Der Frühling kam nass und kalt und fürchterlich langsam. Seit acht Tagen regnete es. Wie sehr sehnte sich Johanna nach etwas anderem, und sei es sogar wieder die Dunkelheit des Winters.
Sie schleppte sich über Matsch dahin, der Moos gewesen war. Es war Mittag, das düstere Licht würde noch drei Stunden anhalten. Narbenhintern behauptete, dass sie, wenn die Wolken nicht wären, jetzt schon etwas direktes Sonnenlicht sehen könnten. Manchmal fragte sie sich, ob sie die Sonne jemals wiedersehen würde.
Der große Hof der Burg lag auf einem Hang. Matsch und schmutziger Schnee erstreckten sich den Hügel hinab, an den Wänden der Holzhäuser aufgetürmt. Im Sommer war der Ausblick von hier großartig gewesen. Und im Winter hatte sich das Nordlicht grün und blau über den Schnee gewunden, auf dem zugefrorenen Hafen geglänzt und die fernen Berge gegen den Himmel abgesetzt. Jetzt war der Regen ein dichter Nebel, sie konnte nicht einmal die Stadt jenseits der Mauern sehen. Die Wolken hingen als niedrige und zerklüftete Decke über ihrem Kopf. Sie wusste, dass Wachen auf der steinernen Außenmauer der Burg standen, doch heute mussten sie sich hinter Schießscharten verkrochen haben. Kein einziges Tier, kein einziges Rudel war zu sehen. Die Welt der Klauenwesen war ein leerer Ort im Vergleich zu Straum, glich aber auch nicht dem Hochlabor. Hochlabor war ein luftloser Felsbrocken, der einen roten Zwerg umkreiste. Die Klauenwelt war lebendig, in Bewegung; manchmal wirkte sie so schön und freundlich wie ein Urlaubsgebiet auf Straum. In der Tat war sie, wie Johanna erkannt hatte, wirtlicher als die meisten von der menschlichen Rasse besiedelten Welten, sie war gewiss sanfter als die Nyjora und vielleicht so hübsch wie die Alte Erde.
Johanna hatte ihren Bungalow erreicht. Sie blieb unter seinen vorgewölbten Wänden stehen und blickte über den Hof. Ja, es sah ein bisschen wie auf der mittelalterlichen Nyjora aus. Aber die Geschichten aus dem Zeitalter der Fürstinnen hatten nicht die unversöhnliche Kraft vermittelt, die in solch einer Welt steckte: Der Regen rann, soweit ihr Blick reichte. Ohne anständige Technik konnte sogar ein kalter Regen tödlich sein, und der Wind auch. Und das Meer war nichts für eine nachmittägliche Segelpartie; sie dachte an wogende Hügelchen von Kälte, vom Regen zerknittert… und ohne Ende. Sogar die Wälder rings um die Stadt waren bedrohlich. Es war leicht, in sie hineinzuspazieren, doch es gab keine Radioorter, keine als Baumstümpfe getarnten Erfrischungsstände. Wenn man sich verirrte, würde man einfach umkommen. Nyjoranische Märchen erhielten jetzt eine besondere Bedeutung für sie: Es bedurfte keiner großen Vorstellungskraft, um die Elementargeister von Wind und Regen und Meer zu erfinden. Das war die Erfahrung aus der Zeit vor der Technik, dass einen, selbst wenn man keine Feinde hatte, die Welt selbst töten konnte.
Und sie hatte eine Menge Feinde. Johanna zog die winzige Tür auf und ging hinein.
Ein Klauenrudel saß um das Feuer. Es rappelte sich auf und half Johanna aus der Regenjacke. Sie zuckte nicht mehr unter der Berührung der scharfzahnigen Schnauzen zusammen. Es war einer ihrer üblichen Gehilfen, fast konnte sie sich die Mäuler als Hände vorstellen, die geschickt die Ölfell-Jacke von ihren Schultern zogen und sie neben das Feuer hängten.
Johanna warf Stiefel und Hose ab und nahm den gefütterten Mantel entgegen, den das Rudel ihr reichte.
»Essen. Jetzt«, sagte sie.
»Gut.«
Johanna setzte sich auf ein Kissen neben der Feuergrube. Eigentlich waren die Klauenwesen noch primitiver als die Menschen auf der Nyjora: Die Klauenwelt war keine herabgesunkene Kolonie. Sie hatten hier nicht einmal Legenden als Wegweiser. Hygiene war eine fragwürdige Angelegenheit. Vor Holzschnitzerins Zeiten hatten die Klauenärzte ihre Patienten/Opfer zur Ader gelassen… Sie wusste jetzt, dass sie im hiesigen Gegenstück zu einer Luxussuite wohnte. Die sorgfältig polierten Möbel waren nicht das Übliche. Die auf Säulen und Wände gemalten Muster hatten viele Stunden Arbeit erfordert.
Johanna legte das Kinn in die Hände und starrte in die Flammen. Vage nahm sie das Rudel wahr, das um die Grube schritt und Töpfe übers Feuer hängte. Dieses hier sprach sehr wenig Samnorsk, es nahm nicht an Holzschnitzerins Datio-Projekt teil. Vor vielen Wochen hatte Narbenhintern sie gebeten, bei ihr einziehen zu dürfen — was konnte besser sein, um den Lernvorgang zu beschleunigen? Johanna erschauderte bei der Erinnerung. Sie wusste, dass der Narbige nur ein einzelnes Glied war, dass das Rudel, das Vati umgebracht hatte, selbst gestorben war. Johanna verstand es, doch jedesmal, wenn sie ›Wanderer‹ sah, sah sie den Mörder ihres Vaters fett und froh dasitzen, bemüht, sich hinter seinen drei kleineren Gefährten zu verstecken. Johanna lächelte in die Flammen, als sie daran dachte, wie sie Narbenhintern ein Ding verpasst hatte, als er den Vorschlag machte. Sie hatte die Beherrschung verloren, aber es hatte sich gelohnt. Niemand schlug mehr vor, dass ›Freunde‹ dieses Haus mit ihr teilen sollten. An den meisten Abenden ließen sie sie allein. Und manchmal nachts… schienen Vati und Mutti so nahe zu sein, vielleicht gleich draußen, dass sie sie nur zu bemerken brauchte. Obwohl sie sie hatte sterben sehen, weigerte sich etwas in ihr, ihren Tod zu akzeptieren.
Küchengerüche drangen durch den vertrauten Tagtraum zu ihr. An diesem Abend gab es Fleisch und Bohnen mit etwas wie Zwiebeln. Welch eine Überraschung. Das Zeug roch gut; wenn es wenigstens ein bisschen Abwechslung gegeben hätte, wäre Johanna froh gewesen. Aber Johanna hatte seit sechzig Tagen kein frisches Obst gesehen. Pökelfleisch und Gemüse war alles, was es im Winter gab. Wenn Jefri hier wäre, würde er ausflippen. Es war Monate her, dass die Nachricht von Holzschnitzerins Spionen oben im Norden gekommen war: Jefri war bei dem Überfall umgekommen… Johanna kam allmählich darüber hinweg, wirklich. Und ganz allein zu sein, machte es in gewisser Weise… einfacher.
Das Rudel stellte einen Teller mit Fleisch und Bohnen vor ihr hin, zusammen mit einer Art Messer. Oh, gut. Johanna griff nach dem gekrümmten Heft (zur Seite gebogen, damit die Klauenkiefer es halten konnten) und schnitt drauflos.
Sie war fast fertig, als höflich an der Tür gekratzt wurde. Ihr Diener brabbelte etwas. Der Besucher antwortete und sagte dann in ziemlich gutem Samnorsk (und mit einer Stimme, die unheimlich ihrer eigenen glich): »Hallo, ich heiße Schreiber. Ich würde gern ein bisschen reden, ja?«
Eins von dem Diener blickte sich zu ihr um, während die anderen die Tür beobachteten. Schreiber war der, den sie bei sich den Aufgeblasenen Clown nannte. Er war mit Narbenhintern beim Überfall dabeigewesen, doch er war so ein Dummkopf, dass sie sich von ihm kaum bedroht fühlen konnte.
»Gut«, sagte sie und ging auf die Tür zu. Ihr Diener (Leibwächter) nahm Armbrüste zwischen die Kiefer, und alle fünf Glieder gingen die Bodentreppe hinauf — hier unten reichte der Platz nur für ein Rudel.
Zusammen mit ihrem Besucher wehten Kälte und Nässe herein. Johanna wich auf die andere Seite des Feuers zurück, während Schreiber seine Regenjacken auszog. Die Rudelglieder schüttelten sich, wie es Hunde tun, geräuschvoll und komisch anzusehen — und man mochte nicht in der Nähe sein, wenn sie es taten.
Schließlich schlenderte Schreiber an die Feuergrube. Unter der Regenkleidung trug er Jacken mit den üblichen Tragriemen und den Öffnungen hinter den Schultern und auf den Hüften. Schreibers Jacken schienen aber über den Schultern gepolstert zu sein, damit seine Glieder schwerer aussahen, als sie wirklich waren. Eins von ihm schnüffelte an ihrem Teller, während die anderen hierhin und dahin blickten…, aber niemals direkt zu ihr hin.
Johanna schaute auf das Rudel hinab. Es fiel ihr immer noch schwer, zu mehr als einem Gesicht zu sprechen; meistens suchte sie sich eins aus, das sie gerade ansah. »Und? Worüber willst du mit mir sprechen?«
Einer von den Köpfen blickte sie endlich an. Er leckte sich die Lippen. »Gut. Ja. Ich dachte, ich sehe nach, wie es dir geht? Ich meine…« Kollern. Ihr Diener antwortete von oben her, vermutlich berichtete er, in welcher Stimmung sie sich befand. Schreiber straffte sich. Vier von seinen sechs Köpfen schauten Johanna an. Seine beiden anderen Glieder gingen hin und her, als überdächten sie etwas Wichtiges. »Sieh. Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, aber ich habe mich immer sehr gut in Charakteren ausgekannt. Ich weiß, dass du hier nicht glücklich bist…«
Aufgeblasener Clown kannte sich auch hervorragend mit dem Offensichtlichen aus.
»… und ich kann das verstehen. Aber wir tun unser Bestes, um dir zu helfen. Wir sind nicht die schlechten Leute, die deine Eltern und deinen Bruder umgebracht haben.«
Johanna stemmte eine Hand gegen die niedrige Decke und beugte sich vor. Ihr seid alle Totschläger, ihr habt nur zufällig dieselben Feinde wie ich. »Das weiß ich, und ich arbeite mit euch zusammen. Ohne mich würdet ihr immer noch mit dem Kindermodus des Datios spielen. Ich habe euch die Leselektionen gezeigt; wenn ihr eine Spur von Verstand habt, werdet ihr bis zum Sommer über Schießpulver verfügen.« Der Olifant war ein überkommenes Spielzeug, ein Liebling zum Knuddeln, dem sie seit Jahren entwachsen sein sollte. Aber es war Geschichte darin — Erzählungen von den Königinnen und Fürstinnen der Dunklen Zeitalter, und wie sie gekämpft hatten, um die Dschungel zu besiegen, die Städte wieder aufzubauen und dann die Raumschiffe. Halb verborgen in obskuren Verweispfaden gab es auch exakte Zahlen, die Geschichte der Technik. Schießpulver gehörte zu den einfachsten Dingen. Wenn sich das Wetter aufklärte, würden ein paar geologische Suchexpeditionen aufbrechen; Holzschnitzerin kannte Schwefel schon, hatte aber keine nennenswerten Mengen in der Stadt. Geschütze herzustellen, würde schwieriger sein. Dann aber… »Dann werden eure Feinde tot sein. Deine Leute bekommen, was sie von mir wollen. Worüber beklagst du dich also?«
»Beklagen?« Die Köpfe von Aufgeblasenem Clown gingen im Wechsel auf und ab. Derlei auf mehrere Glieder verteilte Gesten schienen dem Gesichtsausdruck zu entsprechen, obwohl Johanna viele davon noch nicht entschlüsselt hatte. Diese hier bedeutete Verlegenheit. »Ich beklage mich nicht. Du hilfst uns, ich weiß. Aber, aber…« Jetzt liefen drei von seinen Gliedern umher. »Es ist einfach so, dass ich mehr sehe als die meisten Leute, vielleicht ein wenig auf die Art, wie es Holzschnitzerin in alter Zeit getan hat. Ich bin ein…- ich habe dein Wort dafür gesehen —, ein ›Dilettant‹ . Du weißt, jemand, der alles studiert und zu allem begabt ist. Ich bin erst dreißig Jahre alt, aber ich habe fast jedes Buch auf der Welt gelesen, und« — seine Köpfe senkten sich, vielleicht vor Schüchternheit? — »ich habe sogar vor, eins zu schreiben, vielleicht die wahre Geschichte deines Abenteuers.«
Johanna stellte fest, dass sie lächeln musste. Meistens sah sie in den Klauenwesen barbarische Fremdlinge, unmenschlich im Geiste wie in der Gestalt. Doch wenn sie die Augen schloss, konnte sie sich Schreiber fast als einen Straumer vorstellen. Mutti hatte ein paar Freunde gehabt, die genauso dümmlich und von sich eingenommen waren wie dieser hier, Männer und Frauen mit hundert grandiosen Projekten, aus denen niemals etwas werden würde. Daheim auf Straum waren sie lästige Langweiler gewesen, denen sie aus dem Weg ging. Jetzt… nun ja, Schreibers Dummheit war fast, als wäre sie wieder daheim.
»Du bist hier, um mich für dein Buch zu studieren?«
Wieder Kopfnicken im Wechsel. »Hm, ja. Und außerdem wollte ich mit dir über meine anderen Pläne reden. Ich bin immer eine Art Erfinder gewesen, weißt du. Ich weiß, dass das jetzt nicht mehr viel zu bedeuten hat. Alles, was erfunden werden kann, scheint schon im Datio zu sein. Ich habe viele von meinen besten Ideen dort gesehen.« Er seufzte, oder er ahmte das Geräusch des Seufzens nach. Er imitierte jetzt eine von den populärwissenschaftlichen Stimmen im Datio. Klänge fielen den Klauenwesen kinderleicht; es konnte verdammt verwirrend sein.
»Jedenfalls fragte ich mich eben, wie man einige von diesen Ideen verbessern könnte…« Vier von Schreibers Gliedern machten es sich auf der Bank bei der Feuergrube bequem, es sah aus, als richte er sich auf ein langes Gespräch ein. Seine beiden anderen kamen um die Grube herum, um ihr einen Stapel Papier zu geben, der von Messingringen zusammengehalten wurde. Während einer auf der anderen Seite weitersprach, blätterten die beiden sorgfältig die Seiten um und zeigten, wohin sie schauen sollte.
Er hatte in der Tat eine Menge Einfälle: Vögel, die an Leinen fliegende Boote trugen, riesige Linsen, die das Sonnenlicht auf Feinde bündeln und sie in Brand setzen sollten. Einige Bilder erweckten den Anschein, als glaube er, dass sich die Atmosphäre bis jenseits des Mondes erstrecke. Schreiber erklärte jeden Einfall ermüdend ausführlich, zeigte dabei auf die Zeichnungen und tätschelte ihr begeistert die Hände. »Du siehst also die Möglichkeiten? Mein einzigartiger Blickwinkel, kombiniert mit den bewährten Erfindungen im Datio. Weißt du, wohin das führen könnte?«
Johanna kicherte, von der Vorstellung überwältigt, wie Schreibers Riesenvögel kilometergroße Linsen zum Mond trugen. Er schien das Geräusch für Zustimmung zu nehmen.
»Ja! Es ist genial, was? Meine neueste Idee, ohne das Datio wäre ich nie drauf gekommen. Dieses ›Radio‹ , es sendet Töne sehr weit und schnell, ja? Warum sollte man es nicht mit der Kraft unserer Gedanken verbinden? Ein Rudel könnte als Ganzes denken, sogar wenn es über… hm… Hunderte von Kilometern verteilt wäre.«
Das ergab ja beinahe Sinn! Wenn die Herstellung von Schießpulver aber Monate dauerte, obwohl die exakte Formel bekannt war — wie viele Jahrzehnte würde es dauern, ehe die Rudel Radio hätten? Schreiber war ein Springquell halbgarer Ideen. Sie ließ sich von seinen Worten mehr als eine Stunde lang berieseln. Es war Unsinn, aber weniger fremdartig als das meiste, was sie das letzte Jahr durchgemacht hatte.
Schließlich schien er sich verausgabt zu haben; er machte längere Pausen und fragte sie öfter nach ihrer Meinung. Zum Schluss sagte er: »Na, das hat sicherlich Spaß gemacht, ja?«
»Hm, ja, faszinierend.«
»Ich habe gewusst, dass es dir gefallen würde. Du bist genau wie meine Leute, wirklich. Du bist überhaupt nicht wütend, nicht die ganze Zeit…«
»Was soll denn das heißen?« Johanna stieß eine weiche Schnauze beiseite und stand auf. Das Hundewesen rutschte auf seinen Hinterkeulen zurück, um zu ihr aufzusehen.
»Ich, also…, du hast viel zu hassen, ich weiß. Aber du scheinst die ganze Zeit auf uns so wütend zu sein, und dabei sind wir es, die dir zu helfen versuchen! Nach der Tagesarbeit bleibst du hier, du willst nicht mit den Leuten reden — obwohl ich jetzt sehe, dass es unser Fehler war. Du wolltest, dass wir zu dir kommen, und warst nur zu stolz, es zu sagen. Ich habe diese Fähigkeit, in den Charakter zu sehen, weißt du. Mein Freund, der, den du Narbenhintern nennst, er ist wirklich ein guter Kerl. Ich weiß, dass ich dir das ehrlich sagen kann und dass du es jetzt, wo wir Freunde sind, glauben wirst. Er würde dich auch sehr gern besuchen kommen… Och.«
Johanna ging langsam um die Feuergrube und zwang die beiden Glieder, vor ihr zurückzuweichen. Der ganze Schreiber schaute sie jetzt an, die Hälse übereinander gebogen, die Augen weit offen.
»Ich bin nicht wie ihr. Ich brauche es nicht, euer Gerede oder eure idiotischen Ideen.« Sie warf Schreibers Notizbuch in die Grube. Schreiber sprang an den Rand des Feuers und langte verzweifelt nach den brennenden Seiten. Er fischte die meisten heraus und presste sie an seine Brüste.
Johanna ging weiter auf ihn zu und stieß mit den Füßen nach seinen Beinen. Schreiber wich zurück, rückwärts und an den Boden gepresst. »Blöde, dreckige Metzger. Ich bin nicht wie ihr.« Sie schlug mit der Hand gegen einen Deckenbalken. »Menschen leben nicht gern wie Tiere. Wir adoptieren keine Mörder. Sag das Narbenhintern, sag es ihm. Wenn er jemals vorbeikommt auf einen freundschaftlichen Plausch, dann, dann schlage ich ihm den Kopf ein, alle schlage ich ihm ein!«
Schreiber stand jetzt mit den Rücken zur Wand. Seine Köpfe wandten sich wild hin und her. Er machte eine Menge Geräusche. Manches davon war Samnorsk, aber in zu hoher Tonlage, als dass man es hätte verstehen können. Eins von seinen Mäulern fand den Türknauf. Er zog die Tür auf, und alle seine sechs Glieder stürzten ins Zwielicht hinaus, ohne an die Regenjacken zu denken.
Johanna kniete sich hin und steckte den Kopf durch die Tür. Die Luft war vom Winde getriebener Nebel. Augenblicklich war ihr Gesicht so kalt und nass, dass sie die Tränen nicht fühlte. Schreiber war sechs Schatten im dunkler werdenden Grau, Schatten, die den Hang hinabliefen, mitunter vor Eile stolpernd. Eine Sekunde später war er fort. Es gab nichts als die unscharfen Formen der nächsten Hütten und das gelbe Licht, das um sie herum vom Feuer her nach draußen fiel.
Seltsam. Gleich nach dem Überfall hatte sie Entsetzen gefühlt. Die Klauenwesen waren unaufhaltsame Mörder gewesen. Dann auf dem Boot, als sie Narbenhintern den Schlag versetzt hatte… es war so wunderbar gewesen: Das ganze Rudel war zusammengebrochen, und plötzlich hatte sie gewusst, dass sie sich wehren, dass sie ihnen die Knochen brechen konnte. Sie musste ihnen nicht ausgeliefert sein… Heute Abend hatte sie noch etwas gelernt. Selbst ohne sie zu berühren, konnte sie ihnen weh tun. Manchen jedenfalls. Ihre bloße Abneigung hatte den Aufgeblasenen Clown vernichtet.
Johanna zog sich in die rauchige Wärme zurück und schloss die Tür. Sie hätte triumphieren müssen.
Schreiber Yaqueramaphan erzählte niemandem von seiner Begegnung mit dem Zweibeiner. Natürlich hatte Feilonius’ Wache alles mitgehört. Der Bursche sprach vielleicht nicht viel Samnorsk, aber sicherlich hatte er den allgemeinen Verlauf des Streits mitbekommen. Die Leute würden früher oder später davon erfahren.
Ein paar Tage lang blies er in der Burg Trübsal, verbrachte etliche Stunden über die Reste seines Notizbuchs gekauert und versuchte, die Zeichnungen wiederherzustellen. Es sollte eine Weile dauern, ehe er wieder eine Sitzung mit dem Datio besuchte, vor allem, wenn Johanna dabei war. Schreiber wusste, dass die restliche Welt ihn für aufdringlich hielt, aber er hatte wirklich eine Menge Mut gebraucht, um so zu Johanna hineinzugehen. Er wusste, dass seine Ideen genial waren, doch sein ganzes Leben lang hatten ihm phantasielose Leute das Gegenteil gesagt.
In vielerlei Hinsicht war Schreiber ein Glückspilz. Er war als Spaltungsrudel in Rangathir geboren worden, am östlichen Rand der Republik. Sein Elter war ein wohlhabender Kaufmann gewesen. Yaqueramaphan hatte manche Züge seines Elters, doch ihm ging die dumpfe Geduld ab, die für die alltägliche Arbeit im Geschäft nötig war. Sein Geschwisterrudel hatte von dieser Gabe mehr als genug geerbt, das Familiengeschäft wuchs, und das Geschwister gönnte — in den ersten Jahren — Schreiber seinen Anteil an dem Wohlstand. Von seinen frühesten Tagen an war Schreiber ein Intellektueller gewesen. Er las alles: Naturgeschichte, Biographien, Zuchtkunde. Zum Schluss hatte er die größte Bibliothek in Rangathir, über zweihundert Bücher.
Schon damals hatte Schreiber umwerfende Einfälle, Gedanken, die, richtig ausgeführt, sie zu den reichsten Kaufleuten in allen Ostprovinzen gemacht hätten. Leider hatten Pech und der Mangel an Phantasie bei seinem Geschwister seine frühen Ideen zum Scheitern verurteilt. Schließlich zahlte ihn sein Geschwister aus, und Yaqueramaphan zog in die Hauptstadt. Es war nur gut so. Mittlerweile hatte sich Schreiber auf sechs Glieder vermehrt, er musste mehr von der Welt sehen. Außerdem — es gab dort fünftausend Bücher in der Bibliothek, die Erfahrung der ganzen Geschichte und der ganzen Welt! Seine eigenen Notizbücher wurden selbst zur Bibliothek. Dennoch hatten die Rudel an der Universität keine Zeit für ihn. Sein Abriss einer Zusammenfassung der Naturgeschichte wurde von allen Schreibwarenhändlern abgelehnt, obwohl er kleine Teile davon auf eigene Kosten veröffentlichen ließ. Es war klar, dass es des Erfolges in der Welt der Taten bedurfte, ehe seine Ideen die verdiente Beachtung finden konnten; daher sein Spionageunternehmen: Das Parlament selbst würde ihm danken, wenn er mit den Geheimnissen von Flensers Verborgener Insel zurückkehrte.
Das lag fast ein Jahr zurück. Was seither geschehen war — mit dem fliegenden Haus und Johanna und dem Datio —, übertraf seine wildesten Träume (und Schreiber gab zu, dass diese Träume schon ziemlich extrem gewesen waren). Die Bibliothek im Datio enthielt Millionen von Büchern. Wenn Johanna ihm half, seine Ideen abzurunden, würden sie die Flenseristen vom Antlitz der Welt wegfegen. Sie würden ihr fliegendes Haus wiedergewinnen. Nicht einmal der Himmel wäre eine Grenze.
Wie sie nun alles zurückwies… Er begann sich zu fragen, wie es eigentlich um ihn stand. Vielleicht war sie bloß wütend auf ihn, weil er versucht hatte, Wanderer zu rechtfertigen. Sie würde Wanderer mögen, wenn sie es sich selbst nur erlaubte; dessen war er gewiss. Aber andererseits… vielleicht waren seine Ideen doch nicht so gut, zumindest im Vergleich zu denen der Menschen.
Der Gedanke bedrückte ihn ziemlich. Aber er stellte die Skizzen vollständig wieder her und hatte sogar ein paar neue Ideen. Vielleicht sollte er sich noch etwas Seidenpapier besorgen.
Wanderer schaute vorbei und überzeugte ihn, mit in die Stadt zu kommen.
Yaqueramaphan hatte sich ein Dutzend Erklärungen zurechtgelegt, warum er nicht mehr an den Sitzungen mit Johanna teilnahm. Er versuchte es mit zweien oder dreien davon, während er mit Wanderer die Burgstraße zum Hafen hinabging.
Nach ein, zwei Minuten wandte sein Freund einen Kopf zurück. »In Ordnung, Schreiber. Wenn dir danach ist, würden wir uns freuen, dich wieder dabei zu haben.«
Schreiber hatte die Haltung anderer ihm gegenüber immer gut beurteilen können; insbesondere merkte er, wenn er gönnerhaft behandelt wurde. Er musste etwas finster dreingeblickt haben, denn Wanderer fuhr fort: »Wirklich. Sogar Holzschnitzerin hat nach dir gefragt. Ihr gefallen deine Ideen.«
Ob das nun eine trostreiche Lüge war oder nicht, Schreibers Miene hellte sich auf. »Tatsächlich?« Die Holzschnitzerin von jetzt war eine traurige Angelegenheit, aber der Holzschnitzer aus den Geschichtsbüchern war einer von Yaqueramaphans großen Helden. »Ist mir niemand böse?«
»Na ja, Feilonius ist ein bisschen eingeschnappt. Er ist für die Sicherheit des Zweibeiners verantwortlich, und das macht ihn sehr nervös. Aber du hast nur etwas versucht, das wir alle tun wollten.«
»Tja.« Selbst wenn es kein Datio gäbe, selbst wenn Johanna Olsndot nicht von den Sternen gekommen wäre, wäre sie immer noch das faszinierendste Geschöpf auf der Welt: das Gegenstück eines Rudels in einem einzigen Körper. Man konnte geradewegs zu ihr hingehen, sie berühren, ohne die geringste Verwirrung zu verspüren. Zuerst war es beängstigend, doch sie alle empfanden es bald als anziehend. Für Rudel hatte Nähe immer Abwesenheit der Vernunft bedeutet — sei es beim Sex oder in der Schlacht. Man stelle sich vor, mit einem Freund am Feuer sitzen und eine intelligente Unterhaltung führen zu können! Holzschnitzerin hatte eine Theorie, wonach die Zivilisation der Zweibeiner womöglich von Natur effizienter als jede Rudelzivilisation und die Zusammenarbeit für die Menschen so leicht war, dass sie viel schneller lernten und bauten, als Rudel es könnten. Das einzige Problem bei dieser Theorie war Johanna Olsndot. Wenn Johanna ein normaler Mensch war, konnte man nur überrascht sein, dass diese Rasse überhaupt zusammenzuarbeiten vermochte. Manchmal war sie freundlich — für gewöhnlich in den Sitzungen mit Holzschnitzerin; sie schien zu verstehen, dass Holzschnitzerin gebrechlich war und ihre Gesundheit sich verschlechterte. Öfter war sie herablassend, sarkastisch, und sie schien das Beste, was sie für sie tun konnten, als Kränkung zu empfinden… Und manchmal war sie wie neulich abends. »Wie geht es mit dem Datio voran?«, fragte er nach einer Weile.
Wanderer zuckte die Achseln. »Ungefähr wie zuvor. Holzschnitzerin und ich können jetzt beide ziemlich gut Samnorsk lesen. Johanna hat uns beigebracht — mir über Holzschnitzerin, muss ich wohl sagen —, wie man die meisten Fähigkeiten des Datios benutzt. Es ist so viel darin, das die Welt verändern wird. Aber zunächst müssen wir uns auf die Herstellung von Schießpulver und Kanonen konzentrieren. Und gerade das — es wirklich zu tun —, geht langsam.«
Schreiber nickte wissend. Das war auch in seinem Leben das Hauptproblem gewesen.
»Immerhin, wenn wir alles bis Mittsommer schaffen, können wir vielleicht Flensers Armee entgegentreten und das fliegende Haus vor nächstem Winter zurückerobern.« Wanderer grinste über alle Gesichter. »Und dann, mein Freund, kann Johanna ihre Leute zu Hilfe rufen…, und wir werden unser ganzes Leben lang die Leute von draußen studieren können. Vielleicht pilgere ich zu Welten, die um andere Sterne kreisen.«
Das war eine Idee, über die sie schon früher gesprochen hatten. Wanderer hatte sogar noch vor Schreiber daran gedacht.
Sie bogen aus der Burgstraße in die Randgasse ein. Schreiber hatte wieder mehr Lust, die Schreibwarenläden zu besuchen; es musste einen Weg geben, wie er helfen konnte. Er blickte sich mit einem Interesse um, an dem es ihm die letzten Tage über gemangelt hatte. Holzschnitzerheim war eine recht große Stadt, fast so groß wie Rangathir — vielleicht zwanzigtausend Rudel lebten in ihren Mauern und in der unmittelbaren Umgebung. Dieser Tag war etwas kälter als die vorigen, aber es regnete nicht. Ein kalter, sauberer Wind strich durch die Marktgasse, er brachte schwache Gerüche von Schimmel und Abwässern, von Gewürzen und frisch gesägtem Holz. Dunkle Wolken hingen tief und verhüllten die Anhöhen rings um den Hafen. Frühling lag in der Luft. Schreiber stieß spielerisch mit den Pfoten nach dem Schneematsch an der Bordsteinkante.
Wanderer führte sie zu einer Seitenstraße. Der Ort war gerammelt voll, Fremde kamen einander bis auf sieben oder acht Ellen nahe. An den Ständen der Schreibwarenhändler war es noch schlimmer. Die Trennwände aus Filz waren nicht allzu dick, und in Holzschnitzerheim schien das Interesse an Literatur größer zu sein als an jedem Ort, wo Schreiber jemals gewesen war. Er konnte sich selbst kaum denken hören, während er mit dem Händler feilschte. Der Kaufmann saß auf einer erhöhten Plattform mit dicker Polsterung; ihm machte der Lärm nicht viel aus. Schreiber hielt die Köpfe dicht beieinander und konzentrierte sich auf die Preise und die Ware. Von seinem früheren Leben her war er in derlei Dingen ziemlich gut.
Schließlich bekam er sein Papier, und zu einem anständigen Preis.
»Lass uns übers Rudelwohl zurückgehen«, sagte er. Das war der lange Weg, mitten durch den Markt. Wenn er guter Laune war, fühlte sich Schreiber in der Menge wohl; er beobachtete gern die Leute. Holzschnitzerheim war nicht so kosmopolitisch wie manche Städte an den Langen Seen, doch es gab Händler von überall her. Er sah etliche Rudel, die die Mützen eines tropischen Großkollektivs trugen. An einer Kreuzung schwatzte ein Rotjack aus Osthausen gemütlich mit einem Werkmeister.
Wenn Rudel einander so nahe kamen, und in solchen Mengen, schien die Welt am Rande eines Chors zu taumeln. Jede Person hielt sich dicht beisammen und versuchte, die eigenen Gedanken zu bewahren. Man konnte kaum gehen, ohne über die eigenen Füße zu stolpern. Und manchmal kam es vor, dass die Hintergrundgedanken anschwollen, für einen Moment, in dem mehrere Rudel irgendwie synchron waren. Das Bewusstsein wogte, und einen Augenblick lang war man eins mit vielen, ein Superrudel, das hätte ein Gott sein können. Yaqueramaphan erschauderte. Das war es im Grunde, was die Tropen so anziehend machte. Die Mengen dort waren Meuten, große Gruppenpersönlichkeiten, so stumpfsinnig wie ekstatisch. Wenn die Geschichten stimmten, waren manche Städte im Süden endlose Orgien.
Sie waren fast eine Stunde lang über den Marktplatz geschlendert, als es ihn traf. Schreiber schüttelte abrupt die Köpfe. Er drehte sich um und ging dicht gedrängt im Gleichschritt vom Rudelwohl herunter und in eine Seitenstraße. Wanderer folgte ihm. »Ist dir die Menge zu viel?«, fragte er.
»Ich hatte gerade eine Idee«, erwiderte Schreiber. Das war nicht ungewöhnlich in einer dichten Menge, doch es war eine sehr interessante Idee gewesen… Einige Minuten lang sagte er weiter nichts. Die Seitenstraße stieg steil an, dann verlief sie im Zickzack über den Burgberg. An der oberen Straßenseite reihten sich Bürgerhäuser. Auf der Hafenseite blickten sie über die steilen Ziegeldächer der Häuser eine Kehre tiefer. Es waren geräumige Häuser, elegant mit Rosenzeichnung verziert. Nur wenige hatten Läden zur Straße hin.
Schreiber verlangsamte den Schritt und breitete sich weit genug aus, um sich nicht selbst auf die Füße zu treten. Er sah nun, dass sein Versuch, zu Johannas Wissen schöpferisches Expertentum beizutragen, ziemlich falsch gewesen war. Es standen einfach zu viele Erfindungen im Datio. Dennoch brauchten sie ihn, Johanna mehr als alle anderen. Das Problem war nur, dass sie es noch nicht wussten. Schließlich sagte er zu Wanderer: »Hast du dich noch nicht gewundert, dass die Flenseristen die Stadt nicht angreifen? Wir beiden haben die Gebieter der Verborgenen Insel mehr als jemals jemand zuvor blamiert. Wir verfügen über die Schlüssel zu ihrer totalen Niederlage.« Johanna und das Datio.
Wanderer zögerte. »Hmm. Ich dachte, ihre Armee wäre dazu nicht imstande. Ich denke, wenn sie könnten, hätten sie Holzschnitzerheim schon längst erledigt.«
»Vielleicht konnten sie es, aber nur unter großen Verlusten. Jetzt lohnt sich der Einsatz für sie.« Er warf Wanderer einen ernsten Blick zu. »Nein, ich glaube, es gibt einen anderen Grund… Sie haben das fliegende Haus, aber keine Ahnung, wie man es benutzt. Sie wollen Johanna lebendig wiederhaben — fast ebenso sehr, wie sie uns alle umbringen wollen.«
Wanderer stieß einen bitteren Laut aus. »Wenn Stahl nicht so scharf darauf gewesen wäre, alles mit zwei Beinen abzuschlachten, hätte er jede Menge Hilfe haben können.«
»Gewiss, und die Flenseristen müssen das wissen. Ich wette, sie hatten schon immer Spione unter den Stadtleuten hier, doch jetzt mehr als je zuvor. Hast du all die Rudel aus Osthausen gesehen?« Osthausen war eine Brutstätte flenseristischer Einstellungen. Sogar vor der Bewegung waren sie schon ein hartes Volk gewesen, das regelmäßig Welpen opferte, die ihren Zuchtvorschriften nicht entsprachen.
»Zumindest einen. Er sprach mit einem Werkmeister.«
»Richtig. Wer weiß, wer alles hereinkommt, als Rudel für besondere Aufgaben getarnt? Ich würde mein Leben wetten, dass sie vorhaben, Johanna zu entführen. Wenn sie ahnen, welche Pläne wir mit ihr haben, versuchen sie vielleicht einfach, sie umzubringen. Siehst du es nicht? Wir müssen Holzschnitzerin und Feilonius warnen, das Volk organisieren, dass es nach Spionen Ausschau hält.«
»Das alles ist dir bei dem einen Spaziergang über das Rudelwohl zu Bewusstsein gekommen?« In Wanderers Stimme klang Verwunderung oder Unglaube, Schreiber vermochte nicht zu sagen, welches von beiden.
»Nun ja, hm, nein. Die Erleuchtung war nicht so direkt. Aber es ist zu erwägen, meinst du nicht?«
Sie gingen ein paar Minuten lang schweigend weiter. Hier oben war der Wind kräftiger und die Aussicht beeindruckender. Wo nicht das Meer lag, erstreckte sich endlos grau und grün der Wald. Alles war sehr friedlich…, denn dies war ein lautloses Spiel. Zum Glück hatte Schreiber ein Talent für solche Spiele. War es schließlich nicht die Politische Polizei der Republik selbst gewesen, die ihn mit der Beobachtung der Verborgenen Insel beauftragt hatte? Es hatte ihn etliche Zehntage geduldiger Überzeugungsarbeit gekostet, doch zum Schluss waren sie begeistert gewesen. Was immer du herausfindest, werden wir sehr gern in Betracht ziehen. Das waren exakt ihre Worte gewesen.
Wanderer ging murmelnd weiter, anscheinend sehr überrascht von Schreibers Vorschlag. Endlich sagte er: »Ich glaube, da ist… etwas, das du wissen solltest, was absolut geheim bleiben muss.«
»Meiner Seel! Wanderer, ich plaudere keine Geheimnisse aus.« Schreiber war ein wenig gekränkt — von dem Mangel an Vertrauen, und auch, weil der andere womöglich etwas entdeckt hatte, das ihm entgangen war. Letzteres sollte ihn nicht bekümmern. Er hatte geahnt, dass Wanderer und Holzschnitzerin etwas miteinander hatten. Wer weiß, was sie ihm anvertraut hatte oder was zu ihm durchgesickert sein mochte.
»In Ordnung… Du bist auf etwas gestoßen, das nicht laut werden darf. Du weißt, dass Feilonius für Holzschnitzerins Sicherheitsdienst zuständig ist.«
»Natürlich.« Das gehörte zum Amt des Reichskämmerers. »Und angesichts der vielen Außenseiter, die hier herumlaufen, kann ich nicht sagen, dass er seine Arbeit besonders gut macht.«
»In Wirklichkeit macht er seine Arbeit wunderbar wirkungsvoll. Feilonius hat Agenten direkt an der Spitze der Verborgenen Insel — einen Schritt von Fürst Stahl selbst entfernt.«
Schreiber spürte, wie er große Augen bekam.
»Ja, du verstehst, was das bedeutet. Durch Feilonius kennt Holzschnitzerin mit Gewissheit alle Pläne des Hohen Rates der Flenseristen. Mit schlauer Desinformation kann er die Flenseristen wie Froschhennen bei einer Ausdünnung herumführen. Nach Johanna selbst ist das vielleicht Holzschnitzerins größter Vorteil.«
»Ich…« Ich hatte keine Ahnung. »Der unfähige örtliche Sicherheitsdienst ist also nur Tarnung.«
»Nicht ganz. Er soll solide und intelligent aussehen, aber mit genug ausnutzbaren Schwachstellen, dass die Bewegung einen frontalen Angriff zugunsten von Spionage verschiebt.« Er lächelte. »Ich glaube, Feilonius wird sehr überrascht sein, wenn er deine Kritik hört.«
Schreiber lachte schwach. Er war geschmeichelt und verdutzt zugleich. Feilonius musste als der größte Spionagechef des Jahrhunderts gelten — doch er, Schreiber Yaqueramaphan, hatte ihn beinahe durchschaut. Schreiber war den größten Teil des Rückwegs zur Burg still, doch sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Wanderer hatte mehr als Recht, Geheimhaltung war lebensnotwendig. Unnötige Erörterungen — sogar zwischen alten Freunden — mussten vermieden werden. Ja! Er würde seine Dienste Feilonius anbieten. In seiner neuen Rolle müsste er vielleicht im Hintergrund bleiben, doch dabei konnte er den größten Beitrag leisten. Und irgendwann würde sogar Johanna sehen, wie nützlich er sein konnte.
Hinab in den Brunnen der Nacht. Sogar wenn Ravna nicht zu den Bildschirmfenstern hinausschaute, stand ihr dieses Bild vor Augen. Relais lag weit entfernt von der Scheibe der Galaxis. Die ADR flog zu dieser Scheibe hinab — und in immer langsamere Gebiete.
Aber sie waren entkommen. Die ADR war beschädigt, doch sie hatten Relais mit fast fünfzig Lichtjahren pro Stunde verlassen. Jede Stunde waren sie tiefer im Jenseits, und die Rechenzeit für die Mikrosprünge nahm zu, ihre Pseudogeschwindigkeit sank. Nichtsdestoweniger kamen sie voran. Sie befanden sich jetzt tief im Mittleren Jenseits. Es gab keine Anzeichen einer Verfolgung, Gott sei Dank. Was immer die PEST nach Relais gebracht hatte, es war kein spezifisches Wissen um die ADR gewesen.
Hoffnung. Ravna fühlte sie in sich wachsen. Die Med-Automaten des Schiffes behaupteten, Pham Nuwen sei zu retten, es bestehe Hirnaktivität. Die schrecklichen Wunden in seinem Rücken waren Implantate des ALTEN gewesen, organische Maschinerie, die einen direkten Kontakt zwischen Pham und dem Netz von Relais hergestellt hatte — und somit mit der MACHT darüber. Und als diese MACHT starb, war diese Ausrüstung in Pham irgendwie rasch verfallen und verwest. Die Person Pham müsste also noch existieren. Bitte, lasst ihn noch existieren. Der Arzt meinte, es würde drei Tage dauern, ehe sein Rücken weit genug verheilt war, dass man eine Wiederbelebung versuchen konnte.
In der Zwischenzeit… erfuhr Ravna mehr über die Apokalypse, die über sie hinweggerollt war. Alle zwanzig Stunden ließen Grünmuschel und Blaustiel das Schiff ein paar Lichtjahre seitlich in einen Hauptkanal des Bekannten Netzes ausscheren, um die Nachrichten aufzunehmen. Auf Reisen von mehr als ein paar Tagen war das eine übliche Verfahrensweise, eine leichte Methode für Händler und Reisende, über Ereignisse auf dem Laufenden zu bleiben, die ihren Erfolg am Ziel der Reise beeinflussen konnten.
Den Nachrichten zufolge (das heißt nach der großen Mehrheit der geäußerten Ansichten) war Relais restlos zugrunde gegangen. O Grondr. O Egravan und Sarale. Seid ihr jetzt tot oder besessen?
Teile des Bekannten Netzes hatten vorübergehend den Anschluss verloren; manche der außergalaktischen Schaltstationen würden vielleicht jahrelang nicht ersetzt werden. Zum ersten Mal in Jahrtausenden erfuhr man von einer MACHT, die einen Mord verübt hatte. Es gab Zehntausende von Behauptungen über das Motiv für den Angriff und Zehntausende von Vorhersagen, was als Nächstes geschehen würde. Ravna ließ das Schiff die Lawine filtern, um möglichst das Wesen der Spekulationen herauszudestillieren.
Diejenige, die aus dem Straumli-Bereich selbst kam, klang nicht weniger logisch als die anderen: Die Marionetten der PERVERSION schwadronierten gewichtig von einem neuen Zeitalter, der Vermählung eines transzendenten Wesens mit Rassen des Jenseits. Wenn Relais zerstört, wenn eine MACHT umgebracht werden konnte — dann vermochte nichts den Siegeszug aufzuhalten.
Manche Sender glaubten, Relais sei das ererbte Ziel von dem gewesen, was auch immer den Straumli-Bereich pervertiert haben mochte. Vielleicht war der Angriff nur der nachhängende letzte Akt eines Krieges der Vorzeit, eine unter unglücklichem Vorzeichen gezeugte Tragödie für die Abkömmlinge vergessener Rassen. Wenn dem so war, konnten die Marionetten im Straumli-Bereich einfach vergehen und die ursprüngliche menschliche Kultur wiedererstehen.
Etliche Botschaften legten nahe, der Angriff habe dem Zweck gedient, Relais’ Archive zu stehlen, doch nur eine oder zwei behaupteten, die PEST habe versucht, sich in den Besitz eines Artefakts zu bringen oder die Relais-Leute daran zu hindern. Diese Behauptungen kamen von notorischen Theorienmachern, der Sorte Zivilisationen, zu deren Wesen die Nachrichtengruppen-Automatik beiträgt. Nichtsdestoweniger sah Ravna jene Botschaften sorgfältig durch. Keine von ihnen sprach von einem Artefakt im Unteren Jenseits; wenn sie überhaupt derlei annahmen, dann, dass die PEST etwas im Hohen Jenseits oder im Unteren Transzens suche.
Auch die PEST sendete ins Netz. Ihre Hochprotokoll-Botschaften wurden von allen außer den Selbstmördern zurückgewiesen, und niemand wurde dafür bezahlt, etwas weiterzuleiten. Dennoch sorgten Schrecken und Neugier für weite Verbreitung einiger Nachrichten. Es gab ein ›Video‹ der Pestler: fast vierhundert Sekunden pansensueller Daten ohne Komprimierung. Diese unglaublich teure Botschaft war vielleicht der am meisten weitergegebene Brocken in der ganzen Geschichte des Netzes. Blaustiel hielt die ADR fast zwei Tage lang in dem Nachrichtenkanal, um das Ding komplett aufzunehmen.
Die Marionetten der PERVERSION schienen ebenfalls Menschen zu sein. Die Hälfte der Nachrichtensendungen aus dem Pestgebiet waren Videophantome, wenn auch keine andere derart lang war; alle zeigten Menschen als Sprecher. Ravna sah sich die große Sendung immer wieder an, sie erkannte sogar den Sprecher. Øvn Nilsndot war der Trællauf-Meister des Straumli-Bereichs gewesen. Jetzt hatte er keinen Titel, und wahrscheinlich keinen Namen. Nilsndot sprach von einem Raum aus, der auch ein Garten hätte sein können. Wenn Ravna an die Seite des Bildes trat, konnte sie über seine Schulter auf den Boden hinabsehen. Die Stadt dort sah wie das Straumli Haupt der Aufzeichnungen aus. Vor Jahren hatten Ravna und ihre Schwester von dieser Stadt geträumt, dem Herzstück des abenteuerlichen Vorstoßes der Menschheit ins Transzens. Der Zentralplatz war dem Feld der Fürstinnen auf der Nyjora nachgestaltet, und die Einwanderungsreklame behauptete, egal wie weit die Straumer voranschritten, der Brunnen auf dem Feld würde immer fließen, würde immer ihre Loyalität zu den Anfängen der Menschheit zeigen.
Jetzt gab es keinen Brunnen, und Ravna spürte einen toten Geist hinter Nilsndots Blick. »Dieser hier spricht als eine MACHT DIE HILFT«, sagte der Held von einst. »Alle sollen sehen, was ich selbst für eine drittklassige Zivilisation tun kann. Seht, wie ich HELFE…«
Die Sicht schwenkte himmelwärts. Es war Sonnenuntergang, und die verschlungenen Agrav-Konstruktionen hingen vor dem Licht, Megameter über Megameter. Es war ein grandioserer Gebrauch von dem Agrav-Material, als Ravna jemals gesehen hatte, selbst bei den Docks. Gewiss konnte es sich keine Welt im Mittleren Jenseits jemals leisten, das Material in solchen Mengen zu importieren. »Was ihr über mir seht, sind nur die Gerüste für die Bauten, mit denen ich bald im Straumli-System beginnen werde. Wenn sie fertig sind, werden fünf Sternensysteme ein einziges Habitat sein, die Masse ihrer Planeten und die überschüssige Materie von den Sternen wird so verteilt sein, dass sie ein Leben und eine Technik ermöglicht, wie sie in diesen Tiefen noch nicht gesehen wurden — und sogar im Transzens selbst nur selten.« Der Blick kehrte zu Nilsndot zurück, einem einzelnen Menschen, Sprachrohr eines Gottes. »Manche von euch mögen sich gegen den Gedanken auflehnen, sich mir zu widmen. Auf lange Sicht spielt das keine Rolle. Die Symbiose meiner Macht mit den Händen von Rassen im Jenseits ist mehr all alles, dem irgendjemand widerstehen könnte. Doch ich spreche jetzt, um eure Angst zu vermindern. Was ihr im Straumli-Bereich seht, ist gleichermaßen eine Freude wie ein Wunder. Nie wieder werden Rassen im Jenseits durch Transzendenz zurückgelassen werden. Jene, die sich mir anschließen — und früher oder später werden das alle tun —, werden Teil der MACHT sein. Ihr werdet Zugang zu Importen von der ganzen Obergrenze und dem Unteren Transzens haben. Ihr werdet euch über jedes Maß hinaus vermehren, das eure eigene Technik erlauben würde. Ihr werdet alle absorbieren, die sich mir widersetzen. Ihr werdet die neue Stabilität bringen.«
Als sie sich die Sendung zum dritten oder vierten Mal ansah, versuchte Ravna, die Worte zu ignorieren und sich auf Nilsndots Ausdruck zu konzentrieren, ihn mit Reden zu vergleichen, die in ihrem persönlichen Datio gespeichert waren. Es gab einen Unterschied, sie bildete es sich nicht ein. Das Wesen, das sie sah, war seelentot. Aus irgendeinem Grund kümmerte sich die PEST nicht darum, dass das offensichtlich war… vielleicht war es das nur für menschliche Betrachter, und die machten einen verschwindend geringen Teil des Publikums aus. Die Sicht konzentrierte sich auf Nilsndots gewöhnliches dunkles Gesicht, seine gewöhnlichen violetten Augen:
»Manche von euch fragen sich vielleicht, wie all das möglich ist und warum Jahrmilliarden der Anarchie ohne solche HILFE seitens einer MACHT vergangen sind. Die Antwort ist… komplex. Wie viele sinnvolle Entwicklungen hat auch diese eine hohe Schwelle. Auf der einen Seite der Schwelle erscheint die Entwicklung unwahrscheinlich bis zur Unmöglichkeit, auf der anderen unausweichlich. Die Symbiose der HILFE hängt von der wirkungsvollen Breitbandkommunikation zwischen mir und den Wesen ab, denen ich HELFE. Wesen wie das, welches jetzt meine Worte spricht, müssen so schnell und so zuverlässig wie Hände oder ein Mund reagieren. Ihre Augen und Ohren müssen über Lichtjahre hinweg Bericht erstatten. Das ist schwer zu erreichen gewesen — insbesondere, da das System im Wesentlichen vorhanden sein muss, ehe es funktionieren kann. Jedoch: Jetzt, da die Symbiose existiert, wird der Fortschritt viel schneller sein. Fast jede Rasse kann modifiziert werden, um die HILFE zu empfangen.«
Fast jede Rasse kann modifiziert werden. Die Worte kamen von einem vertrauten Gesicht, und in Ravnas Muttersprache — doch ihr Ursprung lag ungeheuerlich weit entfernt.
Es gab eine Menge Analysen. Eine ganze neue Nachrichtengruppe hatte sich gebildet: Von ›Bedrohungen‹ , den Interessengruppen ›Homo sapiens‹ und ›Enggekoppelte Automatik‹ war ›Pestgefahr‹ hervorgebracht worden. Dieser Tage war dort mehr los als in beliebigen fünf anderen Gruppen zusammen. In diesem Teil der Galaxis entfiel ein erheblicher Anteil des gesamten Nachrichtenverkehrs auf die neue Gruppe. Zur Analyse der Äußerungen des armen Øvn Nilsndot wurden mehr Bits gesendet, als das Original enthalten hatte. Nach den Ausbrüchen und Widersprüchen zu urteilen, war die Relation von Signal zu Rauschen sehr niedrig:
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Acquileron -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Khurvark Universität [angeblich Universität in Habitat(en) im Mittleren Jenseits]
GEGENSTAND: PEST-Video
ZUSAMMENFASSUNG: Die Sendung lässt Schwindel erkennen
VERTEILER:
Interessengruppe Kriegsbeobachter
Interessengruppe ›Wo sind sie jetzt‹
Pestgefahr
DATUM: 7,06 Tage seit dem Untergang von Relais
TEXT DER BOTSCHAFT.
Offensichtlich ist dieser »Helfer« ein Schwindel. Wir haben die Angelegenheit sorgfältig untersucht. Obwohl er nicht beim Namen genannt wird, ist der Sprecher eine hohe Persönlichkeit des ehemaligen Straumli-Regimes. Warum aber — wenn der ›Helfer‹ die Menschen einfach wie ferngesteuerte Roboter betreibt —, warum wird die frühere Gesellschaftsstruktur bewahrt? Die Antwort sollte sogar einem Idioten klar sein: Der Helfer hat nicht die Kraft, große Zahlen vernunftbegabter Wesen fernzusteuern. Augenscheinlich bestand der Untergang des Straumli-Bereichs in der Übernahme von Schlüsselpositionen in der Machtstruktur dieser Zivilisation. Für den Rest der Rasse geht alles wie gewohnt weiter. Unsere Schlussfolgerung: Diese Helfer-Symbiose ist einfach eine weitere Erlöserreligion, ein weiteres irrwitziges Imperium, das seine Ausschreitungen entschuldigt und die hereinzulegen versucht, die es nicht direkt vereinnahmen kann. Lasst euch nicht zum Narren halten!
