurückwich, waren ihre Stiele und Wedel wie die Arme von Bittstellern emporgereckt. Zu Zeiten wie solchen konnte sie beinahe die Minderen Skrodfahrer verstehen; sie verbrachten ihr ganzes Leben mit der Erinnerung an solche wiederholten Augenblicke. Sie lächelte im grünlichen Zwielicht. Danach würde immer noch Zeit genug für Sorgen und Pläne sein.
Sie mussten zwanzig Minuten lang so dagesessen haben. Entlang der geschwungenen Linie des Strandes sah sie winzige Feuer im sich verdichtenden Dunkel: Büroparties. Irgendwo sehr nahe erklang das Knirschen von Füßen auf Sand. Sie wandte sich um und sah, dass es Pham Nuwen war. »Hierher«, rief sie.
Pham schlenderte auf sie zu. Seit ihrer letzten Auseinandersetzung hatte er sich sehr rar gemacht; Ravna vermutete, dass manche von ihren Sticheleien ihm sehr nahe gegangen waren. Für diesmal hoffe ich, dass der ALTE es ihn hat vergessen lassen. Pham Nuwen hatte das Zeug, eine wirkliche Persönlichkeit zu sein; es war nicht richtig gewesen, ihn zu kränken, weil sich sein Gebieter außerhalb ihrer Reichweite befand.
»Nimm Platz. Die Galaxis geht in einer halben Stunde auf.« Die Skrodfahrer raschelten; sie waren so in den Sonnenuntergang versunken gewesen, dass sie den Besucher erst jetzt bemerkten.
Pham Nuwen ging ein, zwei Schritte an Ravna vorbei, blieb stehen, die Arme in die Hüften gestemmt, und starrte aufs Meer. Er erwiderte ihren Blick, und das grüne Zwielicht verlieh seinem Gesicht einen unheimlich wilden Ausdruck. Er ließ sein altes, schiefes Lächeln aufblitzen: »Ich glaube, ich muss mich bei dir entschuldigen.«
Hat der ALTE dir endlich erlaubt, dich der Menschheit zuzugesellen? Doch Ravna war gerührt. Sie schlug die Augen vor ihm nieder. »Ich mich bei dir vermutlich auch. Wenn der ALTE nicht helfen will, dann will er es nicht; ich hätte die Beherrschung nicht verlieren sollen.«
Pham Nuwen lachte leise. »Dein Fehler war sicherlich der geringere. Ich versuche immer noch, herauszubekommen, was ich falsch gemacht habe, und… ich glaube, ich habe jetzt keine Zeit, es herauszufinden.«
Er blickte wieder aufs Meer hinaus. Nach einer Weile stand Ravna auf und trat zu ihm. Aus der Nähe sah sein starrer Blick glasig aus. »Was stimmt nicht?« Verdammt, ALTER. Wenn du ihn aufgeben willst, dann tu es nicht stückchenweise!
»Du bist die große Expertin für transzendente MÄCHTE, hm?«
Wieder Sarkasmus. »Also…«
»Gibt es bei den großen Jungs Kriege?«
Ravna zuckte die Achseln. »Man kann Gerüchte über alles Mögliche finden. Wir glauben, dass Konflikte vorkommen, aber zu subtil, als dass man es Krieg nennen könnte.«
»Du hast verdammt Recht. Es gibt Kämpfe, aber die haben mehr Haken als alles hier unten. Die Vorteile der Zusammenarbeit sind normalerweise so groß, dass… Das ist zum Teil der Grund, weshalb ich die PERVERSION nicht ernst genommen habe. Außerdem kann einem das Geschöpf Leid tun: ein räudiger Köter, der den eigenen Bau beschmutzt. Selbst wenn sie die anderen MÄCHTE töten wollte, so jemand könnte das niemals. Nicht in einer Milliarde Jahre…«
Blaustiel rollte neben sie heran. »Wer ist das, meine Dame?«
Es war die für die Fahrer typische Sorte Gesprächsunterbrechung, an die sie sich erst allmählich gewöhnte. Wenn Blaustiel nur mit seinem Skrodgedächtnis synchron werden würde, wüsste er es. Dann kam ihr die Frage richtig zu Bewusstsein. Wer ist das? Sie warf einen Blick auf ihr Datio. Es zeigte den Status der Transceiver, schon die ganze Zeit über, seit Pham Nuwen eingetroffen war. Und… bei den MÄCHTEN, drei Transceiver waren von einem einzigen Kunden in Beschlag genommen worden!
Sie wich rasch einen Schritt zurück. »Sie!«
»Ich! Wieder Auge in Auge, Ravna.« Das Grinsen war eine Parodie von Phams selbstsicherem Lächeln. »Tut mir Leid, dass ich heute Abend nicht charmant sein kann.« Er schlug sich täppisch gegen die Brust. »Ich benutze die unterschwelligen Instinkte dieses Dings… Ich bin zu sehr damit beschäftigt, am Leben zu bleiben.«
Speichel rann sein Kinn hinab. Phams Augen fixierten sie immer wieder und glitten dann beiseite.
»Was machen Sie mit Pham!«
Der Abgesandte Apparat trat auf sie zu, strauchelte. »Ich mache Platz«, erklang Pham Nuwens Stimme.
Ravna sagte Grondrs Sprechfunkcode. Es kam keine Antwort.