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Optima -› Acquileron -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Gesellschaft für rationale Forschungen
[Wahrscheinlich ein Einzelsystem im Mittleren Jenseits, 7500 Lichtjahre antispinwärts von Sjandra Kei]
GEGENSTAND: Bedrohung durch das PEST-Video, Khurvark Universität 1
SCHLAGWÖRTER: [vermutlich Obszönität] Verschwendung unserer wertvollen Zeit
VERTEILER:
Pestgefahr
Gesellschaft für rationales Netzwerk-Management
Pestgefahr
DATUM: 7,91 Tage seit dem Untergang von Relais
TEXT DER BOTSCHAFT:
Wer ist ein Narr? [wahrscheinlich Obszönität] [wahrscheinlich Obszönität] Idioten, die nicht alle Bedrohungen in sich entwickelnden Nachrichten verfolgen, sollten meine kostbaren Ohren nicht mit ihrem [eindeutig Obszönität] Müll behelligen. Ihr haltet also die ›Helfer-Symbiose‹ für einen Schwindel des Straumli-Bereichs? Und was, glaubt ihr, hat den Untergang von Relais verursacht? Falls euer Kopf völlig in eurem Hintern steckt [‹ - wahrscheinlich Beleidigung], es war eine MACHT mit Relais verbündet. Diese MACHT ist jetzt tot. Glaubt ihr vielleicht, sie hat eben mal Selbstmord begangen? Denk mal drüber nach, Flachkopf [‹ — wahrscheinlich Beleidigung]. Keine MACHT ist jemals irgendjemandem aus dem Jenseits erlegen. Die PEST ist etwas Neues und Interessantes. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass sich [Obszönität] Blödiane wie die Khurvark Universität zu ihren Brabbelgruppen scheren und uns andere ein bisschen intelligent diskutieren lassen.
Und manche Botschaften waren profunder Unsinn. Dies war eine der Eigenheiten des Netzes: Die vielfache automatische Übersetzung verdeckte oft die grundlegende Fremdartigkeit der Teilnehmer. Hinter den geschwätzigen, lockeren Sendungen standen weit entlegene Zivilisationen, so verschleiert von Entfernung und Andersartigkeit, dass Kommunikation unmöglich war — wenn es auch eine Weile dauern mochte, ehe man diese Tatsache erkannte. Zum Beispiel:
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Arbwyth -› Handel 24 -› Cherguelen -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Quirlipp von den Nebeln
[Vielleicht eine Organisation von Wolkenfliegern in einem Einzelsystem vom Jupitertyp. Vorher sehr selten aufgetaucht.]
GEGENSTAND: Bedrohung durch das PEST-Video
SCHLAGWÖRTER: Hexapodie als Schlüsselerkenntnis
VERTEILER:
Pestgefahr
DATUM: 6,68 Tage seit dem Untergang von Relais
TEXT DER BOTSCHAFT:
Ich hatte keine Gelegenheit, das berühmte Video aus dem Straumli-Bereich zu sehen, außer als Zitat. (Mein einziger Zugang zum Netz ist sehr teuer.) Ist es wahr, dass Menschen sechs Beine haben? Ich bin nicht sicher, ob ich das Zitat richtig verstanden habe. Wenn diese Menschen drei Paar Beine haben, dann, glaube ich, gibt es eine einfache Erklärung für…
Hexapodie? Sechs Beine? Drei Paar Beine? Wahrscheinlich kam keine von diesen Übersetzungen dem nahe, was das verwirrte Geschöpf von Quirlipp im Sinn hatte. Ravna las diese Sendung nicht weiter.
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Hanse
[Keine Erwähnung vor dem Untergang von Relais. Keine wahrscheinliche Quelle. Das ist jemand sehr Vorsichtiges.]
GEGENSTAND: Bedrohung durch das PEST-Video, Khurvark Universität 1
VERTEILER:
Interessengruppe Kriegsbeobachter
Pestgefahr
DATUM: 8,68 Tage seit dem Untergang von Relais
TEXT DER BOTSCHAFT:
Die Khurvark Universität hält die PEST für einen Schwindel, weil Elemente des ehemaligen Regimes auf Straum überlebt haben. Es gibt eine andere Erklärung. Nehmen wir an, dass die PEST wirklich eine MACHT ist und ihre Behauptungen über eine wirksame Symbiose im Wesentlichen wahr sind. Das bedeutet, dass das Geschöpf, dem ›geholfen‹ wird, weiter nichts ist als ein ferngesteuerter Apparat, sein Gehirn einfach ein lokaler Prozessor, der die Kommunikation unterstützt. Würdet ihr euch gern auf diese Weise helfen lassen? Meine Frage ist nicht rein rhetorisch; der Leserkreis ist groß genug, dass vielleicht einige von euch mit ›ja‹ antworten würden. Die überwiegende Mehrheit der natürlich entwickelten, vernunftbegabten Wesen wäre jedoch von dem Gedanken abgestoßen. Sicherlich weiß die PEST das. Ich vermute, dass die PEST kein Schwindel ist — wohl aber die Behauptung, die Kultur im Straumli-Bereich habe überlebt. Die PEST möchte den Eindruck erwecken, dass nur einige direkt versklavt seien, dass Kulturen als Ganzes überleben würden. Bringt das mit der Behauptung der PEST in Zusammenhang, nicht alle Rassen könnten ferngelenkt werden. Zwischen den Zeilen lesen wir, dass immense Reichtümer den Rassen zugänglich sein werden, die sich mit dieser MACHT verbünden, dass die biologischen und intellektuellen Grundbedürfnisse jener Rassen aber weiterhin befriedigt werden.
Die Frage bleibt also offen. Wie gründlich hat die PEST die unterworfenen Rassen unter Kontrolle? Ich weiß es nicht. Vielleicht gibt es keinerlei bewusste Persönlichkeiten mehr im Jenseits der PEST, nur Milliarden ferngesteuerter Apparate. Eins ist klar: Die PEST braucht etwas von uns, das sie sich noch nicht nehmen kann.
Und so ging es weiter. Zehntausende Botschaften, Hunderte von Ansichten. Es wurde nicht umsonst das Netz der Million Lügen genannt. Ravna sprach jeden Tag mit Blaustiel und Grünmuschel darüber, versuchte sich die Dinge zusammenzureimen, zu entscheiden, welcher Interpretation sie glauben sollte.
Die Skrodfahrer kannten sich gut mit Menschen aus, doch selbst sie waren sich über den toten Gesichtsausdruck Øvn Nilsndots nicht völlig sicher. Und Grünmuschel kannte die Menschen gut genug, um zu wissen, dass keine Antwort Ravna zum Trost gereichen würde. Sie rollte vor dem Nachrichtenfenster auf und ab und streckte schließlich einen Wedel aus, um die Frau zu berühren. »Vielleicht kann Herr Pham es sagen, wenn er wieder wohlauf ist.«
Blaustiel war geschäftig, nüchtern. »Wenn Sie Recht haben, bedeutet das, dass es der PEST irgendwie egal ist, was Menschen und ihre Vertrauten erfahren. In mancher Hinsicht ergibt das Sinn, aber…« Sein Voder surrte einen Augenblick lang gedankenverloren. »Ich traue der Botschaft nicht. Vierhundert Sekunden Breitbandsendung, so reichhaltig, dass sie für viele verschiedene Rassen das ganze Sinnesspektrum abdeckt. Das ist eine enorme Menge Information, und das ohne jede Komprimierung… Vielleicht ist es ein schmackhaft gemachter Köder, den wir armen Jenseiter in jedes einzelne Nest von uns weiterleiten.« Dieser Verdacht war ebenfalls im Netz geäußert worden. Doch es gab keine ersichtlichen Strukturen in der Botschaft und nichts, was an die Netzwerkautomatik adressiert war. Derart feines Gift funktionierte vielleicht an der Obergrenze des Jenseits, doch nicht hier unten. Und das führte zu einer einfacheren Erklärung, einer, die sogar auf der Nyjora oder der Alten Erde plausibel gewesen wäre: Das Video war Tarnung für eine Botschaft an Agenten, die sich schon vor Ort befanden.
Feilonius war den Bewohnern von Holzschnitzerheim wohlbekannt — aber größtenteils aus den falschen Gründen. Er war etwa hundert Jahre alt, das Verschmelzungskind von Holzschnitzer mit zwei von seinen Strategen. In seinen jungen Jahrzehnten hatte Feilonius die Holzmühlen der Stadt geleitet. Unter anderem hatte er ein paar kluge Verbesserungen für Wasserräder erfunden. Feilonius hatte seine eigenen romantischen Beziehungen gehabt — größtenteils mit Politikern und Rednern. Immer stärker hatten seine Ersatzglieder in ihm die Neigung zur Öffentlichkeit verstärkt. Seit dreißig Jahren war er eine der stärksten Stimmen in Holzschnitzers Rat, seit zehn Reichskämmerer. In beiden Rollen hatte er sich für die Zünfte und für wohlgeordneten Handel eingesetzt. Es gab Gerüchte, wonach für den Fall, dass Holzschnitzerin abdanken oder zur Gänze sterben würde, Feilonius der nächste Ratsfürst wäre. Viele hielten das für das Beste, was man aus solch einer Katastrophe machen könnte — obwohl Feilonius’ hochtönende Reden schon immer die Geißel des Rates waren.
So sah die Öffentlichkeit Feilonius. Jeder, der sich in Dingen der Sicherheit auskannte, konnte außerdem erraten, dass Feilonius Holzschnitzerins Spione führte. Zweifellos hatte er Dutzende von Informanten in den Mühlen und auf den Docks. Doch jetzt wusste Schreiber, dass sogar das nur Tarnung war. Man stelle sich vor — Agenten im inneren Kreis der Flenseristen zu haben, ihre Pläne zu kennen, ihre Ängste, ihre Schwächen, und sie beeinflussen zu können! Feilonius war einfach unglaublich. Reuevoll musste Schreiber den mächtigen Genius des anderen anerkennen.
Und dennoch…, dieses Wissen bürgte nicht für den Sieg. Nicht alle Pläne der Flenseristen konnten direkt von der Spitze aus gelenkt sein. Manche Operationen des Feindes auf unteren Ebenen wurden vielleicht ohne deren Wissen und recht erfolgreich durchgeführt… und es bedurfte nur eines einzigen Pfeils, um Johanna Olsndot gänzlich zu töten.
Hier war Schreiber Yaqueramaphans Gelegenheit, seinen Wert zu beweisen.
Er bat darum, in die Außenmauer der Burg ziehen zu dürfen, in den dritten Stock. Es war nicht schwer, die Erlaubnis zu bekommen; seine neue Wohnung war kleiner, mit grob gepolsterten Wänden. Eine einzige Schießscharte erlaubte einen wenig erbaulichen Blick über das Vorfeld der Burg. Für Schreibers neuen Zweck war der Raum bestens geeignet. Die nächsten paar Tage wendete er daran, durch die Wachgänge zu schleichen. Die Hauptmauern waren von Tunnels durchzogen, fünfzehn Zoll breit und dreißig hoch. Schreiber konnte fast jeden Ort der Mauer erreichen, ohne von außen gesehen zu werden. Er trottete im Gänsemarsch von einem Tunnel in den nächsten und tauchte nur für ein paar Augenblicke auf einem Wall auf, um von Mauerzacke zu Schießscharte und zur nächsten Mauerzacke zu huschen, bald hier, bald da mit einem Kopf hervorlugend.
Natürlich traf er auf Wachposten, aber Yaqueramaphan hatte die Genehmigung, sich in den Mauern aufzuhalten…, und er hatte den Zeitplan der Wachen studiert. Sie wussten, dass er in der Nähe war, doch Schreiber war sich sicher, dass sie keine Ahnung vom Ausmaß seiner Bemühungen hatten. Es war harte, kalte Arbeit, aber es lohnte sich. Schreibers großes Ziel im Leben war es, etwas Sensationelles und Wertvolles zu tun. Die Schwierigkeit bestand nur darin, dass die meisten von seinen Ideen so tiefgründig waren, dass andere Rudel — sogar Leute, die er ungeheuer schätzte — sie nicht verstanden. Das war das Problem mit Johanna gewesen. Nun, noch ein paar Tage, und er könnte zu Feilonius gehen, und dann…
Während er um Ecken und durch Schlüssellöcher spähte, saßen zwei von Schreiber da und machten Notizen. Nach zehn Tagen hatte er genug beisammen, um sogar Feilonius zu beeindrucken.
Feilonius’ offizieller Wohnsitz war von Räumen für Assistenten und Wachen umringt. Das war nicht der Ort für ein geheimes Angebot. Außerdem hatte Schreiber mit dem direkten Herangehen schon früher Pech gehabt. Man konnte tagelang auf eine Audienz warten, und je geduldiger man war, je mehr man die Regeln achtete, um so weniger war man für die Bürokraten vorhanden.
Aber Feilonius war manchmal allein. Da war dieser Eckturm auf der alten Mauer, auf der Waldseite der Burg… Spät am elften Tage seiner Nachforschungen begab sich Schreiber auf jenen Turm und wartete. Eine Stunde verging. Der Wind flaute ab. Schwerer Nebel zog sich vom Hafen herüber. Er quoll an der alten Mauer herauf wie träger Meerschaum. Alles wurde sehr, sehr still — wie immer im dichten Nebel. Schreiber schnüffelte schlechtgelaunt auf der Plattform des Turms herum, er war wirklich baufällig. Der Mörtel bröckelte unter seinen Krallen. Es fühlte sich an, als könnte man manche von den Steinen einfach aus der Mauer ziehen. Verdammt. Vielleicht würde Feilonius vom Schema abweichen und heute nicht hier heraufkommen.
Aber Schreiber wartete noch eine halbe Stunde — und seine Geduld machte sich bezahlt. Er hörte Stahl auf der Wendeltreppe klicken. Es gab keine Denklaute, dafür war es einfach zu neblig. Eine Minute verging. Die Falltür ging auf, und ein Kopf ragte hervor.
Selbst in dem Nebel klang Feilonius’ Überraschung als festes Zischen.
»Frieden, mein Herr! Ich bin es nur, Euer loyaler Yaqueramaphan.«
Der Kopf kam weiter hervor. »Was sollte ein loyaler Bürger hier oben tun?«
»Tja, ich bin hier, um Euch zu treffen«, sagte Schreiber lachend, »in diesem Euren Geheimbüro. Kommt herauf. Bei diesem Nebel ist hier genug Platz für uns beide.«
Eins nach dem anderen mühten sich Feilonius’ Glieder durch die Falltür herauf. Manche schafften es gerade noch, ihre Messer und Juwelen scharrten über den Türrahmen; Feilonius war nicht der schlanksten Rudel eines. Der Sicherheitschef stellte sich an der gegenüberliegenden Seite des Turms in einer Reihe auf, eine Haltung, die Misstrauen ausdrückte. Er hatte nichts von dem aufgeblasenen, herablassenden Rudel ihrer Öffentlichen Begegnungen. Schreiber grinste in sich hinein. Er konnte sicher sein, dass ihm der andere Aufmerksamkeit zollte.
»Nun?«, sagte Feilonius tonlos.
»Ich möchte Euch meine Dienste anbieten. Ich glaube, meine Anwesenheit hier zeigt, dass ich für Holzschnitzerins Sicherheitsdienst von Nutzen sein kann. Wer außer einem begabten Profi hätte feststellen können, dass Ihr diesen Ort als Euren geheimen Bau benutzt?«
Feilonius schien sich ein wenig zu entspannen. Er lächelte sarkastisch. »In der Tat, wer? Ich komme genau aus dem Grunde hierher, dass dieser Teil der alten Mauer von keiner Stelle der Burg aus zu sehen ist. Hier kann ich… mit den Bergen in Zwiesprache treten, und frei sein vom alltäglichen Verwaltungskram.«
Yaqueramaphan nickte. »Ich verstehe. Aber Ihr irrt Euch in einem Punkt.« Er zeigte an dem Sicherheitschef vorbei. »Ihr könnt es durch all den Nebel hindurch nicht sehen, aber auf der Hafenseite der Burg gibt es eine einzige Stelle, die einen Blick auf Euren Turm erlaubt.«
»So? Wer könnte von da schon viel… Ach, das Augenwerkzeug, das du aus der Republik mitgebracht hast!«
»Genau.« Schreiber langte in eine Tasche und holte ein Fernrohr hervor. »Selbst über den Burghof hinweg habe ich Euch erkannt.« Die Augenwerkzeuge hätten Schreiber berühmt machen können. Leider hatte die Ehre ihn gezwungen zuzugeben, dass er die Geräte von einem Erfinder in Rangathir gekauft hatte. Freilich war er es gewesen, der den Wert der Erfindung erkannt hatte, er, der es benutzt hatte, um bei Johannas Rettung zu helfen. Als sie herausfanden, dass er nicht recht wusste, wie die Linsen funktionierten, hatten sie eine als Geschenk angenommen und ihren eigenen Glasmachern gegeben. O ja, er war immer noch der beste Benutzer von Augen-Werkzeugen in diesem Teil der Welt.
»Es wart nicht eigentlich Ihr, den ich beobachtet habe, mein Fürst. Das war der kleinste Teil meiner Untersuchung. Die letzten zehn Tage über habe ich viele Stunden auf den Burgmauern verbracht.«
Feilonius’ Lippen verzogen sich. »Ach ja.«
»Ich darf sagen, dass nicht viele mich bemerkt haben, und ich habe Sorge getragen, dass niemand mich mein Augen-Werkzeug benutzen sah. Jedenfalls« — er zog sein Buch aus einer anderen Tasche — »habe ich ausführliche Notizen gemacht. Ich weiß, wer wann wohin geht, fast alle Stunden bei Tageslicht hindurch. Ihr könnt euch vorstellen, was meine Technik im Sommer zu leisten vermag!« Er stellte das Buch auf den Fußboden und ließ es zu Feilonius gleiten. Einen Moment später schob der andere ein Glied vor und zog das Buch zu sich heran. Er schien nicht sehr begeistert zu sein.
»Versteht bitte, mein Herr. Ich weiß, dass Ihr Holzschnitzerin erzählt, was in den höchsten Räten der Flenseristen vor sich geht. Ohne Eure Quellen wären wir diesen Fürsten hilflos ausgeliefert, aber…«
»Wer hat dir so etwas gesagt?«
Schreiber schluckte. Einfach dreist leugnen. Er grinste schwach. »Das hat mir niemand zu sagen brauchen. Ich bin ein Profi, wie Ihr selbst, und ich weiß, wie man ein Geheimnis bewahrt. Doch bedenkt: Es kann andere mit meinen Fähigkeiten in der Burg geben, und manche könnten Verräter sein. Möglicherweise hört Ihr von Euren hochgestellten Quellen nie etwas über sie. Denkt an den Schaden, den sie anrichten könnten. Ihr braucht meine Hilfe. Mit meiner Methode könnte ihr jedermann im Auge behalten. Es wäre mir eine Freude, eine Truppe von Detektiven auszubilden. Wir könnten sogar in der Stadt tätig werden, indem wir von den Markttürmen aus beobachten.«
Der Sicherheitschef ging seitlich an der Brüstung herum, er stieß müßig gegen Steine in dem verrotteten Mörtel. »Die Idee hat einiges für sich. Allerdings glaube ich, dass wir alle Agenten Flensers identifiziert haben; wir füttern sie gut… mit Lügen. Es ist interessant, zu hören, wie die Lügen von unseren Quellen da oben zurückkommen.« Er lachte kurz auf und blickte in Gedanken über die Brüstung. »Aber du hast Recht. Wenn wir irgendeinen übersehen, der Zugang zu dem Zweibeiner oder zum Datio hat…, das könnte katastrophal sein.« Er wandte mehr Köpfe Schreiber zu. »Einverstanden. Ich kann dir vier oder fünf Leute geben, damit du sie… äh… in deinen Methoden ausbildest.«
Schreiber konnte sich nicht beherrschen, er sprang vor Begeisterung fast herum, alle Augen auf Feilonius gerichtet. »Ihr werdet es nicht bereuen!«
Feilonius zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich nicht. Also, wie vielen anderen hast du von deinen Nachforschungen erzählt? Ich will sie zusammenholen und Geheimhaltung schwören lassen.«
Schreiber straffte sich. »Mein Fürst! Ich habe Euch gesagt, dass ich ein Profi bin. Ich habe das vollständig für mich behalten und auf unser Gespräch gewartet.«
Feilonius lächelte und lehnte sich in fast leutseliger Haltung zurück. »Hervorragend. Dann können wir anfangen.«
Vielleicht war es Feilonius’ Stimme — eine Spur zu laut — oder vielleicht ein kleines Geräusch hinter ihm. Wie dem auch sei, Schreiber wandte einen Kopf von dem anderen ab und sah behände Schatten über die Waldseite der Brüstung kommen. Zu spät hörte er die Denkgeräusche des Angreifers.
Pfeile schwirrten, und Feuer brannte sich durch Phans Kehle. Er würgte, hielt sich aber beisammen und rannte quer über den Turm auf Feilonius zu. »Helft mir!« Der Schrei war verschwendete Mühe. Schreiber wusste es, noch ehe der andere seine Messer zog und zurückwich.
Feilonius stand frei, als sein gedungener Mörder mitten unter Schreiber sprang. Das rationale Denken verblasste in der Raserei von Lärm und schneidendem Schmerz. Sag es Wanderer! Sag es Johanna! Das Gemetzel dauerte zeitlose Augenblicke an, und dann…
Ein Teil von ihm ertrank in klebrigem Rot. Ein Teil von ihm war geblendet. Yaqueramas Gedanken kamen in zerklüfteten Fragmenten. Mindestens einer von ihm war tot: Phan lag enthauptet in einer sich ausbreitenden Blutlache. Sie dampfte in der kalten Luft. Schmerz und Kälte und… Versinken, Ersticken… Sag es Johanna.
Der Mörder und sein Herr waren von ihm zurückgewichen. Feilonius. Sicherheitschef. Chefverräter. Sag es Johanna. Sie standen sehr ruhig da… und sahen zu, wie er verblutete. Zu zimperlich, um ihre Gedanken mit seinen zu vermengen. Sie würden warten. Sie würden warten…, bis seine Denkgeräusche abklangen, und dann ihr Werk vollenden.
Still. So still. Die fernen Gedanken des Mörders. Erstickte Töne, Stöhnen. Niemand würde je erfahren…
Fast alle weg. Ya starrte stumpf auf die beiden fremden Rudel. Eins kam auf ihn zu, Stahlkrallen an den Füßen, Klingen im Mund. Nein! Ya sprang auf, glitt auf dem Nassen aus. Das Rudel stürzte vor, aber Ya stand schon auf der Brüstung. Er sprang zurück und fiel und fiel…
… und stürzte auf Felsen tief unten. Ya schleppte sich von der Mauer weg. Da war Schmerz quer durch seinen Rücken, dann Taubheit. Wo bin ich? Wo bin ich? Nebel überall. Hoch über ihm waren murmelnde Stimmen. Erinnerungen an Messer und Klauen strömten durch seinen kleinen Verstand, wirr durcheinander. Sag es Johanna! Er erinnerte sich… an etwas… von früher. Ein verborgener Pfad durch tiefes Unterholz. Wenn er diesen Weg weit genug ging, würde er Johanna finden.
Ya schleppte sich langsam den Pfad hinauf. Etwas stimmte nicht mit seinen Hinterbeinen, er konnte sie nicht fühlen. Sag es Johanna!
Johanna hustete, alles hier schien immer nur noch schlimmer zu werden. Seit drei Tagen hatte sie eine raue Kehle und Schnupfen. Sie wusste nicht, ob sie Angst haben sollte oder nicht. Krankheiten waren im Mittelalter eine alltägliche Angelegenheit. Eben, und eine Menge Leute sind daran auch gestorben! Sie schnäuzte sich und versuchte sich auf das zu konzentrieren, was Holzschnitzerin gerade sagte.
»Scrupilo hat schon etwas Schießpulver hergestellt. Es funktioniert genauso, wie es das Datio vorausgesagt hat. Leider hätte er beinahe ein Glied bei dem Versuch verloren, es in einer Holzkanone zu verwenden. Wenn wir keine Geschütze machen können, dann fürchte ich…«
Vor einer Woche wäre Holzschnitzerin hier nicht willkommen gewesen; alle ihre Treffen hatten unten in den Sälen der Burg stattgefunden. Doch dann war Johanna krank geworden — es war eine Erkältung, kein Zweifel — und hatte keine Lust gehabt, draußen herumzulaufen. Außerdem hatte Schreibers Besuch sie in gewisser Weise… beschämt. Manche von den Rudeln waren anständig genug. Sie hatte beschlossen, möglichst mit Holzschnitzerin auszukommen — und mit dem Aufgeblasenen Clown auch, falls er jemals wieder vorbeikommen sollte. Solange Kreaturen wie Narbenhintern ihr aus dem Weg blieben… Johanna lehnte sich ein bisschen näher ans Feuer und wischte Holzschnitzerins Einwände weg; manchmal kam ihr dieses Rudel wie ihre älteste Großmutter vor. »Geh davon aus, dass wir welche bauen können. Wir haben eine Menge Zeit bis zum Sommer. Sag Scrupilo, er soll das Datio sorgfältiger studieren und aufhören, nach Abkürzungen zu suchen. Die Frage ist, wie man sie verwenden kann, um mein Sternenschiff zurückzugewinnen.«
Holzschnitzerins Mienen hellten sich auf. Der Sabberer hörte auf, sein Maul abzuwischen, um sich am Wippen der anderen Köpfe zu beteiligen. »Ich habe darüber mit Wand… mit verschiedenen Leuten gesprochen, vor allem mit Feilonius. Normalerweise wäre es schrecklich schwierig, eine Armee zur Verborgenen Insel zu bringen. Zur See geht es schnell, aber unterwegs gibt es ein paar tödliche Engen. Durch den Wald dauert es lange, und die andere Seite würde reichlich Warnungen erhalten. Aber zum großen Glück hat Feilonius etliche sichere Routen gefunden. Möglicherweise schleichen wir uns also…«
Jemand kratzte an der Tür.
Holzschnitzerin hob ein Paar Köpfe. »Das ist seltsam«, sagte sie.
»Wieso?«, fragte Johanna abwesend. Sie raffte die gefütterte Decke um die Schultern und stand auf. Zwei von Holzschnitzerin gingen mit ihr zur Tür.
Johanna öffnete und schaute in den Nebel hinaus. Plötzlich sprach Holzschnitzerin laut, lauter Kollern. Ihr Besucher hatte sich zurückgezogen. Etwas war wirklich seltsam, und im Moment konnte sie nicht ausmachen, was. Es war das erste Mal, dass sie ein Hundewesen ganz allein sah. Sie war sich der Bedeutung noch nicht ganz bewusst, als die meisten von Holzschnitzerin an ihr vorbei aus der Tür stürzten. Dann begann Johannas Diener oben auf dem Boden zu schreien. Der Klang trieb Schmerz durch Johannas Ohren.
Das einzelne Klauenwesen wand sich unbeholfen auf seinem Hinterteil und versuchte sich davonzuschleppen, doch Holzschnitzerin hatte es umzingelt. Sie rief etwas, und das Kreischen auf dem Boden hörte auf. Man hörte Pfoten über Holzstufen springen, und der Diener sprang ins Freie, seine Armbrüste schussbereit. Von weiter unten am Hang hörte sie Waffengeklirr, als Wachen zu ihnen eilten.
Johanna lief zu Holzschnitzerin, bereit, mit den Fäusten zu jeder notwendigen Verteidigung beizutragen. Doch das Rudel beschnüffelte den Fremdling und leckte seinen Hals. Einen Augenblick später packte Holzschnitzerin das Klauenwesen an der Jacke. »Hilf mir ihn hineintragen, bitte, Johanna.«
Das Mädchen hob die Flanken des Klauenwesens an. Das Fell war feucht vom Nebel — und klebrig von Blut.
Dann waren sie durch die Tür und legten das Glied auf ein Kissen am Feuer. Das Geschöpf stieß jenes tiefe Pfeifen aus, das äußersten Schmerz bedeutete. Es blickte zu ihr auf, die Augen so weit, dass sie ringsherum das Weiße sehen konnte. Einen Moment lang glaubte sie, es sei ihretwegen entsetzt, doch als sie zurücktrat, machte es den Ton nur noch lauter und streckte den Hals zu ihr hin. Sie kniete sich neben das Kissen. Das Wesen legte die Schnauze auf ihre Hand.
»W-was ist das?« Sie blickte an seinem Körper entlang, hinter die gepolsterte Jacke. Die Hüften waren in sonderbarem Winkel verdreht, ein Bein hing nahe am Feuer herab.
»Siehst du denn nicht…«, begann Holzschnitzerin. »Das ist ein Teil von Yaqueramaphan.« Sie schob eine Nase unter das herabhängende Bein und hob es aufs Kissen.
Die Wachen und Johannas Diener sprachen laut miteinander. Durch die offene Tür sah sie Glieder mit Fackeln, sie hatten die Vorderpfoten auf die Schultern ihrer Gefährten gestellt und hielten die Lichter hoch. Niemand versuchte hereinzukommen, der Platz hätte nicht ausgereicht.
Johanna schaute wieder auf das verletzte Klauenwesen. Schreiber? Dann erkannte sie die Jacke. Das Geschöpf erwiderte ihren Blick, noch immer vor Schmerz pfeifend. »Kannst du denn keinen Arzt kommen lassen!«
Holzschnitzerin war rings um sie. Sie antwortete: »Ich bin Arzt, Johanna.« Sie nickte zu dem Datio hinüber und fuhr leise fort: »Wenigstens, was hier als Arzt gilt.«
Johanna wischte Blut vom Halse des Geschöpfs. Es quoll mehr hervor. »Und, kannst du ihn retten?«
»Dieses Fragment vielleicht, aber…« Eins von Holzschnitzerin ging zur Tür und sprach mit den Rudeln draußen. »Meine Leute suchen nach dem Rest von ihm. Ich glaube, er ist größtenteils ermordet worden, Johanna. Wenn es noch andere gäbe… nun ja, sogar Fragmente halten sich beisammen.«
»Hat er etwas gesagt?« Es war eine andere Stimme, die Samnorsk sprach. Narbenhintern. Seine große hässliche Schnauze ragte durch die Türöffnung.
»Nein«, sagte Holzschnitzerin. »Und seine Denklaute sind ein einziges Wirrwarr.«
»Lass mich ihm zuhören«, sagte Narbenhintern.
»Du bleib weg, du!« Johanna schrie es; das Wesen in ihren Armen zuckte zusammen.
»Johanna! Das ist Schreibers Freund. Lass ihn helfen.« Während das Narbenhintern-Rudel in den Raum kam, stieg Holzschnitzerin zum Boden hinauf, um Platz zu machen.
Johanna zog den Arm unter dem verletzten Klauenwesen hervor und wich zurück, bis sie selbst an der Tür stand. Es waren viel mehr Rudel draußen, als sie geglaubt hatte, und sie standen dichter beieinander, als sie es jemals gesehen hatte. Ihre Fackeln glühten wie weiche Fluoreszenzstoffe in der nebligen Dunkelheit.
Ihr Blick schnellte zur Feuergrube zurück. »Ich beobachte dich!«
Narbenhinterns Glieder drängten sich um das Kissen. Der Große legte den Kopf neben den des Verletzten. Einen Augenblick lang fuhr das Klauenwesen mit seinem tiefen Pfeifen fort. Narbenhintern kollerte auf es ein. Die Antwort war ein gleichmäßiges Trällern, fast schön. Vom Boden herab sagte Holzschnitzerin etwas. Sie und Narbenhintern redeten hin und her.
»Und?«, fragte Johanna.
»Ya — das Fragment — ist kein ›Sprecher‹ «, erklärte Holzschnitzerin.
»Noch schlimmer«, sagte Narbenhintern. »Vorläufig zumindest kann ich mich auf seine Denktöne nicht einstellen. Ich bekomme weder Sinn noch Bilder von ihm, ich kann nicht sagen, wer Schreiber ermordet hat.«
Johanna trat zurück in den Raum und ging langsam zu dem Kissen. Narbenhintern wich zur Seite, verließ das verwundete Klauenwesen aber nicht. Sie kniete sich zwischen zwei von ihm und streichelte den langen, blutbedeckten Hals. »Wird… Ya« — sie sprach den Klang so gut sie konnte aus — »am Leben bleiben?«
Narbenhintern fuhr mit drei Nasen an dem Körper entlang. Sie drückten sanft gegen die Wunden. Ya wand sich und pfiff… außer wenn Narbenhintern an die Hinterkeulen drückte. »Ich weiß nicht. Das meiste von diesem Blut sind nur Spritzer, vermutlich von den anderen Gliedern. Aber sein Rückgrat ist gebrochen. Sogar wenn das Fragment am Leben bleibt, wird es nur zwei Beine gebrauchen können.«
Johanna überlegte eine Weile und versuchte, die Dinge aus der Perspektive der Klauenwesen zu sehen. Es gefiel ihr gar nicht. Vielleicht war es sinnlos, doch für sie war dieser ›Ya‹ immer noch Schreiber. Für Narbenhintern war das Geschöpf ein Fragment, ein Organ aus einem frischen Leichnam. Noch dazu ein beschädigtes. Sie sah Narbenhintern an, das große Glied, den Mörder. »Was tut eure Art mit solchem… Abfall?«
Drei von seinen Köpfen wandten sich ihr zu, und sie sah, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Seine synthetische Stimme kam hoch und im Stakkato: »Schreiber war ein guter Freund. Wir können einen zweirädrigen Wagen für Yas Hinterteil bauen, er wäre imstande, sich halbwegs zu bewegen. Das Schwierigste wird sein, ein Rudel für ihn zu finden. Du weißt, dass wir nach anderen Fragmenten suchen; vielleicht können wir etwas zusammenflicken. Wenn nicht… nun, ich habe nur vier Glieder. Ich will versuchen, ihn zu adoptieren.« Während er sprach, tätschelte ein Kopf das verwundete Glied. »Ich bin nicht sicher, ob es klappt. Schreiber war keine Person mit einer losen Seele, alles andere als ein Pilger. Und momentan kann ich überhaupt keine Übereinstimmung mit ihm finden.«
Johanna ließ sich zurücksinken. Narbenhintern war nicht an allem schuld, was im Weltall schiefging.
»Holzschnitzerin hat hervorragende Züchter. Vielleicht lässt sich etwas anderes Passendes finden. Aber du musst verstehen — für erwachsene Glieder ist es schwer, sich neu einzufügen, vor allem für Nichtsprecher. Einzelne Fragmente wie Ya sterben aus eigenem Willen, sie hören einfach auf zu essen. Oder manchmal… Geh ab und zu zum Hafen hinunter und sieh dir die Arbeiter an. Du wirst ein paar große Rudel dort sehen — aber mit dem Verstand von Idioten. Sie können sich nicht zusammenhalten; beim kleinsten Problem laufen sie in alle Richtungen auseinander. So enden die unglücklichen Neurudel…« Narbenhinterns Stimme lief zwischen zweien von seinen Gliedern hin und her und verstummte schließlich. Alle seine Köpfe wandten sich Ya zu. Das Glied hatte die Augen geschlossen. Schlief es? Es atmete noch, doch es klang irgendwie gurgelnd.
Johanna blickte durch den Raum zu der Falltür zum Boden. Holzschnitzerin hatte einen einzelnen Kopf durch die Öffnung herabgestreckt. Das kopfstehende Gesicht erwiderte Johannas Blick. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre der Anblick komisch gewesen. »Wenn nicht ein Wunder geschieht, ist Schreiber heute gestorben. Du musst das verstehen, Johanna. Aber wenn das Fragment am Leben bleibt, wenigstens für kurze Zeit, werden wir wahrscheinlich den Mörder finden.«
»Wie, wenn er sich nicht mitteilen kann?«
»Ja, aber er kann es uns immer noch zeigen. Ich habe Feilonius’ Leuten befohlen, das Personal in den Wohnungen festzuhalten. Wenn Ya sich etwas beruhigt hat, werden wir jedes Rudel auf der Burg an ihm vorbeigehen lassen. Das Fragment erinnert sich gewiss, was Schreiber widerfahren ist, und will es uns sagen. Wenn unter den Mördern einer von unseren Leuten ist, wird er ihn erkennen.«
»Und er wird sich bemerkbar machen.« Ganz wie ein Hund.
»Richtig. Die Hauptsache ist also, ihm jetzt Sicherheit zu geben… und zu hoffen, dass unsere Ärzte ihn retten können.«
Die Reste Schreibers fand man ein paar Stunden später, auf einem Eckturm auf der alten Mauer. Feilonius sagte, anscheinend seien ein oder zwei Rudel aus dem Wald gekommen und hätten den Turm erklettert, vielleicht in der Hoffnung, ins Innere der Burg schauen zu können. Es sah ganz nach einem ungeschickten ersten Versuch aus: Von dem Turm aus war nichts von Interesse zu sehen, nicht einmal an einem klaren Tag. Doch für Schreiber war es zum Verhängnis geworden. Anscheinend hatte er die Eindringlinge überrascht. Fünf von seinen Gliedern waren auf verschiedene Art von Pfeilen durchbohrt, zerhackt, geköpft worden. Das sechste, Ya, hatte sich auf dem schrägen Steingefüge am Fuße der Mauer das Rückgrat gebrochen. Johanna ging am Tag darauf hinaus zu dem Turm. Selbst von unten sah sie bräunliche Flecken auf der Brüstung. Sie war froh, dass sie nicht hinaufgehen konnte.
Ya starb in der Nacht, wenn auch nicht von Feindeshand; er befand sich die ganze Zeit unter dem Schutz von Feilonius.
Ein paar Tage lang war Johanna sehr schweigsam. Nachts weinte sie ein bisschen. Zum Teufel mit ihrer ›ärztlichen Kunst‹ . Ein gebrochenes Rückgrat konnten sie diagnostizieren, aber innere Verletzungen und Blutungen — davon hatten sie keine Ahnung. Holzschnitzerin schien berühmt zu sein für ihre Theorie, dass das Herz das Blut durch den Körper pumpt. Vielleicht noch tausend Jahre, und sie könnte mehr leisten als ein Metzger!
Eine Zeit lang hasste sie alle: Narbenhintern aus all den alten Gründen, Holzschnitzerin für ihre Unwissenheit, Feilonius dafür, dass er Flenseristen so nahe an die Burg herangelassen hatte…, und Johanna Olsndot dafür, dass sie Schreiber zurückgewiesen hatte, als er ihr Freund zu sein versuchte.
Was würde Schreiber jetzt sagen? Er hatte gewollt, dass sie ihnen vertraute. Er hatte gesagt, Narbenhintern und die anderen seien gute Leute. Eines Nachts, etwa eine Woche später, war sie drauf und dran, mit sich selbst Frieden zu schließen. Sie lag auf ihrer Pritsche, die Decke schwer und warm über sich. Die an die Wand gemalten Muster schimmerten matt im Glutschein. Also gut, Schreiber. Um deinetwillen… will ich ihnen vertrauen.
Pham Nuwen hatte fast keine Erinnerung an die ersten Tage, nachdem er gestorben war, nach dem Schmerz vom Ende des ALTEN. Schemenhafte Gestalten, anonyme Worte. Jemand sagte, er sei im automatischen Chirurgen des Schiffes am Leben erhalten worden. Er erinnerte sich an nichts davon. Warum sie den Körper am Atmen gehalten hatten, war ein Rätsel und eine Dreistigkeit. Schließlich waren die tierischen Reflexe wieder zum Leben erwacht. Der Körper begann aus eigenem Antrieb zu atmen. Die Augen öffneten sich. Kein Hirnschaden, sagte Grünmuschel (?), eine vollständige Genesung. Die Hülse, die ein Lebewesen gewesen war, äußerte keinen Widerspruch.
Was von Pham Nuwen übrig war, verbrachte eine Menge Zeit auf der Brücke der ADR. Von früher her erinnerte ihn das Schiff an einen fetten Saukäfer. In dem Stroh, mit dem der Boden in der Großen Halle im Schloss seines Vaters auf Canberra bedeckt wurde, waren die Käfer oft vorgekommen. Die kleinen Kinder hatten mit ihnen gespielt. Die Viecher hatten keine richtigen Beine, nur ein Dutzend federartige Dornfortsätze, die aus einem Chitin-Thorax hervorragten. Egal, wie man sie herumwarf, diese Dorne oder Fühler ließen den Käfer zucken, und er lief weiter, egal, ob seine ehemalige Unterseite jetzt oben war. Ja, die Ultraantriebs-Dorne der ADR ähnelten ziemlich denen eines Saukäfers, wenngleich sie nicht so feingliedrig waren. Und der Körper selbst war dick und glatt, in der Mitte etwas enger.
Pham Nuwen war also in einem Saukäfer gelandet. Wie passend für einen Toten.
Und nun saß er auf der Brücke. Die Frau brachte ihn oft hierher; sie schien zu wissen, dass es ihn fesseln konnte. Die Wände waren Bildschirme, besser, als er sie je zu seiner Zeit als Handelsmann gesehen hatte. Wenn die Fenster einen Blick durch die Kameras des Schiffes zeigten, war die Aussicht so gut wie nur jemals von einer Kristallkanzel-Brücke in der Dschöng-Ho-Flotte.
Es glich einem Stück aus einem ungemein grobschlächtigen Phantasiegebilde — oder einer grafischen Simulation. Wenn er lange genug dasaß, konnte er richtig sehen, wie sich die Sterne am Himmel bewegten. Das Schiff machte etwa zehn Ultrasprünge pro Sekunde: Sprung, Neuberechnung und wieder Sprung. In diesem Teil des Jenseits konnten sie pro Sprung ein Tausendstel Lichtjahr zurücklegen — auch mehr, aber dann würde die Neuberechnung wesentlich länger dauern. Bei zehn pro Sekunde ergab das mehr als dreißig Lichtjahre pro Stunde. Die Sprünge selbst konnten mit menschlichen Sinnen nicht wahrgenommen werden, und zwischen den Sprüngen herrschte Schwerelosigkeit mit derselben Inertialgeschwindigkeit, die sie beim Abflug von Relais gehabt hatten. Es gab also keine Dopplerverschiebung wie bei relativistischen Flügen; die Sterne waren so rein, wie man sie an einem Wüstenhimmel oder bei langsamem Durchflug sah. Ohne Hin und Her glitten sie einfach über den Himmel, je näher, um so schneller. In einer halben Stunde flog er weiter als in einem halben Jahrhundert mit der Dschöng Ho.
Grünmuschel schwebte eines Tages auf die Brücke und begann die Fenster zu wechseln. Wie üblich sprach sie dabei zu Pham, im Plauderton, als gäbe es eine wirkliche Person, die ihr zuhörte: »Sehen Sie. Das mittlere Fenster ist eine Ultrawellen-Karte des Gebiets direkt hinter uns.« Grünmuschel winkte mit einer Ranke über das Pult. Die mehrfarbigen Bilder erschienen an den anderen Wänden. »Das Gleiche für die übrigen fünf Raumrichtungen.«
In Phams Ohren waren die Worte ein bedeutungsloses Geräusch, das er verstand, das ihn aber nichts anging. Der Skrodfahrer schwieg und fuhr dann fort, mit einer Art vergeblicher Hartnäckigkeit, wie er sie von der Frau Ravna kannte.
»Wenn Schiffe einen Sprung vollführen…, beim Wiedereintritt gibt es eine Art Ultrawellen-Spritzer. Ich überprüfe, ob wir verfolgt werden.«
Farben auf den Fenstern ringsum, sogar vor Phams Augen. Es gab fließende Abstufungen, helle auffällige Flecke, keine Linienmuster.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte sie und übernahm beide Seiten des Gesprächs. »Die Analyseprogramme des Schiffs sammeln noch Daten. Aber wenn uns jemand näher als auf einhundert Lichtjahre folgt, sehen wir ihn. Und wenn sie weiter weg sind — nun, dann können sie uns wahrscheinlich nicht orten.«
Egal. Fast sperrte Pham die Frage aus seinem Bewusstsein aus. Aber es gab keine Sterne, die er anblicken konnte; er starrte die glühenden Farben an und dachte tatsächlich über das Problem nach. Er dachte. Ein Witz: Vielleicht zehntausend Sternenschiffe waren nach dem Untergang von Relais entkommen. Höchstwahrscheinlich hatte der Feind diese Flüge nicht registriert. Der Angriff auf Relais war eine kleine Nebenaktion beim Mord an dem ALTEN gewesen. Höchstwahrscheinlich war die ADR unbemerkt entkommen. Was konnte es den Feind kümmern, wo sich die letzten Erinnerungen des ALTEN verbargen? Warum sollte es ihn kümmern, wohin ihr kleines Schiff flog?
Ein Zittern lief durch seinen Körper; gewiss ein tierischer Reflex.
In Ravna Bergsndot stieg allmählich Panik auf, jeden Tag ein bisschen stärker. Es war kein besonderes Unglück, nur das allmähliche Absterben der Hoffnung. Sie versuchte, jeden Tag einige Zeit in Pham Nuwens Nähe zu sein, zu ihm zu sprechen, seine Hand zu halten. Er reagierte nie, nicht einmal — außer vielleicht zufällig —, dass er sie anschaute. Grünmuschel versuchte es auch. So fremdartig Grünmuschel war, der Pham von früher schien von den Skrodfahrern wirklich angezogen zu sein. Er kam jetzt ohne jede medizinische Hilfe aus, aber er hätte ebenso gut eine Pflanze sein können.
Und die ganze Zeit über wurde ihr Abstieg langsamer, immer ein bisschen mehr, als Blaustiel vorausgesagt hatte.
Und wenn sie sich die Nachrichten ansah… In mancher Hinsicht war das am erschreckendsten. Die Theorie von der ›Todesrasse‹ wurde allmählich populär. Mehr und mehr Leute schienen zu glauben, dass die menschliche Rasse die PEST verbreitete:
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Baeloresk -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Allianz für die Verteidigung
[Angeblich Genossenschaft von fünf polyspezifischen Imperien im Jenseits unterhalb des Straumli-Bereichs. Vor dem Untergang des Bereichs nicht verzeichnet.]
GEGENSTAND: Bedrohung durch das PEST-Video
VERTEILER:
Pestgefahr
Interessengruppe Kriegsbeobachter
Interessengruppe Homo sapiens
DATUM: 17,95 Tage seit dem Untergang von Relais
TEXT DER BOTSCHAFT:
Bisher haben wir eine halbe Million Botschaften über das Video dieser Kreatur bearbeitet und einen Gutteil davon gelesen. Die meisten von euch übersehen den springenden Punkt. Das Prinzip der ›Helfer‹ -Operation ist klar. Dies ist eine Transzendente MACHT, die Überlichtkommunikation benutzt, um vermittels einer Rasse im Jenseits zu agieren. Es wäre ziemlich leicht, das im Transzens zu tun — es gibt eine Anzahl von Geschichten über Sklaven von MÄCHTEN dort. Doch damit solche Kommunikation im Jenseits wirksam ist, müssen wahrlich umfassende Veränderungen im Geist der kontrollierten Rasse vorgenommen werden. Das konnte im natürlichen Verlauf nicht geschehen, und es kann nicht schnell mit neuen Rassen getan werden — egal, was die PEST sagt.
Wir haben die Interessengruppe Homo sapiens seit dem ersten Auftreten der PEST beobachtet. Wo ist diese ›Erde‹ , von der die Menschen zu stammen behaupten? »Auf der anderen Seite der Galaxis«, sagen sie, und tief in der Langsamen Zone. Sogar ihr näherer Ursprung, Nyjora, liegt hübsch sicher im Langsam. Wir sehen eine alternative Theorie: Irgendwann einmal, vielleicht früher, als die letzten konsistenten Archive zurückreichen, hat es eine Schlacht zwischen MÄCHTEN gegeben. Der Bauplan für diese ›menschliche Rasse‹ wurde gezeichnet, komplett mit Kommunikationsanschlüssen. Lange nachdem die ursprünglichen Kämpfer und ihre Geschichten verschwunden sind, ist diese Rasse in eine Lage geraten, wo sie transzendieren konnte. Und auch diese Transzendenz war maßgeschneidert, um die MACHT wiederzuerschaffen, die am Anfang die Falle aufgestellt hat.
Wir haben keine Gewissheit über die Einzelheiten, aber das Szenario als solches ist zwingend. Was wir tun müssen, ist auch klar. Der Straumli-Bereich liegt im Herzen der PEST, offensichtlich unerreichbar für jeden Angriff. Doch es gibt andere Menschenkolonien. Wir bitten das Netz, uns bei der Identifizierung von allen zu helfen. Wir selbst sind keine große Zivilisation, aber wir würden mit Freuden die Informationssammlung und die militärischen Aktionen koordinieren, die nötig sind, um eine Ausbreitung der PEST im Mittleren Jenseits zu verhindern.
Seit fast siebzehn Wochen rufen wir zum Handeln auf. Wenn ihr zu Beginn auf uns gehört hättet, hätte ein konzertierter Schlag genügt, um den Straumli-Bereich zu vernichten. Genügt der Untergang von Relais nicht, um euch aufzuwecken? Freunde, wenn wir gemeinsam handeln, haben wir noch eine Chance.
Tod dem Ungeziefer.
Die Mistkerle machten sich sogar den Findlingsstatus der Menschheit zunutze. Findlingsrassen waren selten, aber keineswegs unbekannt. Nun machten diese Kreaturen von ›Tod dem Ungeziefer‹ aus dem Wunder der Nyjora ein tödliches Übel.
›Tod dem Ungeziefer‹ waren die Einzigen, die Pogrome verlangten, doch selbst ehrenwerte Absender sagten Dinge, die indirekt solche Aktionen unterstützen konnten.
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Sandor Schiedsintelligenz beim Zoo
[Eine bekannte Militärkorporation des Hohen Jenseits. Falls jemand anders den Namen benutzt, lebt er gefährlich.]
GEGENSTAND: Bedrohung durch das PEST-Video, Folgedrohung laut Hanse
SCHLAGWÖRTER: Grenzen der PEST; die PEST sucht etwas
VERTEILER:
Pestgefahr
Interessengruppe enggekoppelte Automatik
Interessengruppe Kriegsbeobachter
DATUM: 11,94 Tage seit dem Untergang von Relais
TEXT DER BOTSCHAFT:
Die PEST gibt zu, eine MACHT zu sein, die Intelligenzwesen im Jenseits fernsteuert. Überlegt aber, wie schwer es ist, eine enggekoppelte Automatik mit Zeitlücken von mehr als ein paar Millisekunden zu realisieren. Das Bekannte Netz ist eine perfekte Illustration dazu: Die Lücken reichen von fünf Millisekunden bei Systemen, zwischen denen ein paar Lichtjahre liegen, bis zu (mindestens) mehreren hundert Sekunden, wenn die Botschaften Zwischenknoten durchlaufen müssen. Zusammen mit der schmalen Bandbreite, die über interstellare Entfernungen hinweg verfügbar ist, macht dies das Bekannte Netz zu einem lockeren Forum für den Austausch von Informationen und Lügen. Und diese Beschränkungen sind der Natur des Jenseits inhärent, ein Teil derselben Beschränkungen, die die Existenz von MÄCHTEN hier unten ausschließen.
Wir folgern daraus, dass sogar die PEST keine enggekoppelte Steuerung außerhalb des Hohen Jenseits erzielen kann. An der Obergrenze sind die zu Agenten der PEST gewordenen Intelligenzwesen buchstäblich deren Glieder. Im Mittleren Jenseits halten wir ›geistige‹ Kontrolle für möglich, doch muss der kontrollierte Geist vorher in erheblichem Ausmaß bearbeitet werden. Des Weiteren wird eine beachtliche Menge an äußerer Ausrüstung (die für jene Tiefen typischen massigen Geräte) benötigt, um die Kommunikation aufrechtzuerhalten. Direkte Steuerung Millisekunde für Millisekunde ist normalerweise im Mittleren Jenseits nicht praktikabel. Kämpfe auf dieser Ebene würden hierarchische Steuerungen einbeziehen. Langfristige Operationen würden auch Gebrauch von Einschüchterung, Täuschung und Verrat machen.
Das sind die Bedrohungen, die ihr im Mittleren und Unteren Jenseits erkennen müsst.
Das sind die Werkzeuge der PEST im Mittleren und Unteren Jenseits, und wogegen ihr euch für die unmittelbare Zukunft wappnen solltet. Wir rechnen nicht mit imperialistischen Eroberungen; das bringt keinen Gewinn [Nährwert]. Sogar die Vernichtung von Relais war wahrscheinlich nur ein Nebeneffekt des Mordes, den die PEST gleichzeitig im Transzens verübt hat. Die größten Tragödien werden sich weiterhin an der Obergrenze und im Unteren Transzens ereignen. Aber wir wissen, dass die PEST nach etwas sucht; sie hat über große Entfernungen angegriffen, wobei wichtige Archive das Ziel waren. Hütet euch vor Verrätern und Spionen.
Selbst manche von denen, die die Menschheit unterstützten, ließen Ravna erschaudern:
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Hanse
GEGENSTAND: Bedrohung durch das PEST-Video, Folgedrohung laut Allianz für die Verteidigung
SCHLÜSSELWÖRTER: Theorie von der Todesrasse
VERTEILER:
Pestgefahr
Interessengruppe Kriegsbeobachter
Interessengruppe Homo sapiens
DATUM: 18,29 Tage seit dem Untergang von Relais
TEXT DER BOTSCHAFT:
Ich habe mir Exemplare von den Menschenwelten in unserem Raumgebiet verschafft. Ausführliche Analysen können im Archiv der Interessengruppe Homo sapiens gefunden werden. Meine Folgerungen: Frühere (aber weniger intensive) Untersuchungen der menschlichen Physis und Psyche sind korrekt. Die Rasse besitzt keine eingebauten Strukturen, die Fernsteuerung unterstützen. Experimente mit lebenden Objekten zeigten keine besondere Neigung zur Unterordnung. Ich habe keine oder nur geringfügige Anzeichen von künstlicher Optimierung gefunden. (Es gibt Hinweise auf DNS-Chirurgie, um die Krankheitsresistenz zu erhöhen: die Zeitbestimmung anhand der Genomveränderung datiert den groben Eingriff auf zweitausend Jahre vor der Gegenwart. Das Blut des Straumli-Bereichs enthielt ein Optigens, Thirault [ein billiges medizinisches Rezept, das über ein weites Spektrum von Säugern angepasst werden kann].) Diese Rasse — vertreten durch meine Exemplare — sieht aus, als sei sie vor relativ kurzer Zeit aus der Langsamen Zone eingetroffen, wahrscheinlich von einer einzigen Ursprungswelt.