Der Abgesandte Apparat schüttelte den Kopf. »Die Vrinimi-Org hat gerade viel zu tun — sie versucht mich von ihrer Ausrüstung loszuwerden, versucht, ihren Mut zusammenzunehmen und mich mit Gewalt wegzudrängen. Sie glauben nicht, was ich ihnen sage.« Er lachte, ein schneller erstickter Laut. »Egal. Ich sehe jetzt, der Angriff hier war einfach nur tödliche Diversion… Wie findest du das, Klein Ravna? Weißt du, die PEST ist keine PERVERSION DER KLASSE ZWEI. In der Zeit, die mir bleibt, kann ich nur raten, was es ist… Etwas sehr Altes, sehr Großes. Was immer es ist, es frisst mich bei lebendigem Leibe.«
Blaustiel und Grünmuschel waren nahe an Ravna herangerollt. Ihre Wedel machten schwache knisternde Geräusche. Etliche tausend Lichtjahre entfernt, weit im Transzens, kämpfte eine MACHT um ihr Leben. Und alles, was sie sahen, war ein Mann, aus dem ein sabbernder Schwachkopf geworden war.
»Hier also meine Entschuldigung, Klein Ravna. Wenn ich euch geholfen hätte, hätte mich das wahrscheinlich gerettet.« Seine Stimme versagte, und er schnappte nach Luft. »Aber euch jetzt zu helfen, dient der… Vergeltung ist ein Motiv, dass du verstehen würdest. Ich habe euer Schiff herabgerufen. Wenn ihr schnell fliegt und nicht den Agrav benutzt, überlebt ihr vielleicht die nächste Stunde.«
Blaustiels Stimme war zugleich schüchtern und stürmisch. »Überleben? Nur ein konventioneller Angriff könnte hier unten funktionieren, und nichts deutet darauf hin.«
Ein Irrer inmitten der sanften, stillen Nacht. Ravnas Datio zeigte nichts Seltsames außer der großen Bandbreite, die der ALTE belegte.
Pham Nuwen stieß ein keuchendes Lachen aus. »Oh, er ist schon konventionell, aber sehr schlau. Ein paar Gramm sich vermehrender Unordnung, über Wochen hinweg eingeschleust. Jetzt blüht sie, zeitlich abgestimmt mit dem Angriff, den ihr seht… Die Wucherung wird binnen Stunden absterben, nachdem sie die gesamte schöne Hohe Automatik von Relais zerstört hat… Ravna! Nehmt das Schiff, oder sterbt innerhalb der nächsten tausend Sekunden. Nehmt das Schiff. Wenn ihr überlebt, fliegt zum Grund. Holt das…« Der Abgesandte Apparat verschluckte den Rest des Satzes. Er straffte sich und lächelte ein letztes Mal sein grünliches Lächeln. »Und hier ist mein Geschenk für euch, die beste Hilfe, die ich noch zu geben vermag.«
Das Lächeln verschwand. Der glasige Blick wich Verwunderung… und dann wachsendem Entsetzen. Pham Nuwen tat einen gewaltigen Atemzug und hatte Zeit für einen einzigen bellenden Schrei, ehe er zusammenbrach. Er fiel vornüber und lag sich windend und keuchend im Sand.
Ravna rief abermals Grondrs Code und lief zu Pham Nuwen. Sie wälzte ihn auf den Rücken und versuchte seinen Mund frei zu bekommen. Der Anfall dauerte einige Sekunden, Phams Glieder zuckten unkontrolliert hin und her. Ravna steckte harte Treffer ein, während sie versuchte, ihn zur Ruhe zu bringen. Dann erschlaffte Pham, und sie konnte kaum seinen Atem spüren.
Blaustiel sagte: »Irgendwie hat er sich der ADR bemächtigt. Sie ist viertausend Kilometer entfernt und kommt geradewegs auf die Docks zu. Wehe! Wir sind ruiniert.« Ungenehmigte Flüge in der Nähe der Docks waren ein Grund zu Beschlagnahme.
Aus irgendeinem Grunde glaubte Ravna nicht, dass das noch von Bedeutung wäre. »Gibt es Anzeichen für einen Angriff?«, fragte sie über die Schulter hinweg. Sie lehnte Phams Kopf nach hinten, um sicher zu sein, dass er Luft bekam.
Ungeordnetes Geraschel zwischen den Skrodfahrern. Grünmuschel: »Etwas ist seltsam. Die Transceiver sind für die Benutzung gesperrt.« Also sendet der ALTE noch? »Das lokale Netz ist sehr verstopft. Viel Automatik, viele Angestellte, die zu Sondereinsätzen gerufen werden.«
Ravna blickte sich um. Der Himmel war nachtdunkel, mit ein paar Dutzend hellen Lichtern punktiert — Schiffen auf dem Weg zu den Docks. Alles sehr normal. Aber auch ihr eigenes Datio zeigte an, was Grünmuschel berichtete.
»Ravna, ich kann jetzt nicht reden.« Grondrs klackende Stimme erklang aus der Luft neben ihr. Das müsste sein Assistenzprogramm sein. »Der ALTE hat das meiste von Relais übernommen. Achten Sie auf den Abgesandten Apparat.« Ein bisschen spät das! »Wir haben den Kontakt zum Kontrollzaun jenseits der Transceiver verloren. Es gibt mehrere Programm- und Hardwareausfälle. Der ALTE behauptet, wir würden angegriffen.« Fünf Sekunden Pause. »Wir beobachten Hinweise auf Flottenaktionen an der inneren Verteidigungsgrenze.« Das war gerade mal ein halbes Lichtjahr weit draußen.
»Brap!« Das kam von Blaustiel. »An der inneren Verteidigungsgrenze! Wie konnten Sie ihre Annäherung übersehen?« Er rollte nervös vor und zurück, eins der Räder fest am Ort.