Hat jemand solche neuerlichen Tests an weiter entfernten Menschenwelten durchgeführt?
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Baeloresk -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Allianz für die Verteidigung
[Angeblich Genossenschaft von fünf polyspezifischen Imperien im Jenseits unterhalb des Straumli-Bereichs. Vor dem Untergang des Bereichs nicht verzeichnet.]
GEGENSTAND: Bedrohung durch das PEST-Video, Hanse 1
VERTEILER:
Pestgefahr
Interessengruppe Kriegsbeobachter
Interessengruppe Homo sapiens
DATUM: 19,43 Tage seit dem Untergang von Relais
TEXT DER BOTSCHAFT:
Wer ist dieses ›Hanse‹ ? Es macht objektiv und energisch klingenden Lärm um Tests an menschlichen Exemplaren, hält aber seine eigene Natur geheim. Lasst euch nicht von Menschen zum Narren halten, die euch etwas über sich selbst erzählen! De facto haben wir keine Möglichkeiten, die Kreaturen zu testen, die im Straumli-Bereich leben; ihr Beschützer wird dafür sorgen.
Tod dem Ungeziefer.
Und da war der kleine Junge, am Grunde des Brunnens gefangen. An manchen Tagen war keine Kommunikation möglich. An anderen Tagen, wenn der Antennenschwarm der ADR exakt auf die richtige Richtung abgestimmt war und die Unwägbarkeiten der Zone es begünstigten — dann konnte Ravna sein Schiff hören. Sogar dann war das Signal so schwach, so verzerrt, dass die effektive Übertragungsrate nur ein paar Bit pro Sekunde betrug.
Jefri und seine Probleme waren vielleicht nur die kleinste Fußnote in der Geschichte der PEST (weniger als das, da niemand von ihm wusste), aber für Ravna Bergsndot bedeuteten diese Gespräche den einzigen Lichtblick in ihrem gegenwärtigen Leben.
Das Kind war sehr einsam, doch weniger als zuvor, glaubte sie. Sie hörte von seinem Freund Amdi, dem strengen Tyrathect und dem heldenhaften Herrn Stahl und den stolzen Klauenwesen. Ravna lachte in sich hinein, über sich selbst. Die Wände ihrer Kabine zeigten ein flaches Wandbild mit einem Dschungel. Tief im tropfnassen Dämmer lagen regelmäßige Schatten — eine Burg, in den Wurzeln eines riesigen Mangrovenbaums erbaut. Das Wandbild war berühmt; das Original war eine Analog-Arbeit von vor zweitausend Jahren gewesen. Es stellte das Leben in noch fernerer Vergangenheit dar, während der Dunklen Zeitalter auf der Nyjora. Sie und Lynne hatten einen großen Teil ihrer Kindheit damit verbracht, sich vorzustellen, sie wären in solch eine Zeit versetzt worden. Das, wo der kleine Jefri festsaß, war echt. Holzschnitzerins Halsabschneider waren keine interstellare Gefahr, doch für die Leute in seiner Umgebung waren sie ein tödlicher Schrecken. Gott sei Dank hatte Jefri die Morde nicht mit angesehen.
Es war eine wirkliche mittelalterliche Welt. Ein rauer und gnadenloser Ort, wenn auch Jefri an anständige Leute geraten war. Und der Vergleich mit der Nyjora traf nur annähernd zu. Diese Klauenwesen besaßen ein Rudelbewusstsein; sogar der alter Grondr ’Kalir war davon überrascht gewesen.
Überall in Jefris Nachrichten sah Ravna die Panik unter Stahls Leuten durchscheinen:
Herr Stahl hat mich wieder gefragt ob es irgendwie geht dass wir unser Schiff wenigstens ein bisschen fliegen lassen. Ich weiß nicht. Wir hatten fast eine Bruchlandung, denke ich. Wir brauchen Kanonen. Das würde uns retten, wenigstens bis ihr hier seid. Sie haben Armbrüste und Pfeile ganz wie damals auf der Nyjora, aber keine Kanonen. Er fragt mich, könnt ihr uns beibringen wie man Kanonen macht?
Holzschnitzerins Räuberbanden würden zurückkehren, und diesmal genügend stark, um Stahls kleines Königreich zu überrennen. Seinerzeit, als sie glaubte, der Flug der ADR würde nur vierzig Tage dauern, war ihr das nicht als besonders großes Risiko erschienen, doch jetzt… Womöglich fand Ravna bei der Ankunft Holzschnitzerins Mordtaten vollendet.
O Pham, lieber Pham. Wenn es dich jemals wirklich gegeben hat, komm bitte jetzt zurück. Pham Nuwen vom mittelalterlichen Canberra. Pham Nuwen, Kauffahrer aus dem Langsam… Was würde jemand wie du in dieser Lage tun? Hmm.
Ravna wusste, dass sich unter seiner stürmischen Oberfläche Blaustiel mindestens ebenso viel Sorgen wie sie machte. Schlimmer, er war ein Krümelkacker. Als ihn Ravna das nächste Mal nach ihrem Fortkommen fragte, wich er in technische Einzelheiten aus.
Schließlich unterbrach ihn Ravna. »Sehen Sie: Der Junge sitzt da auf etwas, was vielleicht die PEST zur Hölle schicken kann, und er hat weiter nichts als Pfeil und Bogen. Wie lange wird es dauern, bis wir da unten sind, Blaustiel?«
Blaustiel rollte nervös an der Decke hin und her. Die Skrodfahrer hatten Rückstoßdüsen — bei Schwerelosigkeit konnten sie sich geschickter bewegen als die meisten Menschen. Statt dessen benutzten sie Haftflecken und rollten an den Wänden herum. In mancher Hinsicht war das hübsch. Momentan irritierte es.
Zumindest konnten sie sich unterhalten; sie warf einen Blick quer durch die Brücke, wo Pham Nuwen saß, den Blick an den Hauptbildschirm geheftet. Wie üblich galt seine ganze Aufmerksamkeit den sich langsam weiterschiebenden Sternen. Er war unrasiert, der rötliche Bart stach leuchtend von der Haut ab; sein langes Haar fiel verfilzt und ungekämmt. Körperlich war er von seinen Verletzungen geheilt. Der Schiffsarzt hatte sogar die Muskelmasse ersetzt, die die Kommunikationsvorrichtungen des ALTEN verdrängt hatten. Pham konnte sich jetzt selbst anziehen und ernähren, doch er lebte noch immer in einer eigenen Traumwelt.
Die beiden Fahrer zwitscherten einander etwas zu. Es war Grünmuschel, die schließlich Ravnas Frage beantwortete: »Eigentlich wissen wir nicht genau, wie lange. Die Eigenschaften des Jenseits verändern sich, je tiefer wir kommen. Jeder Sprung kostet uns einen Bruchteil mehr Zeit als der vorige.«
»Das weiß ich. Wir nähern uns der Langsamen Zone. Aber das Schiff ist dafür konstruiert; es müsste leicht sein, die Verlangsamungsrate zu errechnen.«
Blaustiel streckte eine Ranke von der Decke zum Fußboden aus. Eine Sekunde lang machte er sich am selbstregulierenden Oberflächenprofil zu schaffen, dann gab seine Voderstimme ein Geräusch menschlicher Verärgerung von sich. »Normalerweise hätten Sie Recht, meine Dame Ravna. Doch in diesem besonderen Fall… Zum einen hat es den Anschein, dass die Zonen selbst in Bewegung sind.«
»Was?«
»Das ist nicht so unerhört. Kleine Verschiebungen finden ständig statt. Das ist einer der Hauptzwecke für Grundschlepper-Schiffe: die Änderungen zu verfolgen. Wir haben das Pech, mitten durch das Ungewisse Gebiet zu fliegen.«
Eigentlich hatte Ravna gewusst, dass am Boden unter ihnen eine hohe Grenzschicht-Turbulenz bestand. Sie dachte daran nur nicht in großartigen Begriffen wie ›Zonenverschiebung‹ ; ihr war auch nicht bewusst geworden, dass es ernst genug war, um Auswirkungen auf sie zu haben.
»In Ordnung. Wie schlimm kann es also werden? Um wie viel kann es unseren Flug verlangsamen?«
»O je.« Blaustiel rollte zur Wand gegenüber, er stand jetzt auf gestirntem Himmel. »Es wäre so schön, ein Minderer Skrodfahrer zu sein. So viele Probleme, die meine hohe Berufung mit sich bringt. Am liebsten stünde ich in diesem Moment tief in der Brandung und würde an Erinnerungen von einst denken.« An andere Tage in der Brandung.
Grünmuschel nahm den Faden auf: »Die Frage ist nicht: ›Die Flut, wie hoch kann sie steigen?‹ , sondern: ›Dieser Sturm, wie schlimm kann er werden?‹ Momentan ist es schlimmer als alles in dieser Region während der letzten tausend Jahre. Immerhin haben wir die lokalen Nachrichten verfolgt; die meisten stimmen darin überein, dass der Sturm seinen Höhepunkt erreicht hat. Wenn unser anderes Problem sich nicht verschlechtert, müssten wir in etwa einhundertundzwanzig Tagen am Ziel sein.«
Unser anderes Problem. Ravna schwebte zur Mitte der Brücke und schnallte sich an einem Sattel fest. »Sie meinen die Schäden, die wir beim Abflug von Relais erhalten haben. Die Ultraantriebs-Dorne, ja? Wie halten sie sich?«
»Anscheinend ziemlich gut. Wir haben nicht versucht, schneller als achtzig Prozent des vorgesehenen Maximums zu springen. Andererseits fehlen uns gute Diagnostikroutinen. Es ist denkbar, dass es ganz plötzlich zu ernsthaften Ausfällen kommt.«
»Denkbar, aber unwahrscheinlich«, warf Grünmuschel ein.
Ravna nickte. Angesichts all ihrer anderen Probleme hatte es keinen Zweck, sich über Möglichkeiten den Kopf zu zerbrechen, die sie sowieso nicht beeinflussen konnten. Auf Relais hatte das wie ein Ausflug von dreißig, vierzig Tagen ausgesehen. Jetzt… Der Junge im Brunnen musste vielleicht noch lange Zeit tapfer sein, egal, wie sehr sie es sich anders wünschte. Hmm. Also Zeit für Plan B. Zeit für etwas, wie jemand wie Pham Nuwen es vorschlagen würde. Sie stieß sich vom Boden ab und ließ sich neben Grünmuschel nieder. »Gut, wir können uns also bestenfalls auf einhundertundzwanzig Tage einstellen. Wenn der Zonensturm schlimmer wird oder wenn wir Reparaturen vornehmen lassen müssen…« Wo eigentlich? Möglicherweise wäre das nur eine Verzögerung, aber nicht unmöglich. Die umgebaute ADR sollte sogar im Unteren Jenseits repariert werden können. »Vielleicht sogar zweihundert Tage?« Sie warf Blaustiel einen Blick zu, doch er unterbrach sie nicht mit seinen üblichen Zusätzen und Einschränkungen. »Sie haben beide die Botschaften gelesen, die wir von dem Jungen erhalten. Er sagt, die Einheimischen werden in Kürze überrannt, wahrscheinlich in weniger als hundert Tagen. Irgendwie müssen wir ihm helfen…, ehe wir selbst dort sind.«
Grünmuschel raschelte mit ihren Wedeln auf eine Weise, die Ravna für Verwunderung hielt.
Sie schaute über das Deck und hob ein wenig die Stimme. He du, du müsstest dafür der Fachmann sein! »Ihr Skrodfahrer bemerkt es vielleicht nicht, aber das ist ein Problem, das in der Langsamen Zone millionenfach vorgekommen ist: Zivilisationen sind durch Reisezeiten von Jahren, von Jahrhunderten getrennt. Sie fallen in dunkle Zeitalter zurück. Sie werden genauso primitiv wie diese Rudelwesen, die ›Klauen‹ . Dann bekommen sie Besuch von außerhalb. Binnen kurzer Zeit verfügen sie wieder über Technik.« Phams Kopf wandte sich nicht um; er schaute einfach weiter hinaus in die Sternenweiten.
Die Skrodfahrer rasselten einander etwas zu, dann:
»Aber was nützt uns das? Dauert es nicht Dutzende von Jahren, um eine Zivilisation wiederaufzubauen?«
»Und außerdem ist das auf der Klauenwelt nicht wiederaufzubauen. Dem Kind zufolge ist es eine Welt ohne Vorgänger. Wie lange dauert es, eine neue Zivilisation von den Anfängen an zu errichten?«
Ravna wischte die Einwände mit einer Handbewegung weg. Haltet mich nicht auf, ich bin in Fahrt. »Darum geht es nicht. Wir haben bereits Verbindung mit ihnen. Wir haben eine gute allgemeine Bibliothek an Bord. Ursprüngliche Erfinder wissen nicht, wohin der Weg führt; sie tappen im Dunkeln. Sogar die Archäologieingenieure auf der Nyjora mussten viel neu erfinden. Wir aber wissen alles über den Bau von Flugzeugen und dergleichen; wir kennen Hunderte von Wegen, um dorthin zu gelangen.« Nun, da sie sich der Notwendigkeit gegenübersah, war Ravna auf einmal gewiss, dass sie es schaffen würden. »Wir können alle Entwicklungswege studieren, die Sackgassen ausschließen. Mehr noch, wir können den schnellsten Weg vom Mittelalter zu bestimmten Erfindungen feststellen, zu Dingen, die mit jeglichen Barbaren fertig werden, die Jefris Freunde angreifen mögen.«
Ravnas Rede trudelte aus. Grinsend starrte sie erst Blaustiel an, dann Grünmuschel. Aber ein schweigender Skrodfahrer ist einer der gelassensten Zuhörer im Weltall. Es war sogar schwer zu sagen, ob sie sie überhaupt anschauten. Nach einer Weile sagte Grünmuschel: »Ja, ich verstehe. Und so oft, wie Wiederentdeckungen in der Langsamen Zone vorkommen, kann das meiste davon schon in der Schiffsbibliothek ausgearbeitet vorliegen.«
Da geschah es: Pham wandte sich vom Fenster ab. Er blickte übers Deck zu Ravna und den Fahrern. Zum ersten Mal seit Relais sprach er. Mehr noch, seine Worte waren kein Unsinn, obwohl sie einen Moment brauchte, um ihn zu verstehen. »Kanonen und Radios«, sagte er.
»Ah… ja.« Sie erwiderte seinen Blick. Irgendwie bewirken, dass er mehr sagt. »Warum gerade das?«
Pham Nuwen zuckte die Achseln. »Auf Canberra hat es funktioniert.«
Dann begann der verdammte Blaustiel zu reden, etwas über eine Suche in der Bibliothek. Pham starrte sie alle einen Augenblick lang an, das Gesicht ausdruckslos. Dann wandte er sich wieder den Sternen zu, und der Augenblick war verloren.
»Pham?« Er hörte Ravnas Stimme direkt hinter sich. Sie war auf der Brücke geblieben, nachdem die Skrodfahrer gegangen waren, um sich irgendwelchen bedeutungslosen Vorbereitungen zu widmen, die sie vereinbart hatten. Er antwortete nicht, und nach einer Weile schwebte sie um ihn herum und verdeckte seinen Blick auf die Sterne. Fast automatisch fixierte sein Blick ihr Gesicht.
»Danke, dass du zu uns gesprochen hast… Wir brauchen dich mehr denn je.«
Er sah immer noch eine Menge Sterne. Sie standen rings um sie und bewegten sich langsam. Ravna reckte den Kopf vor, wie sie es zu tun pflegte, wenn sie freundliche Verwunderung ausdrücken wollte. »Wir können helfen…«
Er antwortete nicht. Was hatte ihn eigentlich eben noch zum Sprechen gebracht? Dann sagte er: »Niemand kann den Toten helfen«, auf unbestimmte Weise selbst erstaunt, dass er sprach. Wie die Fokussierung der Augen musste das Sprechen ein Reflex sein.
»Du bist nicht tot. Du bist so lebendig wie ich.«
Dann torkelten Worte aus ihm hervor, mehr als an allen Tagen seit Relais. »Stimmt. Die Illusion des eigenen Bewusstseins. Glückliche Automaten, gesteuert von simplen Programmen. Ich wette, du errätst es nie. Wie solltest du auch von innen her. Von außen, aus der Sicht des ALTEN…« Er wandte den Blick ab, von einem doppelten Seheindruck benommen.
Ravna trieb noch näher heran, bis sich ihr Gesicht nur noch Zentimeter von seinem entfernt befand. Sie schwebte frei, ausgenommen einen am Boden verankerten Fuß. »Lieber Pham, du irrst dich. Du bist am Grunde gewesen und an der Obergrenze, doch niemals dazwischen… ›Die Illusion des eigenen Bewusstseins‹ ? Das ist ein alter Hut für jede praktische Philosophie im Jenseits. Es hat ein paar schöne Konsequenzen und ein paar furchterregende.
Du kennst weiter nichts als die furchterregenden. Bedenke: Die Illusion muss genauso auch für die MÄCHTE gelten.«
»Nein. Er konnte Vorrichtungen wie dich und mich herstellen.«
»Tot zu sein, ist auch eine Wahlmöglichkeit, Pham.« Sie streckte die Hand aus, um ihm über Schulter und Arm abwärts zu streichen. Er erlebte einen Perspektivwechsel, wie er für Schwerelosigkeit typisch ist: ›Unten‹ schien zur Seite zu rotieren, und er schaute zu ihr empor. Mit einem Mal wurde er sich seines verfilzten Bartes bewusst, seiner überall umherschwebenden wirren Haare. Er schaute zu Ravna empor, und ihm fiel alles ein, was er über sie gedacht hatte. Auf Relais war sie ihm klug erschienen, vielleicht nicht klüger als er, aber so klug wie die meisten Konkurrenten von der Dschöng Ho. Doch da waren andere Erinnerungen — wie der ALTE sie gesehen hatte. Wie üblich waren Seine Erinnerungen überwältigend. Wie üblich waren sie größtenteils unverständlich. Sogar Seine Gefühle waren schwer zu deuten. Aber… Er hatte an Ravna ein wenig wie… an einen Lieblingshund gedacht. Der ALTE durchschaute sie völlig. Ravna Bergsndot neigte ein bisschen dazu, andere zu manipulieren; Er war darüber erfreut/amüsiert (?) gewesen. Doch hinter ihren Worten und Argumenten hatte Er mehr gesehen, einen Gutteil… ›Güte‹ war vielleicht das Menschenwort. Der ALTE war ihr wohlgesonnen gewesen. Zum Schluss hatte Er sogar versucht, ihr zu helfen. Eine Erkenntnis huschte an ihm vorüber, zu schnell, als dass er sie festhalten konnte. Ravna sprach wieder.
»Was dir zugestoßen ist, ist schrecklich genug, Pham, aber du bist nicht der Erste. Ich habe von solchen Fällen gelesen. Selbst die MÄCHTE sind nicht unsterblich. Manchmal kämpfen sie untereinander, und jemand wird getötet. Manchmal begeht eine Selbstmord. Es gibt ein Sternensystem, in der Erzählung wird es Der Götter Verhängnis genannt: Vor einer Million Jahren lag es im Transzens. Und es wurde von einer Gruppe von MÄCHTEN besucht. Dann gab es eine Zonen-Flutwelle. Plötzlich lag das System zwanzig Lichtjahre tief im Jenseits. Das ist die größte Flutwelle, über die es zuverlässige Nachricht gibt. Die MÄCHTE bei Der Götter Verhängnis hatten keine Chance. Sie starben alle, manche endeten in Schutt und Asche, andere auf dem Niveau gewöhnlicher menschlicher Intelligenzen.«
»Was… was ist aus Letzteren geworden?«
Sie zögerte, nahm seine Hände zwischen ihre. »Du kannst in der Bibliothek nachsehen. Wichtig ist, dass es vorkommt. Für die Opfer bedeutet es das Ende der Welt. Aber aus unserer Sicht, der Sicht der Menschen… Nun, der Mensch Pham Nuwen hat Glück gehabt; Grünmuschel sagt, der Ausfall der Verbindungsapparatur zum ALTEN hat keinen umfangreichen organischen Schaden angerichtet. Es mag vielleicht feinere Schäden geben; manchmal zerstören sich die Überbleibsel einfach, egal, was übrig geblieben ist.«
Pham fühlte Tränen aus seinen Augen treten. Und wusste, dass ein Teil des Todseins in ihm die Trauer um Seinen Tod gewesen war. »Feinere Schäden!« Er schüttelte den Kopf, und die Tränen schwebten durch die Luft. »Mein Kopf ist vollgestopft von Ihm, von Seinen Erinnerungen.« Erinnerungen? Sie überragten alles andere. Doch er konnte sie nicht verstehen. Er konnte die Einzelheiten nicht verstehen. Er verstand nicht einmal die Gefühle, es sei denn als unangebrachte Vereinfachungen — Freude, Gelächter, Erstaunen, Furcht und eiskalte, stahlharte Entschlossenheit. Nun war er in diesen Erinnerungen verloren und tappte darin umher wie ein Idiot in einer Kathedrale. Ohne etwas zu verstehen, vor den Heiligenbildern geduckt.
Sie drehte sich um ihre und seine verklammerten Hände. Einen Moment später stieß ihr Knie sanft gegen seins. »Du bist immer noch ein Mensch, hast immer noch deine eigenen…« Ihre Stimme versiegte, als sie den Ausdruck seiner Augen sah.
»Meine eigenen Erinnerungen.« Inmitten des Unverständlichen verstreut, würde er sich weiterschleppen: Er selbst mit fünf Jahren, wie er auf dem Stroh in der Großen Halle saß, jederzeit wachsam, ob nicht ein Erwachsener erschien: Mitglieder der königlichen Familie hatten nicht im Schmutz zu spielen. Zehn Jahre später, als er zum erstenmal mit Cindi schlief. Ein Jahr darauf, als er seinen ersten Flugapparat sah, die Orbitalfähre, die auf dem Paradefeld seines Vaters landete. Die Jahrzehnte im Raum. »Ja, die Dschöng Ho. Pham Nuwen, der große Kauffahrer des Langsam. All die Erinnerungen sind noch da. Und soviel ich weiß, ist das alles die Lüge des ALTEN, ein beiläufiger Schwindel, um die Relaisleute irrezuführen.«
Ravna biss sich auf die Lippe, sagte aber nichts. Sie war zu ehrlich zum Lügen, sogar jetzt.
Er streckte seine freie Hand aus, um das Haar aus ihrem Gesicht zu streichen. »Ich weiß, dass du das auch gesagt hast, Rav. Mach dir nichts draus: Inzwischen wäre mir der Verdacht von selbst gekommen.«
»Ja«, sagte sie leise. Dann schaute sie ihm direkt in die Augen. »Aber eins musst du wissen. Von Mensch zu Mensch: Du bist jetzt wirklich ein Mensch. Und es könnte die Dschöng Ho gegeben haben, und du könntest genau das gewesen sein, woran du dich erinnerst. Und was auch in der Vergangenheit gewesen sein mag, in der Zukunft könntest du großartig sein.«
Geisterhafte Echos, mehr als Erinnerung und weniger als Vernunft: Für einen Moment sah er sie mit weiseren Augen. Sie liebt dich, du Narr. Fast ein Lachen, ein freundliches Lachen.
Er ließ seine Arme um sie gleiten und zog sie eng an sich. Er spürte, wie sie ein Bein zwischen seine schob. Zum Lachen. Wie Herzmassage, ein gedankenloser Reflex, der eine Person wieder ins Leben zurückholte. So töricht, so trivial, aber: »Ich… ich will zurückkehren.« Die Worte kamen als ersticktes Schluchzen heraus. »In mir ist jetzt so viel, so viel, was ich nicht verstehen kann. Ich habe mich im eigenen Kopf verirrt.«
Sie sagte nichts, verstand wahrscheinlich nicht einmal, was er meinte. Einen Augenblick lang empfand er nichts als das Gefühl, sie in den Armen zu halten, und wie sie sich an ihn kuschelte. Oh, bitte, ich möchte wirklich zurückkehren.
Es auf der Brücke eines Sternenschiffs zu tun, war etwas, das Ravna noch nie gemacht hatte. Aber sie hatte ja auch noch nie zuvor ein eigenes Sternenschiff besessen. Sie nennen das nicht zufällig einen Grundschlepper. In der Erregung hatte Pham den Halt verloren. Sie schwebten frei, stießen gelegentlich gegen Wände oder verstreute Kleidungstücke, oder sie trieben zwischen Tränen dahin. Nach vielen Minuten fanden sie sich mit den Köpfen ein paar Zentimeter überm Fußboden, von wo der Rest von ihnen im Winkel zur Decke hin ragte. Ihr wurde vage bewusst, dass ihr Slip wie ein Banner an der Stelle wehte, wo er sich am Knöchel verfangen hatte. Es war nicht ganz so wie in romantischen Geschichten. Zum einen konnte man freischwebend einfach keinen Rückhalt finden. Zum anderen… Pham beugte sich von ihr zurück und lockerte seinen Griff um ihren Rücken. Sie strich sein rotes Haar beiseite und blickte in gerötete Augen. »Weißt du«, sagte er mit zitternder Stimme, »ich hätte nie geglaubt, ich könnte so heftig weinen, dass mir das Gesicht weh tut.«
Sie erwiderte sein Lächeln. »Dann hast du ein verzaubertes Leben geführt.« Sie bog ihren Rücken gegen seine Hände und zog ihn dann sanft an sich. Mehrere Minuten lang schwebten sie schweigend, die Körper in den Wölbungen des anderen entspannt, ohne etwas zu empfinden als einander.
Dann: »Danke, Ravna.«
»… ganz meinerseits.« Ihre Stimme klang schläfrig ernst, und sie kuschelte sich enger an ihn. Seltsam, was er alles für sie gewesen war — manches furchterregend, manches Liebe und manches Zorn weckend. Und manches, was sie sich bis jetzt nicht einmal selbst hätte eingestehen können. Zum ersten Mal seit dem Untergang von Relais empfand sie echte Hoffnung. Vielleicht eine dumme körperliche Reaktion — vielleicht auch nicht. Hier hatte sie einen Mann in den Armen, der es mit jedem Abenteurer aus Romanen aufnehmen konnte, und mehr noch: jemand, der Teil einer MACHT gewesen war.
»Pham… was, meinst du, ist wirklich bei Relais passiert? Warum ist der ALTE umgebracht worden?«
Phams Kichern schien ungezwungen, doch seine Arme verkrampften sich um sie. »Das fragst du mich? Ich bin damals gerade gestorben, entsinn dich… Nein, falsch. Der ALTE, Er ist damals gestorben.« Eine Minute lang schwieg er. Die Brücke drehte sich langsam um sie, lautlose Bilder von den Sternen außerhalb. »Mein Gott-Ich litt Schmerzen, ich weiß das. Er war verzweifelt, in Panik… Aber Er versuchte auch, etwas mit mir zu machen, ehe Er starb.« Seine Stimme wurde leise, Verwunderung klang darin. »Ja. Ich war wie ein billiges Gepäckstück, und Er stopfte jedes bisschen Kram in mich hinein, das er übertragen konnte. Du weißt, zehn Kilo in einen Neun-Kilo-Sack. Er wusste, dass es mir weh tat — immerhin war ich ein Teil von Ihm —, aber das spielte keine Rolle.« Er drehte sich von ihr zurück, und in sein Gesicht trat wieder ein Schimmer von Wildheit. »Ich bin kein Sadist, ich glaube auch nicht, dass Er einer war. Ich…«
Ravna schüttelte den Kopf. »Ich… ich glaube, er hat sich übertragen.«
Einen Moment lang schwieg Pham und versuchte, den Gedanken in seine Lage einzuordnen. »Das ergibt keinen Sinn. In mir ist kein Platz für einen Übermenschen.« Die Furcht jagte die Hoffnung in engen Kreisen herum.
»Nein, nein, warte. Du hast Recht. Selbst wenn sich die sterbende MACHT ausrechnet, dass eine Reinkarnation möglich sei, ist in einem normalen Gehirn nicht genug Platz, um viel unterzubringen. Aber der ALTE hat etwas anderes versucht… Erinnerst du dich, wie ich ihn angebettelt habe, uns bei unserer Reise zum Grund zu helfen?«
»Ja. Ich — Er — hatte Mitgefühl, etwa so wie du mit einem Tier, das sich einem neuen Raubtier gegenübersieht. Er hat nie erwogen, dass die PERVERSION eine Gefahr für ihn sein könnte, nicht bevor…«
»Richtig. Nicht bevor er angegriffen wurde. Das war eine völlige Überraschung für die MÄCHTE; auf einmal war die PERVERSION mehr als nur ein merkwürdiges Problem für die Unterwesen. Dann erst hat der ALTE wirklich versucht zu helfen. Er hat Pläne und Automatismen in dich hineingestopft, so viel, dass du nichts davon verstehst. Ich habe von derlei Dingen in Angewandter Theologie gehört, sowohl Legenden als auch Tatsachen. ›Gottsplitter‹ wird es genannt.«
»Gottsplitter?« Er schien verwundert mit dem Wort zu spielen. »Was für ein seltsamer Name. Ich erinnere mich an Seine Panik. Aber wenn er getan hat, was du meinst, warum hat er es mir nicht einfach gesagt? Und wenn ich voller guter Ratschläge stecke, wieso sehe ich dann in mir nichts außer« — sein Blick ähnelte ein wenig dem der letzten Tage — »Dunkelheit… dunkle Statuen mit scharfen Rändern, dichtgedrängt.«
Wieder langes Schweigen. Doch nun spürte sie fast, wie Pham dachte. Seine Arme verkrampften sich, und ab und zu lief ein Schauer durch seinen Körper. »Ja… ja. Es passt eine Menge. Das meiste davon verstehe ich noch nicht, werde es nie verstehen. Der ALTE hat dort ganz am Ende etwas entdeckt.« Er zog sie wieder fest an sich und barg das Gesicht an ihrem Hals. »Es war eine sehr… persönliche… Art von Mord, den die PERVERSION an ihm beging. Sogar im Sterben lernte der ALTE.« Wieder Schweigen. »Die PERVERSION ist etwas sehr Altes, Ravna. Wahrscheinlich Jahrmilliarden alt. Eine Gefahr, über die der ALTE nur theoretische Spekulationen anstellen konnte, bis sie ihn umbrachte. Aber…«
Eine Minute. Zwei. Doch Pham fuhr nicht fort. »Mach dir keine Sorgen, Pham. Lass es sich entwickeln.«
»Ja…« Er wich weit genug zurück, um ihr geradewegs ins Gesicht schauen zu können. »Aber so viel weiß ich: Der ALTE hatte einen Grund, das zu tun. Wir jagen doch keinem Luftschloss hinterher. Da ist etwas am Grunde, in dem Schiff der Straumer, wovon der ALTE geglaubt hat, es könnte etwas ändern.«
Er fuhr mit der Hand sanft über ihr Gesicht, und sein Lächeln war traurig, wo Freude hätte sein sollen. »Aber siehst du nicht, Ravna? Wenn du Recht hast, bin ich heute vielleicht so menschlich wie nie wieder. Ich bin voll von den Programmen des ALTEN, diesen Gottsplittern. Das meiste davon werde ich niemals bewusst verstehen, aber wenn alles klappt, wird es irgendwann hervorbrechen. Sein ferngesteuerter Apparat, Sein Roboter am Grunde des Jenseits.«
Nein! Doch sie zwang sich zu einem Achselzucken. »Vielleicht. Aber du bist ein Mensch, und wir dienen denselben Sachen…, und ich lasse dich nicht fort.«
Ravna hatte gewusst, dass es in der Bibliothek ein Thema ›Blitzstart-Technologie‹ geben musste. Es erwies sich als Gegenstand einer soliden Wissenschaftsdisziplin. Außer zehntausend Fallstudien gab es Anwendungsprogramme und eine Menge sehr öde aussehender Theorie. Obwohl das ›Problem der Wiederentdeckung‹ im Jenseits trivial war, hatte sich unten in der Langsamen Zone so ziemlich jede denkbare Kombination von Ereignissen zugetragen. Zivilisationen im Langsam konnten nicht länger als ein paar tausend Jahre überdauern. Ihr Zusammenbruch war manchmal eine kurze Dunkelphase, ein paar Jahrhunderte, in denen sie sich von einem Krieg oder einem Atmosphärenkollaps erholten. Andere sanken ins Mittelalter zurück. Und natürlich löschten die meisten Rassen sich selbst früher oder später aus, zumindest innerhalb ihres einzigen Sonnensystems. Diejenigen, die sich nicht ausrotteten (und sogar ein paar von denen, die es taten), kämpften sich mitunter wieder auf ihr früheres Niveau empor.
Die Erforschung dieser Variationen wurde Angewandte Technikgeschichte genannt. Zum Pech sowohl der Wissenschaftler als auch der Zivilisationen in der Langsamen Zone kamen echte Anwendungen etwas selten vor: Die Ereignisse der Fallstudien waren Jahrhunderte alt, ehe die Nachricht von ihnen das Jenseits erreichte, und wenige Forscher waren bereit, vor Ort in der Langsamen Zone zu arbeiten, wo das Auffinden und Durchführen eines einzigen Experiments den größten Teil ihres Lebens kosten würde. Jedenfalls war es ein nettes Hobby für Millionen von Universitätsbereichen. Eins der Lieblingsspiele bestand darin, Minimalrouten von einem gegebenen Technikstand bis zum höchsten Niveau zu entwerfen, welches im Langsam möglich war. Die Einzelheiten hingen von vielen Dingen ab, einschließlich des ursprünglichen Niveaus an Primitivität, der Menge an verbliebenem wissenschaftlichem Bewusstsein (oder an Toleranz) und der physischen Natur der Rasse. Die Theorien der Wissenschaftler waren in Programme gefasst, deren Eingabe Fakten über die Misere der Zivilisation und die erwünschten Ergebnisse waren, die Ausgabe hingegen die Schritte, die diese Ergebnisse am schnellsten herbeiführen würden.
Zwei Tage später waren sie wieder alle vier auf der Brücke der ADR. Und diesmal reden wir alle. »Wir müssen also festlegen, auf welche Erfindungen wir abzielen wollen, etwas für die Verteidigung des Königreichs der Verborgenen Insel…«
»… und etwas, das ›Herr Stahl‹ in weniger als hundert Tagen herstellen kann«, sagte Blaustiel. Er hatte den größten Teil der beiden letzten Tage damit verbracht, an Entwicklungsprogrammen in der Bibliothek herumzufummeln.
»Ich sage immer noch: Kanonen und Radios«, erklärte Pham.
Feuerkraft und Kommunikation. Ravna grinste ihn an. Die menschlichen Erinnerungen Phams würden allein schon ausreichen, um die Kinder auf der Klauenwelt zu retten. Er hatte nicht mehr von den Plänen des ALTEN gesprochen. Die Pläne des ALTEN… In Ravnas Gedanken war das so etwas wie das Schicksal, vielleicht gut, vielleicht schrecklich, doch vorerst unbekannt. Und sogar das Schicksal kann überlistet werden. »Wie steht es damit, Blaustiel?«, sagte sie. »Ist Funkverbindung etwas, was sie sofort, aus dem Stand herstellen können?« Auf der Nyjora war das Radio fast gleichzeitig mit Orbitalflügen gekommen — ein reichliches Jahrhundert nach Beginn der Renaissance.
»In der Tat, meine Dame Ravna. Es gibt einfache Tricks, die fast niemals bemerkt werden, ehe nicht ein sehr hoher Stand der Technik erreicht ist. Zum Beispiel können Quantentorsions-Antennen aus Anordnungen von Silber und Kobaltstahl gebaut werden, wenn die Geometrie stimmt. Die richtige Geometrie zu finden, erfordert leider eine Menge Theorie und die Fähigkeit, umfangreiche partielle Differentialgleichungen zu lösen. Es gibt in der Langsamen Zone viele, die das Prinzip niemals entdecken.«
»In Ordnung«, sagte Pham. »Aber da ist noch ein Übersetzungsproblem. Jefri hat das Wort ›Kobalt‹ wahrscheinlich schon einmal gehört, aber wie soll man es Leuten erklären, die dafür keinen Begriff haben? Ohne wesentlich mehr über ihre Welt zu wissen, könnten wir nicht einmal beschreiben, wie sie kobalthaltiges Erz finden sollen.«
»Das wird die Sache verzögern«, gab Blaustiel zu. »Aber das Programm rechnet damit. Herr Stahl scheint das Konzept von Experimenten zu verstehen. Was Kobalt betrifft, können wir ihn mit einem Netzwerk von Experimenten versorgen, das auf Beschreibungen von wahrscheinlich geeigneten Erzen und den passenden chemischen Versuchen beruht.«
»Ganz so einfach ist es nicht«, sagte Grünmuschel. »Manche von den Versuchen schließen ihrerseits sich verzweigende Reihen von Suche und Experiment ein. Und es gibt andere Tests, die benötigt werden, um Giftwirkungen festzustellen. Wir wissen viel weniger über die Rudelwesen, als bei dem Programm üblich.«
Pham lächelte. »Ich hoffe, diese Geschöpfe werden es zu danken wissen; ich habe nie etwas von ›Quantentorsions-Antennen‹ gehört. Am Ende werden die Klauenwesen über Kommunikationsausrüstungen verfügen, die die Dschöng Ho niemals hatte.«
Aber das Geschenk konnte gemacht werden. Die Frage war, konnte es rechtzeitig getan werden, um Jefri und das Schiff vor den Holzschnitzern zu retten? Die vier ließen das Programm wieder und wieder durchlaufen. Sie wussten so wenig über die Rudelwesen selbst. Das Königreich der Verborgenen Insel schien halbwegs flexibel zu sein. Falls sie bereit waren, den Anweisungen aufs Wort zu folgen, und falls sie das Glück hatten, in der Nähe Lagerstätten der entscheidenden Materialien zu finden, dann sah es so aus, als könnten sie binnen einhundert Tagen begrenzte Mengen an Feuerwaffen und Radios haben. Andererseits, wenn die Rudel auf der Verborgenen Insel in die ungünstigsten Verzweigungen des Suchbaumes gerieten, dauerte die Sache womöglich ein paar Jahre.
Ravna vermochte sich nur schwer damit abzufinden, dass sie vier tun konnten, was sie wollten, die Rettung Jefris vor den Holzschnitzern würde zum Teil Glückssache sein. Nun ja. Schließlich nahm sie den besten Plan, den sie zustande brachten, übersetzte ihn in Samnorsk und sendete ihn hinab.
Stahl hatte Militärarchitektur immer bewundert. Nun war er dabei, dem Buch ein neues Kapitel hinzuzufügen, indem er eine Burg baute, die vor dem Himmel ebenso wie vor dem Umland schützte. Mittlerweile war das kastenförmige ›Schiff‹ auf Stelzen überall auf dem Kontinent bekannt. Ehe ein weiterer Sommer verging, würden feindliche Armeen hier sein und versuchen, den Gewinn, der ihm zugefallen war, einzunehmen oder wenigstens zu zerstören. Und eine viel tödlichere Gefahr: Die Sternenleute würden hier sein. Er musste sich bereit halten.
Stahl inspizierte die Arbeiten jetzt fast täglich. Überall an der Südseite war der steinerne Ersatz für die Palisade an Ort und Stelle. Auf der Seite des Abhangs, mit dem Blick über die Verborgene Insel, war sein neuer Bau fast fertig… schon seit einiger Zeit fertig, murrte ein Teil von ihm. Er sollte wirklich hierher umziehen, die Sicherheit der Verborgenen Insel wurde immer schneller zur Illusion. Der Schiffsberg war bereits das Zentrum der Bewegung — und das nicht nur in der Propaganda. Was die Flenser-Botschaften im Ausland ›das Orakel vom Schiffsberg‹ nannten, war mehr, als ein gewandter Lügner sich ausdenken konnte. Wer immer diesem Orakel am nächsten stand, würde am Ende herrschen, egal, wie schlau Stahl ansonsten sein mochte. Er hatte bereits etliche Bedienstete versetzt oder hinrichten lassen, Rudel, die ein bisschen zu freundlich zu Amdijefri waren.
Der Schiffsberg: Als die Fremden landeten, waren hier Heidekraut und Felsen gewesen. Den Winter über hatte es eine Palisade und eine hölzerne Schutzhütte gegeben. Inzwischen waren die Bauarbeiten an der Burg in Gang gekommen, an der Krone, deren Juwel das Sternenschiff war. Bald würde dieser Berg die Hauptstadt des Kontinents und der Welt sein. Und danach… Stahl blickte in die blaue Tiefe des Himmels. Um wie viel weiter sich seine Herrschaft erstreckte, würde davon abhängen, dass er genau das Richtige sagte, dass er diese Burg auf ganz besondere Weise baute. Genug geträumt. Fürst Stahl riss sich zusammen und stieg auf frisch behauenen Steinstufen von der neuen Mauer herab. Der Innenhof war fünf Hektar groß, größtenteils Schlamm. Der Schmutz fühlte sich kalt an den Pfoten an, aber Schnee und Matsch waren auf dahinschwindende Fleckchen abseits der Arbeitswege beschränkt. Der Frühling war schon fortgeschritten, und die Sonne stand warm in der kühlen Luft. Er konnte meilenweit sehen, über die Verborgene Insel hin bis zum Ozean und die Küste hinab bis zum Fjordgebiet. Stahl ging die letzten hundert Ellen den Berg zum Sternenschiff hinan. Seine Wachen begleiteten ihn zu beiden Seiten, mit Sreck als Nachhut. Es war genug Platz, dass die Arbeiter nicht zurückweichen mussten — und er hatte befohlen, dass niemand wegen seiner Anwesenheit die Arbeit unterbrechen sollte. Das geschah teils, um den Schwindel mit Amdijefri aufrechtzuerhalten, und teils, weil die Bewegung die Festung schon bald benötigte. Wie bald, war eine schwelende Frage.
Stahl blickte noch in alle Richtungen, aber seine Aufmerksamkeit war da, wo sie jetzt hingehörte, bei den Bauarbeiten. Der Hof war mit aufgeschichteten Steinen und Bauholz vollgestellt. Nun, da der Boden auftaute, wurden die Fundamente für die Innenmauer gegraben. Wo das noch schwer fiel, injizierten Stahls Ingenieure kochendes Wasser. Dampf stieg aus den Löchern auf und verhüllte die Winden und Schachtarbeiter weiter unten. Der Ort war lauter als ein Schlachtfeld: Winden knirschten, Schaufelblätter wurden in den Grund gestoßen, Vorarbeiter riefen ihren Arbeitsteams etwas zu. Er war auch so überfüllt wie beim Nahkampf, wenngleich nicht annähernd so chaotisch.
Stahl beobachtete ein Schachtarbeiter-Rudel am Grunde eines der Gräben. Es waren dreißig Glieder, so dicht beieinander, dass sie sich manchmal mit den Schultern berührten. Es war eine enorme Meute, die aber nichts von einer Orgie an sich hatte. Schon vor Holzschnitzers Zeit hatten Bau- und Manufakturzünfte dergleichen getan: Das dreißiggliedrige Rudel da unten war vermutlich nicht einmal so klug wie ein Dreisam. Die vordere Zehnerreihe schwang im Gleichtakt Kreuzhacken und grub sich so gleichmäßig in die Böschung. Wenn ihre Köpfe und Hacken hoch erhoben waren, schnellten die zehn Glieder dahinter nach vorn, um das Erdreich und die Steine, die eben freigelegt worden waren, nach hinten zu schaufeln. Hinter ihnen warf eine dritte Reihe von Gliedern die Erde aus der Grube. Damit es funktionierte, war eine komplizierte Zeitabstimmung nötig — der Fels und das Erdreich waren nicht homogen —, doch das lag durchaus innerhalb der geistigen Fähigkeiten des Rudels. Sie konnten stundenlang so weitermachen, wobei die erste und die zweite Reihe alle paar Minuten abgelöst wurden. In früheren Jahren hatten die Zünfte das Geheimnis jeder speziellen Verschmelzung eifersüchtig gehütet. Nach der harten Tagesarbeit teilte sich solch ein Team für gewöhnlich in Rudel von normaler Intelligenz auf, die alle mit einem sehr ordentlichen Lohn nach Hause gingen. Stahl lächelte in sich hinein. Holzschnitzer hatte die alten Zunfttricks verbessert, aber Flenser hatte eine wesentliche Neuerung eingeführt (die eigentlich aus den Tropen entlehnt war). Warum das Team am Ende einer Arbeitsschicht zerfallen lassen? Flensers Arbeitsteams blieben auf unbestimmte Zeit zusammen, untergebracht in derart kleinen Kasernen, dass sie ihre einzelnen Rudelpersönlichkeiten nie wiedergewinnen konnten. Es funktionierte gut. Nach ein, zwei Jahren und bei richtiger Auswahl waren die ursprünglichen Rudel in solchen Teams stumpfsinnige Wesen, die sich kaum noch von den anderen lösen wollten.
Einen Augenblick lang beobachtete Stahl, wie der behauene Stein in das neue Loch herabgesenkt und eingemauert wurde. Dann nickte er dem diensthabenden Weißjack zu und ging weiter. Die Löcher für das Fundament liefen hinauf bis an die Mauern rings um das Sternenschiff. Das war die schlaueste Konstruktion von allen, der Teil, der aus der Burg eine wunderschöne Falle machen würde. Noch ein paar Informationen auf dem Weg über Amdijefri, und er würde genau wissen, was er bauen musste.
Die Tür zur Umbauung des Sternenschiffs stand gerade offen, und ein Weißjack saß Rücken an Rücken in der Öffnung. Der Wachposten hörte den Lärm einen Moment früher als Stahl: Zwei von seinen Gliedern traten hervor, um über die Mauerkante zu schauen. Fast unhörbar drangen hohe Schreie heran, dann gellende Angriffsrufe. Das Weißjack sprang von der Treppe herab und rannte um das Gebäude. Stahl und seine Wachen waren dicht hinter ihm.
Schlitternd blieb er vor der Fundamentgrube an der Rückseite des Schiffes stehen. Die unmittelbare Quelle des Lärms war offensichtlich. Drei Rudel Weißjacks zogen den Sprecher eines Teams zur Verantwortung. Sie hatten das sprachbegabte Glied herausgelöst und schlugen es mit Peitschen. Aus solcher Nähe waren die Gedankenschreie fast so laut wie die Rufe. Der Rest des Teams kam aus der Grube, teilte sich in funktionsfähige Rudel und griff die Weißjacks mit den Hacken an. Wie konnte es zu so einem verdammten Zwischenfall kommen? Er konnte es sich denken. Diese inneren Fundamente sollten die geheimsten Tunnels der ganzen Burg enthalten, und noch geheimere Vorrichtungen, die er gegen die Zweibeiner zu verwenden gedachte. Natürlich würden alle, die an derart heiklen Stellen arbeiteten, später beseitigt werden. So dumm sie auch waren, hatten sie vielleicht doch ihr Schicksal erraten.
Unter anderen Umständen hätte sich Stahl zurückziehen und einfach zusehen können. Derlei Fehler konnten lehrreich sein; sie erlaubten ihm, die Schwächen seiner Untergebenen festzustellen — wer zu schlecht (und zu gut) für seine Aufgabe war. Diesmal war es anders. Amdi und Jefri waren an Bord des Sternenschiffs. Durch die Holzwände konnten sie nichts sehen, und sicherlich hielt ein andres Weißjack drinnen Wache, aber… schon als er nach vorn sprang und seinen Dienern Befehle zurief, erblickte Stahls zurückschauendes Glied Jefri, wie er aus dem Hof kam. Zwei von den Welpen trug er auf den Schultern, der Rest von Amdi strömte an ihm vorbei.
»Bleibt weg!«, schrie er ihnen in seinem bruchstückhaften Samnorsk zu. »Gefahr! Bleibt weg!« Amdi hielt inne, doch der Zweibeiner ging weiter. Zwei Rudel Soldaten zerstreuten sich an seinem Weg. Sie hatten strikten Befehl, das Fremde niemals zu berühren. Noch eine Sekunde, und die sorgfältige Arbeit eines Jahres wäre vernichtet. Noch eine Sekunde, und Stahl könnte die Welt verlieren — alles nur wegen Dummheit und Pech.
Doch noch während seine hinteren Glieder auf den Zweibeiner einschrien, sprangen die vorderen auf einen Steinhaufen. Er zeigte auf die Teams, die aus der Grube kamen. »Tötet die Eindringlinge!«
Seine Leibwache umringte ihn von allen Seiten, während Sreck und etliche Soldaten vorbeirannten. Stahls Bewusstsein versank in dem blutigen Lärm. Das war nicht das kontrollierte Chaos der Experimente unter der Verborgenen Insel. Es war Tod aufs Geratewohl, der in alle Richtungen flog: Pfeile, Speere, Hacken. Glieder des Grabteams rannten fuchtelnd und schreiend umher. Sie hatten nicht die Spur einer Chance, aber sie töteten etliche von den anderen, ehe sie starben.
Stahl wich vor dem Durcheinander zurück, zu Jefri hin. Der Zweibeiner rannte immer noch auf ihn zu. Amdi folgte und rief etwas in Samnorsk. Ein einziges vernunftloses Teamglied, ein einziger verirrter Pfeil, und der Zweibeiner würde sterben, und alles wäre verloren. Nie in seinem Leben hatte Stahl so panisch um das Leben eines anderen gefürchtet. Er rannte auf den Menschen zu, umringte ihn. Der Zweibeiner fiel auf die Knie und fasste Stahl an einem Hals. Nur ein ganzes Leben voll Disziplin hielt Stahl davon ab, mit einer Klinge zurückzuhauen: der Fremde griff nicht an, er klammerte sich an ihn.
Das Grabteam war jetzt fast komplett tot, und Sreck hatte die überlebenden Glieder zu weit abgedrängt, als dass sie gefährlich werden konnten. Stahls Wachen umringten ihn in sicherem Abstand von nur fünf oder zehn Ellen. Amdi stand ganz zusammengedrängt da, unter dem Gedankenlärm geduckt, rief aber immer Jefri etwas zu. Stahl versuchte, sich von dem Menschen zu lösen, aber Jefri griff einfach immer wieder nach einem Hals, manchmal nach zweien gleichzeitig. Er stieß blubbernde Geräusche aus, die nicht nach Samnorsk klangen. Stahl erzitterte unter der Anspannung. Zeig nicht deinen Abscheu. Der Mensch würde ihn nicht erkennen, aber vielleicht Amdi. Jefri hatte das schon früher getan, und Stahl hatte daraus Nutzen gezogen, obgleich es ihn Überwindung kostete. Das Pfahlkind brauchte Körperkontakt, das war die Grundlage der Beziehung zwischen Amdi und Jefri. Wenn er diesem Wesen erlaubte, ihn zu berühren, musste das zu ähnlich großem Vertrauen führen. Stahl ließ einen Kopf mit Hals über den Rücken des Geschöpfs gleiten, wie er es Eltern mit Welpen in den unterirdischen Labors hatte tun sehen. Jefri umklammerte ihn fester und strich mit seinen langen ausgeprägten Pfoten über Stahls Fell. Abgesehen von dem Widerwillen, war es eine sehr seltsame Erfahrung. Normalerweise kam derart enger Kontakt mit einem anderen Wesen nur im Kampf oder beim Sex vor — und in beiden Fällen war nicht viel Platz für vernünftiges Denken. Aber bei diesem Menschen — gewiss, das Geschöpf reagierte mit offensichtlicher Intelligenz, aber es gab keine Spur von Denkgeräuschen. Man konnte zugleich denken und fühlen. Stahl biss sich auf eine Lippe, um sein Zittern zu unterdrücken. Es war…, es war wie Sex mit einem Leichnam.