Grondrs Assistent ignorierte die Frage. »Mindestens dreitausend Schiffe. Zerstörung der Transceiver unmittel…«
»Ravna, sind die Skrodfahrer bei Ihnen?« Es war immer noch Grondrs Stimme, aber abgehackter, betroffener. Das war er selber.
»J-ja.«
»Das lokale Netz ist am Zusammenbrechen, die Lebenserhaltungssysteme auch. Die Docks werden fallen. Wir wären stärker als die angreifende Flotte, aber wir faulen von innen heraus… Relais stirbt.« Seine Stimme wurde schärfer und klapperte. »Aber Vrinimi wird nicht sterben, und ein Vertrag ist ein Vertrag! Sagen Sie den Fahrern, wir werden sie bezahlen… irgendwie, irgendwann. Wir verlangen… bitten inständig…, dass sie den vereinbarten Flug unternehmen. Ravna?«
»Ja. Sie hören.«
»Dann fliegt!« Und die Stimme war weg.
Blaustiel sagte: »Die ADR wird in zweihundert Sekunden hier sein.«
Pham Nuwen war ruhiger geworden, sein Atem ging leichter. Während die beiden Fahrer hin und her zwitscherten, schaute sich Ravna um — und plötzlich kam ihr zu Bewusstsein, dass all der Tod und die Zerstörungen aus weiter Entfernung gemeldet worden waren. Der Strand und der Himmel waren fast so friedvoll wie immer. Die letzten Strahlen der Sonne waren von den Wellen verschwunden. Die Gischt war ein trübes Band im niedrigen grünen Licht. Hier und da glühten gelbe Lichter in den Bäumen und weiter weg in den Türmen.
Doch der Alarm hatte sich offensichtlich ausgebreitet. Sie hörte, wie Datios in Gang kamen. Manche von den Strandfeuern verloschen, und die Gestalten rings um sie rannten zwischen die Bäume oder schwebten empor, hin zu weiter entfernten Büros. Jetzt stiegen Sternenschiffe von ihren Liegeplätzen jenseits des Meeres auf, fielen höher und höher, bis sie im versunkenen Sonnenlicht erglänzten.
Es war Relais’ letzter Augenblick des Friedens.
Ein Fleck glühender Finsternis breitete sich über den Himmel aus. Sie starrte offenen Mundes das Licht an, das derart verdreht war, dass man es nicht hätte sehen dürfen. Es schien eher in ihrem Hinterkopf als in ihren Augen. Später konnte sie sich nicht besinnen, wodurch es sich objektiv von Schwärze unterschieden hatte.
»Da ist noch einer!«, sagte Blaustiel. Diesmal nahe am Horizont der Docks, ein Klümpchen Dunkelheit von vielleicht einem Grad Durchmesser. Die Ränder verschwammen schwarz in Schwarz.
»Was ist das?« Ravna war kein Kriegsfan, aber sie hatte ihr Teil an Abenteuergeschichten gelesen. Sie wusste von Antimateriebomben und relativistischen kinetischen Energieschlägen. Von weitem waren solche Waffen helle Lichtflecken, manchmal ein vielfaches Flackern. Oder näher: ein Weltenknacker würde über dem Rund eines Planeten gleißen und den Globus selbst wie einen Tropfen Wasser versprühen, aber langsam, langsam. Das waren die Bilder, die ihre Lektüre ihr vermittelt hatten. Was sie jetzt sah, glich eher einem Sehfehler als einem Bild vom Krieg.
Die MÄCHTE mochten wissen, was die Skrodfahrer sahen, doch Blaustiel sagte: »Ihre Haupttransceiver… zerdampft, glaube ich.«
»Die sind Lichtjahre weit draußen! Wir können unmöglich sehen…« Ein weiterer Fleck erschien, nicht einmal in ihrem Gesichtsfeld. Die Farbe schwebte ohne bestimmten Ort. Pham Nuwen krampfte sich wieder zusammen, aber nur schwach. Es machte ihr keine Mühe, ihn ruhig zu halten, doch… Blut tropfte aus seinem Mund. Der Rücken seines Hemdes war feucht von etwas, das nach Fäulnis stank.
»Die ADR wird in hundert Sekunden hier sein. Eine Menge Zeit, wir haben eine Menge Zeit.« Blaustiel rollte um sie hin und her und sprach ihnen Mut zu, was nur bewies, wie nervös er war. »Ja, meine Dame, Lichtjahre weit draußen. Und es wird Jahre dauern, bis der Blitz von ihrer Vernichtung den Himmel erleuchten wird — wer immer dann hier noch leben mag, um es zu sehen. Aber nur ein Bruchteil der Zerdampfung erzeugt Licht. Der Rest ist eine Ultrawellen-Flut, so gewaltig, dass gewöhnliche Materie beeinflusst wird… Sehnerven, vom Überlauf gekitzelt… So sehr, dass Ihr eigenes Nervensystem zum Empfänger wird.« Er wirbelte herum. »Aber sorgen Sie sich nicht. Wir sind hart und schnell. Wir haben uns schon früher durch manche Klemme hindurchgezwängt.« Es hatte etwas Absurdes — ein Wesen ohne Kurzzeitgedächtnis, das mit seiner blitzschnellen Schläue prahlte. Sie hoffte nur, dass sein Skrod dem gerecht wurde.
Grünmuschels Stimme surrte schmerzhaft laut. »Da!«
Die Brandungslinie zog sich zurück, weiter, als sie es je gesehen hatte.
»Die See fällt!«, rief Grünmuschel. Der Rand des Wassers war hundert, zweihundert Meter zurückgewichen. Der grün gesäumte Horizont senkte sich.
»Das Schiff ist noch fünfzig Sekunden entfernt. Wir werden ihm entgegenfliegen. Kommt, Ravna!«
Ravnas Mut erstarb in dieser Sekunde. Grondr hatte gesagt, dass die Docks fallen würden! Der nähere Himmel war jetzt von Leuten übersät, die sich in Sicherheit bringen wollten. Hundert Meter weiter begann sich der Sand selbst zu verschieben, ein Erdrutsch, der sich dem Abgrund zuneigte. Sie erinnerte sich an etwas, das der ALTE gesagt hatte, und begriff plötzlich, dass die Flieger ein schrecklicher Fehler wären. »Nein! Nur höheres Terrain gewinnen!«
Die Nacht war nicht länger still. Ein Stöhnen wie von einer Glocke drang vom Meer her. Der Klang breitete sich aus. Die Brise des Sonnenuntergangs wurde stärker und neigte die Bäume zum Wasser hin, wirbelte Äste und Sand an ihnen vorbei.
Ravna kniete noch immer, die Hände auf Phams taube Arme gepresst. Kein Atem, kein Pulsschlag. Die Augen starrten blicklos. Das Geschenk des ALTEN für sie. Die MÄCHTE sollten alle verdammt sein! Sie fasste Pham Nuwen unter der Schulter und wälzte ihn sich auf den Rücken.
Sie schnappte nach Luft, verlor ihn fast aus dem Griff. Unter seinem Hemd fühlte sie Hohlräume, wo festes Fleisch hätte sein müssen. Etwas Nasses und Übelriechendes tropfte um ihre Seiten herab. Sie kämpfte sich von den Knien hoch, halb trug sie den Körper, halb zog sie ihn.
Blaustiel rief: »… Stunden dauern, um irgendwo hin zu rollen!« Er schwebte vom Boden auf und lenkte seinen Agrav gegen den Wind. Skrod und Fahrer taumelten für einen Moment trunken… und dann wurde er zu Boden zurückgeworfen, kollerte ohnmächtig auf das Ziel des Windes zu, zu dem stöhnenden Loch, das das Meer gewesen war. Grünmuschel eilte zum Meer hin und schnitt ihm den Weg ins Verderben ab. Blaustiel richtete sich auf, und die beiden rollten zurück zu Ravna. Die Stimme der Fahrer drang schwach durch den Wind: »… Agrav… versagt!« Und damit alles, was die Docks zusammenhielt.
Gehend und rollend kämpften sie sich fort von der saugenden See. »Findet eine Stelle, wo die ADR landen kann.«
Die Baumgrenze war jetzt eine zerklüftete Hügelkette. Die Landschaft veränderte sich vor ihren Augen und unter ihren Füßen. Das stöhnende Geräusch war überall, mancherorts so laut, dass es durch Ravnas Schuhe hindurch surrte. Sie vermieden das absackende Terrain, die Senken, die sich ringsum auftaten. Die Nacht war nicht mehr dunkel. Ob es nun eine Notbeleuchtung oder eine Nebenwirkung des Agravausfalls war — Blau glomm entlang der Löcher. Durch diese Löcher hindurch sahen sie die wolkenbedeckte Nacht von DaUnten tausend Kilometer tiefer. Der Raum dazwischen war nicht leer. Es gab schimmernde Phantome: Milliarden Tonnen Wasser und Erde… und Hunderte von sterbenden Fliegern. Vrinimi Org zahlte den Preis dafür, dass sie ihre Docks auf Agravgewebe statt in einem Orbit gebaut hatten.
Irgendwie kamen die drei voran. Pham Nuwen war fast zu schwer, um ihn zu tragen und zu ziehen; sie strauchelte fast ebenso weit nach links und rechts, wie sie vorankam. Doch er war leichter, als sie geglaubt hätte. Und das war wiederum erschreckend: Versagte sogar das hohe Terrain?
Die meisten Agravs fielen durch Versagen aus, doch manche machten sich auf zerstörerische Weise selbständig: Klumpen von Bäumen und Erde, von den Hügelkuppen losgerissen und aufwärts beschleunigt. Der Wind drehte sich hin und her, auf und ab…, doch er war jetzt dünner, das Geräusch weiter entfernt. Die künstliche Atmosphäre, die die Docks überdeckte, würde bald verschwunden sein. Ravnas Taschenskaphander funktionierte ein paar Minuten lang, doch jetzt ließ er nach. In ein paar Minuten würde er so tot wie ihre Agravs sein… so tot wie sie selbst. Am Rande ihres Bewusstseins kam die Frage auf, wie die PEST das fertiggebracht hatte. Wie der ALTE würde Ravna wohl sterben, ohne es je zu erfahren.
Sie sah die Flammen von Raketentriebwerken; es waren Schiffe da. Die meisten waren in eine Umlaufbahn oder direkt auf Ultraantrieb gegangen, doch ein paar schwebten über der zerfallenden Landschaft. Blaustiel und Grünmuschel führten. Die beiden benutzten ihr drittes Achsenpaar auf eine Weise, mit der Ravna niemals gerechnet hätte, hoben und senkten es, um Steigungen zu erklimmen, mit denen sie unter der Last Phams auf dem Rücken kaum zurechtkam.