Schließlich trat Jefri zurück und hielt die Hand hoch. Er sagte etwas sehr schnell, und Amdi sagte: »O Fürst Stahl, Ihr seid verletzt. Seht das Blut.« Es war etwas Rotes an den Pfoten des Menschen; Stahl schaute sich selbst an. Gewiss, ein Rumpf hatte einen Kratzer abbekommen. Er hatte es bei all der Aufregung überhaupt nicht bemerkt. Stahl wich von dem Pfahlwesen zurück und sagte zu Amdi: »Es ist nichts. Sind Jefri und du unverletzt?«
Es gab einen rasselnden Wortwechsel zwischen den Kindern, fast unverständlich für Stahl. »Uns geht es gut. Danke, dass Ihr uns beschützt habt.«
Schnelles Denken gehörte zu den Dingen, die Flenser mit seinen Messern in Stahl eingegraben hatte: »Ja. Aber es hätte niemals geschehen dürfen. Die Holzschnitzer haben sich als Arbeiter verkleidet. Ich denke, sie sind seit Tagen dabei gewesen und haben auf eine Gelegenheit gewartet, euch anzugreifen. Als wir den Schwindel entdeckten, wäre es beinahe zu spät gewesen… Ihr hättet wirklich drin bleiben sollen, als ihr den Kampf hörtet.«
Amdi ließ beschämt die Köpfe hängen und übersetzte für Jefri. »Es tut uns Leid. Wir waren aufgeregt, und d-dann dachten wir, Ihr könntet verletzt werden.«
Stahl machte tröstende Laute. Gleichzeitig schauten sich zwei von ihm die Folgen des Gemetzels an. Wo war das Weißjack, das gleich zu Beginn seinen Posten auf der Treppe verlassen hatte? Dieses Rudel würde büßen… Sein Gedankenfluss kam abrupt zum Stehen, als er es bemerkte: Tyrathect. Das Flenser-Fragment beobachtete ihn vom Versammlungssaal aus. Jetzt, da er daran dachte — das Fragment hatte zugeschaut, kaum dass der Kampf begonnen hatte. Anderen mochte seine Haltung gleichgültig erscheinen, doch Stahl konnte die grimmige Belustigung darin erkennen. Er nickte dem anderen kurz zu, doch innerlich krampfte sich Stahl zusammen: Er war so nahe dran gewesen, alles zu verlieren — und der Flenser hatte es bemerkt.
»Gut, lasst uns zusehen, dass ihr beide wieder zur Verborgenen Insel kommt.« Er gab den Betreuern ein Zeichen, die hinter dem Sternenschiff hervorgekommen waren.
»Noch nicht, Fürst Stahl!«, sagte Amdi. »Wir sind eben erst angekommen. Von Ravna müsste sehr bald eine Antwort eintreffen.«
Zähne knirschten, doch so, dass die Kinder es nicht sahen. »Ja, bleibt bitte. Aber wir werden jetzt alle vorsichtiger sein, ja?«
»Ja, ja!« Amdi erklärte es dem Menschen. Stahl stand da, Vorderpfoten auf den Schultern, und tätschelte Jefri den Kopf.
Stahl ließ Sreck die Kinder zurück in die Holzummantelung des Schiffes bringen. Bis sie außer Sicht waren, schauten ihnen alle seine Glieder mit dem Ausdruck von Stolz und Zuneigung nach. Dann wandte er sich um und ging über den rötlichen Schlamm. Wo war dieses dumme Weißjack?
Der Versammlungssaal auf dem Schiffsberg war klein und provisorisch. Er war gut genug gewesen, um während des Winters die Kälte fernzuhalten, aber für eine Besprechung von mehr als drei Leuten war er das reinste Irrenhaus. Stahl schritt an dem Flenser-Fragment vorbei und sammelte sich auf der Empore, wo er den besten Blick auf die Bauarbeiten hatte. Nach einer kurzen Höflichkeitspause trat Tyrathect ein und stieg auf die gegenüberliegende Empore.
Aber das ganze Zeremoniell war für das niedere Volk draußen bestimmt; nun zischte Flensers leises Lachen durch die Luft zu ihm herüber, gerade laut genug, dass er es hören konnte. »Lieber Stahl. Manchmal frage ich mich, ob du wirklich mein Schüler bist…, oder vielleicht ein Wechselbalg, der mir nach meiner Abreise untergeschoben worden ist. Versuchst du tatsächlich, uns zu erledigen?«
Stahl starrte zurück. Er war sich sicher, dass seine Haltung keine Unbehaglichkeit erkennen ließ; das alles hielt er innen verborgen. »Unfälle kommen vor. Der Schuldige wird zerlegt.«
»Gewiss. Aber das scheint deine Antwort auf alle Probleme zu sein. Wenn du nicht so scharf darauf gewesen wärst, die Grabteams zum Schweigen zu bringen, hätten sie vielleicht nicht gemeutert — und du hättest einen ›Unfall‹ weniger gehabt.«
»Der Schwachpunkt war, dass sie es erraten haben. Solche Hinrichtungen sind ein notwendiger Teil militärischer Bauarbeiten.«
»Oh? Du glaubst wirklich, ich musste alle umbringen lassen, die die Säle unter der Verborgenen Insel gebaut haben?«
»Was? Du meinst, du hast es nicht getan? Wie…?«
Das Flenser-Fragment lächelte sein altes, die Reißzähne bleckendes Lächeln. »Denk drüber nach, Stahl. Zur Übung.«
Stahl ordnete die Notizen auf dem Pult und tat so, als studierte er sie. Dann schauten alle von ihm das andere Rudel an. »Tyrathect. Ich achte dich um des Flensers willen, der in dir steckt. Aber denk daran: Dein Leben hängt von meinem guten Willen ab. Du bist nicht der Flenser im Wartestand.« Die Nachricht war letzten Herbst gekommen, kurz ehe der Winter den letzten Pass über die Eisfänge schloss: Die Rudel, die den Rest des Meisters enthielten, waren nicht aus der Parlaments-Senke entkommen. Flensers Ganzheit war für immer dahin. Das war eine unbeschreibliche Erleichterung für Stahl gewesen, und danach war das Fragment eine Zeit lang ziemlich lenkbar gewesen. »Keiner von meinen Leutnants würde mit der Wimper zucken, wenn ich alle von dir tötete — sogar die Glieder Flensers.« Und ich werde es tun, wenn du mich genug unter Druck setzt, das schwöre ich.
»Natürlich, lieber Stahl. Du befiehlst.«
Für einen Augenblick schimmerte die Angst des anderen durch. Denk dran, dachte Stahl bei sich, denk immer dran: Das ist nur ein Fragment des Meisters. Das meiste davon ist eine kleine Schullehrerin, nicht Der Große Meister Mit Dem Messer. Gewiss, die beiden Flenser-Glieder dominierten das Rudel völlig. Der Geist des Meisters war hier im Raum, aber besänftigt. Tyrathect konnte gelenkt und die Kraft des Meisters für Stahls Zwecke benutzt werden.
»Gut«, sagte Stahl glatt. »Solange dir das klar ist, kannst du von großem Nutzen für die Bewegung sein. Insbesondere« — er blätterte in den Papieren — »möchte ich mit dir die Situation mit den Besuchern überdenken.« Ich brauche Rat.
»Ja.«
»Wir haben ›Ravna‹ davon überzeugt, dass sich ihr lieber Jefri in akuter Gefahr befindet. Amdijefri hat ihr von allen Angriffen Holzschnitzerins erzählt, und wie sehr wir einen überwältigenden Überfall fürchten.«
»Und das kann wirklich geschehen.«
»Ja. Holzschnitzerin plant wirklich einen Angriff, und sie hat ihre eigene Quelle ›magischer‹ Hilfe. Wir haben etwas weitaus Besseres.« Er tippte auf die Papiere, auf die Ratschläge, die seit dem frühen Winter herabkamen. Er erinnerte sich, wie Amdijefri die ersten Seiten gebracht hatte, Seiten voll Zahlentabellen, Anweisungen und Diagrammen, alle in sauberem, aber kindlichem Stil gezeichnet. Stahl und das Fragment hatten tagelang versucht zu verstehen. Manche von den Bezügen waren klar. Die Rezepte des Besuchers erforderten Silber und Gold in Mengen, die sonst zur Finanzierung eines Krieges ausgereicht hätten. Doch was war jenes ›flüssige Silber‹ ? Tyrathect hatte es erkannt; der Meister hatte so etwas in seinen Labors in der Republik benutzt. Schließlich hatten sie die notwendige Menge beschafft. Doch für viele von den Bestandteilen waren nur die Methoden zu ihrer Herstellung angegeben. Stahl erinnerte sich, wie das Fragment darüber gegrübelt und Pläne gegen die Natur geschmiedet hatte, als sei sie einfach ein weiterer Gegner. In den Rezepten der Mystiker wimmelte es von ›Krakenhorn‹ und ›gefrorenem Mondlicht‹ . Die Anweisungen Ravnas waren manchmal noch sonderbarer. Es gab Anweisungen innerhalb von Anweisungen, lange Abschweifungen zur Erprobung gewöhnlicher Materialien, um herauszufinden, welches wirklich dem größeren Plan gerecht wurde. Bauen, erproben, bauen. Es war wie die eigene Methode des Meisters, nur ohne die Sackgassen.
Manches davon ergab schon früh Sinn. Sie würden die Sprengstoffe und Kanonen haben, die Holzschnitzerin für ihre Geheimwaffe hielt. Doch so vieles war noch unverständlich — und es wurde nie einfacher.
Stahl und das Fragment arbeiteten den ganzen Nachmittag, planten, wie die neuesten Versuche organisiert werden sollten, entschieden, wo nach den neuen Bestandteilen zu suchen sei, die Ravna verlangte.
Tyrathect lehnte sich zurück und stieß einen zischenden Seufzer der Verwunderung aus. »Ebene um Ebene aufeinander aufgebaut. Und bald werden wir unsere eigenen Radios besitzen. Der alten Holzschnitzerin wird keine Chance bleiben. Du hast Recht, Stahl. Damit kannst du die Welt beherrschen. Stell dir vor, du erfährst augenblicklich, was in der Hauptstadt der Republik vor sich geht, und kannst nach diesem Wissen Armeen koordinieren. Die Bewegung wird der Verstand Gottes sein.« Das war eine alte Parole, und nun konnte sie wahr werden. »Ich entbiete dir meinen Respekt, Stahl. Du hast einen Griff, der der Bewegung würdig ist.« Lag die Verachtung des Lehrers in seinem Lächeln? »Radio und Kanonen können uns die Welt verschaffen. Aber offensichtlich sind das nur Krumen vom Tisch der Besucher. Wann werden sie eintreffen?«
»In hundert bis hundertzwanzig Tagen, Ravna hat ihre Schätzung abermals berichtigt. Anscheinend haben sogar die Zweibeiner ihre Probleme bei Flügen zwischen den Sternen.«
»Solange bleibt uns also noch, um den Triumph der Bewegung zu genießen. Und dann sind wir nichts, weniger als Wilde. Es wäre vielleicht sicherer gewesen, auf die Gaben zu verzichten und die Besucher zu überzeugen, dass es hier nichts zu retten gibt.«
Stahl schaute durch die Fensterschlitze hinaus, die waagerecht zwischen die Wandbalken eingelassen waren. Er konnte einen Teil der Umbauung des Sternenschiffs und die Burgfundamente sehen, und dahinter die Inseln des Fjordlandes. Plötzlich war er zuversichtlicher, ruhiger als seit langem. Es erschien ihm richtig, seinen Traum zu offenbaren. »Siehst du es wirklich nicht, Tyrathect? Ich frage mich, ob der ganze Meister es verstehen würde, oder ob ich auch ihn übertroffen habe. Anfangs blieb uns keine Wahl. Das Sternenschiff sendete automatisch irgendein Signal an Ravna. Wir hätten es zerstören können, vielleicht hätte Ravna das Interesse verloren… Vielleicht auch nicht, und dann hätten sie uns gegriffen wie einen Fisch mit dem Kescher. Vielleicht bin ich das größere Risiko eingegangen, aber wenn ich gewinne, werde ich mehr erhalten, als du ahnst.« Das Fragment beobachtete ihn mit emporgereckten Köpfen. »Ich habe diese Menschen studiert, Jefri und — durch meine Spione — den anderen unten in Holzschnitzerheim. Ihre Rasse mag älter als unsere sein, und die Tricks, die sie erlernt haben, lassen sie allmächtig erscheinen. Aber die Rasse ist geschwächt. Als Solos arbeiten sie mit Behinderungen, die wir uns kaum vorzustellen vermögen. Wenn ich diese Schwächen ausnutzen kann…
Du weißt, dass sich das normale Rudel um seine Welpen sorgt. Wir haben die elterlichen Gefühle oft genug manipuliert. Stell dir vor, wie es für die Menschen sein muss. Für sie ist ein einzelner Welpe zugleich ein ganzes Kind. Denke an die Druckmittel, die uns das in die Hand gibt.«
»Du willst allen Ernstes alles darauf setzen? Ravna ist nicht einmal Jefris Elter.«
Stahl machte eine unwillige Geste. »Du hast nicht alle von Amdis Übersetzungen gesehen.« Der unschuldige Amdi, der perfekte Spion. »Aber du hast Recht, das eine Kind zu retten, ist nicht der Hauptgrund für den Besuch. Ich habe versucht, ihr wirkliches Motiv herauszufinden. Es gibt hunderteinundfünfzig Kinder in einer Art tödlicher Erstarrung, alle in Särgen innerhalb des Schiffs aufgestapelt. Die Besucher sind verzweifelt daran interessiert, die Kinder zu retten, aber es gibt noch etwas, das sie haben wollen. Sie reden niemals direkt darüber… Ich glaube, es ist in der Maschinerie des Schiffes selbst.«
»Soviel wir wissen, sind die Kinder eine Zuchteinheit, Teil einer Invasion.«
Das war eine alte Befürchtung, doch nachdem er Amdijefri beobachtet hatte, hielt Stahl es für ausgeschlossen. Es mochte andere Fallen geben, aber: »Wenn uns die Besucher belügen, dann können wir wirklich kaum etwas tun, um zu gewinnen. Wir werden gejagte Tiere sein; vielleicht werden wir Generationen später ihre Tricks erlernen können, aber für uns wäre es das Ende. Andererseits haben wir gute Gründe zu der Annahme, dass die Zweibeiner schwach sind, und was immer ihre Ziele sein mögen, sie betreffen uns nicht direkt. Du warst am Tage der Landung dabei, viel näher als ich. Du hast gesehen, wie leicht es war, sie aus dem Hinterhalt zu überfallen, obwohl ihr Schiff uneinnehmbar und ihre einzige Waffe einer kleinen Armee gewachsen ist. Offensichtlich betrachten sie uns nicht als Gefahr. Wie mächtig ihre Werkzeuge auch sein mögen, was sie wirklich fürchten, liegt woanders. Und in diesem Sternenschiff haben wir etwas, das sie brauchen.
Sieh dir die Fundamente unserer neuen Burg an, Tyrathect. Ich habe Amdijefri gesagt, dass sie das Sternenschiff gegen Holzschnitzerin verteidigen soll. Das wird sie tun — später im Sommer, wenn ich Holzschnitzerin vor den Wällen zerschmettere. Aber betrachte die Fundamente der Schutzmauer rund um das Sternenschiff. Bis unsere Besucher eintreffen, wird sich über dem Schiff ein Gewölbe erheben. Ich habe ein paar unauffällige Versuche mit seiner Rumpfhülle angestellt. Sie kann durchschlagen werden; ein paar Dutzend Tonnen Gestein, die darauffallen, können sie hübsch zertrümmern. Aber Ravna braucht sich keine Sorgen zu machen, das dient alles dem Schutze ihres Gewinns. Und es wird einen offenen Hof in der Nähe geben, von besonders hohen Mauern umgeben. Ich habe Jefri gebeten, sich dafür von Ravna Hilfe zu holen. Der Hof wird gerade groß genug sein, um Ravnas Schiff zu umschließen und es ebenfalls zu schützen.
Es sind noch viele Einzelheiten zu klären. Wir müssen die Werkzeuge herstellen, die Ravna beschrieben hat. Wir müssen die Ausschaltung Holzschnitzerins arrangieren, und das, ehe die Besucher eintreffen. Ich brauche deine Hilfe bei alledem und rechne mit ihr. Letzten Endes, wenn die Besucher uns betrügen wollen, werden wir uns so gut wie nur möglich schlagen. Und wenn nicht… nun, du wirst mir wohl zustimmen, dass ich mindestens so weit greife wie mein Lehrer.«
Dieses eine Mal hatte das Flenser-Fragment nichts zu erwidern.
Die Steuerkabine des Schiffs war Jefris und Amdis Lieblingsplatz im ganzen Herrschaftsgebiet Fürst Stahls. Der Aufenthalt hier konnte Jefri nach wie vor sehr traurig stimmen, doch nun schienen die guten Erinnerungen stärker zu sein…, und hier gab es die größte Hoffnung für die Zukunft. Amdi war immer noch von den Fensterbildschirmen bezaubert — selbst wenn alle Ansichten nur Holzwände zeigten. Bis zu ihrem zweiten Besuch hatten sie sich schon an den Gedanken gewöhnt, den Ort als ihr privates Reich zu betrachten, wie Jefris Baumhaus daheim auf Straum. Und tatsächlich war die Kabine viel zu klein, um mehr als ein einziges Rudel aufzunehmen. Für gewöhnlich pflegte ein Glied ihres Leibwächters unmittelbar im Eingang zum Hauptraum zu sitzen, doch selbst das schien eine unbequeme Pflicht zu sein. Dies war ein Ort, wo sie wichtig waren.
Bei all ihrer Wildheit waren sich Amdi und Jefri doch des Vertrauens bewusst, das Fürst Stahl und Ravna in sie setzten. Die beiden Kinder mochten draußen vielleicht herumtollen und ihre Wächter zum Wahnsinn treiben, aber die Geräte in dieser Steuerkabine mussten so sorgsam behandelt werden, als ob Mutti und Vati hier wären. In mancher Beziehung war nicht viel im Schiff übrig geblieben. Die Datios waren zerstört, Jefris Eltern hatten sie draußen gehabt, als Holzschnitzerin angriff. Den Winter über hatte Herr Stahl die meisten losen Gegenstände hinausgenommen, um sie zu untersuchen. Die Kälteschlaf-Zellen standen jetzt sicher in kühlen Kammern in der Nähe. Jeden Tag inspizierte Amdijefri die Zellen, betrachtete jedes vertraute Gesicht, überprüfte die Diagnoseanzeigen. Kein Schläfer war seit dem Überfall gestorben.
Was sich noch im Schiff befand, war fest mit der Hülle verbunden. Jefri hatte auf die Kontrolltafeln und Anzeigen hingewiesen, die die Rakete der Containerkapsel steuerten; von diesen hielten sie sich strikt fern.
Herrn Stahls Polsterung verhüllte die Wände. Das Gepäck, die Schlafsäcke und Übungsgeräte von Jefris Gefährten waren verschwunden, aber das Beschleunigungsgespinst und die fest eingebaute Ausrüstung waren noch da. Und über die Monate hinweg hatte Amdijefri Papier und Federhalter und Decken und anderen Kram hereingebracht. Immer wehte von den Lüftern ein leichter Luftzug durch den Raum.
Es war ein glücklicher Ort, sonderbar sorglos trotz all den Erinnerungen, die er weckte. Hier würden sie die Klauenwesen und all die Schläfer retten. Und es war der einzige Ort auf der Welt, wo Amdijefri mit einem anderen menschlichen Wesen sprechen konnte. In mancher Beziehung wirkten die Methoden der Sprechverbindung so mittelalterlich wie Fürst Stahls Burg: Sie hatten einen einzigen flachen Bildschirm — keine Tiefe, keine Farbe, keine Bilder. Alles, was sie ihm abringen konnten, waren Buchstaben und Ziffern. Aber er stand in Verbindung mit der Ultrawelle des Schiffs, und die war immer noch darauf programmiert, sich auf ihre Retter auszurichten. Es war kein Stimmerkennungsmodul an das Terminal angeschlossen; Jefri war fast in Panik verfallen, ehe ihm klar wurde, dass der untere Teil des Bildschirms als Tastenfeld fungierte. Es war eine mühsame Arbeit, jeden Buchstaben von jedem Wort einzutippen — obwohl Amdi ziemlich gut darin war, indem er mit zwei Nasen auf die Tasten drückte. Und mittlerweile konnte er Samnorsk sogar besser als Jefri lesen.
Amdijefri verbrachte viele Nachmittage hier. Wenn ihn eine Botschaft vom Vortag erwartete, brachten sie sie Seite für Seite auf den Schirm, und Amdi schrieb sie ab und übersetzte sie. Danach gaben sie die Fragen und Antworten ein, die Herr Stahl mit ihnen durchgesprochen hatte. Dann mussten sie ziemlich lange warten. Selbst wenn Ravna am anderen Ende aufpasste, konnte es etliche Stunden dauern, ehe sie eine Antwort erhielten. Aber die Verbindung war um so vieles besser als während des Winters, sie konnten fast spüren, wie Ravna näher kam. Die inoffiziellen Gespräche mit ihr waren oft der Höhepunkt des Tages.
Bisher war dieser Tag ziemlich anders verlaufen. Nach dem Angriff der falschen Arbeiter hatte Amdijefri eine halbe Stunde lang gezittert. Herr Stahl war verwundet worden, als er sie zu beschützen versuchte. Vielleicht gab es überhaupt keinen sicheren Ort. Sie machten sich an den Außenschirmen zu schaffen und versuchten, durch Ritzen in den rohen Außenwänden der hölzernen Umbauung zu spähen.
»Wenn wir hätten hinausschauen können, hätten wir Herrn Stahl warnen können«, sagte Jefri.
»Wir sollten ihn bitten, ein paar Löcher in die Wände zu machen. Wir könnten eine Art Wachtposten sein.«
Sie wendeten den Einfall ein bisschen hin und her. Dann begann die jüngste Nachricht vom Rettungsschiff einzutreffen. Jefri sprang in das Gespinst beim Bildschirm. Hier hatte Vati immer gesessen, und es war eine Menge Platz dort. Zwei von Amdi schlüpften zu ihm. Ein anderes Glied sprang auf die Armlehne und stützte sich mit den Pfoten auf Jefris Schultern. Sein schlanker Hals reckte sich zum Schirm hin, um gut sehen zu können. Der Rest quirlte durcheinander, um Papier und Federhalter bereitzulegen. Es war einfach, die Botschaften später wieder abzuspielen, aber Amdijefri fand es spannend, sie ›live‹ eintreffen zu sehen.
Zuerst kam der übliche Vorspann — das war nicht so interessant, wenn man es ungefähr zum tausendsten Mal sah —, dann Ravnas eigentliche Worte. Nur dass es diesmal bloß Daten waren, etwas, das zum Entwurf des Radios gehörte.
»Mist. Es sind Zahlen«, sagte Jefri.
»Zahlen!«, sagte Amdi. Er ließ ein freies Glied auf den Schoß des Jungen klettern. Es streckte die Nase dicht an den Schirm und überprüfte, was das Glied an Jefris Schulter sah. Die vier auf dem Fußboden waren fleißig am Schreiben, sie übersetzten die Dezimalzahlen auf dem Bildschirm in die Xe und Os und Is und Deltas im Vierersystem der Klauenwesen. Fast von Anfang an hatte Jefri erkannt, dass Amdi wirklich gut in Mathe war. Jefri war nicht neidisch. Amdi sagte, dass auch kaum eins von den Klauenwesen so gut war, Amdi war ein ganz besonderes Rudel. Dennoch… Jefri seufzte und lehnte sich ins Gespinst zurück. Dieser Zahlenkram kam jetzt immer öfter. Mutti hatte ihm einmal eine Geschichte vorgelesen: »In der Langsamen Zone verschollen«, wie schiffbrüchige Forscher einer verlorenen Kolonie die Zivilisation gebracht hatten. Da hatten die Helden sich einfach an die richtigen Dinge erinnert und gebaut, was sie brauchten. Von Genauigkeit oder Verhältnissen oder Entwürfen war nicht die Rede gewesen.
Er schaute vom Bildschirm weg und streichelte die beiden von Amdi, die neben ihm saßen. Einer von ihnen zappelte unter seiner Hand. Ihre ganzen Körper gaben ein Summen zurück. Ihre Augen waren geschlossen. Wenn Jefri es nicht besser gewusst hätte, so hätte er geglaubt, dass sie schliefen. Das waren die Teile von Amdi, die aufs Sprechen spezialisiert waren.
»Irgendwas Interessantes?«, fragte Jefri nach einer Weile. Der links von ihm öffnete die Augen und schaute ihn an.
»Das ist die Idee von der Bandbreite, von der Ravna gesprochen hat. Wenn wir es nicht genau richtig machen, kriegen wir nur Klick und Klack.«
»O ja.« Jefri wusste, dass die Wiedererfindung des Radios anfangs kaum zu mehr als für Morsezeichen taugte. Ravna schien zu glauben, dass sie dieses Stadium überspringen könnten. »Was meinst du, wie ist Ravna?«
»Was?« Das Kratzen der Federn übers Papier verstummte für einen Augenblick, obwohl sie darüber schon gesprochen hatten. »Na, so wie du…, nur größer und älter?«
»Ja, schon, aber…« Jefri wusste, dass Ravna von Sjandra Kei stammte. Sie war erwachsen, älter als Johanna und jünger als Mutti. Wie sieht sie genau aus? »Ich meine, sie kommt von so weit her, nur um uns zu retten und um das zu Ende zu bringen, was Mutti und Vati tun wollten. Sie muss wirklich großartig sein.«
Das Kratzen hörte wieder auf, und die Anzeige auf dem Schirm rollte zwecklos weiter. Sie würden es noch einmal abspielen müssen. »Ja«, sagte Amdi nach einem Augenblick. »Sie… sie muss Herrn Stahl sehr ähnlich sein. Es wird schön sein, jemandem zu begegnen, an den ich mich kuscheln kann, so wie du an Herrn Stahl.«
Jefri war ein bisschen gekränkt. »Aber du kannst doch mit mir kuscheln!«
Die Teile von Amdi neben ihm schnurrten laut. »Ich weiß. Aber ich meine jemanden, der erwachsen ist…, wie ein Elter.«
»Hm.«
Sie übersetzten die Tabellen und überprüften das Ergebnis in ungefähr einer Stunde. Dann war es an der Zeit, die neuesten Fragen von Herrn Stahl hinaufzusenden. Es waren etwa vier Seiten, alle fein säuberlich von Amdi in Samnorsk geschrieben. Für gewöhnlich übernahm er auch das Eintippen gern, dabei ganz vor Tastenfeld und Bildschirm aufgetürmt. Heute war er daran nicht interessiert. Er lag ganz über Jefri ausgestreckt, bemühte sich aber nicht sonderlich, die Eingaben zu überprüfen. Immer wieder fühlte Jefri ein Sirren in der Brust, oder die Halterung des Bildschirms gab einen seltsamen Laut von sich — alles eine Resonanz der unhörbaren Töne, die Amdi zwischen seinen Gliedern wechselte. Jefri erkannte die Anzeichen intensiven Denkens.
Er tippte die letzte Nachricht zu Ende und fügte von sich aus ein paar kleine Fragen an. Dinge wie: »Wie alt sind Pham und du? Seid ihr verheiratet? Was sind Skrodfahrer?«
Das Tageslicht war aus den Ritzen in den Wänden verschwunden. Bald würden die Grabteams ihre Hacken schultern und zu den Kasernen jenseits der Bergkuppe marschieren. Jenseits der Meerenge würden die Türme auf der Verborgenen Insel sich im Nebel golden färben, wie im Märchen. Ihre Weißjacks würden Amdi und Jefri nun jede Minute zum Abendessen herausrufen.
Zwei von Amdi sprangen von dem Beschleunigungs-Gespinst herab und begannen einander rund um den Stuhl zu jagen. »Ich habe nachgedacht! Ich habe nachgedacht! Ravnas Radio: Warum ist es nur zum Sprechen? Sie sagte, alle Töne sind nur verschiedene Frequenzen von derselben Sache. Aber Gedanken sind nichts als Töne. Wenn wir ein paar von den Tabellen verändern und Sender und Empfänger so machen könnten, dass sie meine Trommelfelle bedecken, warum sollte ich nicht übers Radio denken können?«
»Ich weiß nicht.« Die Bandbreite war eine vertraute Einschränkung bei vielen alltäglichen Verrichtungen, obwohl Jefri nur eine unbestimmte Vorstellung hatte, worum es sich dabei handelte. Er schaute auf die letzten Tabellen, die noch auf dem Bildschirm standen. Er hatte eine plötzliche Erleuchtung, etwas, das viele Erwachsene in technischen Kulturen niemals erlangen. »Ich benutze diese Dinger andauernd, aber ich weiß nicht genau, wie sie funktionieren. Wir können diesen Anweisungen folgen, aber woher sollen wir wissen, was wir ändern müssen?«
Amdi war jetzt ganz aufgeregt, so, wie wenn er sich einen großen Streich ausdachte. »Nein, nein, nein. Wir brauchen nicht alles zu verstehen.« Weitere drei von ihm sprangen auf den Fußboden, er wedelte mit zufällig ergriffenen Blättern Papier zu Jefri hin. »Ravna weiß nicht genau, wie wir Töne machen. Die Anweisungen schließen die Möglichkeit kleiner Änderungen ein. Ich habe nachgedacht. Ich sehe, wie die Änderungen zusammenhängen.« Er hielt inne und machte ein hohes Quiekgeräusch. »Verdammt. Ich kann es nicht genau erklären. Aber ich denke, wir können die Tabellen erweitern, und das wird die Maschine auf offensichtliche Weise verändern. Und dann…« Amdi war für einen Moment neben ihm, sprachlos. »O Jefri, ich wünschte, du könntest auch ein Rudel sein! Stell dir vor, du bringst jeden von dir auf einen anderen Berggipfel, und dann benutzt du das Radio zum Denken! Wir könnten so groß wie die Welt sein!«
In diesem Augenblick erklang von draußen das Kollern der Zwischenrudel-Sprache, und dann in Samnorsk: »Essenszeit. Wir gehen jetzt, Amdijefri. Gut?« Es war Herr Sreck, er sprach recht ordentlich Samnorsk, wenn auch nicht so gut wie Herr Stahl. Amdijefri sammelte die zerstreuten Seiten auf und steckte sie sorgfältig in Amdis Jackentaschen. Sie schalteten die Anzeigegeräte aus und krochen in den Hauptraum.
»Glaubst du, dass uns Herr Stahl erlauben wird, die Änderungen zu machen?«
»Vielleicht sollten wir sie auch an Ravna zurückschicken.«
Das Glied des Weißjacks zog sich von der Luke zurück, und Amdijefri stieg die Treppe hinab. Eine Minute später waren sie draußen im Licht der sinkenden Sonne. Die beiden Kinder bemerkten es kaum, sie waren beide von Amdis Vision gefesselt.
Für Johanna änderte sich eine Menge in den Wochen nach Yaqueramaphans Tod. Das meiste waren Verbesserungen, zu denen es vielleicht ohne den Mord nie gekommen wäre…, und das machte Johanna sehr traurig.
Sie ließ Holzschnitzerin in ihrer Hütte wohnen und den Platz des Gehilfen einnehmen. Anscheinend hatte Holzschnitzerin das von Anfang an tun wollen, sich aber vor der Wut des Menschen gefürchtet. Nun behielten sie das Datio in der Hütte. Mindestens vier Rudel von Feilonius’ Sicherheitsdienst umringten ständig den Ort, und man sprach davon, Kasernen in der Umgebung zu errichten.
Die anderen sah sie tagsüber auf Versammlungen, und einzeln, wenn sie Hilfe beim Datio brauchten. Scrupilo, Feilonius und Narbenhintern — der ›Pilger‹ — sprachen jetzt alle fließend Samnorsk, mehr als genug, dass sie den Charakter hinter den unmenschlichen Gestalten sehen konnte: Scrupilo, zimperlich und sehr klug. Feilonius, so aufgeblasen, wie Schreiber nur jemals erschienen war, aber ohne dessen Spieltrieb und Phantasie. Pilger Wickwracknarb. Jedesmal, wenn sie sein Großes mit der Narbe sah, lief ihr ein Schauder über den Rücken. Das Glied saß immer hinten, niedergehockt, um nicht bedrohlich auszusehen. Pilger wusste offensichtlich, wie sie den Anblick empfand, und versuchte, sie nicht zu kränken, doch selbst nach Schreibers Tod brachte sie nicht mehr fertig, als dieses Rudel zu tolerieren… Und schließlich konnte es Verräter in der Burg geben. Es war nur eine Theorie von Feilonius, dass der Mord ein Überfall von außen gewesen war. Sie behielt Pilger misstrauisch im Auge.
Wenn es Nacht wurde, scheuchte Holzschnitzerin die anderen Rudel fort. Sie hockte sich rings um die Feuergrube und fragte das Datio Dinge, die keine ersichtliche Beziehung zum Kampf gegen die Flenseristen hatten. Johanna saß bei ihr und versuchte zu erklären, was Holzschnitzerin nicht verstanden hatte. Es war seltsam. Holzschnitzerin war etwas sehr Ähnliches wie die Königin dieser Leute. Sie hatte diese gewaltige (primitive, unbequeme, hässliche, aber doch gewaltige) Burg. Sie hatte Dutzende von Dienern. Dennoch verbrachte sie den größten Teil jeder Nacht in dieser kleinen Holzhütte bei Johanna und kümmerte sich um das Feuer und ums Essen mindestens ebenso wie das Rudel, das vor ihr hier gewesen war.
So kam es, dass Holzschnitzerin Johannas zweite Freundin unter den Klauenwesen wurde. (Schreiber war der erste Freund gewesen, obwohl sie es erst nach seinem Tode erkannt hatte.) Holzschnitzerin war sehr klug und sehr seltsam. In mancher Beziehung war sie die klügste Person, der Johanna jemals begegnet war, obwohl sich diese Schlussfolgerung erst allmählich einstellte. Sie war nicht wirklich überrascht gewesen, als die Klauenwesen Samnorsk schnell erlernten — so war es in den meisten Abenteuergeschichten, und vor allem hatten sie ja die Sprachlernprogramme im Datio. Aber Nacht für Nacht beobachtete Johanna, wie Holzschnitzerin mit dem Datio spielte. Das Rudel interessierte sich nicht für die Militärtaktik und die Chemie, die sie den ganzen Tag über in Beschlag nahmen. Statt dessen las sie über die Langsame Zone und das Jenseits und die Geschichte des Straumli-Bereichs. Sie hatte das diskursive Lesen schneller als alle anderen erlernt. Manchmal saß Johanna einfach da und starrte ihr über die Schultern. Der Bildschirm war in Fenster aufgeteilt, und der Text im Hauptfenster rollte viel schneller, als Johanna folgen konnte. Ein Dutzendmal pro Minute mochte Holzschnitzerin auf Wörter stoßen, die sie nicht kannte. Die meisten waren einfach unbekanntes Samnorsk: Holzschnitzerin tippte mit einer Nase auf das störrische Wort, und in einem Lexikon-Fenster blitzte kurz eine Definition auf. Anderes war eine Frage der Konzepte, und die neuen Fenster führten das Rudel in andere Gebiete, manchmal nur für ein paar Sekunden, manchmal für viele Minuten — und manchmal wurde die Abschweifung zum neuen Hauptpfad. In gewisser Weise war sie all das, was Schreiber so gern gewesen wäre.
Oft hatte sie Fragen, die das Datio nicht wirklich beantworten konnte. Sie und Johanna sprachen dann bis spät in die Nacht miteinander. Wie war die menschliche Familie? Was hatte der Straumli-Bereich im Hochlabor tun wollen? Johanna dachte nicht länger, die meisten Rudel seien Banden von schlangenhalsigen Ratten. Lange nach Mitternacht war der Bildschirm des Datios heller als das graue Licht aus der Feuergrube. Es zeichnete die Rücken Holzschnitzerins in heiteren Farben. Das Rudel hatte sich um sie versammelt und blickte zu ihr auf, fast wie Kinder zu einem Lehrer.
Doch Holzschnitzerin war kein Kind. Beinahe von Anfang an war sie alt erschienen. In diesen Gesprächen spät in der Nacht begann Johanna, auch etwas über die Klauenwesen zu lernen. Das Rudel sagte Dinge, die es tagsüber nie erwähnte. Größtenteils mussten diese Dinge für andere Klauenwesen selbstverständlich sein, obwohl man niemals darüber sprach. Das Menschenmädchen fragte sich, ob Königin Holzschnitzerin jemanden hatte, dem sie sich anvertrauen konnte.
Nur eins von Holzschnitzerins Gliedern war körperlich alt, zwei waren kaum mehr als Welpen. Das Grundmuster des Rudels aber war ein halbes Jahrtausend alt. Und das machte sich bemerkbar. Holzschnitzerins Seele wurde fast nur noch von schierer Willenskraft zusammengehalten. Der Preis der Unsterblichkeit war Inzucht gewesen. Der Grundstock war gesund gewesen, aber nach sechshundert Jahren… Eins von ihren jüngsten Gliedern musste immerfort sabbern, sie hielt ihm ständig ein Tuch ans Maul. Ein anderes hatte milchweise Augen anstelle tiefbrauner. Holzschnitzerin sagte, es sei stockblind, aber gesund und ihr bester Sprecher. Ihr ältestes Glied war sichtlich hinfällig, es schnappte immerzu nach Luft. Leider, sagte Holzschnitzerin, war es das aufgeweckteste und schöpferischste von allen. Wenn es starb…
Nachdem sie erst einmal danach suchte, konnte Johanna die Schwäche in der ganzen Holzschnitzerin sehen. Selbst die beiden gesündesten Glieder, kräftig und mit üppigem Fell, gingen ein wenig seltsam, verglichen mit normalen Rudelgliedern. Lag das an Deformationen des Rückens? Die beiden wurden auch dicker, was die Sache nicht vereinfachte.
Johanna erfuhr das alles nicht auf einmal. Holzschnitzerin hatte ihr von verschiedenen Angelegenheiten der Klauenwesen erzählt, und allmählich war auch ihre eigene Geschichte zum Vorschein gekommen. Sie schien froh zu sein, sich jemandem anvertrauen zu können, aber Johanna bemerkte ein wenig Selbstmitleid in ihr. Holzschnitzerin hatte diesen Weg gewählt — anscheinend hielten das manche für pervers — und länger als jedes andere Rudel in der überlieferten Geschichte den Wechselfällen der Wahrscheinlichkeit getrotzt. Sie war von Wehmut ergriffen, dass ihr Glück sie endlich doch im Stich ließ.
Die Architektur der Klauenwesen neigte zu Extremen — von grotesker Übergröße oder zu eng für Menschen. Holzschnitzerins Ratskammer lag am oberen Ende der Skala, es war kein gemütlicher Ort. In dem als Senke geformten Raum hätten dreihundert Menschen Platz gefunden, und das bequem. Die unterteilten Galerien, die rings an den oberen Wänden entlangliefen, hätten weitere hundert fassen können.
Johanna war schon früher oft genug hier gewesen, hier wurde die meiste Arbeit mit dem Datio getan. Für gewöhnlich waren sie selbst und Holzschnitzerin anwesend, und wer immer gerade Information benötigte. An diesem Tag war es anders, es ging überhaupt nicht um das Datio: Es war Johannas erste Ratsversammlung. Zwölf Rudel gehörten zum Hohen Rat, und sie waren alle da. Jede Loge enthielt ein Rudel, und drei standen am Boden. Johanna wusste mittlerweile genug über die Klauenwesen, um zu sehen, dass trotz all den leeren Zwischenräumen der Ort schrecklich überfüllt war. In der Luft hingen die Denkgeräusche von fünfzehn Rudeln. Ungeachtet all der gepolsterten Wandbehänge spürte sie ab und zu ein Surren im Kopf oder vom Geländer her in den Händen.
Johanna stand mit Holzschnitzerin auf dem größten Balkon. Als sie anlangten, befand sich Feilonius schon unten im Parterre und ordnete Diagramme. Während sich die Rudel des Rates erhoben, schaute er empor und sagte etwas zu Holzschnitzerin. Die Königin antwortete in Samnorsk: »Ich weiß, dass es den Ablauf verzögern wird, aber vielleicht ist das gut so.« Sie stieß ein menschliches Lachen aus.
Wanderer Wickwracknarb stand in der nächsten Loge, ganz wie ein Ratsrudel. Seltsam. Johanna hatte noch nicht herausgefunden, warum, aber Narbenhintern schien einer von Holzschnitzerins Favoriten zu sein. »Pilger, würdest du für Johanna übersetzen?«
Pilger ließ etliche Köpfe hochschnellen. »Ist… ist das in Ordnung, Johanna?«
Das Mädchen zögerte, dann nickte sie. Es hatte Sinn. Nach Holzschnitzerin sprach Pilger besser Samnorsk als jeder andere von ihnen. Als sich Holzschnitzerin hinsetzte, nahm sie das Datio von Johanna und ließ es aufschnappen. Johanna blickte auf die Zeichen auf dem Schirm. Sie hat sich Notizen gemacht. Sie konnte sich ihrer Überraschung kaum bewusst werden, ehe die Königin wieder sprach — diesmal in den kollernden Lauten der Zwischenrudel-Sprache. Nach einer Sekunde begann Pilger zu übersetzen:
»Setzt euch bitte alle. Hockt euch hin. Diese Versammlung ist auch so schon voll genug.« Johanna hätte fast gelächelt. Pilger Wickwracknarb war ziemlich gut. Er ahmte die menschliche Stimme Holzschnitzerins perfekt nach. Seine Übersetzung vermittelte sogar die trockene Autorität ihrer Rede.
Nach einigem Hin und Her waren nur noch ein, zwei Köpfe über der Brüstung jeder Loge zu sehen. Die meisten Streugedanken müssten jetzt von der Polsterung der Logen aufgefangen oder von den dicken Wandbehängen verschluckt werden, die ringsum an den Wänden hingen. »Feilonius, du kannst fortfahren.«
Im Parterre stand Feilonius auf und blickte in alle Richtungen. Er begann zu sprechen. »Danke«, übersetzte Pilger und imitierte nun den Tonfall des Sicherheitschefs. »Die Holzschnitzerin hat mich wegen der akuten Entwicklungen im Norden gebeten, diese Versammlung einzuberufen. Unsere Quellen dort berichten, dass Stahl das Gebiet um Johannas Sternenschiff befestigt.«
Gekoller Gekoller Unterbrechung. Scrupilo? »Das ist nicht neu. Dafür sind unsere Geschütze und das Schießpulver bestimmt.«
Feilonius: »Ja, wir kennen diese Pläne seit einiger Zeit. Nichtsdestoweniger ist das Datum ihrer Vollendung vorverlegt worden, und in der endgültigen Version werden die Mauern ein gutes Stück dicker sein, als wir es erwartet haben. Außerdem scheint Stahl, wenn die Ummauerung erst einmal komplett ist, das Sternenschiff auseinanderzunehmen und seine Ladung auf seine verschiedenen Laboratorien verteilen zu wollen.«
Für Johanna kamen diese Worte wie ein Tritt in den Magen. Vorher hatte es eine Chance gegeben: Wenn sie hart genug kämpften, würden sie vielleicht das Schiff zurückerobern. Sie könnte die Mission ihrer Eltern vollenden, vielleicht sogar gerettet werden.
Pilger sagte selbst etwas und übersetzte anschließend: »Was also ist die neue Frist?«
»Sie glauben, dass sie die Hauptmauern in knapp zehn Zehntagen fertig haben.«
Holzschnitzerin beugte ein Paar Nasen zur Tastatur herab und tippte eine Notiz ein. Gleichzeitig reckte sie einen Kopf über die Brüstung und schaute zu dem Sicherheitschef hinab. »Ich habe schon früher bemerkt, dass Stahl oft etwas zu optimistisch ist. Verfügst du über eine objektive Schätzung?«
»Ja. Die Mauern werden in acht bis elf Zehntagen fertig sein.«
»Ich hatte mit mindestens fünfzehn gerechnet. Ist das eine Reaktion auf unsere Pläne?«
Im Parterre sammelte sich Feilonius. »Das war unser erster Verdacht, Euer Majestät. Aber… wie Ihr wisst, haben wir eine Anzahl sehr spezieller Informationsquellen… Quellen, über die wir nicht einmal in diesem Kreis reden sollten.«
»Was für ein Angeber. Manchmal frage ich mich, ob er alles weiß. Ich habe nie gesehen, dass er seine eigenen Hintern nach draußen vor Ort bewegt hätte.« Ha? Johanna brauchte eine Sekunde, bis sie begriff, dass Pilger einen Kommentar einstreute. Sie schaute über die Brüstung. Drei von Pilgers Köpfen waren zu sehen, sie blickten in ihre Richtung. Den Ausdruck auf ihnen erkannte sie als törichtes Lächeln. Es schien weiter niemand auf seine Bemerkung zu reagieren, anscheinend konnte er seine Übersetzung auf Johanna allein fokussieren.
Sie starrte ihn an, und nach einem Moment fuhr er wieder mit nüchterner Übersetzung fort: »Stahl weiß, dass wir einen Angriff planen, aber er weiß nichts über unsere besonderen Waffen. Diese Änderung des Zeitplans scheint einem zufälligen Verdacht zu entspringen. Leider gereicht sie uns zum Schaden.«
Drei oder vier Ratsmitglieder begannen gleichzeitig zu sprechen. »Viel lautes Unbehagen«, fasste Pilger zusammen. »Lauter ›Ich habe gewusst, dass es niemals klappen könnte‹ und ›Warum haben wir uns überhaupt auf den Plan eingelassen, die Flenseristen anzugreifen?‹ .«
Unmittelbar rechts von Johanna stieß Holzschnitzerin einen schrillen Pfiff aus. Die gegenseitigen Beschuldigungen verstummten allmählich. »Manche von euch vergessen ihren Mut. Wir haben uns auf den Angriff der Verborgenen Insel geeinigt, weil sie seit langem eine tödliche Bedrohung ist, die wir mit Johannas Kanonen glauben vernichten zu können — und weil sie mit Gewissheit uns vernichten können, wenn Stahl jemals lernt, das Sternenschiff zu gebrauchen.« Eins von Holzschnitzerins Gliedern, das am Boden kauerte, strich über Johannas Knie.
Pilgers fokussierte Stimme kicherte in ihrem Ohr. »Und dann ist da noch die Kleinigkeit, dich heimzubringen und Kontakt mit den Sternen aufzunehmen, aber das kann sie den ›Pragmatikern‹ nicht laut sagen. Falls du es nicht schon erraten hast — das ist einer der Gründe für deine Anwesenheit: die Schwachköpfe daran zu erinnern, dass es mehr Dinge im Himmel gibt, als sie sich jemals haben träumen lassen.«
Er hielt inne und nahm die Übersetzung von Holzschnitzerins Worten wieder auf: »Es war kein Fehler, diesen Feldzug in Angriff zu nehmen: Ihn zu vermeiden, wäre ebenso tödlich wie zu kämpfen und zu verlieren. Also — haben wir eine Chance, eine handlungsfähige Armee rechtzeitig die Küste hinauf zu bringen?« Sie wies mit einer Nase auf eine Loge auf der anderen Seite des Raums. »Scrupilo. Fasse dich bitte kurz.«
»Das Letzte, was Scrupilo kann, ist, sich kurz zu fassen — oh, Verzeihung.« Wieder eine Randbemerkung von Wanderer.
Scrupilo ließ ein paar Köpfe mehr sehen. »Ich habe das schon mit Feilonius durchgesprochen, Euer Majestät. Eine Armee aufzustellen, die Küste hinaufzumarschieren — das alles wäre ohne weiteres in weniger als zehn Zehntagen möglich. Das Problem sind die Geschütze, und vielleicht auch, Rudel den Umgang damit üben zu lassen. Das ist mein besonderer Verantwortungsbereich.«
Holzschnitzerin warf eine abrupte Bemerkung ein.
»Ja, Majestät. Wir haben das Schießpulver. Es ist genauso wirkungsvoll, wie das Datio sagt. Die Kanonenrohre waren bisher ein viel größeres Problem. Bis vor kurzem riss das Metall beim Abkühlen am Verschluss. Ich denke, wir haben das jetzt im Griff. Zumindest habe ich zwei makellose Kanonenrohre. Ich hatte gehofft, sie mehrere Zehntage lang erproben zu können…«
Holzschnitzerin unterbrach ihn: »… aber das können wir uns jetzt nicht mehr leisten.« Alle von ihr standen auf, und sie blickte sich überall im Saal um. »Ich will, dass die Versuche sofort mit ganzer Kraft beginnen. Wenn sie gelingen, werden wir so schnell wie möglich mit der Herstellung von Kanonenrohren beginnen.« Und wenn nicht…
Zwei Tage später…
Das Komischste war, dass Scrupilo von Johanna erwartete, sie würde das Kanonenrohr begutachten, ehe er es abfeuerte. Das Rudel ging aufgeregt um die Lafette herum und erklärte etwas in einem schauderhaften Samnorsk. Johanna folgte ihm mit gerunzelter Stirn. Ein paar Meter abseits, größtenteils hinter einer Böschung verborgen, beobachteten Holzschnitzerin und ihr Rat die Übung. Nun ja, das Ding wirkte ziemlich echt. Sie hatten es auf einem kleinen Wagen angebracht, der unter dem Rückstoß nach hinten in einen Haufen Erde rollen konnte. Das Rohr selbst war im ganzen Stück gegossen, etwa einen Meter lang und mit einem Kaliber von zehn Zentimetern. Schießpulver und die Kugel kamen von vorn hinein. Das Pulver wurde durch ein winziges Zündloch am hinteren Ende zur Explosion gebracht.
Johanna fuhr mit der Hand über das Rohr. Die bleigraue Oberfläche war höckrig, und in dem Metall schienen Schlacketeile eingeschlossen zu sein. Nicht einmal die Wände der Bohrung waren völlig glatt; würde das etwas ausmachen? Scrupilo erklärte gerade, wie er Stroh in den Gussformen verwendet hatte, damit das Metall beim Abkühlen nicht riss. Ah ja. »Du solltest es erst einmal mit kleinen Mengen Schießpulver versuchen«, sagte sie.
Scrupilos Stimme wurde ein bisschen vertraulich, enger fokussiert. »Ganz unter uns, das habe ich getan. Es ging sehr gut. Und nun die Generalprobe.«
Hm. Du bist also keine totale Lusche. Sie lächelte den Nächsten von ihm an, ein Glied, das überhaupt kein Schwarz im Kopffell hatte. Auf eine komische Art erinnerte Scrupilo sie an die Wissenschaftler im Hochlabor.
Scrupilo trat von der Kanone zurück und sagte laut: »Es ist alles richtig, dass ich jetzt anfangen kann?« Zwei von ihm blickten nervös auf die Ratsmitglieder hinter der Böschung.
»Äh… ja… es sieht gut aus.« Kein Wunder, die Konstruktion war unmittelbar von den nyjoranischen Modellen in Johannas Geschichtsdateien kopiert. »Aber sei vorsichtig — wenn es nicht richtig funktioniert, kann es jeden in der Nähe umbringen.«
»Ja, ja.« Nachdem er ihre offizielle Billigung erhalten hatte, kam Scrupilo auf ihre Seite des Geschützes und scheuchte sie hinter die Deckung. Während sie nach hinten zu Holzschnitzerin ging, redete er in der Klauensprache weiter, zweifellos erläuterte er den Versuch.
»Glaubst du, dass es klappen wird?«, fragte Holzschnitzerin sie leise. Sie wirkte noch gebrechlicher als sonst. Man hatte auf dem feuchten Heidekraut hinter der Böschung eine gewebte Matte für sie ausgebreitet. Die meisten von ihr lagen still, die Köpfe zwischen den Pfoten. Das Blinde sah aus, als schliefe es; der junge Sabberer kuschelte sich an es und zuckte nervös. Wie üblich, war Wanderer Wickwracknarb in der Nähe, doch er übersetzte jetzt nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Scrupilo.
Johanna dachte an das Stroh, das Scrupilo in den Gussformen verwendet hatte. Holzschnitzerins Leute versuchten ihr wirklich zu helfen, aber… Sie schüttelte den Kopf. »Ich… Wer weiß.« Sie kniete sich hin und schaute über die Böschung. Das Ganze sah wie eine Zirkusnummer aus einer Geschichtsdatei aus. Da waren die Tiere, die auftraten, da die Kanone. Es gab sogar ein Zirkuszelt: Feilonius hatte darauf bestanden, die Operation vor den Blicken möglicher Spione in den Bergen abzuschirmen. Der Feind sah vielleicht etwas, aber je länger es Stahl an Einzelheiten fehlte, um so besser.
Das Scrupilo-Rudel machte sich bei der Kanone zu schaffen und redete die ganze Zeit. Zwei von ihm hievten ein Pulverfässchen hoch, und er begann, das Zeug ins Rohr zu schütten. Ein Pfropfen von Seidenpapier folgte dem Pulver. Er stopfte ihn fest, dann lud er die Kanonenkugel. Gleichzeitig drehten seine übrigen den Wagen herum, sodass er aus dem Zelt hinaus zeigte.
Sie waren an der Waldseite des Burghofes, zwischen der alten und der neuen Mauer. Johanna konnte ein Stückchen grünen Abhang sehen, dazu tiefhängende Nieselwolken. Etwa hundert Meter entfernt befand sich die alte Mauer. Es war derselbe Mauerzug, wo Schreiber ermordet worden war. Selbst wenn die verdammte Kanone nicht explodierte, hatte niemand eine Ahnung, wie weit der Schuss gehen würde. Johanna hätte gewettet, dass er nicht einmal bis zur Mauer reichen würde.
Scrupilo war jetzt auf dieser Seite der Kanone und versuchte, einen langen Zündstock anzuzünden. Mit einem flauen Gefühl im Magen wusste Johanna, dass das nicht gutgehen konnte. Sie waren allesamt Narren und Amateure, sie selbst ebenso wie die anderen. Und dieser arme Kerl wird gleich für nichts und wieder nichts sterben.
Johanna richtete sich auf. Ich muss es unterbinden. Jemand fasste sie am Gürtel und zog sie hinab. Es war eins von Holzschnitzerins Gliedern, eins von den fetten, die nicht ganz richtig gehen konnten. »Wir müssen es versuchen«, sagte das Rudel leise.
Scrupilo hatte den Stock jetzt angezündet. Plötzlich hörte er auf zu reden. Alle von ihm außer dem mit dem weißen Kopf liefen in die Deckung der Böschung. Einen Moment lang erschien das Johanna als sonderbare Feigheit, und dann begriff sie: Ein Mensch, der mit einem Explosivstoff herumspielte, würde auch versuchen, seinen Körper zu schützen — außer der Hand, die das Streichholz hielt. Scrupilo riskierte eine Verstümmelung, aber nicht den Tod.
Der mit dem weißen Kopf schaute über die niedergetretene Heide zurück zu Scrupilo. Er schien weniger bestürzt zu sein als vielmehr eindringlich zu lauschen. In dieser Entfernung konnte er nicht mehr Teil von Scrupilos Verstand sein, aber das Geschöpf war vermutlich klüger als jeder Hund — und anscheinend erhielt es eine Art Anweisung von den übrigen.
Weißkopf wandte sich um und ging zur Kanone. Den letzten Meter kroch er auf dem Bauch und nutzte das bisschen Deckung, das das Erdreich seitlich hinter der Lafette bot. Er hielt den Stock so, dass die Flamme am Ende sich langsam auf das Zündloch senkte. Johanna duckte sich hinter die Böschung…
Die Explosion war ein scharfer Knall. Holzschnitzerin drängte sich zitternd an sie, und pfeifende Schmerzlaute erklangen ringsum im Zelt. Der arme Scrupilo! Johanna fühlte, wie ihr die Tränen kamen. Ich muss hinschauen, ich bin mitverantwortlich. Langsam stand sie auf und zwang sich, über das Feld zu blicken, wo vor einer Minute die Kanone gestanden hatte… — und immer noch stand! Dichter Rauch quoll aus beiden Enden, aber das Rohr war heil. Mehr noch, Weißkopf schwankte benommen bei dem Wagen, das weiße Fell mit Ruß bedeckt.
Der Rest von Scrupilo rannte zu Weißkopf hinaus. Alle fünf von ihm liefen immer rund um die Kanone und sprangen triumphierend übereinander. Für einen langen Augenblick starrte das übrige Publikum schweigend hin. Die Kanone war ganz. Der Kanonier hatte überlebt. Und fast eine Nebenwirkung — Johanna schaute über die Kanone hinweg den Hang hinauf: In der Krone der alten Mauer war eine meterbreite Bresche, die vorher nicht dagewesen war. Feilonius würde zu tun haben, das vor den Augen des Feindes zu verbergen!
Die dumpfe Stille wich dem lautesten Tumult, den Johanna bisher erlebt hatte. Es gab das übliche Kollern und auch andere Laute — ein Zischen hart an der Hörgrenze. Auf der anderen Seite des Zeltes liefen zwei Klauenwesen, die sie nicht kannte, ineinander: Für einen Moment des vernunftlosen Jubels waren sie ein riesiges Rudel von neun oder zehn Gliedern.
Wir werden das Schiff doch noch zurückbekommen! Johanna wandte sich Holzschnitzerin zu, um sie zu umarmen. Doch die Königin hatte nicht ins allgemeine Geschrei eingestimmt. Sie hatte sich zitternd zusammengedrängt, die Köpfe eng beieinander. »Holzschnitzerin?« Sie streichelte den Hals eines der Fetten, Großen. Es schnellte mit zuckendem Körper weg.
Ein Schlag? Ein Herzanfall? Die Namen des Todes aus alter Zeit kamen ihr in den Sinn. Aber wie würden sie bei einem Rudel wirken? Etwas war schrecklich falsch, und weiter niemand hatte es bemerkt. Johanna sprang auf. »Pilger!«, schrie sie.
Fünf Minuten später hatten sie Holzschnitzerin aus dem Zelt gebracht. Der Ort war immer noch ein Irrenhaus, jetzt aber für Johannas Ohren tödlich still. Sie hatte der Königin auf ihren Wagen geholfen, doch danach wollte niemand sie in die Nähe lassen. Sogar Pilger, der tags zuvor alles so eifrig übersetzt hatte, schob sie beiseite. »Es geht in Ordnung«, war alles, was er sagte, als er ans Vorderende des Wagens lief und die Zügel der zottigen Dingsdas packte. Der Wagen fuhr los, umringt von mehreren Rudeln Wachen. Für einen Augenblick schlug die Fremdartigkeit der Klauenwelt wieder über Johanna zusammen. Das war offensichtlich ein schwerer Notfall. Möglicherweise lag eine Person im Sterben. Leute rannten hin und her. Und dennoch… Die Rudel zogen sich in sich selbst zusammen. Niemand kam den anderen näher. Niemand konnte einen anderen berühren.
Der Augenblick ging vorüber, und Johanna lief aus dem Zelt hinaus, dem Wagen nach. Sie bemühte sich, auf der Heide neben dem schlammigen Weg zu laufen, und holte den Wagen fast ein. Alles war nass und kalt, grau wie das Kanonenmetall. Jedermann hatte sich so sehr auf den Versuch konzentriert — war das vielleicht noch ein Attentat der Flenseristen? Johanna strauchelte, fiel im Schlamm auf die Knie. Der Wagen fuhr um eine Ecke, aufs Steinpflaster. Jetzt war er außer Sicht. Sie stand auf und trabte weiter durch die Nässe, jetzt aber etwas langsamer. Sie konnte nichts tun, nichts tun. Sie hatte sich mit Schreiber angefreundet, und Schreiber war ermordet worden. Sie hatte sich mit Holzschnitzerin angefreundet, und nun…
Sie ging die gepflasterte Gasse zwischen den Lagerhäusern der Burg entlang. Der Wagen war außer Sicht, doch sie hörte weiter vorn sein Klappern. Feilonius’ Sicherheitsrudel liefen in beiden Richtungen an ihr vorbei und hielten kurz in Seitennischen an, um die Entgegenkommenden vorbeizulassen. Niemand antwortete auf ihre Fragen — wahrscheinlich sprach überhaupt niemand von ihnen Samnorsk.
Beinahe hätte sich Johanna verlaufen. Sie konnte den Wagen hören, doch er war irgendwo umgekehrt. Hinter sich hörte sie ihn wieder. Sie brachten Holzschnitzerin ins Johannas Hütte! Sie ging zurück und wenige Minuten später den Weg zu dem einstöckigen Gebäude hinauf, das sie die letzten Wochen mit Holzschnitzerin geteilt hatte. Sie war zu fertig, als dass sie noch rennen konnte. Langsam ging sie den Hang hinan, sich ihres nassen und schmutzigen Zustandes vage bewusst. Der Wagen hatte etwa fünf Meter vor der Tür angehalten. Wachrudel hatten sich über den Hügel verteilt, ihre Armbrüste aber nicht gespannt.
Das nachmittägliche Sonnenlicht fand eine Lücke zwischen den Wolken im Westen und schien für einen Moment auf das feuchte Heidekraut und die glänzenden Holzwände, ließ sie hell vom dunklen Himmel über den Anhöhen abstechen. Es war eine Kombination von Licht und Dunkelheit, die Johanna immer besonders schön gefunden hatte. Bitte lass sie gesund sein.
Die Wachen ließen sie vorbei. Wanderer Wickwracknarb stand am Eingang, und drei von ihm sahen zu, wie sie näher kam. Der vierte, Narbenhintern, hatte seinen langen Hals durch die Türöffnung gesteckt und beobachtete, was immer drinnen geschehen mochte. »Sie wollte wieder hier sein, wenn es geschieht«, sagte er.
»W-was geschieht?«, fragte Johanna.
Pilger machte das Gegenstück eines Achselzuckens. »Es war der Schock der losgehenden Kanone. Aber alles Mögliche hätte dasselbe bewirken können.« Etwas war seltsam an der Art, wie seine Köpfe auf und ab wogten. Erschüttert begriff Johanna, dass das Rudel vergnügt lächelte.
»Ich will sie sehen!« Narbenhintern wich hastig zurück, als sie auf die Tür zu ging.
Drinnen gab es nur das Licht von der Tür und den hohen Fensterschlitzen. Es dauerte eine Sekunde, bis sich Johannas Augen eingewöhnt hatten. Etwas roch… nass. Holzschnitzerin lag im Kreis auf der gefütterten Matratze, die sie allabendlich benutzte. Johanna ging durch den Raum und kniete sich neben das Rudel. Das Rudel wich nervös vor ihrer Berührung zurück. In der Mitte der Matratze war Blut und etwas, das aussah wie ein Haufen Eingeweide. Johanna fühlte den Drang, sich zu übergeben. »Holzschnitzerin?«, sagte sie ganz leise.
Eins von der Königin kam wieder auf Johanna zu und legte die Schnauze in die Hand des Mädchens. »Hallo, Johanna. Es ist… so seltsam…, zu so einer Zeit jemanden bei sich zu haben.«
»Du blutest. Was ist passiert?«
Leises, menschlich klingendes Lachen. »Ich bin verletzt, aber es ist gut… Schau her.« Das Blinde hielt etwas Kleines und Nasses zwischen den Kiefern. Eins von den anderen leckte daran. Was immer es sein mochte, es zappelte, lebte. Und Johanna fiel wieder ein, wie sonderbar plump und unbeholfen Holzschnitzerin geworden war.
»Ein Baby?«
»Ja. Und in ein, zwei Tagen kriege ich noch eins.«
Johanna setzte sich auf die Holzdielen und schlug die Hände vors Gesicht. Gleich würde sie wieder zu weinen anfangen. »Warum hast du mir nichts gesagt?«
Holzschnitzerin schwieg eine Weile. Sie leckte das Kleine ringsum ab, dann setzte sie es an den Bauch des Gliedes, das die Mutter sein musste. Das Neugeborene schmiegte sich an, stukte die Nase in das Fell am Bauch. Es gab keinerlei Laute von sich, die Johanna hören konnte. Schließlich sagte die Königin: »Ich… ich weiß nicht, ob du das verstehen wirst. Das ist sehr schwer für mich gewesen.«
»Kinder zu kriegen?« Johannas Hände waren klebrig vom Blut auf der Matte. Natürlich war es schwer gewesen, aber so muss auf einer Welt wie dieser ja jedes Leben beginnen. Es war ein Schmerz, der des Beistandes von Freunden bedurfte, ein Schmerz, der zur Freude führte.
»Nein. Es ist nicht das Kinderkriegen. Ich habe mehr als hundert geboren, soweit ich zurückdenken kann. Aber diese beiden… sind mein Ende. Wie sollst du das verstehen? Ihr Menschen habt nicht einmal die Wahl, ob ihr weiterleben wollt; eure Nachkommen können niemals ihr selbst sein. Für mich aber bedeutet es das Ende einer Seele, die sechshundert Jahre alt ist. Weißt du, ich habe vor, diese beiden als Teil von mir zu behalten — und zum ersten Mal in all den Jahrhunderten bin ich nicht sowohl Mutter als auch Vater. Eine Neukunft werde ich sein.«
Johanna schaute auf das Blinde und den Sabberer. Sechshundert Jahre Inzucht. Wie lange hätte Holzschnitzerin so weitermachen können, bevor der Verstand selbst verfiel? Nicht sowohl Mutter als auch Vater.
»Aber wer ist dann der Vater?«, platzte sie heraus.
»Was meinst du wohl?« Die Stimme kam von unmittelbar hinter der Tür. Einer von Wanderer Wickwracknarbs Köpfen lugte gerade weit genug um die Ecke, dass ein Auge zu sehen war. »Wenn Holzschnitzerin einen Entschluss fasst, tut sie es gründlich. Sie ist die am sorgsamsten beisammengehaltene Seele aller Zeiten gewesen. Doch nun hat sie Blut — Gene, würde das Datio sagen — von Rudeln aus aller Welt, von einem der bröckligsten Pilger, der je seine Seele in den Wind verstreut hat.«
»Und von einem der klügsten«, sagte Holzschnitzerin mit Ironie und Schwermut zugleich in der Stimme. »Die neue Seele wird mindestens so intelligent wie vorher sein, und wahrscheinlich viel flexibler.«
»Und ich bin selber ein bisschen schwanger«, sagte Pilger. »Aber ich bin überhaupt nicht traurig. Ich bin schon zu lange ein Viersam gewesen. Stell dir vor, Welpen von Holzschnitzerin selbst zu haben! Vielleicht werde ich ganz konservativ und sesshaft.«
»Ha! Nicht einmal zwei von mir reichen aus, um deine Pilgerseele zu bremsen.«
Johanna hörte dem Wortgeplänkel zu. Die Gedanken waren so fremdartig, und dennoch wirkten die Obertöne von Zuneigung und Humor vertraut. Als Johanna gerade erst fünf gewesen war und Mutti und Vati den kleinen Jefri nach Hause gebracht hatten… Johanna konnte sich nicht an die Worte erinnern, nicht einmal an den Inhalt dessen, was sie gesagt hatten — der Ton aber war derselbe wie zwischen Holzschnitzerin und Pilger.
Johanna ließ sich in eine sitzende Haltung zurücksinken, und die Anspannung des Tages löste sich. Scrupilos Artillerie funktionierte wirklich; es bestand eine Chance, das Schiff zu bekommen. Und selbst wenn es misslang — ein klein wenig fühlte sie sich, als sei sie wieder daheim.
»Darf ich… darf ich dein Junges streicheln?«
Die Reise der Aus der Reihe II hatte in einer Katastrophe begonnen, wo ein paar Minuten oder Stunden über Leben und Tod entschieden. In den ersten Wochen hatte es Entsetzen und Einsamkeit und Phams Wiederbelebung gegeben. Die ADR war schnell zur Galaxisebene hin abgestiegen, fort von Relais. Tag für Tag kippte der Sternenwirbel nach oben, ihnen entgegen, bis er ein einziges Lichtband war, die Milchstraße aus der Perspektive der Nyjora und der Alten Erde — und der meisten bewohnbaren Planeten der Galaxis.
Zwanzigtausend Lichtjahre in drei Wochen. Aber da hatte der Weg durchs Mittlere Jenseits geführt. Jetzt, in der Galaxisebene, waren sie noch etliche tausend Lichtjahre von ihrem Ziel am Grunde des Jenseits entfernt. Die Grenzflächen der Zonen folgten annähernd den Flächen gleicher mittlerer Dichte; in galaktischem Maßstab war der Grund eine unscharf linsenförmige Fläche, die einen großen Teil der Galaxisscheibe umschloss. Die ADR flog jetzt in der Ebene der Scheibe, mehr oder weniger auf das Zentrum der Galaxis zu. Jede Woche brachte sie näher an das Langsam heran. Schlimmer, ihre Route samt allen Varianten, die überhaupt ein Vorankommen versprachen, führte mitten durch ein Gebiet massiver Zonenverschiebungen. Die Netznachrichten hatten es den Großen Zonensturm genannt, obwohl es natürlich nicht die geringsten physikalischen Anzeichen von Turbulenzen innerhalb des Gebiets gab. Doch an manchen Tagen legten sie weniger als achtzig Prozent vom erwarteten Wert zurück.
Schon früh hatten sie festgestellt, dass es nicht nur der Sturm war, der ihren Flug verlangsamte. Blaustiel war nach draußen gegangen und hatte sich den Schaden angesehen, der von ihrer Flucht zurückgeblieben war.
»Es ist also das Schiff selbst?« Ravna hatte auf der Brücke gestanden und auf die nahen Sterne gestarrt, die jetzt unmerklich am Himmel entlangkrochen. Die Bestätigung kam nicht unerwartet. Doch was tun?
Blaustiel zockelte an der Decke hin und her. Jedesmal, wenn er die gegenüberliegende Wand erreichte, fragte er die Schiffsprogramme nach dem Druckverschluss an der Bugluke ab. Ravna starrte ihn an. »He, das war das x-te Mal, dass du in den letzten drei Minuten den Status überprüft hast. Wenn du wirklich glaubst, dass etwas nicht stimmt, dann bring es in Ordnung.«
Das Hin und Her des Skrodfahrers hörte abrupt auf. Seine Wedel bewegten sich unsicher. »Aber ich war gerade draußen. Ich möchte sicher sein, dass ich die Luke richtig verschlossen habe… Oh, Sie meinen, ich habe das schon überprüft?«
Ravna schaute zu ihm hoch und versuchte, nicht bissig zu klingen. Blaustiel war nicht das geeignete Ziel für ihre Frustration. »Hm. Mindestens fünfmal.«
»Tut mir Leid.« Er machte eine Pause und versenkte sich in die Stille vollständiger Konzentration. »Ich habe es ans Gedächtnis weitergegeben.« Manchmal war diese Gewohnheit nett und manchmal einfach irritierend: Wenn die Fahrer versuchten, an mehrere Dinge gleichzeitig zu denken, waren ihre Skrods mitunter außerstande, das Kurzzeitgedächtnis zu bewahren. Vor allem Blaustiel geriet oft in Verhaltenszyklen, wo er eine Tätigkeit wiederholte und sofort vergaß, dass er sie erledigt hatte.
Pham grinste, er sah viel gelassener aus, als sich Ravna fühlte. »Was ich nicht begreife: Warum tut ihr Fahrer nichts dagegen?«
»Was?«
»Na, der Schiffsbibliothek zufolge habt ihr diese Skrod-Geräte, solange es ein Netz gibt. Wieso habt ihr dann nicht die Konstruktion verbessert, die dummen Räder abgeschafft, die Gedächtnisroutinen modernisiert? Ich wette, dass sogar ein Kampfprogrammierer aus der Langsamen Zone wie ich eine bessere Konstruktion als die hinkriegt, mit der ihr fahrt.«
»Das ist wirklich eine Frage der Tradition«, sagte Blaustiel steif. »Wir sind Dem dankbar, der oder das uns zum erstenmal Räder und Gedächtnis gegeben hat.«
»Hmm.«
Fast hätte Ravna gelächelt. Mittlerweile kannte sie Pham gut genug, um zu wissen, was er dachte — nämlich, dass vielleicht eine Menge Fahrer es im Transzens zu etwas Besserem gebracht hatten. Die zurückgeblieben waren, hatten sich wahrscheinlich selbst Beschränkungen auferlegt.
»Ja. Tradition. Viele, die einst Fahrer waren, haben sich verändert — sind sogar transzendiert. Wir aber beharren.« Grünmuschel machte eine Pause, und als sie fortfuhr, klang sie sogar noch schüchterner als sonst. »Sie haben vom Großen Fahrer-Mythos gehört?«
»Nein«, sagte Ravna, gegen ihre Natur beunruhigt. In der Zeit, die vor ihnen lag, würde sie über diese Skrodfahrer so viel wissen wie über jeden Freund unter den Menschen, doch vorerst steckten sie noch voller Überraschungen.
»Nicht viele kennen ihn. Nicht, dass es ein Geheimnis wäre; wir machen nur nicht viel Gerede darum. Er ist beinahe eine Religion, aber wir missionieren nicht. Vor vier oder fünf Milliarden Jahren hat jemand die ersten Skrods gebaut und die ersten Fahrer zu intelligentem Bewusstsein erhoben. So weit sind es nachgeprüfte Tatsachen. Der Mythos besagt, dass etwas unseren Schöpfer und alle seine Werke vernichtet hat… Eine Katastrophe, so groß, dass sie aus dieser Entfernung nicht einmal als gezielte Tat einer Intelligenz zu fassen ist.«
Es gab eine Menge Theorien, wie die Galaxis in ferner Vergangenheit ausgesehen hatte, in der Zeit der Ur-Trennung. Aber das Netz konnte nicht schon immer bestanden haben. Es musste einen Anfang geben. Ravna hatte nie besonders an die Alten Kriege und Katastrophen geglaubt.
»In gewissem Sinne«, sagte Grünmuschel, »sind wir Fahrer also die Getreuen, die darauf warten, dass unser Schöpfer wiederkehrt. Der traditionelle Skrod und die traditionelle Anschlussstelle sind ein Standard. Dabei zu bleiben, hat unsere Geduld möglich gemacht.«
»Durchaus«, sagte Blaustiel. »Und die Konstruktion ist sehr subtil, meine Dame, obwohl die Funktion einfach ist.« Er rollte in die Mitte der Decke. »Der Skrod der Tradition zwingt zu guter Disziplin — Konzentration auf das wirklich Wichtige. Jetzt eben habe ich versucht, mir über zu viele Dinge Sorgen zu machen…« Abrupt kehrte er zum aktuellen Thema zurück: »Zwei von unseren Antriebsdornen haben sich nie von den Schäden bei Relais erholt. Drei weitere scheinen allmählich schlechter zu werden. Wir dachten, dieses langsame Fortkommen läge nur am Sturm, doch jetzt habe ich die Dorne aus der Nähe untersucht. Die Warnungen der Diagnosesysteme waren kein blinder Alarm.«
»Und es wird noch schlimmer?«
»Leider ja.«
»Wie schlimm wird es also?«
Blaustiel zog alle seine Ranken zusammen. »Meine Dame Ravna, wir können die Extrapolationen noch nicht sicher einschätzen. Vielleicht wird es nicht schlimmer als jetzt, oder… Sie wissen, dass die ADR nicht vollständig zum Abflug bereit war. Die letzten Funktionsproben standen noch bevor. In gewissem Sinne beunruhigt mich das mehr als alles andere. Wir wissen nicht, welche Programmfehler da womöglich versteckt sind, vor allem, wenn wir den Grund erreichen und auf unsere normale Automatik verzichten müssen. Wir müssen die Antriebsaggregate sehr gründlich im Auge behalten… und hoffen.«
Das war der Alptraum, der Reisende verfolgte, vor allem am Grunde des Jenseits: Wenn der Ultraantrieb ausfiel, war ein Lichtjahr auf einmal keine Frage von Minuten mehr, sondern von Jahren. Selbst wenn sie den Staustrahlantrieb in Gang setzten und sich in Kälteschlaf legten, wäre Jefri Olsndot tausend Jahre tot, ehe sie ihn erreichten, und das Geheimnis um das Schiff seiner Eltern wäre in einem mittelalterlichen Abfallhaufen begraben.
Pham Nuwen wies auf die sich langsam verschiebenden Sternenfelder. »Das ist immer noch das Jenseits. Jede Stunde kommen wir weiter voran, als es die Flotte der Dschöng Ho in einem Jahrzehnt vermocht hätte.« Er hob die Schultern. »Es gibt gewiss einen Ort, wo wir Reparaturen vornehmen lassen können?«
»Mehrere.«
Das war’s dann mit einem ›schnellen Flug, ganz unbeobachtet‹ . Ravna seufzte. Die letzte Anpassung bei Relais hatte Ersatzteile und erprobte, grundtaugliche Software umfassen sollen. All das waren jetzt weit entfernte Wenns. Sie blickte Grünmuschel an. »Hast du irgendwelche Ideen?«
»Worüber?«, sagte Grünmuschel.
Ravna biss sich auf die Lippe. Manche behaupteten, die Skrodfahrer seien eine Rasse von Komödianten; das waren sie wirklich — doch größtenteils unwillkürlich.
Blaustiel rasselte seiner Partnerin etwas zu.
»Oh! Sie meinen, wo wir Hilfe finden können. Ja, es gibt mehrere Möglichkeiten. Sjandra Kei liegt dreitausendneunhundert Lichtjahre antispinwärts von hier, aber außerhalb dieses Sturms. Wir…«
»Zu weit.« Ravna und Blaustiel sprachen fast im Chor.
»Ja, ja, aber bedenkt: Die Welten von Sjandra Kei sind größtenteils von Menschen bewohnt, Ihre Heimat, meine Dame Ravna. Und Blaustiel und ich kennen sie gut; schließlich waren sie der Ursprungsort der Crypto-Fracht, die wir nach Relais gebracht haben. Wir haben Freunde dort, und Sie Ihre Familie. Sogar Blaustiel ist der Meinung, dass wir die Arbeiten dort erledigen lassen können, ohne dass es auffällt.«
»Ja, falls wir es dorthin schaffen.« Blaustiels Voderstimme klang bockig.
»Nun gut, welche anderen Möglichkeiten haben wir?«
»Sie sind nicht so gut bekannt. Ich werde eine Liste zusammenstellen.« Ihre Wedel huschten über ein Pult. »Unsere letzte Gelegenheit, uns zu entscheiden, liegt ziemlich nahe an unserem geplanten Kurs. Es ist eine Ein-System-Zivilisation. Der Netzname ist… Übersetzt lautet er Harmonische Ruhe.«
»Ruhe sanft, ja?«, sagte Pham.
Aber sie hatten beschlossen, still weiterzufliegen, die beschädigten Antriebsdorne ständig zu beobachten und die Entscheidung, ob sie einen Reparaturhalt einlegen wollten, zu verschieben.
Aus Tagen wurden Wochen, und Wochen summierten sich langsam zu Monaten. Vier Reisende auf einer Mission zum Grund hin. Der Antrieb wurde schlechter, aber langsam, genau, wie die Diagnosesysteme der ADR es vorausgesagt hatten.
Die PEST breitete sich weiter über die Obergrenze des Jenseits aus, und ihre Angriffe auf Netzarchive erstreckten sich weit über ihren unmittelbaren Bereich hinaus.
Die Verbindung mit Jefri wurde besser. Botschaften tröpfelten mit einer Häufigkeit von einer oder zweien pro Tag herein. Manchmal, wenn der Antennenschwarm der ADR genau richtig abgestimmt war, unterhielten sich Jefri und Ravna fast in Echtzeit. Die Arbeiten auf der Klauenwelt kamen schneller voran, als sie erwartet hatte — vielleicht schnell genug, dass sich der Junge retten konnte.
Es hätte schwer sein müssen — eingeschlossen in einem einzigen Schiff mit nur drei anderen, mit einem einzigen Verbindungsdraht nach draußen, der zudem zu einem verirrten Kind führte.
Jedenfalls war es selten langweilig. Ravna stellte fest, dass jeder von ihnen eine Menge zu tun hatte. Für sie selbst hieß das, die Schiffsbibliothek zu bedienen und die Pläne zutage zu fördern, die Herrn Stahl und Jefri helfen würden. Die Bibliothek der ADR war nichts im Vergleich zum Archiv bei Relais oder selbst zu den Universitätsbibliotheken bei Sjandra Kei, aber ohne die geeignete Suchautomatik wäre sie genauso unergründlich gewesen. Und in dem Maße, wie ihre Reise voranschritt, benötigte die Automatik mehr und mehr besondere Pflege.
Und… mit Pham in der Nähe konnte es niemals langweilig werden. Er hatte ein Dutzend Projekte und war neugierig auf alles. »Reisezeit kann ein Geschenk sein«, pflegte er zu sagen. »Jetzt haben wir Zeit, selbst aufzuholen, uns auf alles vorzubereiten, was vor uns liegen mag.« Er lernte Samnorsk. Es ging langsamer als sein vorgespiegeltes Lernen auf Relais, aber der Bursche hatte eine natürliche Neigung für Sprachen, und Ravna verschaffte ihm eine Menge Übung.
Mehrere Stunden pro Tag verbrachte er in der Werkstatt der ADR, oft zusammen mit Blaustiel. Realitätsgrafik war neu für ihn, aber nach ein paar Wochen hatte er die Spielzeug-Prototypen hinter sich. Die Skaphander, die er baute, verfügten über eigenen Antrieb und Waffenholster. »Wir wissen nicht, wie die Dinge stehen können, wenn wir ankommen; eine Rüstung mit eigenem Antrieb könnte wirklich nützlich sein.«
Am Ende jedes Arbeitstages trafen sie sich alle auf dem Steuerdeck, um Beobachtungen zu vergleichen, das Neueste von Jefri und Herrn Stahl zu überdenken, den Antriebsstatus zu überprüfen. Für Ravna konnte das die glücklichste Zeit des Tages sein — und manchmal die schwerste. Pham hatte die Bildschirmautomatik manipuliert, sodass sie ringsum Burgmauern zeigte. Ein großer Kamin ersetzte das normale Kom-Status-Fenster. Der Klang war fast perfekt; Pham hatte es sogar geschafft, dass die Wand eine kleine Menge ›Feuerwärme‹ ausstrahlte. Es war eine Burghalle aus Phams Erinnerung, von Canberra, wie er sagte. Aber sie unterschied sich nicht allzu sehr vom Zeitalter der Fürstinnen auf der Nyjora (obwohl die meisten von jenen Burgen in tropischem Sumpfland gestanden hatten, wo große Kamine selten benutzt wurden). Aus irgendeinem perversen Grunde schien es sogar den Skrodfahrern zu gefallen; Grünmuschel sagte, dass es sie an einen Handelsposten aus ihren ersten Jahren mit Blaustiel erinnerte.
Wie Reisende, die einen langen Tag über gegangen sind, ruhten sich die vier in der Gemütlichkeit einer Phantomhütte aus. Und wenn die neuen Aufgaben festgelegt waren, erzählten Pham und die Skrodfahrer Geschichten, oft bis spät in die ›Nacht‹ .
Ravna saß neben ihm, die am wenigsten Gesprächige von den vier. Sie beteiligte sich am Gelächter und manchmal an der Diskussion: Einmal machte sich Blaustiel über Phams Glauben an öffentliche Verschlüsselungscodes lustig, und Ravna kannte ein paar eigene Geschichten, die geeignet waren, die Meinung des Skrodfahrers zu illustrieren. Doch es war für sie auch die schwerste Zeit. Ja, die Geschichten waren wunderbar. Blaustiel und Grünmuschel waren an so vielen Orten gewesen, und sie waren mit ganzer Seele Kauffahrer. Betrügereien und Geschäfte und beidseitiger Nutzen gehörten zu ihrem Leben. Pham lauschte seinen Freunden, fast bezaubert — und erzählte dann seine eigenen Geschichten, wie er auf Canberra ein Prinz, in der Langsamen Zone ein Kauffahrer und Forscher gewesen war. Und bei all den Beschränkungen des Langsam übertrafen die Abenteuer seines Lebens sogar die der Skrodfahrer. Ravna lächelte und versuchte Begeisterung vorzutäuschen.
Denn Phams Geschichten waren zu viel. Er glaubte aufrichtig daran, doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mensch so viel tat, so viel sah. Seinerzeit auf Relais hatte sie behauptet, seine Erinnerungen seien synthetisch, ein kleiner Scherz des ALTEN. Sie war sehr wütend gewesen, als sie es sagte, und mehr als alles wünschte sie, es nie gesagt zu haben — denn es war so offensichtlich wahr. Grünmuschel und Blaustiel bemerkten es nie, aber manchmal kam es vor, dass Pham mitten in einer Geschichte ins Stocken geriet und ein Ausdruck schwer verhohlener Panik in seine Augen trat. Irgendwo im Innern kannte auch er die Wahrheit, und sie fühlte unvermittelt den Wunsch, sich an ihn zu kuscheln, ihn zu trösten. Es war, wie wenn man einen schrecklich verwundeten Freund hat, mit dem man reden, niemals jedoch einander das Ausmaß der Verletzungen eingestehen kann. Statt dessen tat sie so, als gäbe es die Brüche nicht, und lächelte oder lachte über den Rest seiner Geschichte.
Und der Witz des ALTEN war so völlig unnötig. Pham brauchte kein großer Held zu sein. Er war ein anständiger Mensch, wenngleich egozentrisch und eine Art Spielverderber. Er hatte allemal so viel Beharrlichkeit wie sie, und mehr Mut.
Welche Kunstfertigkeit musste der ALTE besessen haben, um solch eine Person zu erschaffen, welche… Macht. Und wie sehr sie ihn hasste, auf Kosten solch einer Person einen Scherz gemacht zu haben.
Phams Gottsplitter machten sich kaum bemerkbar. Dafür war Ravna sehr dankbar. Ein- oder zweimal im Monat überkam ihn eine Art Trance. Ein, zwei Tage danach kaprizierte er sich dann auf ein neues Projekt, oft etwas, das er nicht deutlich erklären konnte. Aber es wurde nicht schlimmer, er trieb nicht von ihr fort.
»Und vielleicht retten uns die Gottsplitter letzten Endes«, sagte er, wenn sie den Mut aufbrachte, ihn danach zu fragen. »Nein, ich weiß nicht.« Er tippte sich an die Stirn. »Das da oben ist immer noch Gottes eigener Gerümpelboden. Und es sind mehr als Erinnerungen. Manchmal brauchen die Gottsplitter zum Denken meinen ganzen Geist, dann ist da kein Platz mehr für mein eigenes Bewusstsein, und danach kann ich es nicht erklären, aber… manchmal habe ich einen Schimmer. Was Jefris Eltern auch auf die Klauenwelt gebracht haben mögen: Es kann der PEST Schaden zufügen. Man könnte es ein Gegengift nennen — besser noch, ein Gegenmittel. Etwas, das der PERVERSION entwendet wurde, während sie in dem Straumli-Labor zur Welt kam. Etwas, wovon die PERVERSION erst sehr viel später auch nur das Geringste ahnte.«
Ravna seufzte. Es war schwer, sich gute Neuigkeiten vorzustellen, die zugleich derart beängstigend waren. »Die Straumer konnten so etwas direkt aus dem Herzen der PERVERSION herausschmuggeln?«
»Vielleicht. Oder vielleicht hat das GEGENMITTEL die Straumer benutzt, um der PERVERSION zu entkommen. Um sich unerreichbar tief zu verbergen und zu warten, bis es zuschlägt. Und ich glaube, der Plan könnte funktionieren, zumindest, wenn ich — wenn die Gottsplitter des ALTEN — dorthin gelangen und ihm helfen können. Sieh dir die Nachrichten an. Die PEST kehrt an der Obergrenze des Jenseits das Unterste zuoberst — auf der Jagd nach etwas. Der Schlag gegen Relais war noch das Geringste davon, eine kleine Nebenwirkung ihres Mordes an dem ALTEN. Sie sucht an lauter falschen Stellen. Wir werden bei dem GEGENMITTEL unsere Chance bekommen.«
Sie dachte an Jefris Botschaften. »Der Schimmel an den Wänden in Jefris Schiff. Du glaubst, das ist es?«
Phams Blick wurde unbestimmt. »Ja. Er wirkt völlig passiv, aber Jefri sagt, dass er von Anfang an da war, dass seine Eltern ihn davon fern hielten. Er scheint davon ein wenig abgestoßen zu sein… Das ist gut, es hält wahrscheinlich seine Klauenfreunde davon fern.«
Tausend Fragen blitzten auf. Gewiss taten sie das auch in Phams Kopf. Und auf keine konnten sie die Antwort wissen. Doch eines Tages würden sie vor diesem Unbekannten stehen, und die tote Hand des ALTEN würde handeln — durch Pham. Ravna erschauderte und sagte eine Weile nichts mehr.
Monat für Monat blieb das Schießpulver-Projekt auf der Tagesordnung des Forschungsprogramms für die Bibliothek. Die Klauenwesen waren leicht imstande gewesen, den Stoff herzustellen; es hatte sehr wenig Irrwege durch die Verzweigungen des Programms gegeben. Das kritische Ereignis, das alles verzögerte, war die Erprobung der Legierungen gewesen, doch damit waren sie jetzt auch überm Berg. Die Rudel von der »Verborgenen Insel« hatten die ersten drei Prototypen gebaut: Hinterladerkanonen, die klein genug waren, dass ein einzelnes Rudel sie ziehen konnte. Jefri schätzte, sie könnten in zehn Tagen mit der Massenproduktion beginnen.
Das Radioprojekt war das Sonderbare. In mancher Hinsicht blieb es hinter dem Zeitplan zurück, in anderer war mehr daraus geworden, als sich Ravna jemals vorgestellt hatte. Nach einer langen Zeit normaler Fortschritte war Jefri mit einem Gegenplan hervorgetreten. Er bestand in einer vollständigen Überarbeitung der Tabellen für das akustische Bindeglied.
»Ich dachte, diese Witzbolde sind in ihrem ersten Mittelalter«, sagte Pham Nuwen, als er Jefris Botschaft sah.
»Das stimmt. Anscheinend haben sie nur Schlussfolgerungen aus dem gezogen, was wir ihnen geschickt haben. Sie wollen das Rudeldenken per Funk unterstützen.«
»Hmm. Ja. Wir haben beschrieben, wie diese Tabellen das Transduktorgitter festlegen — alles in Samnorsk ohne technische Fachbegriffe. Dabei haben wir auch gezeigt, wie kleine Veränderungen in der Tabelle das Gitter ändern würden. Aber schau, unsere Konstruktion würde ihnen ein Drei-Kilohertz-Band verschaffen — eine hübsche Verbindung für Sprechfunk. Und du behauptest, dass die Anwendung dieser neuen Tabelle ihnen zweihundert Kilohertz liefern würde.«
»Ja. Das sagt mein Datio.«
Er zeigte sein eitles Grinsen. »Ha! Und das ist der springende Punkt. Gewiss, im Prinzip haben wir ihnen genug Information gegeben, um die Modifikation durchzuführen. Mir scheint, diese erweiterte Tabelle aufzustellen, entspricht der Lösung von, hmm…« — er zählte Reihen und Spalten —, »einer numerischen partiellen Differentialgleichung mit fünfhundert Knoten. Und Klein Jefri behauptet, dass alle seine Datios zerstört sind und dass der große Schiffscomputer nicht allgemein benutzbar ist.«
Ravna lehnte sich vom Bildschirm zurück. »Tut mir Leid. Ich verstehe, was du meinst.« Man gewöhnt sich so an alltägliche Werkzeuge, dass man manchmal vergisst, wie es ohne sie sein muss. »Du… du glaubst, das könnte das Werk… äh… des GEGENMITTELS sein?«
Pham Nuwen zögerte, als habe er diese Möglichkeit überhaupt nicht in Betracht gezogen. »Nein… nein, das ist es nicht. Ich glaube, dieser ›Herr Stahl‹ spielt mit uns. Wir haben weiter nichts als einen Bitstrom von ›Jefri‹ . Was wissen wir, was wirklich vor sich geht?«
»Nun, ich will dir etwas sagen, das ich weiß. Wir reden mit einem Menschenkind, das im Straumli-Bereich aufgewachsen ist. Du hast die meisten von diesen Botschaften in Trisk-Übersetzung gelesen. Dabei geht eine Menge von der Umgangssprache und den kleinen Fehlern eines Kindes verloren, dessen Muttersprache Samnorsk ist. Die Einzigen, die so etwas imitieren könnten, wären erwachsene Menschen… Und nach über zwanzig Wochen, die ich Jefri kenne, kann ich dir sagen, dass sogar das unwahrscheinlich ist.«
»In Ordnung. Nehmen wir also an, Jefri ist echt. Wir haben dieses achtjährige Kind unten auf der Klauenwelt. Er sagt uns, was er für die Wahrheit hält. Und ich sage, es sieht danach aus, dass ihn jemand belügt. Vielleicht können wir dem trauen, was er mit eigenen Augen sieht. Er sagt, diese Geschöpfe haben keine Intelligenz, außer in Gruppen von fünf oder so. Gut. Glauben wir ihm das.« Pham ließ die Augen rollen. Anscheinend hatte seine Lektüre ihm gezeigt, wie selten Gruppenintelligenz unterhalb des Transzens war. »Der Junge sagt, sie haben vom Weltraum aus nichts außer kleinen Städten gesehen. Gut, akzeptiert. Aber. Wie groß sind die Chancen, dass diese Rasse klug genug ist, partielle Differentialgleichungen in den Köpfen zu lösen, und das nur auf Grundlage von Schlüssen, die sie aus deiner Botschaft gezogen haben?«
»Nun, es hat ein paar Menschen gegeben, die so klug waren.« Sie konnte einen Fall in der Geschichte der Nyjora nennen, ein paar weitere von der Alten Erde. Wenn derlei Fähigkeiten unter den Rudeln verbreitet waren, dann waren sie klüger als jede natürliche Rasse, von der sie je gehört hatte. »Es ist also kein erstes Mittelalter?«
»Richtig. Ich wette, das ist eine herabgesunkene Kolonie, die schwere Zeiten durchmacht — wie deine Nyjora oder mein Canberra, außer dass sie das Glück haben, sich im Jenseits zu befinden. Diese Hunderudel haben irgendwo einen funktionierenden Computer. Vielleicht steht er unter der Kontrolle ihrer Priesterkaste, vielleicht haben sie weiter nicht viel. Doch sie verheimlichen es uns.«
»Aber warum? Wir würden ihnen in jedem Fall helfen. Und Jefri hat uns erzählt, wie diese Gruppe ihn gerettet hat.«
Pham begann wieder zu lächeln, das alte hochnäsige Lächeln. Dann wurde er nüchterner. Er gab sich wirklich Mühe, diese Gewohnheit abzulegen. »Du bist auf einem Dutzend verschiedener Welten gewesen, Ravna. Und ich weiß, dass du von weiteren Tausenden gelesen hast, zumindest im Überblick. Wahrscheinlich kennst du Spielarten des Mittelalters, von denen ich nichts ahne. Aber denk daran, ich bin wirklich dort gewesen — glaube ich.« Das Letzte kam als nervöses Gemurmel.
»Ich habe vom Zeitalter der Fürstinnen gelesen«, sagte Ravna sanft.
»Ja…, und es tut mir Leid, dass ich das herabgesetzt habe. In jeder mittelalterlichen Politik hängen Klinge und Denken eng zusammen. Aber viel stärker für jemanden, der es durchgemacht hat. Schau, selbst wenn wir alles glauben, wovon Jefri sagt, dass er es gesehen hat, ist dieses Königreich der Verborgenen Insel eine finstere Sache.«
»Du meinst die Namen?«
»Wie Flenser, Stahl, Klauen? Raue Namen haben nicht unbedingt etwas zu bedeuten.« Pham lachte. »Ich meine, als ich acht Jahre alt war, lautete einer von meinen Titeln schon ›Fürst Meisterausdärmer‹ .« Er sah Ravnas Gesichtsausdruck und fügte eilig hinzu: »Und in diesem Alter hatte ich höchstens ein paar Hinrichtungen auch nur gesehen! Nein, die Namen sind nur ein kleiner Teil davon. Ich denke an die Beschreibung des Kindes von der Burg — die sich nahe am Schiff zu befinden scheint — und von diesem Überfall, vor dem er glaubt, gerettet worden zu sein. Das passt nicht zusammen. Du hast gefragt, was sie davon hätten, uns zu betrügen. Ich kann die Frage aus ihrer Sicht sehen. Wenn sie eine herabgesunkene Kolonie sind, haben sie eine klare Vorstellung, was sie verloren haben. Sie haben wahrscheinlich Reste von Technik und einen Verfolgungswahn, der nicht seinesgleichen findet. An ihrer Stelle würde ich ernsthaft erwägen, die Retter in einen Hinterhalt zu locken, wenn diese Retter schwach oder sorglos wirken. Und wenn wir stark auftreten — sieh dir die Fragen an, die Jefri für Stahl stellt. Der Kerl schlägt auf den Busch, er versucht herauszubekommen, woran uns wirklich gelegen ist: an dem Flüchtlingsschiff, an Jefri und den Kälteschläfern oder an etwas im Schiff. Bis wir eintreffen, wird Stahl wahrscheinlich die örtliche Opposition ausgerottet haben — mit unserer Hilfe. Ich vermute, wenn wir die Klauenwelt erreichen, steht uns ein schwerer Fall von Erpressung bevor.«
Und ich dachte, wir reden von den guten Neuigkeiten. Ravna blätterte in den jüngsten Botschaften zurück. Pham hatte Recht. Der Junge sagte die Wahrheit, so gut er sie kannte, aber… »Ich sehe nicht, wie wir irgend anders vorgehen könnten. Wenn wir Stahl nicht gegen die Holzschnitzer helfen…«
»Tja. Wir wissen nicht genug, um viel anderes tun zu können. Was immer sonst die Wahrheit sein mag, die Holzschnitzer scheinen eine ernste Bedrohung für Jefri und das Schiff zu sein. Ich sage nur, wir sollten an alle Möglichkeiten denken. Was wir auf keinen Fall tun dürfen, ist, Interesse an dem GEGENMITTEL zu zeigen. Wenn die Einheimischen wissen, wie verzweifelt uns daran gelegen ist, haben wir keine Chance.
Und vielleicht ist es an der Zeit, uns unsererseits ein paar Lügen zurechtzulegen. Stahl hat davon gesprochen, dass er einen Landeplatz für uns bauen will — innerhalb seiner Burg. Die ADR kann unmöglich da hinein passen, aber ich denke, wir sollten mitspielen, Jefri sagen, dass wir uns von unserem Ultraantrieb lösen können, etwas in der Art seines Containerschiffes. Soll sich Stahl darauf konzentrieren, harmlose Fallen zu bauen…«
Er summte eine seiner seltsamen kleinen ›Marschmelodien‹ . »Was das Radio betrifft: Warum sollten wir den Klauenwesen nicht einfach gelegentlich ein Kompliment machen, dass sie unsere Konstruktion verbessert haben? Ich bin gespannt, was sie antworten werden…«
Pham Nuwen erhielt seine Antwort in weniger als drei Tagen. Jefri Olsndot sagte, er habe die Optimierung durchgeführt. Wenn man also dem Jungen glaubte, gab es keine Anzeichen für verborgene Computer. Pham war nicht ganz überzeugt: »Wir haben also rein zufällig Isaac Newton am anderen Ende der Strippe?« Ravna widersprach nicht. Es war wirklich ein enormes Stück Glück, doch… Sie ging die früheren Botschaften durch. In Sprache und Allgemeinwissen schien der Junge sehr normal für sein Alter. Doch gelegentlich gab es Situationen, die mathematisches Verständnis voraussetzten — keine formale Schulmathematik —, wo Jefri frappierende Dinge sagte. Manche von diesen Gesprächen hatten unter guten Bedingungen stattgefunden, mit Zeitverzögerungen von weniger als einer Minute. Es wirkte alles zu sehr wie aus einem Guss, als dass es die Lüge sein konnte, die Pham Nuwen vermutete.
Jefri Olsndot, du bist jemand, dem ich sehr gern begegnen möchte.
Etwas war immer: Probleme mit den technischen Entwicklungen der Klauenwesen, Ängste, die mörderischen Holzschnitzer könnten Herrn Stahl überrennen, Sorgen wegen der noch immer schlechter werdenden Antriebsdorne und der Zonenturbulenz, die das Fortkommen der ADR noch mehr verzögerte. Das Leben war abwechselnd und gleichzeitig deprimierend, langweilig, beängstigend. Und dennoch…
Eines Nachts, etwa im vierten Flugmonat, erwachte Ravna in der Kabine, die sie nun mit Pham teilte. Vielleicht hatte sie geträumt, aber sie konnte sich an nichts erinnern, außer dass es kein Alptraum gewesen war. Es gab kein besonderes Geräusch im Raum, nichts, das sie hätte wecken können. Neben ihr schlief Pham tief in ihrer Hängematte. Sie ließ den Arm seinen Rücken hinab gleiten und zog ihn sacht an sich. Sein Atem änderte sich, er murmelte etwas Friedvolles und Unverständliches. Nach Ravnas Ansicht war Sex bei Schwerelosigkeit nicht die tolle Erfahrung, für die manche Leute ihn ausgaben; aber wirklich mit jemandem zu schlafen — das war bei Schwerelosigkeit viel hübscher. Eine Umarmung war dann leicht und dauerhaft und mühelos.
Ravna schaute sich in der schwach erleuchteten Kabine um und versuchte sich vorzustellen, wovon sie aufgewacht war. Vielleicht waren es einfach die Probleme des Tages gewesen — davon hatte es, wissen die MÄCHTE, genug gegeben. Sie schmiegte ihr Gesicht an Phams Schulter. Ja, immerzu Probleme, aber… in mancher Beziehung war sie zufriedener als seit Jahren. Gewiss gab es Probleme. Die Lage des armen Jefri. All die Leute, die bei Straum und Relais umgekommen waren. Doch sie hatte drei Freunde und eine Liebe. Allein in einem winzigen Schiff unterwegs zum Grund war sie weniger einsam als in der Zeit, seit sie Sjandra Kei verlassen hatte. Mehr als jemals in ihrem Leben hatte sie vielleicht die Möglichkeit, etwas zur Lösung der Probleme zu tun.
Und dann kam ihr — teils mit Trauer, teils freudig — die Ahnung, dass sie Jahre später vielleicht auf diese Monate als auf eine wunderbar glückliche Zeit zurückblicken würde.
Und schließlich, als sie fast fünf Monate unterwegs waren, wurde klar, dass sie ohne Reparatur der Antriebsdorne nicht weiterfliegen konnten. Die ADR machte plötzlich nur noch ein Viertellichtjahr pro Stunde, und das in einem Raumgebiet, wo die Bedingungen gut zwei Lichtjahre erlaubt hätten. Und es wurde schlimmer. Sie würden es ohne Schwierigkeiten bis Harmonische Ruhe schaffen, doch weiter…
Harmonische Ruhe. Ein hässlicher Name, dachte Ravna. Phams ›leichtsinnige‹ Übersetzung war schlimmer: Das uralte ›Requiescat in pace‹ — ›Ruhe in Frieden‹ oder ›Ruhe sanft‹ . Im Jenseits wurde fast alles, was bewohnbar war, auch benutzt. Zivilisationen kamen und gingen, und Rassen verblichen…, aber es gab immer neue Leute, die von Unten heraufkamen. Das Ergebnis war meistens Stückwerk, polyspezifische Systeme. Junge Rassen, frisch aus dem Langsam, taten sich schwer beim Zusammenleben mit den Überbleibseln älterer Völker. Der Schiffsbibliothek zufolge bestand RIP im Jenseits schon seit langem. Es war seit mindestens zweihundert Millionen Jahren ständig bewohnt gewesen, Zeit genug, dass Zehntausende von Arten es ihre Heimat nennen konnten. Die jüngsten Daten verzeichneten mehr als einhundert Arten-Terraneen. Selbst das jüngste war das Überbleibsel eines Dutzends von Einwanderungswellen. Der Ort müsste in einem Grade friedlich sein, dass man ihn schon als todgeweiht bezeichnen konnte.
Nun gut. Sie ließen die ADR drei Lichtjahre spinwärts ausscheren. Nun flogen sie im Hauptnetzkanal auf RIP zu: Sie würden auf dem ganzen Weg dorthin Nachrichten hören können.
Harmonische Ruhe machte Reklame. Zumindest eine Art wusste Waren von außerhalb zu schätzen und hatte sich auf Schiffsausrüstung und -reparatur spezialisiert. Eine fleißige, hartfüßige (?) Rasse, hieß es in der Werbung. Schließlich sah sie ein Video: Die Geschöpfe gingen auf Elfenbeinhauern, und unmittelbar unter ihren Hälsen wuchs ein Schwall kurzer Arme hervor. Die Werbung enthielt die Netzadressen zufriedener Kunden. Zu schade, dass wir dem nicht nachgehen können. Statt dessen schickte Ravna eine kurze Botschaft in Triskweline, in der sie eine allgemeine Antriebsreparatur verlangte und mögliche Zahlungsweisen auflistete. Unterdessen trafen weitere schlechte Nachrichten ein:
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Baeloresk -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Allianz für die Verteidigung
[Angeblich Genossenschaft von fünf polyspezifischen Imperien im Jenseits unterhalb des Straumli-Bereichs. Vor dem Untergang des Bereichs nicht verzeichnet.]
GEGENSTAND: Aufruf zum Handeln
VERTEILER:
Pestgefahr
Interessengruppe Kriegsbeobachter
Interessengruppe Homo sapiens
DATUM: 158,00 Tage seit dem Untergang von Relais
SCHLAGWÖRTER: Handeln, nicht reden
TEXT DER BOTSCHAFT:
Streitkräfte der Allianz bereiten Aktionen gegen die Werkzeuge der PERVERSION vor. Es ist Zeit, dass sich unsere Freunde zu erkennen geben. Gegenwärtig brauchen wir keine militärischen Zusicherungen von euch, doch in sehr naher Zukunft werden wir Unterstützung durch Dienstleistungen einschließlich kostenloser Netzzeit benötigen.
In den folgenden Sekunden werden wir genau beobachten, wer unsere Aktion unterstützt und wer vielleicht von der PERVERSION versklavt ist. Wenn ihr mit der menschlichen Infektion lebt, habt ihr die Wahl: Handelt jetzt mit guten Chancen für einen Sieg — oder wartet und werdet vernichtet.
Tod dem Ungeziefer.
Es gab eine Menge Folgebotschaften, darunter Spekulationen, wen ›Tod dem Ungeziefer‹ (alias ›Allianz für die Verteidigung‹ ) meinen mochte. Es gab auch Gerüchte über militärische Bewegungen. Das erregte nicht so viel Aufsehen wie der Untergang von Relais, dennoch wurde es in mehreren Nachrichtengruppen beachtet. Ravna schluckte und schaute vom Bildschirm weg. »Nun ja, sie machen immer noch viel Geschrei.« Sie bemühte sich um einen leichten Tonfall, aber es kam nicht so heraus.