Sie waren auf einer Hügelkuppe, doch nicht lange. Das war ein Teil des Bürowaldes gewesen. Nun ragten die Bäume in unterschiedliche Richtungen, wie die Haare eines verwahrlosten Hundes. Sie spürte den Boden unter ihren Füßen beben. Was tun? Die Skrodfahrer rollten von einer Seite der Kuppe zur anderen. Sie würden hier gerettet werden, oder nirgends. Sie kniete sich hin und lagerte den größten Teil von Phams Gewicht auf den Boden. Von hier aus konnte man weit blicken. Die Docks sahen wie eine träge flappende Fahne aus, und jeder gewaltige Ausschlag des Stoffes brach Stücke heraus. Solange noch eine gewisse Übereinstimmung zwischen den Agrav-Einheiten bestand, sah das Ganze noch halbwegs flach aus. Das verlor sich allmählich. Es gab Senken rings um ihr kleines Stückchen Wald. Am Horizont sah Ravna, wie der ferne Rand der Docks sich ablöste und langsam seitwärts kippte: hundert Kilometer lang und zehn breit, stieß er herab auf Schiffe, die zur Rettung hätten dienen können.
Blaustiel drängte gegen ihre linke Seite, Grünmuschel gegen die rechte. Ravna drehte sich und verlagerte etwas von Phams Gewicht auf die Skrodhüllen. Wenn sie alle vier ihre Skaphander zusammenlegten, würden sie ein paar Augenblicke länger bei Bewusstsein bleiben. »Die ADR: ich hol sie runter!«, sagte Blaustiel.
Etwas kam herab. Der Antriebsstrahl eines Schiffes tauchte den Boden in blauweißes Licht, warf scharfe und unruhige Schatten. Es ist nicht gesund, in der Nähe eines Raketentriebwerks zu sein, das sich in einem Schwerefeld von fast einem Ge in der Schwebe hält. Eine Stunde früher wäre das Manöver unmöglich oder, falls doch durchgeführt, ein Kapitalverbrechen gewesen. Jetzt spielte es keine Rolle, ob sich der Strahl durch die Docks brannte oder Frachtgut vom anderen Ende der Galaxis röstete.
Dennoch… wo konnte Blaustiel das Ding landen lassen? Sie waren von Senken und wandernden Klippen umringt. Sie schloss die Augen, als sich das brennende Licht vor ihnen niedersenkte… und dann schwächer wurde. Blaustiels Ruf kam dünn durch ihre gemeinsame Atmosphäre: »Wir gehen zusammen!«
Sie hielt sich dicht bei den Fahrern, und sie krochen/rollten ihren kleinen Hügel hinab. Die Aus der Reihe II schwebte in der Mitte einer bodenlosen Senke. Ihr Antriebsstrahl war nicht zu sehen, doch der gleißend helle Widerschein von den Seiten des Loches zeichnete scharf die Silhouette des Schiffs, verwandelte die Dorne des Ultraantriebs in flaumige weiße Bögen. Ein Riesenfalter mit glühenden Flügeln… und ganz knapp außer Reichweite.
Wenn ihre Skaphander durchhielten, konnten sie es bis zum Rand des Loches schaffen. Was dann? Die Dorne hinderten das Schiff daran, näher als bis auf hundert Meter heranzukommen. Ein gut trainierter (und verrückter) Mensch hätte versuchen können, sich an einen Dorn zu klammern und auf ihm hinab zu kriechen.
Doch Skrodfahrer hatten ihre eigene Art von Verrücktheit: Gerade als das Licht — der Widerschein — nicht mehr auszuhalten war, erlosch der Antriebsstrahl. Die ADR fiel durch das Loch. Das ließ die Fahrer nicht innehalten. »Schneller!«, sagte Blaustiel. Und nun erriet sie, was die beiden vorhatten. Sehr schnell für solch ein ungefüges Wirrwarr von Gliedern und Rädern bewegten sie sich auf den Rand des dunkel gewordenen Loches zu. Ravna spürte, wie das Erdreich unter ihren Füßen nachgab, und dann fielen sie.
Die Docks waren Hunderte — stellenweise Tausende — von Metern dick. Sie fielen jetzt an ihnen vorbei, vorüber an trüben unheimlichen Blitzen innerer Zerstörung.
Dann waren sie durch, und sie fielen immer noch. Für einen Moment war das Gefühl wilder Panik weg. Schließlich war das einfach freier Fall, eine ganz gewöhnliche Sache und ein verdammtes Stück friedlicher als die zerfallenden Docks. Jetzt war es leicht, sich an die Fahrer und Pham Nuwen zu halten, und selbst ihre gemeinsame Atmosphäre erschien etwas dichter als zuvor. Hochvakuum und freier Fall hatten etwas für sich. Abgesehen von vereinzelten wildgewordenen Agravs fiel alles mit derselben Beschleunigung, Ruinen, die sich friedlich setzten. Und in vier, fünf Minuten würden sie auf die Atmosphäre von DaUnten auftreffen und dabei noch immer fast senkrecht abwärts fallen… Eintrittsgeschwindigkeit nur drei oder vier Kilometer pro Sekunde. Würden sie verbrennen? Vielleicht. Über den Wolkendecken blitzte es hier und da hell auf.
Der Müll rings um sie war größtenteils dunkel, nur Schatten vor dem Himmelsspektakel über ihnen. Doch die Gestalt direkt unter ihnen war groß und regelmäßig… die ADR, Bug oben! Das Schiff fiel mit ihnen. Alle paar Sekunden flammte eine Steuerdüse auf, ein schwaches rötliches Glühen. Das Schiff näherte sich ihnen. Wenn es eine Bugluke hatte, würden sie direkt darauf landen.
Seine Rendezvousleuchten flammten auf und tauchten sie in helles Licht. Zehn Meter Abstand. Fünf. Es hatte eine Luke, und sie war offen! Drinnen konnte sie eine ganz gewöhnliche Luftschleuse sehen…
Was immer sie traf, es war groß. Ravna sah eine undeutliche Masse von Plastik über ihrer Schulter auftauchen. Das wildgewordene Stück drehte sich langsam, und es berührte sie kaum — doch das reichte. Pham Nuwen wurde ihrem Griff entrissen. Sein Körper verlor sich im Schatten, leuchtete dann plötzlich hell auf, als ihn der Scheinwerfer des Schiffs verfolgte. Gleichzeitig strömte die Luft aus Ravnas Lungen. Sie hatten jetzt nur noch drei Taschendruckfelder, die am Versagen waren; das genügte nicht. Ravna spürte, wie ihr das Bewusstsein entglitt und ihr Blick sich einengte. So nahe.
Die Fahrer lösten sich voneinander. Sie langte nach den Skrodhüllen, und sie trieben ausgestreckt über der Schiffsluke. Blaustiels Skrod prallte gegen sie, als er auf die Luke zueilte. Der Ruck riss sie herum und schleuderte Grünmuschel nach oben. Allmählich fühlte sie sich wie im Traum. Wo blieb die Panik, wenn man sie brauchte? Festhalten, festhalten, festhalten, sang das Stimmchen, alles, was vom Bewusstsein übrig war. Stoß, Ruck. Die Fahrer schoben und zogen an ihr. Oder vielleicht war es das Schiff, das sie alle herumschleuderte. Sie waren Puppen, die an einem einzigen Faden tanzten.
… Tief im engen Schacht ihres Blickfeldes langte ein Fahrer nach der taumelnden Gestalt von Pham Nuwen.
Ravna konnte sich nicht entsinnen, das Bewusstsein verloren zu haben, doch das nächste, was sie wahrnahm, war, dass sie Luft atmete, Erbrochenes heraushustete — und dass sie in einer Luftschleuse war. Feste grüne Wände umgaben sie trostreich. Pham Nuwen lag an der Wand gegenüber, in einen Erste-Hilfe-Kanister geschnallt. Sein Gesicht hatte einen bläulichen Ton.
Sie schleppte sich unbeholfen durch die Schleuse zu Pham Nuwens Wand. Der Ort war ein wirres Durcheinander, anders als die Passagier- und Sportschiffe, die sie bisher gesehen hatte. Außerdem war es eine Fahrer-Konstruktion. Flecken von Haftbelag waren rings an den Wänden verstreut; Grünmuschel hatte ihren Skrod auf eine Ansammlung davon gesetzt.
Sie beschleunigten, vielleicht mit einem zwanzigstel Ge. »Wir fallen immer noch?«
»Ja. Wenn wir anhalten oder aufsteigen, kollidieren wir« — mit all dem Müll, der immer noch herabregnet. »Blaustiel versucht, uns hinauszufliegen.« Sie fielen zusammen mit dem Rest, versuchten aber, seitlich darunter hervorzukommen — ehe sie auf DaUnten trafen. Ab und zu rasselte oder klirrte etwas gegen den Schiffsrumpf. Manchmal ließ die Beschleunigung nach oder änderte die Richtung. Blaustiel wich aktiv den großen Brocken aus.
Nicht hundertprozentig mit Erfolg. Es gab ein langes, schurrendes Geräusch, das mit einem lauten Knall endete, und der Raum drehte sich langsam um sie. »Brrap! Wir haben gerade einen Antriebsdorn verloren«, erklang Blaustiels Stimme. »Zwei weitere sind beschädigt. Schnallen Sie sich bitte an, meine Dame.«
Hundert Sekunden später berührten sie die Atmosphäre. Das Geräusch war ein kaum wahrnehmbares Summen jenseits des Schiffsrumpfes. Für ein Schiff wie dieses war es der Klang des Todes. Es konnte ebenso wenig aerodynamisch bremsen, wie ein Hund über den Mond springen kann. Das Geräusch wurde lauter. Blaustiel tauchte richtig, um den Müll abzuschütteln, der das Schiff umgab. Zwei weitere Dorne brachen. Dann kam eine lange Welle von Beschleunigung entlang der Hauptachse. Die Aus der Reihe II flog unter dem Todesschatten der Docks hervor, weiter und weiter hinaus in eine Umlaufbahn.
Ravna schaute über Blaustiels Wedel hinweg auf den Außenbildschirm. Sie hatten soeben die Tag-Nacht-Grenze von DaUnten überflogen und waren in einer Umlaufbahn. Sie befanden sich wieder im freien Fall, doch diese Flugbahn krümmte sich in sich selbst, ohne auf harte Dinge zu stoßen — wie etwa DaUnten.
Ravna wusste nicht viel mehr über Raumfahrt, als man von einem gelegentlichen Passagier und einem Liebhaber von Abenteuergeschichten erwarten kann. Doch es war offensichtlich, dass Blaustiel beinahe ein Wunder vollbracht hatte. Als sie ihm zu danken versuchte, rollte der Fahrer über die Haftflecken hin und her und surrte dabei leise in sich hinein. Verlegen? Oder nur auf Art der Fahrer unaufmerksam?
Grünmuschel sagte, und es klang ein bisschen schüchtern, ein bisschen stolz: »Fernhandel ist unser Leben, wissen Sie. Wenn wir vorsichtig sind, ist das Leben größtenteils sicher und friedlich, aber es gibt Momente, wo es eng wird. Blaustiel übt die ganze Zeit und programmiert seinen Skrod mit jedem Trick, der ihm nur in den Sinn kommt. Er ist ein Meister.« Im Alltag schien Entschlussschwäche die Fahrer zu beherrschen. Doch wenn es hart auf hart ging, zögerten sie nicht, alles aufs Spiel zu setzen. Sie fragte sich, wie viel davon auf das Konto des Skrods ging, der sich über seinen Fahrer hinwegsetzte.