Pham Nuwen berührte sie an der Schulter. »Stimmt. Und richtige Mörder kündigen ihre Tat für gewöhnlich nicht vorher an.« Doch in seiner Stimme lag mehr Mitgefühl als Überzeugung. »Wir wissen noch nicht, dass das mehr als ein einzelner Großsprecher wäre. Es ist nicht definitiv von Schiffbewegungen die Rede. Was können sie letzten Endes tun?«
Ravna stemmte sich vom Tisch hoch. »Nicht viel, hoffe ich. Es gibt Hunderte von Zivilisationen mit kleinen Ansiedlungen von Menschen. Gewiss haben sie Vorsichtsmaßnahmen getroffen, seit das mit ›Tod dem Ungeziefer‹ angefangen hat… Bei den MÄCHTEN, ich wünschte, ich wüsste, dass Sjandra Kei in Sicherheit ist.« Es war mehr als zwei Jahre her, seit sie Lynne und ihre Eltern gesehen hatte. Manchmal erschien ihr Sjandra Kei wie aus einem anderen Leben, aber schon zu wissen, dass es vorhanden war, war tröstlicher, als ihr bewusst gewesen war. Jetzt aber…
Auf der anderen Seite des Steuerdecks waren die Skrodfahrer dabei, die Liste der nötigen Reparaturen aufzustellen. Nun rollte Blaustiel auf sie zu. »Ich habe wirklich Angst um die kleinen Siedlungen, aber die Menschen von Sjandra Kei sind die Triebkraft dieser Zivilisation, sogar der Name ist menschlich. Jeder Angriff auf sie wäre ein Angriff auf die gesamte Zivilisation. Grünmuschel und ich haben dort oft genug Handel getrieben, auch mit den Streitkräften der Sicherheitsgesellschaft von Sjandra Kei. Nur Narren oder Bluffer würden eine Invasion vorher ankündigen.«
Ravna überlegte, und ihre Miene hellte sich auf. Die Dirokime und Lopher würden jeder Bedrohung der Menschheit auf Sjandra Kei entgegentreten. »Tja. Wir haben da kein Ghetto.« Für isolierte Menschengruppen konnten die Dinge sehr schlecht stehen, aber mit Sjandra Kei würde alles in Ordnung sein. »Bluffer. Nun ja, es heißt nicht umsonst das Netz der Million Lügen.« Sie verdrängte die Sorgen, auf die sie keinen Einfluss hatte, aus ihren Gedanken. »Aber eins ist klar. Wenn wir bei Harmonische Ruhe Halt machen, müssen wir verdammt sicher sein, dass nichts an uns an Menschen erinnert.«
Und natürlich gehörte dazu, den Anschein alles Menschlichen zu vermeiden, dass von Ravna und Pham nichts zu bemerken war. Die Skrodfahrer würden alle ›Gespräche‹ übernehmen. Ravna und die Fahrer gingen sämtliche Außenprogramme des Schiffs durch und merzten menschliche Nuancen aus, die sich seit dem Abflug von Relais dort eingeschlichen hatten. Und wenn wirklich jemand zu ihnen an Bord kam? Nun, eine gezielte Suche würden sie niemals überstehen, doch sie isolierten alle menschlichen Gegenstände in einem Laderaum mit vorgetäuschten Jupiter-Bedingungen. Die beiden Menschen würden sich dort verstecken, wenn nötig.
Pham Nuwen überprüfte, was sie taten — und fand mehr als eine Unachtsamkeit. Für einen Programmierer von den Barbaren war er nicht übel. Aber sie kamen ohnehin schnell in die Tiefen, wo die beste Computerausrüstung nicht viel raffinierter war als das, was er von früher her kannte.
Ironischerweise konnten sie eines nicht verbergen: dass die ADR von der Obergrenze des Jenseits stammte. Gewiss, das Schiff war ein Grundschlepper und beruhte auf einer Konstruktion aus dem Mittleren Jenseits. Aber die Umrüstung zeigte eine Eleganz, deren fast übermenschliche Kompetenz ins Auge sprang. »Das verdammte Ding vermittelt dasselbe Gefühl wie eine Axt, die in einer Fabrik hergestellt worden ist« — so formulierte es Pham Nuwen.
Die Sicherheitsvorkehrungen der RIP-Leute machten Mut: eine formale Geschwindigkeitskontrolle und keine Überprüfung an Bord. Die ADR sprang in das System und brachte mit dem Raketentriebwerk Position und Geschwindigkeit mit dem Herzstück von Harmonische Ruhe und ›Sankt (?) Rihndells Reparaturhafen‹ in Übereinstimmung. (Pham: »Wenn man ein ›Heiliger‹ ist, muss man ehrlich sein, oder?«)
Die Aus der Reihe befand sich über der Ekliptik und an die achtzig Millionen Kilometer von RIPs einzigem Stern entfernt. Selbst wenn man wusste, was man zu erwarten hatte, war der Anblick sehenswert: Das innere System war so staubig oder gaserfüllt wie die Wiege eines Sterns, obwohl das Zentralgestirn ein drei Milliarden Jahre alter Stern vom G-Typ war. Die Sonne war von Millionen Ringen umgeben, atemberaubender als jeder Ring um einen Planeten. Die größten und hellsten lösten sich in Myriaden weiterer auf. Sogar in direkter Ansicht gab es kräftige Farben, Fäden von Grün und Rot und Violett. Auf der Ringebene wellten sich Seen von Schatten zwischen bunten Hängen, Hängen von einer Million Kilometer Durchmesser. Es gab vereinzelte Objekte — Bauwerke? —, die weit genug aus der Ringebene hervorragten, um nadelgleiche Schatten ins Äußere des Systems zu werfen. Darstellungen in Infrarot oder der Eigenbewegungen zeigten konventionellere Züge: Jenseits der Ringe lag ein massiver Planetoidengürtel und viel weiter draußen ein einzelner Planet vom Jupitertyp, dessen eigenes Ringsystem von einer Million Kilometer wie ein klägliches Echo wirkte. Es gab weiter keine Planeten, weder in den Anzeigen der Geräte noch den Unterlagen zufolge. Die größten Objekte im Hauptring hatten Abmessungen von dreihundert Kilometern — doch davon schien es Tausende zu geben.
Nach den Anweisungen Sankt Rihndells steuerten sie das Schiff auf die Ringebene hinab und passten die Geschwindigkeit an die des lokalen Mülls an. Zuletzt kam ein großer Brennimpuls des Triebwerks: fast fünf Minuten lang drei Ge. »Ganz wie in alten, alten Zeiten«, sagte Pham Nuwen.
Wieder schwerelos, blickten sie hinaus auf ihren Hafen: Aus der Nähe glich er planetaren Ringsystemen, wie sie Ravna Zeit ihres Lebens gekannt hatte. Es gab Objekte in allen Größen bis hinab zu einer Handspanne, unzählige Kleckse eisigen Schaumes, die einander sanft berührten, zusammenklumpten, sich trennten. Der Schutt hing nahezu reglos rings um sie; dies war ein Chaos, das vor langer Zeit gezähmt worden war. In der Ebene der Ringe konnten sie nicht weiter als ein paar hundert Meter schauen. Der Schutt versperrte den Blick. Er war durchaus nicht völlig lose. Grünmuschel zeigte auf eine Linie von Weiß, die gekrümmt aus der Unendlichkeit zu kommen schien, nahe an ihnen vorbeilief und dann für immer in eine andere Richtung entwich. »Sieht wie eine einzelne Struktur aus«, sagte sie.
Ravna schaltete die Vergrößerung höher. In planetaren Ringsystemen fügten sich die ›Schaum-Schneebälle‹ manchmal zu Ketten von Tausenden Kilometern Länge zusammen… Der weiße Faden breitete sich weit über den Bildschirm hinaus aus. Die Anzeigen besagten, dass er fast einen Kilometer breit war. Dieser Bogen bestand eindeutig nicht aus Schneebällen. Sie konnte Schiffsliegeplätze und Kommunikationsknoten sehen. Beim Vergleich mit den Bildern von ihrer Annäherung sah Ravna, dass das ganze Ding über vierzig Millionen Kilometer lang war. Über den Bogen waren etliche Lücken verstreut. Das bedeutete: die aufs Ganze verteilte Zugfestigkeit eines solchen Bauwerks konnte beinahe Null betragen. Je nach den lokalen Störungen würde es sich kurz auseinanderziehen, um etwas später wieder zusammenzukommen. Das Ganze erinnerte annähernd an eine Reihe Wagen auf einer alten nyjoranischen Eisenbahnstrecke.
Die nächste Stunde über bewegten sie sich vorsichtig einwärts, um an dem Ringbogen anzudocken. Das einzige Regelmäßige an dem Bauwerk war sein linearer Aufbau. Manche von den Modulen waren offensichtlich dafür konstruiert, vorn und hinten anzukoppeln. Andere waren wirre Haufen sonderbarer Vorrichtungen, überzogen von schmutzigem Eis. Die letzten paar Kilometer über schwebten sie durch einen Wald von Ultraantriebs-Dornen. Zwei Drittel der Dockplätze waren belegt.
Blaustiel öffnete ein Fenster, das Sankt Rihndells Geschäftsangaben zeigte. »Hmm. Herr Rihndell scheint sehr beschäftigt zu sein.« Er zeigte mit ein paar Wedeln zurück auf die Schiffe auf der Außenansicht.
Pham: »Vielleicht betreibt er eine Mülldeponie.«
Blaustiel und Grünmuschel gingen hinab zur Frachtluke, um sich auf ihren ersten Landgang vorzubereiten. Die Skrodfahrer waren seit zweihundert Jahren beisammen, und Blaustiel entstammte auch davor schon einer Tradition interstellarer Kauffahrer. Dennoch diskutierten die beiden hin und her über die beste Art, mit ›Sankt Rihndell‹ ins Geschäft zu kommen.
»Natürlich ist Harmonische Ruhe typisch, lieber Blaustiel; ich würde mich an den Typ erinnern, und wenn ich niemals in einem Skrod gefahren wäre. Aber unser Geschäft hier hat unter allem, was wir früher getan haben, nicht seinesgleichen.«
Blaustiel grummelte wortlos und schob ein weiteres Handelspaket unter sein Frachttuch. Das Tuch war mehr als hübsch. Das Material war zäh, ein elastisches Zeug, das allem darunter Schutz bot.
Es war dieselbe Prozedur, nach der sie immer in neuen Ringsystemen verfuhren, und sie hatte früher gut funktioniert. Schließlich erwiderte er: »Gewiss, es gibt Unterschiede, vor allem, dass wir sehr wenig für die Reparaturen anzubieten und keine früheren Geschäftsbeziehungen haben. Wenn wir nicht unseren ganzen Geschäftssinn aufbieten, kriegen wir hier nichts!« Er überprüfte die verschiedenen Sensoren, die sich über seinen Skrod hinzogen, und sprach dann zu den Menschen: »Soll ich eine von den Kameras bewegen? Haben sie alle ein klares Blickfeld?« Sankt Rihndell war geizig im Vermieten von Bandbreite — vielleicht war er auch einfach vorsichtig.
Pham Nuwens Stimme antwortete: »Nein. Sie sind in Ordnung. Könnt ihr mich hören?« Er sprach durch einen Lautsprecher in ihren Skrods. Die Verbindung selbst war verschlüsselt.
»Ja.«
Die Skrodfahrer passierten durch die Schleusen der ADR in das Bogenhabitat von Sankt Rihndell.
Von innen gesehen, umgaben sie durchsichtige Bögen, Reihen von Außenansichten, die in der Ferne entschwanden. Sie schauten hinaus auf die Kunden von Sankt Rihndell und die Ringflocken dahinter. Die Sonne erschien trübe, doch ringsum stand ein Schein von Helligkeit, eine Super-Korona. Das war zweifellos ein Schwarm von Energiesatelliten; Ringsysteme nutzten von Natur aus das Zentralgestirn nicht gut aus. Für einen Moment stockten die Skrodfahrer, überwältigt vom Bild eines Meeres, großartiger als alle Meere: Das Licht hätte ein Sonnenuntergang sein können, durch eine flache Brandung gesehen. Und ihnen erschienen die nahebei schwebenden Tausende von Teilchen wie Nahrung in einer langsamen Gezeitenwelle.
Die Eingangshalle war voll. Die Wesen hier waren von ziemlich gewöhnlichen Körperbautypen, doch keines gehörte zu einer Art, die Grünmuschel zweifelsfrei erkannt hätte. Der Typ mit den Hauerbeinen, der Sankt Rihndell betrieb, war am zahlreichsten. Nach einer Weile schwebte einer von diesen von der Wand bei der Luke der ADR herbei. Er surrte etwas, das als Triskweline ankam: »Zum Handeln gehen wir da entlang.« Seine Elfenbeinfüße bewegten sich agil über Netzgeflecht in einen offenen Wagen. Die Skrodfahrer nahmen hinter ihm Platz, und der Wagen beschleunigte entlang des Bogens. Blaustiel wedelte Grünmuschel zu: »Das alte Lied; was nützen ihnen jetzt die Beine?« Das war einer der ältesten Skrodfahrer-Witze, aber immer wieder komisch: Zwei Beine oder vier — aus Flossen oder Kiefern oder woraus auch immer entwickelt — waren allemal sehr gut, wenn es die Fortbewegung zu Lande betraf. Doch im Raum spielte das kaum eine Rolle.
Der Wagen legte etwa hundert Meter pro Sekunde zurück und schleuderte jedesmal leicht, wenn sie von einem Ringsegment ins nächste wechselten. Blaustiel hielt ständig eine Unterhaltung mit ihrem Führer am Plätschern, die Sorte Geplauder, die Grünmuschel als eine seiner großen Freuden im Leben kannte. »Wohin fahren wir? Was sind das da für Wesen? Nach welcher Art Dingen suchen sie bei Sankt Rihndell?« Alles gönnerhaft und fast auf Menschenart forsch. Wo ihn das Kurzzeitgedächtnis im Stich ließ, nahm er den Skrod zu Hilfe.
Hauerbein sprach nur ein Triskweline mit verminderter Grammatik und schien einige von den Fragen nicht zu verstehen. »Wir fahren zum Meisterverkäufer… Helferwesen sind das… Verbündete von großem neuem Kunden…« Die beschränkte Sprache ihres Führers störte den guten Blaustiel nicht im Geringsten, er sammelte eher Reaktionen als Antworten. Die meisten Rassen hatten Interessen, die der Art von Blaustiel und Grünmuschel schleierhaft blieben. Zweifellos gab es in Harmonische Ruhe Milliarden von Wesen, die für Skrodfahrer oder Menschen oder Dirokime völlig unergründlich waren. Aber ein simpler Dialog gab oft Auskunft über die beiden wichtigsten Fragen: Was habt ihr, was mir nützen könnte, und wie kann ich euch überzeugen, euch davon zu trennen? Die Fragen des lieben Blaustiel sondierten den anderen, um Parameter von Persönlichkeit und Interesse und Fähigkeit zu ermitteln.
Die beiden Skrodfahrer spielten dieses Spiel gemeinsam. Während Blaustiel plapperte, beobachtete Grünmuschel alles ringsum, ließ die Aufzeichnungsgeräte ihres Skrods auf sämtlichen Kanälen laufen und versuchte, diese Umgebung in Kontext mit anderen zu bringen, die sie kennen gelernt hatten. Technik: Was brauchten diese Leute? Was könnte funktionieren? In derart flachem Raum würde es wenig Anwendungen für Agrav-Gewebe geben. Und derart tief im Jenseits würden viele subtile Importe von weiter oben fast sofort kaputtgehen. Die Arbeiter jenseits der langen Fenster trugen ausgeprägte Druckanzüge — die Kraftfeld-Anzüge des Hohen Jenseits würden hier unten nur ein paar Wochen halten.
Sie fuhren an Bäumen vorbei, die wie Reben wuchsen. Manche von den Stämmen liefen rings um die Wände des Bogens, andere folgten Hunderte Meter weit ihrem Weg. Hauerbein-Gärtner schwebten überall über den Pflanzen, doch es gab keine Anzeichen von Landwirtschaft. Das alles war eine Verzierung. In der Ringebene jenseits der Fenster gab es ab und zu Türme, Bauwerke, die tausend Kilometer über die Ebene aufragten und die spitzen Schatten auf die Ringe warfen, die sie gegen Ende ihrer Annäherung an das System gesehen hatten. Ravnas Stimme und die Phams surrten gegen ihren Stiel, sie fragten Grünmuschel leise nach den Türmen und spekulierten über den Zweck solch instabiler Vorrichtungen. Sie speicherte die Theorien der beiden zur späteren Betrachtung ab…, doch sie zweifelte daran: manche würden nur im Hohen Jenseits funktionieren, und andere waren einfach unwirtschaftlich.
Grünmuschel hatte in ihrem Leben acht Ringsystem-Zivilisationen besucht. Sie waren eine verbreitete Folge von Unfällen und Kriegen (und gelegentlich von gezielter Habitatformung). Der Bibliothek der ADR zufolge war Harmonische Ruhe bis vor zehn Millionen Jahren ein normales Planetensystem gewesen. Dann hatte es dort einen richtigen Besitzstreit gegeben: Eine junge Rasse von Unten hatte sich angeschickt, eine Kolonie zu gründen und die siechen Bewohner auszurotten. Der Angriff war eine Fehlkalkulation gewesen, denn die Siechen konnten noch töten, und das System wurde kurz und klein geschlagen. Vielleicht überlebte die junge Rasse. Wenn aber nach zehn Millionen Jahren noch etwas von jenen jungen Mördern übrig war, dann waren sie jetzt die gebrechlichste unter den älteren Rassen des Systems. Wohl tausend neue Rassen waren in dieser Zeit vorübergegangen, und fast jede hatte etwas getan, um die Ringe und die Gaswolke, die von dem Debakel zurückgeblieben waren, zurechtzustutzen. Was übrig war, war durchaus keine Ruine, aber alt… alt. Die Schiffsbibliothek behauptete, dass in den letzten tausend Jahren keine Rasse von Harmonische Ruhe transzendiert war. Dieser Umstand war wichtiger als alle anderen. Die gegenwärtigen Zivilisationen befanden sich in ihrer Abenddämmerung und verfeinerten das Mittelmaß. Mehr als an alles andere erinnerte das System an einen alten und schönen Gezeitentümpel, herausgeputzt und gepflegt, abgeschirmt gegen die aufregenden Wellen, die seine Bonsai-Federn behelligen könnten. Höchstwahrscheinlich waren die Hauerbeine die lebhafteste Art hier, vielleicht die Einzigen, die sich für Handel mit der Außenwelt interessierten.
Ihr Wagen wurde langsamer und bog in einen kleinen Turm ein.
»Bei der Flotte, was würde ich darum geben, mit ihnen da draußen zu sein!« Pham Nuwen deutete auf die Bilder, die von den Skrodkameras kamen. Seit die Skrodfahrer fort waren, hing er ständig an den Bildschirmen und starrte abwechselnd mit großen Augen die Ringlandschaft an und schnellte geistesabwesend zwischen Boden und Decke des Steuerdecks hin und her. Ravna hatte ihn nie derart gefesselt, derart intensiv erlebt. Wie unecht die Erinnerungen an seine Tage als Händler sein mochten, er glaubte wirklich, etwas beeinflussen zu können. Und vielleicht hat er Recht.
Pham kam von der Decke herunter und zog sich nahe an den Bildschirm heran. Es sah aus, als würde der Handel gleich ernstlich beginnen. Die Skrodfahrer waren in einem kugelförmigen Raum von vielleicht fünfzig Metern Durchmesser angelangt. Anscheinend schwebten sie nahe bei der Mitte. Ein Wald wuchs aus allen Richtungen einwärts, und die Fahrer schienen nur ein paar Meter über den Baumkronen zu schweben. Hier und da sahen sie zwischen den Zweigen den Boden: ein Blumenmosaik.
Die Händlerwesen von Sankt Rihndell waren über die größten Bäume verstreut. Jeder saß da, seine Elfenbeinglieder um einen Baumwipfel geklammert. Hauerbein-Rassen waren in der Galaxis weit verbreitet, doch dies waren die ersten, die Ravna kennen lernte. Der Körperbau war ganz anders als alles, was sie von daheim kannte, und selbst jetzt hatte sie keine klare Vorstellung von ihrer Gestalt. Wie sie so auf den Bäumen saßen, ähnelten ihre Beine eher Knochenfingern, die den Stamm umklammerten. Ihr Hauptvertreter — der behauptete, Sankt Rihndell selbst zu sein — hatte geschnitzte Ornamente, die zwei Drittel seines Elfenbeins bedeckten. Zwei von den Fenstern zeigten die Schnitzereien aus der Nähe; Pham schien zu glauben, es könnte nützlich sein, die Kunst zu verstehen.
Sie kamen langsam voran. Triskweline war die gemeinsame Sprache, aber gute Übersetzungsgeräte funktionierten so tief im Jenseits nicht, und die Leute von Sankt Rihndell kannten die Handelssprache nur oberflächlich. Ravna war an saubere Übersetzungen gewöhnt. Sogar die Netzbotschaften, mit denen sie zu tun hatte, waren in der Regel verständlich, wenngleich manchmal auf irreführende Weise.
Sie redeten seit zwanzig Minuten und hatten bisher nur festgestellt, dass Sankt Rihndell möglicherweise imstande war, die ADR zu reparieren. Es lag an der üblichen Neigung der Skrodfahrer zu Abschweifungen, und an noch etwas. Pham schien die langweilige Unterredung zu gefallen. »Rav, das ist fast wie ein Unternehmen der Dschöng Ho, Auge in Auge mit fremden Geschöpfen und kaum eine gemeinsame Sprache.«
»Wir haben ihnen schon vor Stunden eine Beschreibung unseres Reparaturproblems geschickt. Warum sollte ein einfaches Ja oder Nein so lange dauern?«
»Weil sie feilschen«, sagte Pham, und sein Grinsen wurde breiter. »Der ›ehrliche‹ Sankt Rihndell hier« — er zeigte auf den Einheimischen mit den Ornamenten — »will uns klarmachen, wie schwierig der Auftrag ist… Bei Gott, ich wünschte, ich wäre da draußen.«
Sogar Blaustiel und Grünmuschel wirkten jetzt ein wenig sonderbar. Ihr Triskweline war rudimentär, kaum komplexer als das von Sankt Rihndell. Und ein großer Teil der Unterredung schien sehr umständlich zu laufen. Bei der Arbeit für die Vrinimi hatte Ravna einige Erfahrung mit Verkauf und Handel gesammelt. Aber feilschen? Man hatte seine Datenbanken mit den Preisen und strategische Unterstützung, dazu Richtlinien von Grondrs Leuten. Entweder man machte den Handel, oder man ließ es. Was zwischen der Skrodfahrern und Sankt Rihndell vor sich ging, gehörte zu den fremdartigsten Dingen, die Ravna jemals gesehen hatte.
»Eigentlich kommen sie ganz gut voran — glaube ich. Du hast gesehen, als wir ankamen, hat das Knochenbein Blaustiels Muster genommen. Mittlerweile wissen sie exakt, was wir haben. Unter diesen Mustern ist etwas, das sie gern hätten.«
»Ach ja?«
»Gewiss. Sankt Rihndell macht unser Zeug nicht zu seinem puren Vergnügen schlecht.«
»Verdammt, es kann sein, wir haben überhaupt nichts an Bord, was sie haben wollen. Das sollte ja nie eine Handelsexpedition sein.« Blaustiel und Grünmuschel hatten ›Warenmuster‹ aus den Schiffsvorräten locker gemacht, Dinge, ohne die die ADR überleben konnte. Dazu gehörten Sensorgeräte und etwas Computerausrüstung fürs Untere Jenseits. Manches davon wäre ein ernster Verlust. Aber so oder so, wir brauchen die Reparatur.
Pham kicherte. »Nein. Da ist etwas, das Sankt Rihndell haben möchte. Sonst würde er nicht immer noch quatschen… Und siehst du, wie er immer wieder mit den Wünschen seiner ›anderen Kunden‹ stichelt? Sankt Rihndell ist eine menschliche Sorte Kerl.«
Etwas wie menschlicher Gesang erklang über die Verbindung zu den Skrodfahrern. Ravna richtete Grünmuschels Kamera auf den Klang. Von ›Waldboden‹ auf der Seite gegenüber Blaustiel erschienen drei neue Wesen.
»Oh… sind die schön! Schmetterlinge«, sagte Ravna.
»Hä?«
»Ich meine, sie sehen aus wie Schmetterlinge. Du weißt? Hm. Insekten mit großen bunten Flügeln.«
Riesenschmetterlinge, wirklich. Die Neuankömmlinge hatten einen im allgemeinen humanoiden Körperbau. Sie waren etwa 150 Zentimeter groß und mit weich aussehendem braunem Pelz bedeckt. Ihre Flügel breiteten sich hinten von den Schulterblättern her aus. Sie hatten eine Spannweite von fast zwei Metern, in weichen Blau- und Gelbtönen, manche feiner gemustert als andere. Sicherlich waren sie künstlich oder eine genetisch hergestellte Marotte; bei fast jeder halbwegs normalen Gravitation wären sie zum Fliegen ungeeignet gewesen. Doch hier in der Schwerelosigkeit… Die drei schwebten nur einen Moment lang am Eingang, die großen, sanft blickenden Augen zu den Skrodfahrern emporgerichtet. Dann bewegten sie die Flügel mit gemessenen Schlägen und schwebten graziös in die Luft über dem Wald. Die ganze Wirkung erinnerte an ein Kindervideo. Sie hatten kecke Stupsnasen wie Schmuse-Jorakorns und Augen, so groß und schüchtern, wie sie nur je ein menschlicher Trickfilmer gezeichnet hatte. Ihre Stimmen klangen wie der Gesang von Kindern.
Sankt Rihndell und seine Kumpels schoben sich seitlich um ihre Baumkronen. Der größte der Besucher sang weiter und faltete sacht die Flügel. Nach einer Weile wurde Ravna bewusst, dass er fließend Trisk sprach, das von einem Gerät aus seiner eigenen Sprache übersetzt wurde: »Sankt Rihndell, Grüße! Unsere Schiffe sind bereit für deine Reparaturen. Wir haben anständig bezahlt, und wir sind in großer Eile. Deine Arbeit muss sofort beginnen!«
Sankt Rihndells Trisk-Spezialist übersetzte seinem Chef die Rede.
Ravna beugte sich über Phams Rücken. »Vielleicht ist unser freundlicher Handwerker also wirklich ausgebucht«, sagte sie.
»Hmm.«
Sankt Rihndell kam um seinen Baumwipfel herum zurück. Seine kleinen Arme zupften an den Baumnadeln, als er antwortete: »Geehrte Kunden. Ihr habt eine Bezahlung angeboten, die nicht voll akzeptiert wird. Was ihr verlangt, ist knapp, schwer zu… tun.«
Der knuddelige Schmetterling machte ein quietschendes Geräusch, das bei einem Kind als freudiges Lachen hätte gelten können. Der Sinn seines Gesangs war anders: »Die Zeiten ändern sich, Rihndell-Kreatur! Deine Leute müssen lernen: Wir lassen uns nicht anschmieren. Du kennst die heilige Mission meiner Flotte. Wir rechnen dir jede verstreichende Stunde als Schuld an. Denke an die Flotte, der du dich gegenübersehen wirst, wenn dein Mangel an Kooperation jemals bekannt wird — wenn er jemals auch nur vermutet wird.« Es gab einen Schlag der blauen und gelben Flügel, und der Schmetterling wandte sich um. Der Blick seiner dunklen, schüchternen Augen ruhte auf den Skrodfahrern: »Und diese Topfpflanzen, das sind Kunden? Schick sie weg! Solange wir hier sind, hast du keine anderen Kunden.«
Ravna holte tief Luft. Die drei besaßen keine sichtbaren Waffen, doch plötzlich hatte sie Angst um Blaustiel und Grünmuschel.
»Sieh an«, sagte Pham. »Schmetterlinge in Schaftstiefeln.«
Nach der Uhr brauchten die Skrodfahrer keine halbe Stunde für den Rückweg. Pham Nuwen kam es viel länger vor, obwohl er Ravna gegenüber versuchte, sich nichts anmerken zulassen. Vielleicht versuchten sie das beide; er wusste, dass sie ihn noch immer für einen mit Vorsicht zu behandelnden Fall hielt.
Aber die Kameras der Skrodfahrer zeigten keine Anzeichen der Mörderschmetterlinge mehr. Endlich schnappte die Frachtluke auf, und Blaustiel und Grünmuschel waren wieder da.
»Ich war mir sicher, dass die raffinierten Hauerbeine die starke Nachfrage nur vortäuschten«, sagte Blaustiel. Er schien ebenso scharf darauf zu sein, die Geschichte durchzukauen, wie Pham.
»Hm, das habe ich auch gedacht. Eigentlich denke ich immer noch, dass diese Schmetterlinge bloß Teil einer Vorstellung sind. Es ist viel zu melodramatisch.«
Blaustiels Wedel raschelten auf eine Art, die Pham als eine Art Schauder erkannte. »Ich fürchte nicht, Herr Pham. Das waren Aprahanti. Schon ihr Anblick jagt einem Angst ein, nicht wahr? Heutzutage sind sie selten, aber ein Kauffahrer kennt die Geschichten. Dennoch…, das ist sogar für Aprahanti ein bisschen viel. Ihre Hegemonie ist seit etlichen Jahrhunderten im Niedergang.« Er rasselte dem Schiff etwas zu, und die Bildschirme füllten sich mit Ansichten der näheren Liegeplätze im Reparaturhafen. Es folgte weiteres Fahrer-Rascheln, diesmal zwischen Grünmuschel und Blaustiel. »Diese anderen Schiffe sind ein Einheitstyp, wissen Sie. Eine Konstruktion aus dem Hohen Jenseits wie unseres, aber mehr… hm… kriegerisch.«
Grünmuschel bewegte sich nahe an ein Fenster. »Es gibt zwanzig davon. Warum sollten so viele gleichzeitig Antriebsreparaturen benötigen?«
Kriegerisch? Pham musterte die Schiffe mit kritischem Blick. Er kannte mittlerweile die Grundzüge von Jenseiter-Schiffen. Diese hier schienen ziemlich viel Ladekapazität zu haben. Auch ausgefeilte Sensortechnik. Hm. »Gut, die Schmetterlinge sind also harte Typen. Wie sehr fürchten sich Sankt Rihndell & Co.?«
Die Skrodfahrer schwiegen lange. Pham vermochte nicht zu sagen, ob sie seine Frage ernsthaft bedachten oder ob sie beide zugleich den Gesprächsfaden verloren hatten. Er schaute Ravna an. »Was ist mit dem lokalen Netz? Ich hätte gern ein paar Hintergrundinformationen.«
Sie hatte bereits die Kommunikationsroutinen gestartet. »Wir hatten vorher keinen Zugang. Wir konnten nicht einmal die Nachrichten empfangen.« Das verstand Pham, obwohl es einen verdammt irritierte. Das ›lokale Netz‹ war ein RIP-weites Computer- und Kommunikationsnetz auf Ultrawellen-Basis, komplexer als alles, was Pham früher gekannt hatte — aber ähnlich wie Organisationen in der Langsamen Zone konzipiert. Und Pham Nuwen hatte gesehen, was Vandalen solchen Strukturen antun konnten; die Dschöng Ho hatte mindestens einer widerwärtigen Zivilisation das Computernetz pervertiert. Kein Wunder, dass Sankt Rihndell ihnen keine Verbindungen zum RIP-Netz zur Verfügung gestellt hatte. Und solange sie sich im Hafen befanden, war der Antennenschwarm der ADR notwendigerweise an Bord, also waren sie auch vom Bekannten Netz und den Nachrichtengruppen abgeschnitten.
Ein Grinsen hellte Ravnas Miene auf. »He! Jetzt haben wir guten Zugang, vielleicht mehr. Grünmuschel. Blaustiel. Wacht auf!«
Rasseln. »Ich habe nicht geschlafen«, erklärte Blaustiel, »nur über Herrn Phams Frage nachgedacht. Sankt Rihndell hat offensichtlich Angst.«
Wie üblich gab Grünmuschel keine Entschuldigungen ab. Sie rollte zu ihrem Partner hin, um Ravnas neu eröffnetes Kommunikationsfenster besser sehen zu können. Da war ein Muster aus verschachtelten Dreiecken mit Anmerkungen in Trisk. Pham konnte nichts damit anfangen. »Das ist interessant«, sagte Grünmuschel.
»Ich kichere«, sagte Blaustiel. »Es ist mehr als interessant. Sankt Rihndell ist ein hartgesottener Händler. Aber seht, er nimmt für diese Dienstleistung keine Gebühr, nicht einmal Provision. Er hat Angst, aber er möchte immer noch mit uns ins Geschäft kommen.«
Hmm, also genügte etwas von ihren Warenproben aus dem Hohen Jenseits, dass er Gewalt seitens der Aprahanti riskierte. Hoffentlich ist es nichts, was wir selber dringend brauchen. »In Ordnung. Rav, ich sehe…«
»Moment«, sagte die Frau. »Ich möchte die Nachrichten durchsehen.« Sie startete ein Suchprogramm. Ihre Augen huschten über den Pultschirm… und nach einer Sekunde schluckte sie, und ihr Gesicht wurde bleich. »Bei den MÄCHTEN, nein!«
»Was ist?«
Doch Ravna antwortete nicht, noch legte sie die Nachricht auf einen Hauptbildschirm. Pham langte nach dem Griff an der Vorderseite ihres Pultes und zog sich herum, sodass er sehen konnte, was sie gerade las:
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: Kommunikationssynode Harmonische Ruhe
SPRACHPFAD: Baeloresk -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Allianz für die Verteidigung
[Angeblich Genossenschaft von fünf polyspezifischen Imperien im Jenseits unterhalb des Straumli-Bereichs. Vor dem Untergang des Bereichs nicht verzeichnet.]
GEGENSTAND: Gewaltiger Sieg über die PERVERSION
VERTEILER:
Pestgefahr
Interessengruppe Kriegsbeobachter
Interessengruppe Homo sapiens
DATUM: 159,06 Tage seit dem Untergang von Relais
SCHLAGWÖRTER: Handeln, nicht reden; Ein vielversprechender Anfang
TEXT DER BOTSCHAFT:
Vor einhundert Sekunden haben die Streitkräfte der Allianz mit Aktionen gegen die Werkzeuge der PEST begonnen. Wenn ihr dies lest, wird die von Homo sapiens besiedelte Welt namens Sjandra Kei vernichtet sein.
Nota bene: Bei all dem Gerede und den Theorien, die über die PEST im Umlauf sind, ist dies das erste Mal, dass jemand mit Erfolg gehandelt hat. Sjandra Kei war eins von den einzigen drei Systemen außerhalb des Straumli-Bereichs, wo bekanntermaßen Menschen in größeren Mengen Unterschlupf gefunden haben. Auf einen Schlag haben wir ein Drittel des Expansionspotentials der PERVERSION vernichtet.
Bei weiteren Fortschritten werden wir die Meldung aktualisieren.
Tod dem Ungeziefer.
Im Fenster stand noch eine weitere Botschaft, eine Art Aktualisierung, aber nicht von ›Tod dem Ungeziefer‹ .
CRYPTO: 0
RECHNUNG: Caritas/Gemeinnutz
EMPFANGEN VON: Kommunikationssynode Harmonische Ruhe
SPRACHPFAD: Samnorsk -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON:
[Anmerkung des unteren Protokollzweiges: Diese Botschaft wurde bei Sneerot Tief auf dem Kanal von Sjandra Kei empfangen. Die Übertragung war sehr schwach, vielleicht von einem Schiffssender.]
GEGENSTAND: Bitte helft
VERTEILER:
Interessengruppe Bedrohungen
DATUM: 5,33 Stunden seit der Katastrophe von Sjandra Kei
TEXT DER BOTSCHAFT:
Heute haben relativistische Geschosse unsere Hauptwohnorte getroffen. Die Zahl der Todesfälle beträgt mindestens fünfundzwanzig Milliarden. Drei Milliarden können noch am Leben sein — unterwegs und in kleineren Habitaten.
Wir werden immer noch angegriffen.
Feindliche Schiffe sind im inneren System. Wir sehen Glühbomben. Sie töten alle und jeden.
Bitte. Wir brauchen Hilfe.
»Nei nei nei!« Ravna presste sich an ihn, umklammerte ihn mit den Armen, das Gesicht an seine Schulter geschmiegt. Sie schluchzte in zusammenhanglosem Samnorsk. Ihr ganzer Körper zitterte an seinem. Er fühlte, wie ihm selbst Tränen in die Augen traten. So seltsam. Sie war die Starke gewesen und er der gebrechliche Verrückte. Nun war alles umgekehrt, und was konnte er tun? »Vater, Mutter, Schwester — tot, tot.«
Es war die Katastrophe, die sie für unmöglich gehalten hatten, und nun war sie eingetroffen. In einer Minute hatte sie alles verloren, womit sie aufgewachsen war, und war auf einmal allein im Weltall. Mir ist das vor langer Zeit widerfahren — der Gedanke kam sonderbar leidenschaftslos. Er hakte einen Fuß ins Deck und wiegte Ravna sanft hin und her, in der Hoffnung, sie zu trösten.
Die Trauerlaute verstummten allmählich, obwohl er sie noch durch seine Brust hindurch schluchzen fühlte. Sie hob das Gesicht nicht von dem tränennassen Fleck auf seinem Hemd. Pham blickte über ihren Kopf nach Blaustiel und Grünmuschel. Ihre Wedel sahen seltsam aus — fast welk.
»Ich will Ravna für eine Weile fortschaffen. Versucht herauszufinden, was ihr könnt, und ich komme wieder.«
»Ja, Herr Pham.« Und sie wirkten noch schlaffer als zuvor.
Eine Stunde verging, ehe Pham auf das Steuerdeck zurückkehrte. Er fand die Skrodfahrer in eine rasselnde Besprechung mit der ADR vertieft. Alle Fenster waren von flackernder Fremdheit angefüllt. Hier und da erkannte Pham ein Muster oder eine Beschriftung, genug, um zu erraten, dass er gewöhnliche Schiffsanzeigen sah, doch optimiert für die Sinne der Fahrer.
Blaustiel bemerkte ihn zuerst; er rollte abrupt auf ihn zu, und seine Voderstimme klang ein wenig schrill. »Ist mit ihr alles in Ordnung?«
Pham nickte kurz. »Sie schläft jetzt.« Mit einem Beruhigungsmittel und unter Aufsicht des Schiffes, für den Fall, dass ich sie falsch eingeschätzt habe. »Wisst ihr, sie wird in Ordnung kommen. Es war ein harter Schlag für sie…, aber sie ist die Zäheste von uns allen.«
Grünmuschels Wedel raschelten ein Lächeln. »Das habe ich oft gedacht.«
Blaustiel war einen Moment lang reglos. Dann sagte er: »Gut, zum Geschäft, zum Geschäft.« Er gab dem Schiff eine Anweisung, und die Fenster änderten ihr Format zu dem Kompromiss, der für Menschen wie für Skrodfahrer brauchbar war. »Wir haben eine Menge erfahren, seit Sie gegangen waren. Sankt Rihndell hat tatsächlich Grund zur Furcht. Die Aprahanti-Schiffe sind ein kleiner Bruchteil der ›Tod dem Ungeziefer‹ -Ausrottungsflotten. Diese hier sind Nachzügler auf dem Weg nach Sjandra Kei!«
Alle fein angezogen für ein Massaker, und dann ist überall zu. »Sie wollen also auch selbst was unternehmen.«
»Ja. Anscheinend hat Sjandra Kei etlichen Widerstand geleistet, und manche müssen entkommen sein. Der Befehlshaber dieser Flottille glaubt, er kann davon einige abfangen — wenn seine Schiffe sofort repariert werden.«
»Welche Art von Zwang kann er wirklich ausüben? Könnten diese zwanzig Schiffe RIP zerstören?«
»Nein. Es ist der Ruf der größeren Streitmacht, zu der diese Schiffe gehören — und das große Gemetzel bei Sjandra Kei. Also ist Sankt Rihndell ihnen gegenüber sehr zurückhaltend, und was sie für ihre Reparaturen brauchen, ist dieselbe Art von Wachstumsmittel, die wir benötigen. Wir stehen wirklich mit ihnen in Konkurrenz um Rihndells Dienste.« Blaustiels Wedel klappten zusammen — die Sorte ›ich krieg sie‹ -Begeisterung, die er zeigte, wenn die Rede auf einen großen Coup kam. »Wie sich aber herausstellt, besitzen wir etwas, das Sankt Rihndell wirklich, wirklich haben möchte, wofür er sogar riskiert, die Aprahanti auszutricksen.« Er machte eine Kunstpause.
Pham dachte zurück an die Dinge, die sie den RIP-Leuten angeboten hatten. Gott, nicht die Ultrawellenausrüstung für die untere Zone. »In Ordnung, ich werde es schlucken. Was müssen wir ihnen geben?«
»Einen Satz geflammte Trellise! Ha ha.«
»Hä?« Pham erinnerte sich, den Namen auf der Liste des Krimskrams gesehen zu haben, den die Skrodfahrer zusammengekratzt hatten. »Was ist ein ›geflammter Trellis‹ ?«
Blaustiel steckte einen Wedel unter sein Frachttuch und hielt Pham etwas Knorriges und Schwarzes hin: einen unregelmäßigen festen Körper, etwa vierzig mal fünfzehn Zentimeter, glatt anzufühlen. Bei all seiner Größe wog es nicht mehr als ein paar Gramm. Eine kunstvoll geglättete — Schlacke. Phams Neugier siegte über höhere Erwägungen: »Aber wozu ist das gut?«
Blaustiel zauderte. Nach einer Weile sagte Grünmuschel ein wenig schüchtern: »Es gibt Theorien. Es ist purer Kohlenstoff, ein fraktaler Polymer. Wir wissen, dass es in Ladungen aus dem Transzens oft vorkommt. Wir glauben, es wird als Verpackungsmaterial für eine Art vernunftbegabtes Eigentum benutzt.«
»Oder es ist das Exkrement dieses Eigentums«, murmelte Blaustiel surrend. »Ach, aber das ist unwichtig. Wichtig ist, dass die eine oder andere Rasse im Mittleren Jenseits das Zeug schätzt. Und warum das? Auch das wissen wir nicht. Sankt Rihndells Leute sind garantiert nicht die Endnutzer. Die Hauerbeine sind viel zu vernünftig, um gewöhnliche Trellis-Käufer zu sein. So. Wir haben dreihundert von diesen wunderbaren Dingern — mehr als genug, um Sankt Rihndells Furcht vor den Aprahanti zu besiegen.«
Während Pham bei Ravna gewesen war, hatte Sankt Rihndell einen Plan entwickelt. Das Wachstumsmittel anzuwenden, wäre im selben Hafen, in dem die Aprahanti-Schiffe lagen, zu auffällig. Außerdem hatte der oberste Schmetterling verlangt, dass die ADR das Feld räumte. Sankt Rihndell besaß einen kleineren Hafen etwa sechzehn Millionen Kilometer um das RIP-System herum. Der Umzug war sogar plausibel, denn zufällig befand sich im System von Harmonische Ruhe ein Terraneum von Skrodfahrern, und zwar zur Zeit nur ein paar hundert Kilometer von Rihndells zweitem Hafen entfernt. Sie würden sich im Raum mit den Hauerbeinen treffen und Reparaturen gegen zweihundertsiebzehn geflammte Trellise eintauschen. Und falls die Trellise perfekt den Anforderungen genügten, versprach Rihndell, noch eine Überholung des Agravs draufzulegen. Nach dem Untergang von Relais wäre das sehr willkommen… Tss. Olle Blaustiel blieb immer am Ball.
Die ADR löste sich aus ihren Halterungen und schwebte vorsichtig von der Ringebene empor. Pham hielt ein wachsames Auge auf die Fenster für elekromagnetische und Ultrawellen-Signale. Aber es gab keine Zielsuchstrahlungen von den Aprahanti-Schiffen, nichts als gelegentlichen Radarkontakt. Niemand folgte ihnen. Von der kleinen ADR und ihren ›Topfpflanzen‹ nahmen die großen Krieger keine Notiz.
Eintausend Meter über der Ringebene. Zehntausend. Das Geplauder der Skrodfahrer — sowohl miteinander als auch mit Pham — versickerte. Ihre Stiele und Wedel waren so gebogen, dass die Sinnesoberflächen in alle Richtungen schauten. Die Sonne und ihre Energiewolke waren ein Lichtschwall auf einer Seite des Decks. Sie befanden sich über den Ringen, aber dennoch so nahe… Es war, als stünden sie bei Sonnenuntergang an einem Strand mit vielfarbigem Sand…, der sich bis zu einem unendlichen Horizont erstreckte. Die Skrodfahrer starrten in das Licht, und ihre Wedel wiegten sich sanft hin und her.
Zwanzig Kilometer über den Ringen. Eintausend. Sie zündeten das Haupttriebwerk der ADR und beschleunigten quer über das System. Die Skrodfahrer erwachten langsam aus ihrer Trance. Wenn sie erst einmal den zweiten Hafen erreicht hatten, würde die Heilung der Dorne etwa fünf Stunden dauern — vorausgesetzt, dass Rihndells Wachstumsmittel nicht an Wirkung eingebüßt hatte; der Heilige hatte behauptet, es sei unlängst von der Obergrenze importiert und nicht verdünnt worden.
»In Ordnung, wann liefern wir also die Trellise ab?«
»Bei Beendigung der Reparatur. Wir können nicht abfliegen, bis Sankt Rihndell — oder seine Kunden — sich überzeugt haben, dass alle Stücke echt sind.«
Pham trommelte mit den Fingern auf dem Kommunikationspult. Dieses Unternehmen weckte in ihm eine Menge Erinnerungen, von denen manche haarsträubend waren. »Sie kriegen also die Ware, während wir noch mitten in RIP sind. Das gefällt mir nicht.«
»Sehen Sie, Herr Pham. Ihre Erfahrungen mit interstellarem Handel stammen aus der Langsamen Zone, wo zwischen den einzelnen Käufen Jahrzehnte oder Jahrhunderte Reisezeit lagen. Ich bewundere Sie dafür, mehr als ich sagen kann, aber es vermittelt Ihnen ein verzerrtes Bild von den Dingen. Hier oben im Jenseits ist der Aspekt der späteren Geschäftsbeziehungen wichtig. Wir wissen sehr wenig von Sankt Rihndells inneren Beweggründen, wohl aber, dass sein Reparaturgeschäft seit mindestens vierzig Jahren besteht. Dass er möglichst viel herauszuschlagen versucht, können wir von ihm erwarten, aber wenn er öfters jemanden ausrauben oder ermorden würde, wüssten es die Kauffahrergruppen, und sein kleines Geschäft würde eingehen.«
»Hm.« Es hatte keinen Sinn, sich jetzt darüber zu streiten, doch Pham vermutete, dass dies eine besondere Situation war. Rihndell — und die RIP-Leute im allgemeinen — hatten ›Tod dem Ungeziefer‹ vor der Haustür, und aus der Richtung von Sjandra Kei kamen Geschichten von gewaltigem Chaos. Vor diesem Hintergrund konnten sie durchaus den Mut verlieren, wenn sie die Trellise erst einmal hatten. Einige Vorsichtsmaßnahmen waren angebracht. Er schwebte vom Steuerdeck zur Maschinenwerkstatt des Schiffes.
Ravna kam zum Frachtdeck, als Blaustiel und Grünmuschel die Trellise zur Übergabe fertig machten. Sie bewegte sich zögernd, stieß sich ungelenk von einer Stelle zur anderen. Um ihre Augen lagen dunkle Ringe, fast blaue Flecke. Sie erwiderte Phams Umarmung beinahe zurückhaltend, ließ ihn aber nicht los. »Ich möchte helfen. Gibt es irgendetwas, das ich tun kann?«
Die Skrodfahrer verließen ihre Trellise und rollten zu ihr hin. Blaustiel strich ihr mit einem Wedel sanft über den Arm. »Momentan ist für Sie nichts zu tun, meine Dame Ravna. Wir haben alles gut, äh, im Griff. Wir werden in weniger als einer Stunde zurück sein, und dann können wir hier verschwinden.«
Doch sie ließen Ravna ihre Kameras und die Haltegurte für die Fracht kontrollieren. Pham schwebte nahe bei ihr, als sie die Trellise überprüfte. Die verdrillten Kohlenstoffblöcke sahen seltsamer aus als der eine allein. Richtig gestapelt, passten sie perfekt aneinander. Mit seinen Abmessungen von mehr als einem Meter sah der Stapel wie ein dreidimensionales aus Kohle geschnitztes Puzzle aus. Zusammen mit einem extra Beutel voll loser Ersatzstücke wog er weniger als ein halbes Kilogramm. Hm. Die verdammten Dinger müssten verteufelt leicht entzündlich sein. Pham beschloss, mit den verbleibenden über hundert Trellisen zu spielen, wenn sie wieder sicher im freien Raum waren.
Dann hatten die Skrodfahrer mit ihrer Ware die Frachtluke durchquert, und sie konnten ihnen nur mit Hilfe der Kameras folgen.
Dieser Nebenhafen gehörte nicht eigentlich zum Terraneum der Hauerbein-Rasse. Das Innere des Bogens unterschied sich sehr von dem, was sie beim ersten Ausflug der Skrodfahrer gesehen hatten. Es gab keine Bildschirme mit Außenansichten. Vollgestellte Gänge wanden sich zwischen unregelmäßigen Wänden, die von dunklen Löchern übersät waren. Insekten flogen überall und bedeckten oft Teile der Kamerakugeln. Pham erschien der Ort schmuddelig. Es gab keine Anzeichen von den Besitzern des Siedlungsgebiets — es sei denn, das waren die bleichen Würmer, die manchmal einen ungegliederten Kopf aus einem Wohnloch hervorsteckten. Über ihre Sprechverbindung äußerte Blaustiel die Ansicht, dies seien sehr alte Bewohner des RIP-Systems. Nach einer Million Jahre und hundert Auswanderungen ins Transzens war der Rest vielleicht immer noch vernunftbegabt, aber seltsamer als alles, was sich in der Langsamen Zone entwickelt hatte. Solche Leute wurden für gewöhnlich von uralter Automatik vor der Ausrottung bewahrt, doch sie waren auch nach innen gewandt, absolut vorsichtig und in Dinge versenkt, die nach jeglicher äußeren Norm als irrsinnig galten. Es war die Sorte, die es am häufigsten nach Trellis-Arbeiten gelüstete.
Pham versuchte, alles im Blick zu behalten. Die Skrodfahrer mussten fast vier Kilometer von der Hafenschleuse bis zu der Stelle zurücklegen, wo die Trellise ›für gültig erklärt‹ werden sollten. Pham zählte unterwegs zwei Außenluken und bemerkte nichts, was besonders bedrohlich wirkte — aber wie sollte er wissen, wie etwas Bedrohliches hier aussah? Er ließ die ADR eine äußere Überwachung installieren. Ein großer Hirten-Satellit schwebte an der Außenseite des Ringes, doch es waren keine anderen Schiffe in diesem Hafen. Der Äther im elektromagnetischen und Ultrawellen-Bereich wirkte friedlich, und was im lokalen Netz zu sehen war, erschien nach der Verkehrsanalyse des Schiffes nicht verdächtig.
Pham schaute von den Berichten auf. Ravna war übers Deck zur Außenansicht geschwebt. Die Reparaturen waren sichtlich, wenngleich nicht auffällig. Eine fahle grünliche Aura hing rings um die beschädigten Dorne. Sie war kaum heller als der Schimmer, den man in tiefen Planeten-Umlaufbahnen oft an Schiffsrümpfen sieht. Sie wandte sich um und sagte leise: »Bringen sie es wirklich in Ordnung?«
»Soweit ich sehen kann, meine ich, ja.« Die Schiffsautomatik überwachte den Heilungsprozess, doch sie konnten keine Gewissheit erlangen, bis sie wirklich versuchten, damit zu fliegen.
Pham bekam niemals Gewissheit, warum Rihndell die Skrodfahrer das Terraneum der Wurmköpfe durchqueren ließ; falls die Wesen die Endverbraucher der Trellise waren, wollten sie vielleicht einen Blick auf die Verkäufer werfen. Jedenfalls hatten die Skrodfahrer das Gebiet bald hinter sich und gelangten an einen polyspezifischen Knotenpunkt, in dem es von Wesen wimmelte, wie nur jemals auf einem Basar technisch tiefstehender Zivilisationen.
Phams Kiefer klappte herunter. Wohin er auch schaute, war eine andere Species vernunftbegabter Wesen. Intelligentes Leben ist eine seltene Entwicklung im Weltall; in seinem ganzen Leben in der Langsamen Zone hatte er drei nichtmenschliche Rassen kennen gelernt. Doch das Weltall ist groß, und mit Ultraantrieb ist es leicht, anderes Leben zu finden. Im Jenseits sammelte sich der Bodensatz zahlloser Wanderbewegungen an, eine Anhäufung, die letzten Endes die Zivilisation überall verbreitete. Für einen Augenblick verlor er seine Überwachungsprogramme und seinen allgemeinen Argwohn aus den Augen, versunken im Wunderbaren. Zehn Species? Zwölf? Individuen streiften einander wie alte Vertraute. Nicht einmal Relais war damit zu vergleichen gewesen. Aber Harmonische Ruhe war ja eine in Stagnation gefangene Zivilisation. Diese Rassen waren seit Jahrtausenden Teil des RIP-Komplexes. Diejenigen, die mit anderen in Beziehung treten konnten, hatten das längst gelernt.
Und nirgends sah er Schmetterlingsflügel oder Wesen mit großen, mitfühlenden Augen.
Er hörte einen leisen Überraschungsruf von der anderen Seite des Decks. Ravna stand nahe an einem Bildschirm, der den Blick durch eine von Grünmuschels Seitenkameras zeigte. »Was ist, Rav?«
»Skrodfahrer. Siehst du?« Sie zeigte in die Menge und vergrößerte einen Bildausschnitt. Einen Moment lang ragten die Bilder über ihr auf. Durch das Gewimmel hindurch erhaschte er einen Blick auf Skrodformen und graziöse Wedel. Abgesehen von Zierstreifen und Quasten sahen sie wirklich sehr vertraut aus.
»Ja, die haben hier eine kleine Kolonie.« Er öffnete den Kanal zu Grünmuschel und teilte ihr mit, was sie gesichtet hatten.
»Ich weiß. Wir haben sie… gerochen. Schade. Ich wünschte, wir hätten Zeit, sie anschließend zu besuchen. An fernen Orten Freunde zu finden — ist immer schön.« Sie half Blaustiel, die Trellise um ein rundes Aquarium herumzubugsieren. Direkt vor sich sahen sie Rihndells Leute. Sechs Hauerbeine saßen an der Wand rings um etwas, das vielleicht eine Testvorrichtung war.
Blaustiel und Grünmuschel schoben ihre Kugel geschäumten Kohlenstoffs in die Gruppe. Der mit dem Schnitzwerk beugte sich dicht an den Stapel heran, langte mit seinen winzigen Armen nach den Stücken und betastete sie vorsichtig. Stück für Stück wurden die Trellise ins Testgerät gelegt. Blaustiel ging nahe heran, um zuzuschauen, und Pham stellte das Hauptfenster auf den Blick durch seine Kameras ein. Zwanzig Sekunden vergingen. Rihndells Trisk-Dolmetscher sagte: »Erste sieben sind echt, ergeben ein verklammertes Septett.«
Erst da wurde Pham bewusst, dass er den Atem angehalten hatte. Auch die nächsten drei ›Septetts‹ bestanden den Test. Weitere sechzig Sekunden. Er warf einen Blick auf den Reparaturstatus des Schiffes. Die ADR hielt die Arbeiten für erledigt, abgesehen von der Abschlussbestätigung vom lokalen Netz. Noch ein paar Minuten, und wir können uns von hier verabschieden!
Doch es gibt immer Probleme. Sankt Rihndell mäkelte am zwölften und fünfzehnten Satz herum. Blaustiel diskutierte ausführlich und holte missmutig Ersatzstücke aus seinem Reservebeutel. Pham konnte nicht feststellen, ob der Skrodfahrer zu seinem Vergnügen debattierte oder ob er wirklich knapp an guten Ersatzstücken war.
Fünfundzwanzig Sätze für gut befunden.
»Wohin geht Grünmuschel?«, fragte Ravna.
»Was?« Pham schaltete auf Grünmuschels Kamera um. Sie war fünf Meter von Blaustiel entfernt und bewegte sich weiter fort. Er ließ die Kamera wild hin und her schwenken. Ein einheimischer Skrodfahrer befand sich zu ihrer Linken, und noch einer schwebte umgekehrt über ihr. Seine Wedel berührten die ihren in anscheinend freundlichem Gespräch. »Grünmuschel!« Es kam keine Antwort.
»Blaustiel! Was geht da vor sich?« Aber der Skrodfahrer war gestikulierend in einen Disput mit den Hauerbeinen vertieft. Ein weiterer Satz Trellise war durch ihre Prüfung gefallen. »Blaustiel!« Nach einer Weile erklang die Stimme des Fahrers über ihren Privatkanal. Er wirkte zerstreut, so wie oft, wenn er blockiert oder überfordert war. »Lassen Sie mich jetzt, Herr Pham. Ich besitze nur noch drei perfekte Ersatzstücke. Ich muss diese Burschen überzeugen, mit dem vorlieb zu nehmen, was sie schon haben.«
Ravna fiel ein: »Aber was ist mit Grünmuschel? Was geschieht mit ihr?« Die Kameras hatten einander aus dem Blickfeld verloren. Grünmuschel und ihre Begleiter kamen aus einer dichten Menge hervor und schwebten durch die Mitte des Platzes. Statt Rädern benutzten sie Gasdüsen. Jemand hatte es eilig.
Endlich erfasste Blaustiel den Ernst der Lage. Die Ansicht von seinem Skrod aus wechselte heftig, während er um Rihndells Leute herum hin und her rollte. Es gab ein Gerassel in der Fahrersprache, und dann erklang seine Stimme über den Innenkanal, klagend und verwirrt. »Sie ist weg. Sie ist weg. Ich muss… Ich muss…« Unvermittelt rollte er zurück zu den Hauerbeinen und nahm den Disput wieder auf, der eben unterbrochen worden war. Nach ein paar Sekunden ertönte seine Stimme über den Innenkanal: »Was soll ich tun, Herr Pham? Ich bin hier noch nicht mit dem Verkauf fertig, aber meine Grünmuschel ist weggegangen.«
Oder entführt worden. »Bring den Verkauf unter Dach und Fach, Blaustiel. Mit Grünmuschel geht alles in Ordnung… ADR: Plan B.« Er langte nach einem Kopfhörer und stieß sich vom Pult weg.
Auch Ravna stand auf. »Wohin gehst du?«
Er grinste. »Nach draußen. Ich habe mir gedacht, dass Sankt Rihndell seinen Heiligenschein verlieren könnte, wenn es hart auf hart käme — und ich habe Pläne gemacht.« Sie folgte ihm, während er zur unteren Luke schwebte. »Pass auf. Ich möchte, dass du an Deck bleibst. Ich kann nur eine begrenzte Menge an Ausrüstung tragen, ich werde deine Koordination brauchen.«
»Aber…«
Er stürzte kopfüber durch die Luke und verpasste den Rest ihres Einwands. Sie folgte ihm nicht, doch eine Sekunde später ertönte ihre Stimme wieder in seinen Kopfhörern; das war die alte Ravna, die sich aus ihren anderen Problemen hervorkämpfte. »Gut, ich gebe dir Rückhalt — aber was können wir denn tun?«
Pham zog sich Hand über Hand den Gang entlang und kam dabei auf eine Geschwindigkeit, die einen Gummi von der Wand hätte zurückschnellen lassen. Vor ihm lag unerschütterlich die Wand der Frachtschleuse. Er tippte mit einer Hand sacht an die Wand und drehte sich im Fluge. Er drückte die Hände exakt gegen die Seitenwände, gerade stark genug, dass die träge Masse der Luke ihm nicht die Beine brach. In der Schleuse hatte das Schiff seinen Anzug schon in Betrieb gesetzt.
»Pham, du kannst nicht hinausgehen.« Offensichtlich beobachtete sie ihn durch die Schleusenkameras. »Dann erfahren sie, dass wir eine Menschenexpedition sind.«
Er hatte Kopf und Schultern schon im Oberteil des Anzugs. Er spürte, wie das Unterteil an ihm hochglitt und die Verschlüsse einschnappten. »Nicht unbedingt.« Und inzwischen ist es wahrscheinlich egal. »Hier gibt es eine Menge Kerle mit zwei Armen und zwei Beinen, und ich habe draußen etwas zur Tarnung angeklebt.« Er legte das Kinn in die Helmsteuerung und setzte die Anzeigen zurück. Der gepanzerte Skaphander war im Vergleich zu den Feldanzügen auf Relais sehr primitiv. Doch die Dschöng Ho hätte für diese Ausrüstung ein Sternenschiff gegeben. Ursprünglich hatte er das Ding gebaut, um Eindruck auf die Klauenwesen zu machen, aber jetzt wird es etwas eher erprobt.
Er schaltete mit dem Kinn die Außenansicht ein — was Ravna gerade sah: Seine Gestalt war reinschwarz, über zwei Meter groß. An der Oberseite der Hände befanden sich Schalenklauen, und jeder Rand seiner Gestalt war rasiermesserscharf und dornenbesetzt. Diese jüngst angefügten Zusätze sollten die Linien einer rein menschlichen Figur brechen und hoffentlich verteufelt bedrohlich aussehen.
Pham schloss die Schleuse und stieß sich ins Terraneum der Wurmköpfe. Wände von Schmutz umgaben ihn, vernebelt von der feuchten Luft und Insektenschwärmen.
Ravnas Stimme erklang in seinem Ohr: »Ich habe eine Anfrage auf unterer Ebene erhalten, wahrscheinlich automatisch: Warum ihr schickt dritten Unterhändler?«
»Ignorier sie.«
»Pham, sei vorsichtig. Diese Kulturen im Mittleren Jenseits, die alten, haben hässliche Sachen in petto. Sonst wären sie nicht mehr da.«
»Ich werde ein braver Bürger sein.« Solange ich nett behandelt werde. Er hatte schon den halben Weg zum Tor des Knotenpunkts zurückgelegt. Mit dem Kinn schaltete er ein kleines Fenster mit der Sicht durch Blaustiels Kamera ein. Die ganze Breitbandkommunikation war eine Gratisleistung des lokalen Netzes. Seltsam, dass Rihndell diesen Service immer noch zur Verfügung stellte. Blaustiel schien noch am Verhandeln zu sein. Vielleicht war das doch kein fauler Trick — zumindest keiner, an dem Sankt Rihndell beteiligt war.
»Pham, ich habe das Bild von Grünmuschel verloren, gerade, als sie in eine Art Tunnel gegangen ist. Ihr Ortungsstrahl ist noch deutlich.«
Das Tor der Knotenpunkts öffnete sich für ihn, und dann befand sich Pham in der Menge des Marktgebiets. Selbst durch seine Rüstung hindurch hörte er das raue Getöse. Er bewegte sich langsam und hielt sich an die am wenigsten überfüllten Wege, die Führungstaue entlang, die den Raum durchzogen. Die Menge war kein Problem. Jeder machte Platz, manche in fast panischer Eile. Pham wusste nicht, ob es an seinen scharfen Dornen oder an der Chlorspur lag, die aus seinem Anzug ›heraussickerte‹ . Vielleicht war dieser letzte Pfiff ein bisschen zu viel. Aber der Zweck des Ganzen war, nicht wie ein Mensch auszusehen. Er wurde noch langsamer und tat sein Bestes, niemanden anzustoßen. Etwas, das schrecklich an einen Zielsuch-Laser erinnerte, blitzte in seinem hinteren Fenster auf. Er ging rasch hinter dem Aquarium in Deckung, während Ravna sagte: »Das Siedlungsgebiet hat sich eben über deinen Anzug beschwert. ›Sie verletzen Anzugsordnung‹ , heißt es in der Übersetzung.«
Ist es mein Chlorschweiß, oder haben sie die Strahler entdeckt? »Was ist draußen los? Irgendwelche Schmetterlinge in Sicht?«
»Nein. Die Schiffsbewegungen haben sich in den letzten fünf Stunden nicht sehr verändert. Bei den Aprahanti keine Bewegung und keine Veränderung im Kom-Status.« Lange Pause. Indirekt, über die Brücke der ADR, hörte er Blaustiel mit Ravna sprechen, die Worte waren nicht zu verstehen, aber erregt. Dann sprach Ravna wieder zu ihm. »He! Blaustiel sagt, dass Rihndell die Ladung akzeptiert hat. Er lädt sofort das Agrav-Gewebe ins Schiff. Und die ADR hat soeben die Abschlussbestätigung für die Reparatur erhalten!« Also waren sie startbereit — abgesehen davon, dass drei noch an Land waren und eine davon fehlte.
Pham schwebte über das Aquarium und bekam endlich Blaustiel direkt zu sehen. Er tippte die Gasdüsen des Anzugs sehr vorsichtig an und kam neben dem Skrodfahrer herunter.
Seine Ankunft war ungefähr so willkommen wie Fingermilben während eines Picknicks. Der mit dem Schnitzwerk hatte weiter geschnattert und dabei mit seinen Ornamenten gegen die Wand geklopft, während sein Gehilfe ins Trisk übersetzte. Nun zog das Geschöpf seine Hauer ein, und die Halsarme verschränkten sich. Die anderen folgten seinem Beispiel. Sie alle schoben sich die Wand hinauf, weg von Blaustiel und Pham. »Unser Geschäft ist jetzt abgeschlossen. Wir wissen nicht, wohin euer Freund gegangen ist«, sagte der Trisk-Übersetzer.
Blaustiel streckte ihnen die Wedel nach, winkte. »A-aber wir brauchen nur ein paar Hinweise. Wer…« Es nützte nichts. Sankt Rihndell und seine fröhliche Mannschaft zogen sich weiter zurück. Blaustiel rasselte in plötzlicher Frustration. Seine Wedel neigten sich ein wenig und richteten alle Aufmerksamkeit auf Pham Nuwen. »Herr Pham, ich zweifle jetzt an Ihrer Erfahrung als Kauffahrer. Sankt Rihndell hätte vielleicht geholfen.«
»Vielleicht.« Pham sah zu, wie die Hauerbeine in der Menge verschwanden und die Trellise wie einen großen schwarzen Ballon hinter sich her zogen. Och. Vielleicht war Rihndell einfach ein ehrlicher Kaufmann. »Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Grünmuschel dich mitten in so etwas verlässt?«
Blaustiel zögerte einen Moment lang. »Bei einem gewöhnlichen Handelsaufenthalt hätte sie eine außergewöhnliche Gewinnmöglichkeit bemerken können. Aber hier…«
Ravnas Stimme fiel mitfühlend ein: »Vielleicht hat sie einfach, äh, die Zusammenhänge vergessen?«
»Nein«, antwortete Blaustiel bestimmt. »Der Skrod würde solch einen Irrtum niemals zulassen, nicht mitten in einer schweren Transaktion.«
Pham ließ die Fenster im Helm wechseln und schaute in alle Richtungen. Die Menge bildete immer noch einen freien Raum um sie. Es gab keine Anzeichen von Polizisten. Würde ich sie erkennen, wenn ich sie sähe? »Gut«, sagte Pham. »Wir haben ein Problem, egal, ob ich nun herausgekommen wäre oder nicht. Ich schlage vor, wir machen einen kleinen Spaziergang und sehen zu, ob wir herausfinden können, wohin Grünmuschel gegangen ist.«
Rasseln. »Uns bleibt jetzt wenig Wahl. Meine Dame Ravna, versuchen Sie bitte, den Dolmetscher der Klauenbeine zu erreichen. Vielleicht kann er uns mit den einheimischen Skrodfahrern verbinden.« Er löste sich von der Wand, drehte sich mit Hilfe der Gasdüsen. »Kommen Sie, Herr Pham.«
Blaustiel schwebte voran quer durch den Knotenpunkt, annähernd in die Richtung, wohin Grünmuschel gegangen war. Ihr Weg war alles andere als gerade, eher das Torkeln eines Betrunkenen, das sie einmal fast an den Ausgangsort zurückgeführt hätte. »Behutsam, behutsam«, erwiderte der Skrodfahrer, als sich Pham über das Tempo beschwerte. Der Fahrer bestand nie darauf, von einer Ansammlung von Wesen durchgelassen zu werden. Wenn sie auf das sanfte Winken seiner Wedel nicht reagierten, schlug er einen Bogen um sie. Und er sorgte dafür, dass Pham direkt hinter ihm blieb, sodass der Abschreckungsfaktor der scharfen Panzerung nichts nützte. »Diese Leute scheinen Ihnen sehr friedfertig vorzukommen, Herr Pham, leicht herumzustoßen. Aber beachten Sie, das gilt für ihre Beziehungen untereinander. Diese Rassen hatten Jahrtausende, um sich aneinander anzupassen, um ein lokales Zusammenleben zu erreichen. Außenseitern gegenüber sind sie notwendigerweise weniger tolerant, sonst wären sie längst überrannt worden.« Pham erinnerte sich an die Warnung wegen der ›Anzugsordnung‹ und beschloss, nicht zu widersprechen.
Die nächsten zwanzig Minuten hätten die gesamte Lebenserfahrung eines Kauffahrers der Dschöng Ho ausgemacht — in Reichweite eines Dutzends intelligenter Arten zu sein. Doch als sie schließlich die gegenüberliegende Wand erreichten, biss Pham die Zähne zusammen. Er hatte noch zweimal eine Warnung wegen der Anzugsordnung erhalten. Der einzige Lichtblick: Sankt Rihndell gewährte immer noch gratis Netzunterstützung, und Ravna besaß mehr Informationen: »Die lokale Skrodfahrer-Kolonie liegt etwa hundert Kilometer von dem Knotenpunkt entfernt. Hinter der Wand, an der ihr euch befindet, gibt es eine Art Transportstation.«
Und der Tunnel, in dem Grünmuschel verschwunden war, lag direkt vor ihnen. Von dieser Stelle aus konnten sie die Dunkelheit des Raums dahinter sehen. Zum ersten Mal gab es keine Schwierigkeiten mit Mengen; kaum jemand betrat oder verließ das Loch.
Laserlicht funkelte in seinen hinteren Fenstern. »Verstoß gegen Anzugsordnung. Vierte Warnung. Es heißt: ›Raum bitte sofort verlassen!‹ «
»Wir gehen schon. Wir gehen schon.«
Dunkelheit, und Pham stellte seine Helmfenster heller. Zuerst glaubte er, die ›Transportstation‹ sei zum Weltraum hin offen, die Einheimischen hätten Grenzfelder wie im Hohen Jenseits. Dann bemerkte er, dass die Säulen in durchsichtige Wände übergingen. Sie waren auf die altmodische Weise immer noch drinnen, doch der Anblick… Sie befanden sich auf der den Sternen zugewandten Seite des Bogens. Die Ringteilchen glichen dunklen Fischen, die lautlos ein paar Dutzend Meter weiter außerhalb schwebten. Weiter weg ragten Bauwerke auf der Ringebene hoch genug empor, um im Sonnenlicht zu liegen. Doch das hellste Objekt lag fast direkt über ihnen: blau wie der Ozean, weiß wie Wolken. Sein sanfter Lichtschein überflutete den Boden rings um sie. Wie weit die Dschöng Ho auch jemals geflogen war, solch ein Anblick war willkommen gewesen. Doch dies hier war nicht ganz echt. Es war nur annähernd kugelförmig, und seine Oberfläche wurde vom Ringschatten geteilt. Es war ein kleines Objekt, nicht mehr als ein paar hundert Kilometer über ihm, einer der Mitläufer-Satelliten, die sie beim Anflug gesehen hatten. Der Atmosphärenschleier des Satelliten war scharf von den Seiten einer großen Kuppel begrenzt.
Er riss seine Aufmerksamkeit von dem Anblick los. »Zehn zu eins, dass dies das Terraneum der Skrodfahrer ist.«
»Natürlich«, erwiderte Blaustiel. »Es ist typisch. Die Brandung in solcher Mini-Schwerkraft kann niemals das sein, was ich vorziehe, aber…«
»Lieber Blaustiel! Herr Pham! Hier herüber.« Es war Grünmuschels Stimme. Den Angaben von Phams Anzug zufolge war es eine lokale Verbindung, die nicht über die ADR lief.
Blaustiels Wedel spreizten sich in alle Richtungen. »Geht es dir gut, Grünmuschel?« Ein paar Sekunden lang rasselten sie miteinander. Dann ging Grünmuschel wieder zu Trisk über: »Herr Pham. Ja, es geht mir gut. Es tut mir Leid, dass ich euch alle so beunruhigt habe. Aber ich wusste, dass das Geschäft mit Rihndell klappen würde, und dann kamen diese hiesigen Fahrer vorbei. Sie sind wunderbare Leute, Herr Pham. Sie haben uns in ihr Terraneum eingeladen. Nur für einen Tag oder so. Es wird eine wunderbare Rast sein, ehe wir unseren Weg fortsetzen. Und ich glaube, vielleicht können sie uns helfen.«
Wie die Abenteuergeschichten, die er unter Ravnas Abendlektüre gefunden hatte: Die müden Reisenden finden auf halbem Wege zu ihrem Ziel eine freundliche Bleibe und ein besonderes Geschenk. Pham schaltete auf eine Privatverbindung zu Blaustiel um: »Ist das wirklich Grünmuschel? Steht sie unter Zwang?«
»Sie ist es, und frei, Herr Pham. Sie haben uns reden gehört. Ich bin seit zweihundert Jahren mit ihr zusammen. Niemand verdreht ihr die Wedel.«
»Aber warum, zum Teufel, ist sie uns dann durchgebrannt?« Pham wunderte sich über sich selbst, wie er die Worte fast zischte.
Lange Pause. »Das ist wirklich seltsam. Ich vermute, diese hiesigen Fahrer wissen etwas für uns sehr Wichtiges. Kommen Sie, Herr Pham. Seien Sie vorsichtig.« Er rollte in einer scheinbar zufälligen Richtung davon.
»Rav, was…« Pham bemerkte das rote Licht, das auf seiner Anzeige des Kom-Status blinkte, und seine Irritation machte ihn frösteln. Seit wann war die Verbindung zu Ravna abgebrochen?
Pham folgte Blaustiel, dicht hinter ihm schwebend, und benutzte seine Gasdüsen, um den Skrodfahrer anzutreiben. Das ganze Gebiet war von dem Haftbelag bedeckt, den Skrodfahrer gern zum Rollen bei Schwerelosigkeit benutzten. Doch momentan wirkte der Ort verlassen. Niemand war zu sehen, wo gerade mal hundert Meter entfernt die Menge durcheinanderquirlte. Das Ganze stank geradezu nach einem Hinterhalt, doch es ergab keinen Sinn. Wenn ›Tod dem Ungeziefer‹ — oder deren Handlanger — sie ausgemacht hatten, hätte ein gewöhnlicher Alarm genügt. Ob Rihndell hier etwa…? Pham gab Energie auf die Strahlenwaffen des Anzugs und schaltete die Gegenmaßnahmen ein; Mückenkameras schwirrten nach allen Seiten davon. So viel zur Anzugsordnung.
Das bläuliche Mondlicht überflutete die Ebene und zeigte sanfte Hügelchen und winklige Felder von unbekannten Apparaturen. Die Oberfläche war mit Löchern (Tunneleingängen?) übersät. Blaustiel sagte etwas Undeutliches über die ›schöne Nacht‹ , wie viel Spaß es machen würde, am Meeresstrand hundert Kilometer über ihnen zu sitzen. Pham sondierte alle Richtungen und versuchte, Feuerbereiche und Todeszonen zu identifizieren.
Das Bild von einer seiner Mücken zeigte einen Wald blattloser Wedel — Skrodfahrer, die schweigend im Mondschein standen. Sie befanden sich zwei Hügelchen weiter. Schweigend, reglos, ohne jedes Licht… Vielleicht ergötzten sie sich nur am Mondschein. In der vergrößerten Darstellung, die die Mücke lieferte, konnte Pham mühelos Grünmuschel ausmachen; sie stand an einem Ende einer Linie von fünf Fahrern, die Streifen auf ihrer Skrodhülle waren deutlich zu sehen. Vorn an ihrem Skrod waren ein Buckel und etwas, das stockartig vorstand. Eine Art Fessel? Er ließ ein paar Mücken hinschweben. Eine Waffe. Alle diese Skrodfahrer waren bewaffnet.
»Wir sind schon an Bord der Fähre, Blaustiel«, ertönte Grünmuschels Stimme. »Ihr werdet sie in ein paar Minuten sehen, gleich auf der anderen Seite des Ventilatorpfostens«, womit sie anscheinend den Hügel meinte, dem er sich mit dem Skrodfahrer näherte. Doch Pham wusste, dass dort kein Flieger war; Grünmuschel und ihre Waffen waren auf die Seite gerichtet, von der sie kamen. Verrat, sehr geschickt inszeniert, aber auch auf sehr niedrigem technischem Niveau. Fast hätte Pham Blaustiel etwas zugerufen. Dann bemerkte er den flachen keramischen Quader, der auf dem Hügel ein paar Meter hinter dem Skrodfahrer montiert war. Die nächste Mücke meldete, dass es eine Art Sprengkörper war, wahrscheinlich eine gerichtete Mine. Eine Kamera mit niedriger Auflösung, kaum mehr als ein Bewegungssensor, war daneben montiert. Blaustiel war nonchalant an dem Ding vorübergerollt und hatte die ganze Zeit mit Grünmuschel geplappert. Sie ließen ihn vorbei. Neuer Argwohn erhob sich düster und grimmig. Pham hielt abrupt an und wich rasch zurück, ohne jemals den Boden zu berühren; das einzige Geräusch, das er machte, war das leise Zischen seiner Gasdüsen. Er löste eine seiner Handgelenkklauen und ließ sie von einer Mücke nahe am Sensor der Mine vorbeifliegen…
Es gab einen fahlen Feuerblitz und ein lautes Geräusch. Selbst fünf Meter seitlich schleuderte ihn die Schockwelle zurück. Er sah, wie Blaustiel auf der anderen Seite der Mine Räder über Wedel davongewirbelt wurde. Scharfkantiges Metall pfiff umher, aber ziellos; nichts kehrte zurück, um abermals anzugreifen. Mehrere Mücken wurden von der Explosion zerstört.
Pham machte sich den Lärm zunutze, um hart zu beschleunigen, wobei er einen nahen ›Hügel‹ hinan und in ein schmales Tal (eine Gasse?) eilte, die zu den Skrodfahrern hinabführte. Diese rollten aus ihrem Hinterhalt um den Hügel herum nach vorn und rasselten fröhlich miteinander. Aus Neugier schoss Pham noch nicht. Nach einer Weile schwebte Blaustiel etwa hundert Meter entfernt in die Luft. »Pham?«, sagte er klagend. »Pham?«
Die Angreifer ignorierten Blaustiel. Drei von ihnen verschwanden um den Hügel herum. Phams Mücken sahen, wie sie verdutzt innehielten, die Wedel emporgestreckt — sie hatten begriffen, dass er entkommen war. Die fünf schwärmten aus und suchten das Gelände ab, um ihn zu umzingeln. Von Grünmuschel kamen keine irreführenden Worte mehr.
Ein scharfes Krachen ertönte, und Blasterfeuer leuchtete hinter dem Hügel hervor auf. Jemand war ein wenig nervös mit dem Abzug.
Über allem schwebte Blaustiel, ein erstklassiges Ziel, doch noch immer unberührt. Seine Sprache war jetzt eine Mischung aus Trisk und dem Fahrergerassel, und soweit Pham sie verstehen konnte, hörte er Furcht. »Warum schießt ihr? Was ist los? Grünmuschel, bitte!«
Phams innerer Verfolgungswahn schlief nicht. Ich will nicht, dass du da oben bist und herabschaust. Er richtete seine Haupt-Strahlenwaffe auf den Skrodfahrer, wich dann ein wenig seitlich ab und feuerte. Der Impuls lag nicht im sichtbaren Bereich, war aber Gigajoule stark. Plasma funkelte längs des Strahls und verfehlte Blaustiel um weniger als fünf Meter. Ein gutes Stück über dem Skrodfahrer traf der Strahl auf Hüllenkristall. Die Explosion war sehenswert, ein arktinisches Glühen, das gleißende Bruchstücke in tausend Strahlen aussandte.
Pham flog schon seitwärts, als die Decke aufleuchtete. Er sah, wie Blaustiel wegwirbelte, die Kontrolle wiedererlangte und überstürzt in Deckung ging. Wo Phams Strahlenbündel getroffen hatte, verglomm allmählich eine Lichtkorona von Blau über Orange und Rot, noch immer heller als der Hirtenmond über ihnen.
Sein Warnschuss war wie ein großer Finger gewesen, der zurück auf seinen Aufenthaltsort zeigte. In den nächsten fünfzehn Sekunden feuerten vier von den Angreifern nach der Stelle, wo Pham gewesen war. Dann herrschte Stille, darauf ein kaum hörbares Rascheln. Die fünf glaubten vielleicht, bei einem Versteckspiel leicht gewinnen zu können. Sie hatten noch nicht erfasst, wie gut er ausgerüstet war. Pham lächelte angesichts der Bilder, die seine Mücken lieferten. Er hatte jeden Einzelnen von ihnen im Blick, und Blaustiel auch.
Wenn es nur diese vier oder fünf waren, würde es kein Problem geben. Aber gewiss waren Verstärkungen oder zumindest Komplikationen zu erwarten. Die Wunde in der Decke hatte sich so weit abgekühlt, dass sie nicht mehr leuchtete, aber jetzt war da ein Loch, einen halben Meter im Durchmesser. Das Pfeifen von Wind klang von dorther, ein Geräusch, das Pham sogar in seiner Rüstung reflexartig mit Furcht erfüllte. Es konnte eine Weile dauern, ehe sich das Leck auf die Skrodfahrer auswirkte, aber ein Notfall war es trotzdem. Es würde Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er starrte das Loch an. Hier unten erzeugte es einen Luftzug, aber ein paar Meter direkt unterhalb des Loches tobte ein Miniaturtornado von Staub und losem Kram, der hinauf und nach draußen wirbelte…
Und jenseits der durchsichtigen Hülle, im Weltraum:
Ein dunkles Loch und dann eine glitzernde Fontäne, wo das Zeug aus dem Schatten des Bogens ins Sonnenlicht schoss. Ihm kam ein hübscher Einfall.
Huch. Die fünf Skrodfahrer hatten ihn annähernd eingekreist. Jetzt kam einer in Sicht, erblickte ihn und schoss. Pham erwiderte das Feuer, und der andere explodierte in einer Wolke von überhitztem Wasser und verkohltem Fleisch. Sein unbeschädigter Skrod segelte über den Raum zwischen den Hügeln und zog panisches Feuer der anderen auf sich. Pham wechselte wieder die Stellung, in die Richtung, von der er wusste, dass sie am weitesten von seinen Feinden entfernt lag.
Noch ein paar Minuten Frieden. Er schaute hinauf zu der Kristallfontäne. Da war etwas… ja. Wenn Verstärkung kommen sollte, warum nicht für ihn? Er nahm die Fontäne ins Visier und schaltete seine Sprechverbindung in den Feuerschaltkreis der Waffe. Er war nahe daran zu sprechen, überlegte es sich dann… Lieber dafür etwas mit der Energie heruntergehen. Einzelheiten. Er zielte abermals, schoss Dauerfeuer und sagte: »Ravna, ich hoffe verdammt, du hast die Augen offen. Ich brauche Hilfe…« Und er schilderte kurz die verrückten Ereignisse der letzten zehn Minuten.
Diesmal leistete sein Strahl weniger als zehntausend Joule pro Sekunde, nicht genug, um in der Luft zu leuchten. Aber durch den Widerschein an der Fontäne außerhalb der Hülle müsste die Modulation Tausende von Kilometern weit zu sehen sein, insonderheit für die ADR auf der anderen Seite des Habitats.
Die Skrodfahrer kamen wieder näher. Verdammt. Er konnte diese Botschaft unmöglich automatisch wiederholen lassen, er brauchte den Sender für Wichtigeres. Pham flog von Tal zu Tal und manövrierte sich hinter den Skrodfahrer, der am weitesten von den anderen entfernt war. Einer gegen drei oder vier? Er verfügte über weit überlegene Feuerkraft und Information, aber ein einziges bisschen Pech, und er war tot. Er schwebte an sein nächstes Ziel heran. Leise, vorsichtig…
Eine Lichtwelle streifte seinen Arm, ließ die Rüstung hell aufleuchten. Weiße heiße Metalltropfen sprühten, während er sich aus der Schusslinie drehte. Er beschleunigte geradewegs über den Raum zwischen drei Hügelchen und feuerte auf den Skrodfahrer dort. Lichter zuckten rings um ihn kreuz und quer, und dann war er wieder in Deckung. Sie waren schnell, fast als hätten sie automatische Zielsuchgeräte. Vielleicht hatten sie welche: ihre Skrods.
Dann traf ihn der Schmerz. Pham krümmte sich keuchend zusammen. Wenn das mit den Wunden vergleichbar war, an die er sich erinnerte, dann war der Arm bis auf den Knochen verkohlt. Tränen traten ihm in die Augen, und in einer von Übelkeit erfüllten Ohnmacht schwand das Bewusstsein. Er kam wieder zu sich. Es konnte nicht länger als ein, zwei Sekunden gedauert haben — sonst wäre er nie wieder erwacht. Die anderen waren jetzt viel näher, doch der, auf den er geschossen hatte, war nur noch ein glühender Krater und ein wirrer Haufen Skrod-Bruchstücke. Die Automatik seines Anzugs brachte die beschädigte Stelle der Rüstung dicht an seine Seite. Er fühlte die Kühle örtlicher Betäubung, und der Schmerz ebbte ab. Pham bewegte sich langsam um den Hügel und versuchte, allen seinen drei Gegnern gleichzeitig außer Sicht zu bleiben. Sie hatten seine Mücken entdeckt; alle paar Minuten brach ein Lichtblitz aus, oder eine Hügelkuppe verwandelte sich in glühende Schlacke. Sie schossen mit Kanonen auf Spatzen, aber die Mücken kamen um… und er verlor allmählich seinen größten Vorteil.
Wo ist Blattstiel? Pham ging die Bilder von seinen verbliebenen Mücken durch, dann die eigenen Kameraansichten. Der Kerl war wieder in der Luft, hoch über dem Schlachtfeld — unbehelligt von den anderen Fahrern. Er meldet alles, was ich tue. Pham wälzte sich herum und richtete ungelenk seine Waffe auf die winzige Gestalt. Er zögerte. Du wirst weich, Nuwen. Blaustiel beschleunigte unvermittelt nach unten, das Frachttuch hinter sich gebläht. Offensichtlich benutzte er die volle Kraft seiner Gasdüsen. Vor dem Hintergrundlärm von kochendem Metall und dem Donnern der Blasterstrahlen war sein Fall völlig lautlos. Er steuerte direkt auf den Nächsten der Angreifer zu.
In dreißig Meter Höhe ließ der Skrodfahrer etwas Großes und Eckiges fallen. Die beiden Körper trennten sich, Blaustiel bremste und wich zur Seite. Er verschwand hinter den Hügeln. Gleichzeitig ertönte viel näher ein dumpfes Krachen von etwas Festem. Pham opferte seine vorletzte Mücke, um über den Hügel zu spähen. Er erhaschte einen Blick auf einen Skrod und Wedel, die rings um einen zerquetschten Stiel lagen. Es gab einen Lichtblitz, und die Mücke war erledigt.
Nur noch zwei Angreifer waren übrig. Einer davon war Grünmuschel.
Zehn Sekunden lang wurde nicht mehr geschossen. Doch die Stille war nicht vollkommen. Das verklumpte, glühende Metall an seinem Arm knackte und knisterte, während es sich abkühlte.
Hoch oben klang das Sausen der aus der Hülle entweichenden Luft. Windstöße wisperten in Bodennähe und machten es unmöglich, die Position beizubehalten, ohne ständig kurz die Düsen arbeiten zu lassen. Er hielt inne und ließ sich von der Strömung still aus seinem kleinen Tal tragen. Da. Ein gespenstisches Zischen, das nicht von ihm selbst stammte. Wieder. Die beiden näherten sich ihm aus verschiedenen Richtungen. Sie kannten vielleicht nicht seine exakte Position, konnten aber offensichtlich ihre eigene miteinander abstimmen.
Der Schmerz kam und ging, und ebenso das Bewusstsein. Kurze Schübe von Schmerz und Dunkelheit. Er wagte es nicht, noch mehr Betäubungsmittel zu verwenden. Pham sah Wedelspitzen über den nächsten Hügel lugen. Er hielt inne und beobachtete die Wedel. Wahrscheinlich besaßen die Wedel gerade genug Sichtflächen, um Bewegungen wahrzunehmen… Zwei Sekunden vergingen. Phams letzte Mücke zeigte, wie der andere Angreifer geräuschlos von der Seite herbeischwebte. Jede Sekunde würden die beiden jetzt hervorspringen. In diesem Augenblick hätte Pham alles für eine bewaffnete Mücke gegeben. Bei all seiner dummen Bastelei war er dazu nie gekommen. Hilft nichts. Er wartete auf einen Moment klaren Bewusstseins, lange genug, um sich über den Feind zu katapultieren und zu schießen.
Wedel rasselten, machten sich laut bemerkbar. Phams Mücke sichtete Blaustiel, wie er hundert Meter entfernt hinter Lattenwänden rollte. Der Skrodfahrer huschte von einer Deckung zur anderen, aber immer näher an Grünmuschel heran. Und das Gerassel? War es eine flehentliche Bitte? Sogar nach fünf Monaten in Gesellschaft der Fahrer hatte Pham nur eine ganz vage Ahnung von ihrer Rasselsprache. Grünmuschel — die Grünmuschel, die immer die Schüchterne von beiden gewesen war, die zwanghaft ehrliche — erwiderte das Rasseln nicht. Sie schwenkte ihren Strahler herum und bestrich die Latten mit Feuer. Der dritte Skrodfahrer tauchte gerade weit entfernt genug auf, um auf die Latten zu schießen. Sein Schusswinkel wäre gerade richtig gewesen, um Blaustiel an Ort und Stelle zu rösten — wenn ihn nicht seine Bewegung direkt vor Phams Waffe geführt hätte.
Noch als Pham feuerte, beschleunigte er mit ganzer Kraft aus seinem Loch hervor. Jetzt hatte er seine einzige Chance. Wenn er sich umdrehen und auf Grünmuschel schießen konnte, ehe sie mit Blaustiel fertig war…
Das Manöver war ein einfacher Salto, nach dem er sich mit den Beinen zuoberst und dem Gesicht zu Grünmuschel hätte befinden müssen. Doch für ihn war jetzt nichts einfach, und Pham drehte sich zu schnell, die Landschaft torkelte unter ihm. Aber da war schon Grünmuschel, und sie schwenkte ihren Strahler auf ihn.
Und da war Blaustiel, der zwischen Säulen hervorjagte, die vor Hitze von Grünmuschels Feuer weiß glühten. Seine Stimme klang laut in Phams Ohren: »Bitte, töte Sie nicht. Nicht töten…«
Grünmuschel zögerte, richtete dann die Waffe wieder auf den näherkommenden Blaustiel. Pham drückte auf den Abzug seiner Waffe und ließ seinen Drehimpuls den Strahl über den Boden ziehen. Das Bewusstsein schwand. Ziel! Ziel richtig! Er furchte das Land unter sich mit einem glühenden, geschmolzenen Pfeil, der an etwas Dunklem und Verklumptem endete. Blaustiels winzige Gestalt rollte immer noch über die Trümmer und versuchte, Grünmuschel zu erreichen. Dann hatte sich Pham zu weit gedreht und vermochte sich nicht mehr zu erinnern, wie er sein Blickfeld ändern könnte. Langsam schwenkte der Himmel vor seinen Augen vorüber:
Ein bläulicher Mond mit einem scharfen Schatten quer über die Mitte. Ein Schiff nahebei, mit federähnlichen Dornen, wie ein riesiger Käfer. Was in der Dschöng Ho… wo bin ich?… und das Bewusstsein erlosch.
Da waren Träume. Er hatte wieder einmal eine Stellung als Kapitän verloren, war dazu degradiert worden, Topfpflanzen im Gewächshaus des Schiffes zu pflegen. Nun ja. Phams Aufgabe war, sie zu gießen und zum Blühen zu bringen. Doch dann bemerkte er, dass die Töpfe Räder hatten und sich hinter seinem Rücken bewegten, leise raschelnd abwarteten. Was schön gewesen war, war nun finster. Pham war bereit gewesen, die Geschöpfe zu gießen und vor Unkraut zu bewahren; er hatte sie immer bewundert.
Nun wusste er als Einziger, dass sie der Feind allen Lebens waren.
Mehr als einmal im Leben war Pham Nuwen im Innern medizinischer Automaten erwacht. Fast war er gewöhnt an Tanks, eng wie Särge, an glatte grüne Wände, Drähte und Schläuche. Diesmal war es anders, und er brauchte eine Weile, ehe er begriff, wo er sich befand. Weidenähnliche Bäume neigten sich rings um ihn, wiegten sich sacht im warmen Lufthauch. Er schien auf dem weichesten Moos in einer winzigen Lichtung über einem Tümpel zu hegen. Sommerdunst hing in der Luft über dem Wasser. Es war alles sehr nett, außer dass die Blätter pelzig waren, und anders grün als alles, was er je zuvor gesehen hatte. Diese Vorstellung von Daheim gehörte zu jemand anders. Er langte hinauf zu dem nächsten Zweig, und seine Hände stießen auf etwas Unnachgiebiges fünfzig Zentimeter über seinem Gesicht. Eine gekrümmte Wand. Bei all den Trickbildern war das Ding ungefähr so groß wie die automatischen Chirurgen, an die er sich erinnerte.
Etwas klickte hinter seinem Kopf; die Idylle schob sich an ihm vorbei und nahm ihren warmen Lufthauch mit. Jemand — Ravna — schwebte knapp oberhalb des Zylinders. »Hallo, Pham.« Sie langte an der Hülle des Arztes vorbei, um ihm die Hand zu drücken. Ihre Lippen zitterten, als sie ihn küsste, und sie sah aus, als hätte sie viel geweint.
»Hallo du«, sagte er. Die Erinnerung kehrte in einzelnen Bruchstücken zurück. Er versuchte sich aufzurichten und entdeckte eine weitere Ähnlichkeit zwischen diesem Chirurgen und denen der Dschöng Ho: Er war sicher festgeschnallt.
Ravna lachte ein wenig gequält. »Arzt. Verbindungen lösen.« Einen Augenblick später schwebte Pham frei.
»Er hält meinen Arm noch fest.«
»Nein, das ist die Schlinge. Es wird eine Weile dauern, bis dein linker Arm nachgewachsen ist. Er ist fast weggebrannt worden, Pham.«
»Oh.« Er blickte zu dem weißen Kokon hinab, der seinen Arm an seine Seite fesselte. Jetzt erinnerte er sich an das Feuergefecht… und erkannte, dass Teile seines Traums tödliche Wirklichkeit waren. »Wie lange war ich weg?« Die Angst klang in seiner Stimme durch.
»Etwa dreißig Stunden. Wir sind über sechzig Lichtjahre von Harmonische Ruhe entfernt. Wir kommen gut voran, abgesehen davon, dass jetzt jedermann im Universum auf uns Jagd zu machen scheint.«
Der Traum. Seine freie Hand umklammerte Ravnas Arm. »Die Skrodfahrer, wo sind sie?« Nicht an Bord, um der Flotte willen.
»W-was von Grünmuschel übrig ist, liegt im zweiten Chirurgen. Blaustiel ist…«
Warum haben sie mich am Leben gelassen? Pham ließ den Blick hastig durch den Raum schweifen. Sie befanden sich in einer Allzweckkabine. Was immer sich als Waffe eignen mochte, war mindestens zwanzig Meter entfernt. Hm. Wichtiger als Strahler: die Steuerpult-Befugnisse von der ADR zu erhalten — wenn es nicht schon zu spät war. Er stieß sich von dem Chirurgen ab und schwebte aus dem Raum.
Ravna folgte ihm. »Sachte, Pham. Du kommst gerade aus einem Chirurgen.«
»Was haben sie über die Schießerei gesagt?«
»Die arme Grünmuschel ist nicht in der Lage, etwas zu sagen, Pham. Blaustiel sagt ziemlich genau dasselbe wie du: Grünmuschel ist von den kriminellen Fahrern entführt worden, und sie haben sie gezwungen, euch beide in die Falle zu locken.«
»Hmm, hmm.« Pham bemühte sich um einen unverbindlichen Tonfall. Es gab also vielleicht noch eine Chance; vielleicht war Blaustiel noch nicht pervertiert. Er setzte seine einhändige Fortbewegung den Schiffsachsen-Korridor entlang fort. Eine Minute später war er auf der Brücke, gefolgt von Ravna.
»Pham. Was ist los? Wir haben eine Menge zu entscheiden, aber…«
Wie Recht du hast. Er ließ sich in das Steuerdeck gleiten, auf das Pult zu. »Schiff. Erkennst du meine Stimme?«
Ravna begann: »Pham, was hat das…«
»Jawohl.«
»… zu bedeuten?«
»Befehlsbefugnisse«, sagte er. Die Befugnisse, die ihm für die Zeit gewährt worden waren, da sich die Skrodfahrer nicht an Bord befanden. Ob sie noch galten?
»Gewährt.«
Die Skrodfahrer hatten dreißig Stunden gehabt, um ihre Verteidigung zu planen. Das ging alles zu leicht, viel zu leicht. »Hebe die Befehlsbefugnisse für die Skrodfahrer auf. Isoliere sie.«
»Jawohl«, erwiderte das Schiff. Lügner! Doch was blieb ihm weiter übrig? Die andrängende Panik erreichte ihren Höhepunkt, und plötzlich fühlte er sich sehr kaltblütig. Er war einer von der Dschöng Ho — und er war auch Gottsplitter.
Beide Fahrer befanden sich in derselben Kabine, Grünmuschel im anderen Exemplar des Schiffschirurgen. Pham öffnete ein Fenster in den Raum. Blaustiel saß auf der Wand neben dem Chirurgen. Er sah verwelkt aus, wie damals, als sie von Sjandra Kei gehört hatten. Er streckte seine Wedel zur Videokamera hin. »Herr Pham. Das Schiff sagt uns, dass Sie unsere Befugnisse aufgehoben haben?«
»Was geht hier vor, Pham?« Ravna hatte einen Fuß in den Boden gehakt und starrte ihn an.
Pham ignorierte beide Fragen. »Wie geht es Grünmuschel?«, erkundigte er sich.
Die Wedel wandten sich ab, schienen noch schlaffer zu werden. »Sie lebt… Ich danke Ihnen, Herr Pham. Es hat großes Geschick erfordert, zu tun, was Sie getan haben. Nach Lage der Dinge hätte ich nicht mehr verlangen können.«
Was habe ich getan? Er erinnerte sich, wie er auf Grünmuschel geschossen hatte. Hatte er beim Zielen verzogen? Er blickte in den Chirurgen. Dieser war ziemlich verschieden von der Anordnung für Menschen: Er war größtenteils mit Wasser gefüllt, in das entlang der Wedel der Patientin Luft gewirbelt wurde. Im Schlaf (?) sah Grünmuschel gebrechlicher aus, als er sie in Erinnerung hatte; ihre Wedel trieben ziellos im Wasser hin und her. Manche waren geknickt, doch ihr Körper schien heil zu sein. Sein Blick wanderte hinab an die Basis ihres Stiels, wo ein Fahrer normalerweise mit seinem Skrod verbunden ist. Der Stumpf endete in einer Wolke chirurgischer Schläuche. Und Pham erinnerte sich an den letzten Moment des Feuergefechts, als er den Skrod unter Grünmuschel weggeschossen hatte. Was ist ein Skrodfahrer ohne etwas zum Fahren?
Er wandte den Blick von dem zerrütteten Körper ab. »Ich habe eure Befehlsbefugnis aufgehoben, weil ich euch nicht traue.« Mein ehemaliger Freund, Werkzeug meines Feindes.
Blaustiel antwortete nicht. Nach einer Weile sagte Ravna: »Pham. Ohne Blaustiel hätte ich dich nie aus diesem Habitat herausholen können. Selbst dann — wir saßen mitten im RIP-System fest. Der Hirten-Satellit schrie nach unserem Blut, sie hatten herausgefunden, dass wir Menschen sind. Die Aprahanti versuchten, auszulaufen und über uns zu kommen. Ohne Blaustiel hätten wir niemals den lokalen Sicherheitsdienst überzeugt, dass er uns auf Ultraantrieb gehen ließ — wir wären wahrscheinlich in die Luft gejagt worden, sobald wir uns aus der Ringebene entfernt hätten. Wir wären jetzt alle tot, Pham.«
»Weißt du denn nicht, was da unten passiert ist?«
Ein Teil der Befremdung wich aus Ravnas Gesicht. »Ja. Aber du musst verstehen, wie die Skrods funktionieren. Sie sind eine mechanische Vorrichtung. Es ist nur zu leicht, den kybernetischen Teil von der mechanischen Steuerung abzukoppeln. Diese Kerle haben die Räder gesteuert und den Strahler ausgerichtet.«
Hmm. Auf dem Fenster hinter Ravna sah er Blaustiel reglos dastehen, anstatt dass er eilig zustimmte. Triumphierte er? »Das erklärt nicht, wieso uns Grünmuschel in die Falle gelockt hat.« Er hob die Hand. »Ja, ich weiß, sie ist dazu genötigt worden. Der Haken ist nur, Ravna, dass sie nicht die Spur gezögert hat. Sie war begeistert, sprudelte nur so.« Er starrte über die Schulter der Frau. »Sie stand nicht unter Zwang, das hast du mir doch gesagt, Blaustiel.«
Eine lange Pause. Schließlich: »Ja, Herr Pham.«
Ravna drehte sich um und wich zurück, sodass sie beide sehen konnte. »Aber, aber… es ist trotzdem absurd. Grünmuschel ist von Anfang an bei uns gewesen. Tausendmal hätte sie das Schiff zerstören können — oder eine Meldung nach außen geben. Warum diesen dummen Überfall riskieren?«
»Ja. Warum haben sie uns nicht früher verraten…« Bis sie die Frage stellte, hatte Pham die Antwort nicht gewusst. Er kannte die Tatsachen, besaß aber keine zusammenhängende Theorie, an die er sich halten konnte. Nun fügte sich alles ins Bild: der Überfall, seine Träume im Chirurgen, sogar die Paradoxa. »Vielleicht war sie vorher kein Verräter. Wir sind wirklich von Relais entkommen, ohne verfolgt zu werden, ohne dass jemand von uns wusste, geschweige denn unsere genaue Flugrichtung. Gewiss hat niemand erwartet, dass bei Harmonische Ruhe Menschen aufkreuzen würden.« Er machte eine Pause und versuchte, alles zusammenzubekommen. Der Überfall… »Der Überfall, der war nicht dumm — aber er war ganz und gar improvisiert. Die Feinde hatten keine Reserven. Ihre Waffen waren plumpe, simple Dinger« — eine Erleuchtung —, »ja, ich wette, wenn du dir die Trümmer von Grünmuschels Skrod anschaust, wirst du sehen, dass ihre Strahlenwaffe eine Art Schneidwerkzeug war. Und der einzige Sensor an der grobschlächtigen Mine war ein Bewegungsdetektor; er diente irgendeinem zivilen Zweck. Alle Apparate sind auf die Schnelle von Leuten zusammengebaut worden, die nicht mit einem Kampf gerechnet hatten. Nein, unser Feind war von unserem Erscheinen sehr überrascht.«
»Du denkst, dass die Aprahanti…«
»Nicht die Aprahanti. Nach deinen Worten sind sie erst nach dem Feuergefecht ausgelaufen, als der Hirtenmond der Skrodfahrer über uns zu schreien begann. Wer immer dahinter steht, ist unabhängig von den Schmetterlingen und muss in sehr kleiner Zahl über viele Sternensysteme verstreut sein — ein ausgedehntes Netz von Stolperdrähten, das sich nach interessanten Dingen umhört. Sie haben uns bemerkt, und so schwach ihr Vorposten war, haben sie versucht, unser Schiff zu kapern. Erst als wir im Begriff waren zu entkommen, erstatteten sie über uns Meldung. So oder so, sie wollten nicht, dass wir davonkämen.« Er stieß die Hand in Richtung des Ultraspur-Fensters. »Wenn ich das richtig deute, sind uns über fünfhundert Schiffe auf den Fersen.«
Ravnas Blick huschte zu der Anzeige und zurück. Ihre Stimme klang geistesabwesend: »Ja. Das ist ein Teil der Hauptflotte der Aprahanti und…«
»Es werden noch viel mehr, nur dass es durchaus keine Schmetterlinge sein werden.«
»Was sagst du also? Warum sollten uns Skrodfahrer übelwollen? Eine Verschwörung ergibt keinen Sinn. Sie hatten niemals einen Nationalstaat, geschweige denn ein interstellares Reich.«
Pham nickte. »Nur friedliche Siedlungen — wie dieser Hirtenmond — in polyspezifischen Zivilisationen überall im Jenseits.« Seine Stimme wurde weicher. »Nein, Rav, die Skrodfahrer sind hier nicht der wahre Feind…, es ist das Ding, das hinter ihnen steht. Die Straumli-PERVERSION.«
Ungläubiges Schweigen, doch er bemerkte, wie fest Blaustiel seine Wedel an sich presste. Er wusste es.
»Es ist die einzige Erklärung, Rav. Grünmuschel war wirklich unser Freund und loyal. Ich vermute, dass sich nur eine kleine Minderheit der Skrodfahrer unter der Kontrolle der PERVERSION befindet. Als Grünmuschel unter sie geriet, wurde sie auch umgedreht.«
»Das… das ist unmöglich! Hier ist das Mittlere Jenseits, Pham. Grünmuschel war mutig, widerspenstig. Keine Gehirnwäsche hätte sie derart schnell verändert.« Ängstliche Verzweiflung lag jetzt in ihrem Blick. Welche Erklärung auch zutraf, etwas Schreckliches musste wahr sein.
Und ich bin immer noch da, lebe und rede. Ein Fall für die Gottsplitter; vielleicht gab es doch noch eine Chance! Er sprach fast gleichzeitig mit der sich einstellenden Erkenntnis: »Grünmuschel war loyal, trotzdem wurde sie binnen Sekunden umgedreht. Es war nicht einfach eine Perversion ihres Skrods oder irgendeine Droge. Es war, als seien sowohl Fahrer als auch Skrod von Anfang an dazu bestimmt gewesen, für ein bestimmtes Signal empfänglich zu sein.« Er schaute zu Blaustiel hinüber und versuchte einzuschätzen, wie der auf seine nächsten Worte reagieren würde. »Die Skrodfahrer erwarten seit langer Zeit ihren Schöpfer. Ihre Rasse ist sehr alt, älter als alle anderen außer ein paar herabgesunkenen. Sie sind überall, aber in geringer Zahl, immer nützlich und friedfertig. Und irgendwann am Anfang — vor ein paar Milliarden Jahren — steckten ihre Vorläufer in einer Sackgasse der Evolution. Ihr Schöpfer baute die ersten Skrods und erschuf die ersten Fahrer. Jetzt, denke ich, wissen wir, wer und wozu.