»Umpf«, sagte Blaustiel. »Ich habe die heikle Stelle einfach hinausgeschoben. Mir sind etliche von unseren Antriebsdornen zerbrochen. Was, wenn sie sich nicht selbst reparieren? Was fangen wir dann an? Alles rings um DaUnten ist zerstört. Bis auf eine Entfernung von hundert Radien ist überall Müll. Nicht dicht wie bei den Docks, aber mit viel höherer Geschwindigkeit.« Man konnte nicht Milliarden Tonnen Trümmer wie Schrot in Umlaufbahnen schießen und mit sicherem Flug rechnen. »Und jeden Moment werden die Kreaturen der PERVERSION hier sein und jeden erledigen, der überlebt hat.«
»Ark.« Grünmuschels Ranken erstarrten in komischer Unordnung. Eine Sekunde lang zwitscherte sie mit sich selbst. »Du hast Recht…, ich hatte es vergessen. Ich dachte, wir hätten freien Raum gewonnen, doch…«
Freien Raum schon, aber auf einem Schießstand. Ravna blickte zurück zu den Bildschirmen des Steuerdecks. Sie waren jetzt auf der Tagseite, vielleicht fünfhundert Kilometer über dem Hauptozean von DaUnten. Der Raum über dem dunstigen blauen Horizont war frei von Blitzen und Glühen. »Ich sehe keinerlei Kampfaktionen«, sagte Ravna hoffnungsvoll.
»Entschuldigung.« Blaustiel schaltete den Bildschirm auf eine aussagekräftigere Anzeige um. Das meiste davon betraf die Navigation und die Ultradetektoren, was für Ravna nichts bedeutete. Ihr Blick blieb an einer Medstat-Meldung hängen: Pham Nuwen atmete wieder. Der automatische Arzt des Schiffes glaubte ihn retten zu können. Aber es gab auch ein Fenster mit dem Kommunikationsstatus; in ihm wurde der Angriff entsetzlich deutlich. Das lokale Netz war in Hunderte kreischender Fragmente zerbrochen. Von der Planetenoberfläche kamen nur Automatenstimmen, und sie riefen nach medizinischer Hilfe. Grondr war dort unten gewesen. Irgendwie vermutete sie, dass nicht einmal seine Einsatzleute von Marketing überlebt hatten. Was immer DaUnten getroffen hatte, war noch tödlicher als die Ausfälle bei den Docks gewesen. Im nahen planetaren Raum gab es ein paar Überlebende in Schiffen und Bruchstücken von Habitaten, die meisten auf einer Flugbahn in den Untergang. Ohne massive und koordinierte Hilfe würden sie binnen Minuten tot sein — weiter draußen binnen Stunden. Die Direktoren der Vrinimi-Org lebten nicht mehr, vernichtet, ehe sie jemals begriffen, was eigentlich vorging.
Fliegt, hatte Grondr gesagt, fliegt.
Außerhalb des Planetensystems gab es Kämpfe. Ravna sah, dass Meldungen zwischen Verteidigungseinheiten der Vrinimi ausgetauscht wurden. Selbst ohne Kontrolle oder Koordination leisteten einige noch der Flotte der PERVERSION Widerstand. Das Licht ihrer Schlachten würde erst nach der Niederlage hier eintreffen, erst nachdem der Feind in eigener Person hier erschien. Wie viel Zeit bleibt uns? Minuten?
»Brrap. Seht euch diese Spuren an«, sagte Blaustiel. »Die PERVERSION hat fast viertausend Schiffe. Sie umgehen die Verteidiger.«
»Aber jetzt ist da draußen kaum noch jemand übrig«, sagte Grünmuschel. »Ich hoffe, sie sind nicht alle tot.«
»Nicht alle. Ich sehe etliche tausend Schiffe wegfliegen, jedermann, der die Mittel dazu und eine Spur von Vernunft hat.« Blaustiel rollte hin und her. »Leider haben wir die Vernunft — aber schaut euch diesen Reparaturbericht an.« Ein Fenster weitete sich, angefüllt mit bunten Mustern, die für Ravna nicht die Bohne bedeuteten. »Zwei Dorne immer noch defekt, irreparabel. Drei teilweise repariert. Wenn sie nicht heilen, sitzen wir hier fest. Das ist unannehmbar!« Seine Voderstimme surrte schrill auf. Grünmuschel fuhr an ihn heran, und sie berührten sich rasselnd mit den Wedeln.
Etliche Minuten vergingen. Als Blaustiel wieder Samnorsk sprach, klang seine Stimme ruhiger. »Ein Dorn repariert. Vielleicht, vielleicht, vielleicht…« Er holte wieder ein Direktbild auf den Schirm. Die ADR glitt über den Südpol von DaUnten, zurück in die Nacht. Ihre Umlaufbahn müsste über den schlimmsten Müll von den Docks hinwegführen, doch der Flug war ein ständiges Hin und Her, während das Schiff weiteren Trümmern auswich. Die Schreckensschreie der Schlachten von außerhalb des Systems schwanden. Die Vrinimi-Organisation war ein riesiger zuckender Leichnam, und sehr bald würde sein Mörder hier herumschnüffeln.
»Zwei repariert.« Blaustiel wurde sehr still. »Drei! Drei sind repariert! Fünfzehn Sekunden, um sie neu zu eichen, und wir können springen!«
Es schien länger zu dauern…, doch dann schalteten sich alle Bildschirme auf Außenansicht um. DaUnten und seine Sonne waren verschwunden. Sterne und Dunkelheit erstreckten sich ringsumher.
Drei Stunden später, und Relais lag hundertfünfzig Lichtjahre hinter ihnen. Die ADR flog im Hauptschwarm der flüchtenden Schiffe. Angesichts der Archive und des Tourismus hatte es eine außerordentliche Anzahl interstellarer Schiffe bei Relais gegeben: Zehntausend Raumfahrzeuge waren über die Lichtjahre rings um sie verstreut. Doch Sterne waren so weit entfernt von der Galaxisebene rar, und sie befanden sich mindestens einhundert Flugstunden von der nächsten Zuflucht entfernt.
Für Ravna war es der Beginn einer neuen Schlacht. Sie blickte über das Deck zu Blaustiel hin. Der Skrodfahrer war aufgeregt, seine Wedel wanden sich in einer Weise, die Ravna noch nie gesehen hatte. »Sehen Sie, meine Dame Bergsndot, HochPunkt ist eine nette Zivilisation, an der einige Zweibeiner beteiligt sind. Sie ist sicher. Sie liegt nahe. Sie würden sich eingewöhnen.« Er hielt inne. Liest er etwa meinen Gesichtsausdruck? »Aber… aber wenn das nicht annehmbar ist, werden wir Sie weiter mitnehmen. Geben Sie uns eine Chance, die richtige Fracht zu nehmen, und… und wir bringen Sie zurück bis nach Sjandra Kei. Wie wäre es damit?«
»Nein. Sie haben schon einen Vertrag, Blaustiel. Mit der Vrinimi-Organisation. Wir drei« — und was immer aus Pham Nuwen geworden ist — »sind unterwegs zum Grunde des Jenseits.«
»Ich schüttle meinen Kopf voller Unglauben! Wir haben zwar einen Vorschuss erhalten. Aber jetzt, da Vrinimi-Org tot ist, gibt es niemanden, der uns den Rest der Vereinbarung vergüten kann. Also sind wir auch davon befreit.«
»Vrinimi ist nicht tot. Sie haben Grondr ’Kalir gehört. Die Org hatte — hat — Filialen überall im Jenseits. Die Verpflichtung gilt.«
»Rein theoretisch. Wir wissen beide, dass diese Filialen niemals die Gesamtsumme bezahlen könnten.«
Darauf wusste Ravna keine gute Antwort. »Sie haben eine Verpflichtung«, sagte sie, doch ohne rechten Nachdruck. Lautstark aufzutrumpfen, war nie ihre Stärke gewesen.
»Meine Dame, sprechen Sie wirklich unter dem Gesichtspunkt der Org-Ethik, oder aus einfacher Menschlichkeit?«
»Ich…« Eigentlich hatte Ravna die Org-Ethik niemals vollends verstanden. Das war einer der Gründe, warum sie vorgehabt hatte, nach ihrer Aspirantur nach Sjandra Kei zurückzukehren, und einer der Gründe, weshalb die Org mit der menschlichen Rasse vorsichtig umgegangen war. »Es spielt keine Rolle, von welchem Standpunkt aus ich spreche! Es besteht ein Vertrag. Sie waren froh, ihn einzuhalten, solange alles ungefährlich aussah. Nun gut, die Sache hat eine tödliche Wendung genommen — aber das war Teil der Abmachung.« Ravna warf einen Blick auf Grünmuschel. Sie war bisher still gewesen, hatte ihrem Partner nicht einmal etwas zugeraschelt. Ihre Wedel hielt sie fest am Mittelstiel. Vielleicht… »Hören Sie, es gibt noch andere Gründe außer der vertraglichen Verpflichtung. Die PERVERSION ist mächtiger, als irgendwer geglaubt hat. Heute hat sie eine MACHT umgebracht. Und sie operiert im Mittleren Jenseits… Die Skrodfahrer haben eine lange Geschichte, Blaustiel, länger, als die gesamte Existenz der meisten Rassen. Die PERVERSION ist vielleicht stark genug, um all dem ein Ende zu bereiten.«
Grünmuschel rollte auf sie zu und öffnete sich leicht. »Sie… Sie denken wirklich, wir könnten etwas in diesem Schiff am Grunde finden, etwas, das der mächtigsten von allen MÄCHTEN schaden könnte?«
Ravna schwieg eine Weile. »Ja. Und der ALTE selbst hat das gedacht, unmittelbar ehe er starb.«
Blaustiel schlang die Wedel noch fester um sich und drehte sich hin und her. Vor Zorn? »Meine Dame, wir sind Kauffahrer. Wir leben schon lange und sind weit herumgekommen… und haben überlebt, weil wir uns um unsere eigenen Angelegenheiten kümmerten. Was immer auch Romantiker denken mögen, Händler gehen nicht auf Abenteuerfahrt. Was Sie verlangen…, ist unmöglich — gewöhnliche Jenseiter, die versuchen, eine MACHT zu untergraben.«
Dennoch seid ihr dieses Risiko im Vertrag eingegangen. Aber Ravna sagte das nicht laut. Vielleicht tat es Grünmuschel: Ihre Wedel raschelten, und Blaustiel sank noch mehr in sich zusammen. Grünmuschel schwieg eine Zeit lang, dann machte sie etwas Komisches mit ihren Achsen und löste sich dabei vom Haftbelag. Ihre Räder drehten sich in der Luft, als sie in einem langsamen Bogen schwebte, bis sie kopfüber dahing und mit den Wedeln über die von Blaustiel strich. Sie raschelten fast fünf Minuten lang hin und her. Blaustiel löste sich allmählich aus seiner Verkrampfung, seine Wedel entspannten sich und tätschelten ihrerseits die Partnerin.
Schließlich sagte er: »Also gut… Eine Suchaktion. Aber wohlgemerkt: Einmal, und nie wieder.«