Ja, ja. Ich weiß, dass es auch andere Liftings gegeben hat. Was dieses so wunderbar macht, ist, als wie stabil es sich herausgestellt hat. Die Höheren Skrods sind ›Tradition‹ , sagt Blaustiel, aber dieses Wort verwende ich für Kulturen und viel kürzere Zeitabschnitte. Die Höheren Skrods von heute sind mit denen von vor einer Milliarde Jahren identisch. Und es sind Geräte, die überall im Jenseits hergestellt werden können — und dennoch stammt die Konstruktion offensichtlich aus dem Hohen Jenseits oder dem Transzens.« Das war eine seiner ersten Demütigungen im Jenseits gewesen. Er hatte sich das Konstruktionsdiagramm von Skrods angesehen, eigentlich eine Folge von Schnitten. Nach außen hin war es eine mechanische Vorrichtung, sogar mit beweglichen Teilen. Und der Text behauptete, das ganze Ding ließe sich in den einfachsten Fabriken herstellen, kaum mehr, als an manchen Orten in der Langsamen Zone vorhanden war. Dennoch war die Elektronik ein scheinbar willkürliches Durcheinander von Bauteilen ohne eine Spur von hierarchischer oder modularer Anordnung. Es funktionierte, und weitaus wirksamer als etwas, das eine Intelligenz auf menschlichem Niveau hervorbrachte; Reparatur und Fehlersuche kamen bei der kybernetischen Komponente aber nicht in Frage. »Niemand im Jenseits versteht alle Möglichkeiten der Skrods, geschweige denn die Anpassungen, die sie ihren Fahrern aufzwingen. Ist es nicht so, Blaustiel?«
Der Skrodfahrer klappte seine Wedel hart gegen den Mittelstiel. Wieder ein wütendes Rasseln. Es war etwas, das Pham niemals zuvor gesehen hatte. Zorn? Entsetzen? Blaustiels Voderstimme war verzerrt: »Sie fragen? Sie fragen? Es ist ungeheuerlich, mich um Hilfe zu bitten, mir selbst…« Die Stimme glitt in hohe Frequenzen ab, und er stand schweigend da und zitterte.
Pham von der Dschöng Ho fühlte einen Stich von Scham. Der andere wusste und begriff — und hatte Besseres verdient. Die Skrodfahrer mussten vernichtet werden, aber sie sollten nicht gezwungen sein, sich sein Urteil anzuhören. Seine Hand fuhr nach dem Ausschalter der Kommunikation, hielt inne. Nein. Das ist deine letzte Chance, zu beobachten, wie die PERVERSION… arbeitet.
Ravnas Blick sprang zwischen Mensch und Skrodfahrer hin und her, und er sah, dass sie begriffen hatte. Ihr Gesicht sah ebenso gramvoll aus wie in dem Moment, als sie das Schicksal von Sjandra Kei erfahren hatte. »Du sagst, die PERVERSION hat die ursprünglichen Skrods gemacht.«
»Und auch die Fahrer verändert. Es war vor langer Zeit und gewiss nicht dieselbe Verkörperung der PERVERSION, die die Straumer erschaffen haben, aber…«
Die ›PEST‹ , das war der andere übliche Name für die PERVERSION, und er entsprach besser der Sichtweise des ALTEN. Bei aller Transzendenz der PERVERSION erinnerte ihre Lebensweise eher als an alles andere an eine Krankheit. Das hatte vielleicht dazu beigetragen, den ALTEN irrezuführen. Doch nun sah es Pham: Die PEST lebte stückweise, verstreut über außerordentlich große Zeiträume. Sie verbarg sich in Archiven und wartete auf ideale Bedingungen. Und sie hatte sich für ihre Blüte Gehilfen erschaffen…
Er schaute Ravna an und begriff plötzlich noch etwas. »Du hattest dreißig Stunden, um darüber nachzudenken, Rav. Du hast die Aufzeichnungen meines Anzugs gesehen. Sicherlich hast du manches davon erraten.«
Sie wandte den Blick ab. »Ein bisschen«, sagte sie schließlich. Wenigstens bestritt sie es nicht mehr.
»Du weißt, was wir tun müssen«, sagte er sacht. Nun, da ihm klar war, was sie zu tun hatten, lockerten die Gottsplitter ihren Griff. Ihr Wille würde geschehen.
»Was?«, fragte Ravna, als wüsste sie es nicht.
»Zweierlei: Das Netz informieren.«
»Wer würde es glauben?« Das Netz der Million Lügen.
»Hinreichend viele. Wenn sie erst einmal hinschauen, werden die meisten Leute imstande sein, die Wahrheit zu erkennen — und die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen.«
Ravna schüttelte den Kopf. »Nein« — kaum hörbar.
»Das Netz muss es erfahren, Ravna. Wir haben etwas entdeckt, das tausend Welten retten könnte. Das ist die verborgene Klinge der PEST — zumindest im Mittleren und Unteren Jenseits.«
Wieder schüttelte sie den Kopf. »Aber diese Wahrheit hinauszuschreien, würde allein schon den Tod von Milliarden bedeuten.«
»In fairer Notwehr!« Er schwebte langsam in Richtung Decke, zog sich wieder zum Deck hinab.
Tränen standen ihr in den Augen. »Das sind genau die Argumente, mit denen m-meine Familie umgebracht worden ist, meine Welten… Und… und ich will da nicht mitmachen.«
»Aber diesmal sind die Behauptungen wahr!«
»Ich habe genug von Pogromen, Pham.«
Sanfte Beharrlichkeit — und fast unglaublich. »Willst du selbst diese Entscheidung treffen, Rav? Wir wissen etwas, worüber andere — Führer, die klüger sind als wir beide — sollten frei entscheiden können. Du würdest ihnen diese Entscheidung vorenthalten?«
Sie zögerte, und einen Augenblick lang glaubte Pham, ihre zivilisierte Gewöhnung an das Befolgen von Regeln ließe sie umschwenken. Doch dann hob sie das Kinn: »Ja, Pham. Ich würde ihnen diese Entscheidung nicht zubilligen.«
Er machte ein unverbindliches Geräusch und schwebte zurück zum Steuerpult. Es hatte keinen Sinn, mit ihr über das zu reden, was außerdem getan werden musste.
»Und Pham, wir werden Blaustiel und Grünmuschel nicht töten.«
»Uns bleibt keine Wahl, Rav.« Seine Hände glitten über die Kontaktfelder. »Grünmuschel ist pervertiert worden; wir haben keine Ahnung, wie viel davon die Zerstörung ihres Skrods überstanden hat, oder wie lange es dauern wird, bis Blaustiel verdorben wird. Wir können sie weder mitnehmen noch absetzen.«
Ravna schwebte zur Seite, den Blick an seine Hände geheftet. »Überleg dir, wen du tötest, Pham«, sagte sie leise. »Wie du sagtest, ich hatte dreißig Stunden, um über meine Entscheidungen nachzudenken, und über deine auch.«
»So.« Pham hob die Hände von der Steuerung. Wut (die Gottsplitter?) durchfuhr für kurze Zeit sein Denken. Ravna, Ravna, Ravna — eine Stimme in seinem Kopf sagte Lebwohl. Dann wurde alles sehr kalt. Er hatte solche Angst gehabt, die Skrodfahrer hätten das Schiff pervertiert. Statt dessen hatte diese dumme Närrin das für sie erledigt, freiwillig. Er schwebte langsam an sie heran. Fast gedankenlos hielt er Arm und Hand kampfbereit. »Wie gedenkst du mich daran zu hindern, zu tun, was getan werden muss?« Doch er ahnte es schon.
Sie wich nicht zurück, selbst, als seine Hand nur noch Zentimeter von ihrer Kehle entfernt war. In ihrem Gesicht standen Mut und Tränen. »W-was meinst du wohl, Pham? Während du im Chirurgen warst…, habe ich einiges neu geordnet. Verletze mich, und du wirst schlimmer verletzt werden.« Ihr Blick glitt über die Wände hinter ihm. »Töte die Skrodfahrer, und… und du wirst sterben.«
Für einen langen Moment starrten sie einander an, abschätzend. Vielleicht waren in den Wänden keine Waffen versteckt. Wahrscheinlich konnte er sie töten, ehe sie sich zu wehren vermochte. Doch dann gab es tausend Möglichkeiten, wie das Schiff programmiert sein konnte, ihn zu töten. Und alles bliebe den Skrodfahrern überlassen — hinabzufliegen zum Grund, zum Ziel ihrer Wünsche. »Was tun wir also?«, sagte er schließlich.
»N-nach wie vor fliegen wir Jefri zu Hilfe. Und um das GEGENMITTEL wiederzugewinnen. Ich bin bereit, den Skrodfahrern gewisse Beschränkungen aufzuerlegen.«
Ein Waffenstillstand mit Ungeheuern, vermittelt von einer Närrin.
Er stieß sich ab und schwebte in den Achsenkorridor. Hinter sich hörte er ein Schluchzen.
Die nächsten paar Tage gingen sie einander aus dem Weg. Pham hatte auf niederer Ebene Zugang zur Schiffsteuerung. Er fand Selbstmordprogramme in die Anwendungsschichten eingearbeitet. Doch seltsam — und Anlass zu Verdruss, wenn er dazu imstande gewesen wäre: Die Veränderungen waren um Stunden jüngeren Datums als seine Auseinandersetzung mit Ravna. Sie hatte nichts gehabt, als sie sich ihm entgegenstellte. Den MÄCHTEN sei Dank, dass ich es nicht wusste. Der Gedanke war vergessen, fast ehe er sich gebildet hatte.
So. Das Rätsel würde bis zu Ende andauern, ein fortgesetztes Spiel von Lüge und List. Grimmig nahm er sich vor, dieses Spiel zu gewinnen. Flotten hinter ihm, Verräter um ihn. Bei der Dschöng Ho und seinen eigenen Gottsplittern, die PERVERSION würde verlieren. Die Skrodfahrer würden verlieren. Und bei all ihrem Mut und ihrer Güte würde Ravna Bergsndot verlieren.
Tyrathect war im Begriff, den Kampf in ihrem Innern zu verlieren, den Kampf mit dem Flenser. Oh, es war noch längst nicht entschieden, man sollte wohl lieber sagen, dass sich das Blatt gewendet hatte. Zu Beginn hatte es kleine Triumphe gegeben, etwa, als sie Amdijefri allein mit dem Kom-Gerät hatte spielen lassen, ohne dass auch nur die Kinder selbst ahnten, dass sie dahinter steckte. Doch das alles lag viele Zehntage zurück, und nun… An manchen Tagen war sie völlig Herr über sich selbst. An anderen — und diese kamen ihr oft als die glücklichsten vor — schien es zunächst, als ob sie die Kontrolle hätte.
Es war noch nicht klar, was für eine Sorte Tag das heute sein würde.
Tyrathect schritt an den Bretterzäunen entlang, die die Burgmauern krönten. Das Bauwerk war gewiss neu, aber wohl noch kaum eine Burg. Stahl hatte in panischer Eile gebaut. Die Süd- und die Westmauern waren sehr dick, von Gängen durchzogen. Aber es gab Stellen an der Nordseite, die einfach nur Palisaden mit Geröll dahinter waren. Mehr war in der kurzen Frist, die Stahl zur Verfügung stand, nicht zu schaffen. Für einen Moment blieb sie stehen und atmete den Geruch frisch gesägten Bauholzes ein. Der Blick den Schiffsberg hinab war so schön wie eh und je. Die Tage wurden länger. Jetzt gab es nur Zwielicht zwischen Sonnenunter- und -aufgang. Der Schnee in der Gegend hatte sich auf die üblichen Sommerflecken zurückgezogen und Heidekraut zurückgelassen, das sich in der Wärme grün färben sollte. Von hier aus konnte sie meilenweit sehen, bis dahin, wo der bläuliche Dunst überm Meer auf ferne Inseln niedersank.
Nach der herkömmlichen Theorie wäre es Selbstmord gewesen, die neue Burg — selbst in ihrem gegenwärtigen klapprigen Zustand — mit weniger Leuten als einer Horde anzugreifen. Tyrathect lächelte bitter. Natürlich würde Holzschnitzerin diese Theorie ignorieren. Die alte Holzschnitzerin glaubte, eine Geheimwaffe zu haben, die aus Hunderten Fuß Entfernung Breschen in diese Mauern schlagen könnte. Schon jetzt meldeten Stahls Spione, dass die Holzschnitzer den Köder geschluckt hätten und ihre kleine Armee mit den rohen Geschützen auf den Landmarsch die Küste entlang aufgebrochen war.
Sie stieg die Holztreppe in den Hof hinab. Sie hörte schwachen Donnerhall. Irgendwo nördlich von Stromtal begannen Stahls eigene Kanoniere mit den morgendlichen Übungen. Wenn der Wind günstig stand, konnte man es hören. Es durfte keine Übungen in der Nähe von Ackerland geben, und niemand außer hochgestellten Dienern und isolierten Arbeitern wusste von den Waffen. Doch mittlerweile besaß Stahl dreißig von den Apparaten und genügend Schießpulver. Am meisten mangelte es an Kanonieren. Sich unmittelbar neben dem Feuerlärm zu befinden, war die Hölle. Länger anhaltendes Feuer konnte taub machen. Ja, aber die Waffen selbst: Sie hatten eine Reichweite von fast acht Meilen, dreimal so viel wie die von Holzschnitzerin. Sie konnten Schießpulver-›Bomben‹ verschießen, die beim Aufprall detonierten. Es gab Stellen jenseits der Berge im Norden, wo der Wald kahlgerissen war und Erdrutsche den nackten Felsen bloßgelegt hatten — alles die Folge von Dauerbeschuss mit Kanonen.
Und bald — vielleicht heute — würden die Flenseristen auch Radio haben.
Verdammt sollst du sein, Holzschnitzerin! Natürlich hatte Tyrathect den Holzschnitzer niemals kennen gelernt, doch Flenser hatte das Rudel gut gekannt: Er bestand größtenteils aus Holzschnitzers Nachkommen. Der ›sanfte Holzschnitzer‹ hatte ihn geboren und an die Macht gebracht. Holzschnitzer war es gewesen, der ihn die Freiheit des Denkens und Experimentierens gelehrt hatte. Holzschnitzer hätte den Stolz kennen sollen, der in Flenser steckte, hätte wissen sollen, dass er weiter gehen würde, als sein Elter es je gewagt hatte. Und als die monströse Natur des Neuen deutlich wurde, als seine ersten ›Experimente‹ entdeckt wurden, hätte ihn Holzschnitzer töten oder allerwenigstens in Fragmente aufspalten müssen. Statt dessen war es Flenser erlaubt worden, ins Exil zu gehen — damit er Wesen wie Stahl schuf und die ihrerseits ihre eigenen Ungeheuer hervorbrachten, bis letzten Endes diese Hierarchie des Wahnsinns entstand.
Und nun, ein Jahrhundert zu spät, kam Holzschnitzerin, um ihren Fehler zu korrigieren. Sie kam mit ihren Spielzeugkanonen, so übermäßig zuversichtlich und idealistisch wie eh und je. Sie kam in eine Falle von Feuer und Stahl, die keiner ihrer Leute überleben würde. Wenn es nur eine Möglichkeit gegeben hätte, die Holzschnitzerin zu warnen. Tyrathects einziger Grund für ihre Anwesenheit hier war der Eid, den sie sich geschworen hatte — Flensers Bewegung zu Fall zu bringen. Wenn Holzschnitzerin wüsste, was sie hier erwartete, wenn sie wenigstens von den Verrätern im eigenen Lager wüsste, dann könnte es eine Chance geben. In vorigen Herbst war Tyrathect drauf und dran gewesen, eine anonyme Botschaft nach Süden zu schicken. Es gab Händler, die beide Reiche besuchten. Ihre von Flenser her stammenden Erinnerungen sagten ihr, welche davon wahrscheinlich unabhängig waren. Beinahe hätte sie einem eine Mitteilung zugesteckt, ein einzelnes Blatt Seidenpapier, das von der Landung des Sternenschiffs und Jefris Überleben berichtete. Dabei war sie dem Tod um weniger als einen Tag entgangen: Stahl hatte ihr einen Bericht aus dem Süden über den anderen Menschen und Holzschnitzerins Fortschritte mit dem ›Datio‹ gezeigt. Der Bericht enthielt Dinge, die nur jemand an der Spitze in Holzschnitzerheim kennen konnte. Wer? Sie fragte nicht, vermutete aber, dass es Feilonius war; der Flenser in Tyrathect erinnerte sich gut an dieses Geschwisterrudel. Sie hatten… Geschäfte miteinander gemacht. Feilonius hatte nichts vom ursprünglichen Genie ihres gemeinsamen Elters in sich, wohl aber ein gut Teil Opportunismus.
Stahl hatte ihr den Bericht nur gezeigt, um sich wichtig zu machen, um ihr zu beweisen, dass er etwas zustande gebracht hatte, das Flenser niemals versucht hatte. Und es war in der Tat ein Meisterstück. Tyrathect hatte Stahl aufrichtiger als sonst beglückwünscht — und ihre Warnpläne still ad acta gelegt. Wenn an der Spitze in Holzschnitzerheim ein Spion saß, wäre jede Botschaft sinnloser Selbstmord gewesen.
Jetzt trottete Tyrathect über den äußeren Burghof. Es waren noch viele Bauarbeiten im Gange, aber die Teams waren kleiner. Stahl baute überall im Hof Holzhütten. Viele waren leere Hüllen. Stahl hoffte Ravna dazu bewegen zu können, an einer besonderen Stelle im inneren Mauerring zu landen.
Der innere Ring. Das war das einzige an der Burg, was nach den Maßstäben der Verborgenen Insel gebaut war. Es war schönes Mauerwerk. Es konnte wirklich sein, als was Stahl es Amdijefri darstellte: ein Schrein, um Jefris Schiff Ehre zu erweisen und es vor dem Angriff der Holzschnitzer zu schützen. Die Zentralkuppel war ein sanftes Rund von Auslegern und Maßwerk, so weit wie der Hauptversammlungssaal auf der Verborgenen Insel. Tyrathect beobachtete sie mit einem Augenpaar, während sie es umrundete. Stahl hatte vor, die Kuppel mit feinstem rosa Marmor zu verkleiden. Sie würde Dutzende von Meilen hoch vom Himmel her zu sehen sein. Die in das Mauerwerk eingebauten Todesfallen waren das Herzstück von Stahls Plan, selbst wenn die Retter nicht in seiner anderen Falle landeten.
Sreck und zwei weitere hochgestellte Diener standen auf den Stufen zum Versammlungsraum der Burg. Sie nahmen Haltung an, als sie sich näherte. Die drei wichen rasch zurück, mit den Bäuchen über den Steinboden schurrend…, aber nicht so schnell wie vorigen Herbst. Sie wussten, dass die anderen Flenser-Fragmente vernichtet worden waren. Als Tyrathect an ihnen vorüberging, lächelte sie beinahe. Bei all ihrer Schwäche und all ihren Problemen wusste sie, dass sie diesen drei überlegen war.
Stahl war schon drinnen, allein. Die wichtigsten Versammlungen liefen immer so ab, nur Stahl und sie selbst. Sie verstand die Beziehung. Anfangs hatte Stahl einfach fürchterliche Angst vor ihr gehabt — der einzigen Person, die er glaubte, niemals töten zu können. Zehn Tage lang war er hin und her gerissen gewesen, ob er vor ihr kriechen oder sie umbringen sollte. Es war amüsant zu sehen, wie die von Flenser vor Jahren ihm eingepflanzten Bande immer noch wirkten. Dann war die Nachricht vom Tode der anderen Fragmente gekommen. Tyrathect war nicht mehr Flenser im Wartestand. Halb hatte sie damals mit dem Tode gerechnet. Doch in mancher Beziehung stärkte es ihre Sicherheit. Nun war Stahl weniger ängstlich, und sein Bedarf an vertraulichem Rat konnte auf eine Weise befriedigt werden, die er als weniger bedrohlich ansah. Sie war sein Flaschengeist: Flensers Weisheit ohne die damit verbundene Gefahr.
Diesen Nachmittag wirkte er fast gelöst; als Tyrathect eintrat, nickte er ihr beiläufig zu. Sie nickte zurück. In vielerlei Hinsicht war Stahl ihr — Flensers — bestes Geschöpf. So viel Mühe war darauf verwendet worden, Stahl zu schleifen. Wie viele Rudel von Gliedern waren geopfert worden, nur um die Kombination zu erhalten, die Stahl war. Sie — Flenser — hatte Brillanz gewollt und Skrupellosigkeit. Als Tyrathect konnte sie die Wahrheit erkennen: Mit all dem Flensen hatte Flenser ein armes, trauriges Wesen erschaffen. Es war seltsam, aber… manchmal erschien Stahl ihr als Flensers bedauernswertestes Opfer.
»Bereit zur Generalprobe?«, fragte Tyrathect. Endlich schienen die Radios fertig zu sein.
»Gleich. Ich wollte dich nach dem Zeitplan fragen. Meine Quellen sagen, dass Holzschnitzerins Armee unterwegs ist. Wenn sie ordentlich vorankommen, müssten sie in fünf Zehntagen hier sein.«
»Also mindestens drei Zehntage, ehe Ravnas Schiff eintrifft.«
»Mindestens. Wir werden deinen alten Feind aus dem Weg schaffen, lange bevor wir um die hohen Einsätze spielen. Aber… etwas ist seltsam an den jüngsten Botschaften der Zweibeiner. Wie viel, meinst du, ahnen sie? Kann es sein, dass Amdijefri ihnen mehr erzählt, als wir wissen?«
Diese Ungewissheit hätte Stahl verborgen gehalten, als Tyrathect noch Flenser im Wartestand war. Sie setzte sich hin, ehe sie antwortete. »Du könntest die Antwort wissen, wenn du dir die Mühe gemacht hättest, mehr von der Sprache der Zweibeiner zu lernen, lieber Stahl, oder wenn du mir die Gelegenheit dazu gegeben hättest.« Den ganzen Winter über hatte Tyrathect verzweifelt gehofft, mit den Kindern allein sprechen zu können, um dem Schiff eine Warnung zukommen zu lassen. Amdijefri waren so leicht zu durchschauen, so unschuldig. Wenn sie einen Blick von Stahls Verrat erhascht hätten, so hätten sie es nicht verbergen können. Und was konnten die Retter tun, wenn sie von Stahls Hinterlist erführen? Tyrathect hatte ein Sternenschiff im Fluge gesehen. Die Landung allein schon konnte eine schreckliche Waffe sein. Außerdem… Wenn Stahls Plan gelingt, werden wir nicht auf den guten Willen der Fremden angewiesen sein.
Laut fuhr Tyrathect fort: »Solange du mit deiner großartigen Vorstellung weitermachen kannst, hast du von dem Kind nichts zu befürchten. Siehst du denn nicht, dass er dich liebt?«
Einen Moment lang schien Stahl zufrieden zu sein, dann kehrte der Verdacht zurück. »Ich weiß nicht. Amdi scheint mich immerzu zu verspotten, als ob er meine Rolle durchschaute.«
Der arme Stahl. Amdiranifani war sein größter Erfolg, und er würde es niemals begreifen. In dieser einen Sache hatte Stahl seinen Meister wahrlich übertroffen, er hatte eine Technik entdeckt und verfeinert, die einst Holzschnitzer benutzt hatte. Der Flenser musterte seinen ehemaligen Schüler mit fast hungrigem Blick. Wenn er ihn nur ganz von neuem machen könnte; es musste einen Weg geben, Furcht und Flensen mit Liebe und Zuneigung zu vereinen. Das dabei entstehende Werkzeug würde den Namen Stahl wirklich verdienen. Tyrathect zuckte mit den Schultern. »Mein Wort darauf. Wenn du deine freundliche Rolle weiterspielen kannst, werden dir beide Kinder treu sein. Was den Rest deiner Frage betrifft: Ich habe eine gewisse Veränderung in Ravnas Botschaften bemerkt. Sie scheint in Bezug auf die Zeit ihrer Ankunft viel zuversichtlicher zu sein, aber etwas ist bei ihnen schiefgegangen. Ich glaube nicht, dass sie misstrauischer als zuvor sind, sie glauben anscheinend, dass Jefri hinter Amdis Idee mit den Radios steckt. Das war übrigens eine gute Lüge. Sie hat ihr Gefühl der Überlegenheit angesprochen. Auf einem ordentlichen Schlachtfeld sind wir ihnen wahrscheinlich überlegen — und das dürfen sie nicht ahnen.«
»Aber was macht ihnen plötzlich so zu schaffen?«
Das Fragment zuckte die Achseln. »Geduld, lieber Stahl. Geduld und Beobachtung. Vielleicht hat Amdijefri es auch bemerkt. Du könntest die beiden sehr vorsichtig auf den Gedanken bringen, danach zu fragen. Ich vermute, die Zweibeiner haben sich um ihre eigene Politik zu kümmern.« Er hielt inne und wandte alle Köpfe Stahl zu. »Könntest du deine ›Quelle‹ unten in Holzschnitzerheim dieser Frage nachgehen lassen?«
»Das werde ich vielleicht tun. Das Datio ist Holzschnitzerins einziger großer Vorteil.« Stahl blieb für einen Augenblick schweigend sitzen und kaute sich nervös auf den Lippen. Unvermittelt gab er sich einen Ruck, als wolle er die vielfältigen Bedrohungen abschütteln, die er heraufziehen sah. »Sreck!«
Es erklang das Geräusch von Pfoten. Die Luke ging quietschend auf, und Sreck steckte einen Kopf herein. »Herr?«
»Hol die Radioausrüstung herein. Und dann bitte Amdijefri, dass er herunterkommt und mit uns spricht.«
Die Radios waren schöne Gegenstände. Ravna behauptete, dass das Grundprinzip von Zivilisationen erfunden werden konnte, die kaum weiter fortgeschritten waren als Flensers. Das war schwer zu glauben. Es gab so viele Schritte bei der Herstellung, so viele unwichtige Abschweifungen. Das Endergebnis: acht ellengroße Quadrate von Nachtdunkel. Gold und Silber schienen in dem seltsamen Material auf. Das zumindest war kein Rätsel: Ein Teil von Flensers Gold und Silber waren beim Bau verwendet worden.
Amdijefri traf ein. Sie rannten über den Fußboden in der Mitte, stukten gegen die Radios, riefen Stahl und dem Flenser-Fragment etwas zu. Manchmal fiel es schwer, zu glauben, dass sie nicht wirklich ein Rudel waren, dass der Zweibeiner nicht einfach ein zusätzliches Glied war: Sie hingen so eng zusammen, wie es ein einzelnes Rudel tun konnte. Andauernd beantwortete Amdi Fragen über die Zweibeiner, ehe Jefri auch nur den Mund aufmachen konnte, und benutzte das ›Rudel-Ich‹ -Fürwort, wenn sie beide gemeint waren.
Heute jedoch schienen sie uneins zu sein. »Oh, bitte, mein Fürst, lasst mich es ausprobieren!«
Jefri rasselte etwas in Samnorsk herunter. Als Amdi nicht übersetzte, wiederholte er die Worte langsamer, direkt an Stahl gewandt. »Nein. Es ist (unverständlich unverständlich) gefährlich. Amdi ist (unverständlich) klein. Und auch die Zeit (unverständlich) knapp.«
Der Flenser bemühte sich, die Bedeutung zu erfassen. Verdammt. Früher oder später würde sie ihre Unkenntnis der Zweibeiner-Sprache teuer zu stehen kommen.
Stahl hörte dem Menschen zu und seufzte dann in dieser wunderbar geduldigen Art. »Bitte. Amdi. Jefri. Wo liegt das Problem?« Er sprach Samnorsk und war für das Flenser-Fragment besser zu verstehen als das Menschenkind.
Amdi zögerte einen Moment lang. »Jefri glaubt, dass die Radiojacken zu groß für mich sind! Aber seht, sie passen gar nicht so schlecht!« Amdi sprang um eins der nachtdunklen Quadrate herum und zerrte es unbekümmert von einer Samtpritsche zu Boden. Er zog den Stoff über Rücken und Schultern seines größten Gliedes.
Nun hatte das Radio annähernd die Form eines Umhangs; Stahls Schneider hatten an den Schultern und am Bauch Verschlussspangen hinzugefügt. Aber es war dem kleinen Amdi viel zu groß. Es stand um ihn herum wie ein Zelt. »Seht ihr? Seht ihr?« Der winzige Kopf ragte hervor und blickte erst Stahl, dann Tyrathect an, in der Hoffnung, sie möchten ihm glauben.
Jefri sagte etwas. Das Amdi-Rudel kreischte ärgerlich zurück. Dann: »Jefri macht sich andauernd Sorgen, aber jemand muss die Radios ausprobieren. Es gibt ein kleines Problem mit der Geschwindigkeit. Radio geht viel schneller als Schall. Jefri hat einfach Angst, es könnte so schnell sein, dass es das Rudel, welches es benutzt, verwirrt. Das ist Unsinn. Um wie viel schneller könnte es denn sein als Denken mit den Köpfen zusammen?« Es klang wie eine Frage. Tyrathect/Flenser lächelte. Das Welpenrudel konnte nicht richtig lügen, doch er erriet, dass Amdi die Antwort auf seine Frage kannte — und dass sie ihm nicht in den Kram passte.
Auf der anderen Seite des Saales hörte Stahl mit vorgereckten Köpfen zu — ein Bild wohlwollender Geduld. »Es tut mir Leid, Amdi. Es ist einfach zu gefährlich, als dass du der Erste sein könntest.«
»Aber ich bin tapfer! Und ich will helfen.«
»Tut mir Leid. Wenn wir wissen, dass es ungefährlich ist…«
Amdi stieß einen Schrei der Entrüstung aus, viel höher als normale Zwischenrudel-Sprache, fast in der Tonlage des Denkens. Er lief um Jefri herum und rempelte dessen Beine mit seinen Hinterteilen an. »Heimtückischer Verräter!«, schrie er und setzte die Beleidigungen auf Samnorsk fort.
Es dauerte etwa zehn Minuten, bis er sich halbwegs beruhigt hatte. Er und Jefri saßen am Boden und murrten miteinander in Samnorsk. Tyrathect beobachtete die beiden und Stahl auf der anderen Seite des Raumes. Wenn Ironie Geräusche machen würde, wären sie inzwischen alle taub. Ihr ganzes Leben lang hatten Flenser und Stahl andere Experimenten unterworfen — für gewöhnlich mit tödlichen Folgen. Nun hatten sie ein Opfer, das buchstäblich darum bettelte, Opfer sein zu dürfen — und das abgewiesen werden musste. Selbst wenn Jefri keine Einwände erhoben hätte, war das Amdi-Rudel zu wertvoll, als dass man es aufs Spiel setzen konnte. Zudem war Amdi ein Achtsam. Es war ein Wunder, dass so ein großes Rudel überhaupt funktionieren konnte. Welche Gefahren das Radio auch in sich barg, für ihn waren sie viel größer.
Also würde ein passendes Opfer gefunden werden. Ein passender armer Schlucker. Sicherlich gab es davon massenhaft in jenen Verliesen unter der Verborgenen Insel. Tyrathect dachte zurück an all die Rudel, die getötet zu haben sie sich erinnern konnte. Wie sehr sie Flenser hasste, seine berechnende Grausamkeit. Ich bin um so vieles schlechter als Stahl. Ich habe Stahl gemacht. Sie rief sich ins Gedächtnis, wo ihre Gedanken die letzte Stunde über gewesen waren. Das war einer von den schlechten Tagen, einer von den Tagen, an denen Flenser aus den Winkeln ihres Verstandes hervorkroch, wenn sie die Kraft der Vernunft höher und höher ausspielte, bis daraus kalte Rationalität wurde, und aus ihr er. Dennoch, ein paar Sekunden lang hatte sie vielleicht noch die Gewalt. Was konnte sie damit tun? Eine Seele, die stark genug war, konnte sich selbst verleugnen, konnte eine andere Persönlichkeit werden… konnte, wenn es zum Äußersten kam, mit sich selbst Schluss machen.
»Ich… ich will das Radio erproben.« Die Worte waren fast eher ausgesprochen als gedacht. Schwaches, dummes Ding.
»Was?«, sagte Stahl.
Aber die Worte waren deutlich gewesen, und Stahl hatte es gehört. Das Flenser-Fragment lächelte trocken. »Ich möchte sehen, was das Radio zustande bringt. Lass es mich versuchen, lieber Stahl.«
Sie nahmen die Radios in den Hof hinaus, auf die Seite des Sternenschiffs, die den Blicken der Allgemeinheit verborgen war. Hier wären nur Amdijefri, Stahl und wer immer ich momentan gerade bin. Das Flenser-Fragment lachte gegen die aufsteigende Furcht an. Disziplin, hatte sie gedacht! Vielleicht war es so am besten. Er stand in der Mitte des Hofes und ließ sich von dem Menschen in die Radiokleidung helfen. Seltsam, ein anderes vernunftbegabtes Wesen so nahe und ihn überragen zu sehen.
Jefris unglaublich feingliedrige Pfoten ordneten die Jacken lose auf seinen Rücken an. Das Futter war weich, dämpfend. Und im Unterschied zu normaler Kleidung bedeckten die Radios die Trommelfelle des Trägers. Der Junge versuchte zu erklären, was er gerade tat. »Siehst du? Dieses Ding« — er zog an der Ecke des Umhangs — »kommt über den Kopf. An der Innenseite ist (unverständlich), das aus Tönen Radio macht.«
Das Fragment schreckte zurück, als der Junge versuchte, die Klappe nach vorn zu ziehen. »Nein. Ich kann nicht denken, wenn ich diese Umhänge anhabe.« Nur so, wie er dastand, alle Glieder nach innen gewandt, konnte das Fragment das volle Bewusstsein bewahren. Schon jetzt trieben die schwächeren Teile von ihm auf die Panik der Isolation zu. Das Bewusstsein, das Tyrathect war, würde heute etwas lernen.
»Oh, Verzeihung.« Jefri wandte sich um und sagte zu Amdi etwas über die Verwendung des alten Entwurfs.
Amdi stand mit den Köpfen beisammen vielleicht dreißig Fuß entfernt. Alle von ihm blickten finster drein, beleidigt, dass man ihn abgewiesen hatte, nervös, weil der Zweibeiner nicht bei ihm war. Doch als die Vorbereitungen weitergingen, verloren sich die finsteren Blicke. Die Augen des Welpenrudels wurden groß von glücklicher Faszination. Das Fragment fühlte eine Welle von Zuneigung für die Welpen, die fast zu schnell kam und wieder verschwand, als dass es im Bewusstsein registriert wurde.
Nun schob sich Amdi näher heran und machte sich dabei die Tatsache zunutze, dass die Umhänge viel von den Denklauten des Fragments dämpften. »Jefri sagt, vielleicht hätten wir nicht versuchen sollen, das Gedanken-Radio zu machen«, sagte er. »Aber es wird so viel besser sein. Ich weiß es! Und«, sagte er mit vordergründiger Verschlagenheit, »ihr könnt es immer noch mich versuchen lassen.«
»Nein, Amdi. So muss es sein.« Stahls Stimme war ganz sanfte Sympathie. Nur das Flenser-Fragment konnte das breite Grinsen von ein paar Gliedern des Fürsten sehen.
»Gut, in Ordnung.« Die Welpen kamen noch ein wenig näher. »Habt keine Angst, Fürst Tyrathect. Wir haben die Radios eine Zeit lang in der Sonne gehabt. Sie müssen eine Menge Kraft haben. Damit sie funktionieren, zieht ihr einfach alle Riemen eng, sogar die am Halse.«
»Alle zugleich?«
Amdi zappelte ein wenig. »So ist es wahrscheinlich am besten. Sonst gibt es so ein Durcheinander der Geschwindigkeiten, dass…« Er sagte etwas zu dem Zweibeiner.
Jefri beugte sich nahe herab. »Dieser Riemen kommt hierhin, und der hierhin.« Er zeigte auf die Laschen aus Flechtenbein, die die Kopfbedeckung festzogen. »Und dann zieht einfach mit dem Mund hieran.«
»Je stärker man zieht, um so lauter ist das Radio«, fügte Amdi hinzu.
»Gut.« Das Fragment nahm sich zusammen. Er ruckte mit den Achseln die Jacken zurecht und zog Schulter- und Bauchriemen fest. Eine tödliche Dumpfheit. Die Jacken schienen fast mit seinen Trommelfellen zu verschmelzen. Er betrachtete sich selbst und rang verzweifelt um den Rest des Bewusstseins. Die Jacken waren schön, magische Dunkelheit, aber mit einer Spur vom Gold und Silber eines Flenserfürsten. Schöne Folterwerkzeuge. Selbst Stahl hatte sich eine derart wahnwitzige Rache nicht einfallen lassen. Oder?
Das Fragment packte die Kopflaschen und zog daran.
Vor zwanzig Jahren, als Tyrathect neu war, war sie gern mit ihrem Spaltungseiter über die Grasdünen am Kitcherri-See entlang gewandert. Das war vor ihrem großen Zerwürfnis gewesen, bevor die Einsamkeit Tyrathect auf der Suche nach ›Sinn‹ in die Hauptstadt der Republik getrieben hatte. Nicht das ganze Ufer des Kitcherri-Sees bestand aus Stränden und Dünen. Weiter im Süden lag die Felsheit, wo Ströme den Stein zum Wasser hin durchschnitten hatten. Manchmal, besonders wenn sie und ihr Elter sich gestritten hatten, ging Tyrathect vom Ufer zwischen blanken, glatten Felswänden stromaufwärts. Es war eine Art Strafe: Es gab Stellen, wo der Stein einen glasigen Überzug hatte und überhaupt keinen Schall absorbierte. Alles wurde als Echo zurückgeworfen, bis hinauf zu den höchsten Lagen des Denkens. Es war, als wäre sie von Kopien ihrer selbst umringt und Kopien hinter diesen, die alle dieselben Klänge dachten, aber durcheinander.
Natürlich waren Echos oft ein Problem bei ungepolsterten Steinmauern, vor allem, wenn Größe und Geometrie nicht stimmten. Aber die Felswände reflektierten so perfekt, der Alptraum eines Steinhauers. Und es gab Stellen, wo die Form der Felsheit mit den Klängen zusammenwirkte… Wenn Tyrathect dorthin ging, konnte sie ihre eigenen Gedanken nicht von den Echos unterscheiden. Alles wurde vom kaum verschobenen Widerhall überlagert. Zuerst war es ein großer Schmerz gewesen, der sie weglaufen ließ. Aber sie zwang sich immer wieder zurück und lernte schließlich, sogar in den schlimmsten Felsklüften zu denken.
Amdijefris Radio glich ein wenig den Wänden am Kitcherri. Genug, um mich vielleicht zu retten. Als Tyrathect zu Bewusstsein kam, lagen alle von ihr auf einem Haufen. Es waren höchstens Sekunden vergangen, seit sie die Radios eingeschaltet hatte; Amdi und Stahl starrten sie einfach an. Der Mensch hielt einen ihrer Körper fest und redete mit ihr. Tyrathect leckte dem Jungen die Pfote, dann stand sie teilweise auf. Sie hörte nur ihre eigenen Gedanken, doch sie hatten etwas von der Dissonanz der Felsechos.
Sie lag wieder auf den Bäuchen. Ein Teil von ihr übergab sich auf den Erdboden. Die Welt schimmerte wie falsch gestimmt. Das Denken ist da. Halt es fest! Halt es fest! Es war alles eine Frage der Koordination, der zeitlichen Abstimmung. Sie erinnerte sich, was Amdijefri über die Geschwindigkeit des Radios gesagt hatte. In gewisser Weise war dies hier die Kehrseite des Problems der kreischenden Felswände.
Sie schüttelte die Köpfe und versuchte, der Fremdartigkeit Herr zu werden. »Ich brauche einen Moment«, sagte sie, und ihre Stimme war fast ruhig. Sie schaute sich um. Langsam. Wenn sie sich konzentrierte, sich nicht schnell bewegte, konnte sie denken. Mit einem Mal kamen ihr die Umhänge zu Bewusstsein, die gegen all ihre Trommelfelle drückten. Sie hätte betäubt sein müssen, isoliert. Ihre Gedanken waren jedoch nicht wirrer als nach einem schlechten Schlaf.
Sie rappelte sich auf und ging langsam auf dem freien Platz zwischen Amdi und Stahl umher. »Könnt ihr mich hören?«, fragte sie.
»Ja«, sagte Stahl. Er wich nervös vor ihr zurück.
Natürlich. Die Umhänge dämpften den Klang wie jedes schwere Futter: Alles in der Tonhöhe des Denkens würde vollständig absorbiert. Aber Zwischenrudel-Sprache und Samnorsk hatten tiefe Tonlagen — sie würden kaum beeinflusst werden. Sie blieb stehen und hielt den Atem an. Sie konnte Vögel hören und wie irgendwo auf der anderen Seite des Innenhofs Holz gesägt wurde. Stahl aber stand nur dreißig Fuß von ihr entfernt. Seine Denkgeräusche hätten eine laute Störung sein müssen, sogar verwirrend. Sie lauschte angespannt… Da war nichts als ihre eigenen Gedanken und ein Sirren, das aus allen Richtungen zu kommen schien.
»Und wir haben geglaubt, das würde uns die Kontrolle in einer Schlacht geben«, sagte sie erstaunt. Alle von ihr wandten sich um und gingen auf Amdi zu. »Du hast es die ganze Zeit gewusst, nicht wahr?«, sagte Tyrathect.
»Ich habe es gehofft. Oh, ich habe es gehofft.« Er kam näher. Fünf Fuß. Seine acht blickten ihre fünf aus einer Entfernung von ein paar Zoll an. Er schob eine Nase vor und rieb eine Schnauze an einer von Tyrathect. Seine Denkgeräusche drangen nur schwach durch den Umhang, nicht lauter, als ob er fünfzig Fuß weit weg gewesen wäre. Für einen Augenblick sahen sie einander bass erstaunt an. Nase an Nase, und sie konnten beide noch denken! Amdi stieß einen Freudenschrei aus und sprang mitten unter Tyrathect, strich hin und her an ihren Beinen entlang. »Sieh nur, Jefri«, rief er in Samnorsk. »Es funktioniert! Es funktioniert!«
Tyrathect wankte unter dem Ansturm, verlor fast den Faden ihrer Gedanken. Was soeben geschehen war… In der ganzen Weltgeschichte hatte es nie dergleichen gegeben. Wenn denkende Rudel Pfote an Kiefer zusammenarbeiten konnten… Das hatte Folgen und abermals Folgen, und ihr wurde wieder ganz schwindlig.
Stahl kam ein wenig näher und erduldete eine beiläufige Umarmung von Jefri Olsndot. Stahl tat sein Bestes, um sich der Feier anzuschließen, wusste aber nicht recht, was geschehen war. Er hatte die Konsequenzen nicht selbst erlebt, wie Tyrathect. »Ein wunderbarer Fortschritt für den ersten Tag«, sagte er. »Aber es muss doch trotzdem schmerzhaft sein.« Zwei von ihm musterten sie scharf. »Wir sollten dir diese Ausrüstung abnehmen und dir eine Pause gönnen.«
»Nein!«, sagten Tyrathect und Amdi fast gleichzeitig. Sie lächelte Stahl an. »Wir haben es noch nicht wirklich erprobt, oder? Der eigentliche Zweck war Kommunikation über weite Entfernungen.« Zumindest hielten wir das für den Zweck. Doch selbst, wenn es keine größere Reichweite als Denklaute haben sollte, war es in Tyrathects Denken bereits ein überragender Erfolg.
»Oh.« Stahl schenkte Amdi ein schwaches Lächeln und warf Tyrathect heimlich stechende Blicke zu. Jefri hing immer noch an zwei von seinen Hälsen. Stahl war ein Bild kaum verhohlener Wut. »Gut, geh dann langsam. Wir wissen nicht, was geschehen kann, wenn du die Reichweite überschreitest.«
Tyrathect löste ihrer zwei von Amdi und ging ein paar Fuß beiseite. Die Gedanken waren so klar — und potentiell so verwirrend — wie zuvor. Allmählich bekam sie jedoch ein Gefühl dafür. Sie hatte wenig Mühe, ihr Gleichgewicht zu halten. Sie ließ die beiden weitere dreißig Schritt fortgehen; das war etwa die größte Entfernung, bei der ein Rudel in absoluter Stille ganz bleiben konnte. »Es ist, als hätte ich immer noch die Köpfe zusammen«, sagte sie erstaunt. Für gewöhnlich waren bei dreißig Fuß die Gedanken schwach und die Verzögerung so schlimm, dass die Koordination schwerfiel.
»Wie weit kann ich gehen?«, fragte sie Amdi leise.
Er stieß ein menschliches Kichern aus und brachte einen Kopf nahe an ihren. »Ich bin nicht sicher. Es müsste mindestens bis zu den Außenmauern reichen.«
»Gut«, sagte sie mit normaler Stimme, für Stahl, »wir wollen sehen, ob ich mich ein bisschen weiter ausbreiten kann.« Ihre beiden gingen abermals zehn Ellen. Sie erstreckte sich über mehr als sechzig Fuß!
Stahl saß mit aufgerissenen Augen da. »Und nun?«
Tyrathect lachte. »Meine Gedanken sind so scharf wie zuvor.« Sie wandte ihre beiden um und ging fort.
»Warte!«, brüllte Stahl und sprang auf. »Das ist viel…« Dann fielen ihm seine Zuschauer ein, und aus der Wut wurde eher ängstliche Sorge um ihr Wohlergehen. »Das ist viel zu gefährlich für den ersten Versuch. Komm zurück!«
Von der Stelle, wo sie bei Amdi saß, lächelte Tyrathect breit. »Aber Stahl, ich bin doch gar nicht weggegangen!«, sagte sie in Samnorsk.
Amdijefri lachte und lachte.
Sie war jetzt hundertfünfzig Fuß auseinander. Ihre beiden fielen in einen vorsichtigen Trab — und sie beobachtete, wie Stahl Schaum hinunterschluckte. Ihre Gedanken hatten immer noch die scharfe, abrupte Qualität, als wären die Köpfe mehr als zusammen. Wie schnell ist dieses Radio-Zeug wirklich?
Sie kam nahe an Sreck und den am Ende des Feldes postierten Wachen vorbei. »He, he, Sreck? Was sagst denn du?«, sagte eins von ihr zu seinen verblüfften Gesichtern. Weiter hinten, bei Amdi und dem Rest von ihr, rief Stahl Sreck zu, er solle ihr folgen.
Ihr Traben wurde zu einem lockeren Lauf. Sie teilte sich, eins nördlich, das andere südlich am Innenhof vorbei. Sreck und seine Gefährten folgten ihr, vom Schock wie benommen. Die Kuppel des inneren Mauerrings lag zwischen ihr, eine gekrümmte Schale von Stein. Ihre Radio-Gedanken schwanden in dem Sirren dahin.
»Kann nicht denken«, sagte sie murmelnd zu Amdi.
»Zieht an den Mundriemen. Macht Eure Gedanken lauter.«
Tyrathect zog, und das Sirren wurde schwächer. Sie gewann das Gleichgewicht wieder und rannte um das Sternenschiff. Eins von ihr befand sich jetzt in einem Baugebiet. Handwerker schauten schockiert auf. Ein einzelnes Glied bedeutete für gewöhnlich einen Unfall, oder dass ein Rudel Amok lief. In jedem Falle musste das Solo festgehalten werden. Doch Tyrathects Glied trug einen Umhang, auf dem hier und da Gold glitzerte. Und hinter ihr riefen Sreck und seine Wachen jedem zu, sich zurückzuhalten.
Sie wandte Stahl einen Kopf zu, und ihre Stimme war voller Freude. »Ich gehe hoch!« Sie rannte durch die sich duckenden Arbeiter hindurch, auf die Mauern zu. Sie war überall, breitete sich immer weiter aus. Diese Sekunden würden Erinnerungen schaffen, die ihre Seele überdauern würden, die Legenden im Verstand ihrer Nachkommen in tausend Jahren sein würden.
Stahl hockte sich hin. Die Dinge waren jetzt völlig seiner Kontrolle entglitten; Srecks Leute waren alle auf der anderen Seite des inneren Mauerrings. Alles, was er und Amdi erfahren konnten, kam von Tyrathect — und vom Lärm der Alarmrufe.
Amdi sprang um sie herum. »Wo seid Ihr jetzt? Wo?«
»Fast an der Außenmauer.«
»Geh nicht weiter«, sagte Stahl leise.
Tyrathect hörte ihn kaum. Ein paar Sekunden noch würde sie von dieser grandiosen Macht trinken. Sie lief die Stufen auf der Innenseite hinauf. Wachposten wichen aus, manche Glieder sprangen zurück in den Hof. Sreck folgte ihr noch immer und rief, damit man sie in Ruhe ließ.
Eins von ihr erreichte den Wehrgang, dann das andere.
Sie schnappte nach Luft.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Amdi.
»Ich…« Tyrathect schaute sich um. Von ihrer Stelle auf der Südmauer konnte sie sich selbst im Burghof sehen: ein winziges Klümpchen Schwarz und Gold, das ihre drei und Amdi waren. Jenseits der Nordostmauern erstreckten sich Wald und Täler, die Routen hinauf in die Eisfang-Berge. Im Westen lagen die Verborgene Insel und die nebligen inneren Buchten. Es waren Dinge, die sie als Flenser Tausende Male gesehen hatte. Wie er sie geliebt hatte — sein Reich. Nun aber… sah sie wie im Traum. Ihre Augen waren so weit auseinander. Ihr Rudel war fast so groß wie die Burg selbst. Die Parallaxe des Blicks ließ die Verborgene Insel ganz nahe erscheinen, nur ein paar Schritte entfernt. Neuburg glich einem rings um sie ausgebreiteten Modell. Allmächtiges Rudel aller Rudel — dies war der Blick Gottes.
Srecks Soldaten schoben sich näher heran. Er hatte ein paar Rudel zurückbeordert, um Anweisungen zu holen. »Ein paar Minuten. Ich werde in ein paar Minuten herunterkommen.« Sie sprach die Worte zu den Soldaten auf der Palisade und zu Stahl unten im Hof. Dann wandte sie sich um und ließ den Blick über ihr Reich schweifen.
Sie hatte nur zwei von sich über weniger als eine Viertelmeile ausgebreitet. Doch es gab keine spürbare Verzögerung; die Koordination fühlte sich ebenso abrupt an, als sei sie noch ganz beisammen. Und man konnte die Laschen aus Flechtenbein noch ein gutes Stück weiter ziehen. Wie, wenn alle fünf von ihr ausschwärmten, sich meilenweit ausbreiteten? Das ganze Nordland wäre ihr persönlicher Raum.
Und Flenser? Ah, Flenser. Wo war er? Die Erinnerungen waren noch da, aber… Tyrathect erinnerte sich an den Verlust des Bewusstseins, gerade als die Radios zu funktionieren begonnen hatten. Man musste in der Koordination besonders geübt sein, um angesichts so schrecklichen Tempos denken zu können. Vielleicht war Fürst Flenser nie zwischen engen Felswänden gegangen, als er neu war. Tyrathect lächelte. Vielleicht konnte nur ein Verstand wie der ihre beim Gebrauch der Radios bestehen. In diesem Fall… Tyrathect schaute abermals über die Landschaft. Flenser hatte ein großes Reich geschaffen. Wenn diese neuen Entwicklungen richtig gehandhabt wurden, würden die künftigen Siege es noch unendlich viel größer machen.
Er wandte sich Srecks Soldaten zu. »Sehr gut, ich bin bereit, zu Fürst Stahl zurückzukehren.«
Es war Hochsommer, als Holzschnitzerins Armee nach Norden aufbrach. Die Vorbereitungen waren fieberhaft gewesen, und Feilonius hatte sich selbst und alle anderen in die Erschöpfung getrieben. Man hatte dreißig Kanonen herstellen müssen — Scrupilo goss siebzig Rohre, ehe er die dreißig erhielt, die verlässlich feuern würden. Man hatte Kanoniere ausbilden und sichere Methoden des Feuerns herausfinden müssen. Man hatte Wagen bauen und Cherhogs kaufen müssen.
Sicherlich war die Kunde von den Vorbereitungen längst nach Norden durchgesickert. Holzschnitzerheim war eine Hafenstadt, man konnte den Handel nicht unterbinden, der hindurchging. In mehr als einer Sitzung des inneren Rates warnte Feilonius sie: Stahl wusste, dass sie kamen. Der Trick bestand darin, die Flenseristen über Stärke, Zeitplan und den genauen Zweck im Ungewissen zu lassen. »Wir haben einen großen Vorteil gegenüber dem Feind«, sagte er. »Wir haben Agenten in seinen höchsten Räten. Wir wissen, was er über uns weiß.« Das Offensichtliche konnten sie vor Spionen nicht verbergen, doch bei Einzelheiten lag der Fall anders.
Die Armee brach über Wege im Landesinneren auf, ein Dutzend Wagen hier, ein paar Schwadronen da. Alles in allem beteiligten sich eintausend Rudel an dem Feldzug, doch sie würden niemals zusammentreffen, ehe sie die Tiefen des Waldes erreichten. Es wäre leichter gewesen, den ersten Teil der Reise zur See zurückzulegen, doch die Flenseristen verfügten hoch in den Fjordländern verborgen über Beobachter. Jede Schiffsbewegung — sogar tief im Holzschnitzergebiet — würde dem Norden bekannt werden. So reisten sie über Waldwege, durch Gebiete, die Feilonius von feindlichen Agenten gesäubert hatte.
Anfangs war die Reise sehr leicht, zumindest für die mit den Wagen. Johanna fuhr in einem Wagen bei der Nachhut zusammen mit Holzschnitzerin und dem Datio. Sogar ich fange an, das Ding wie ein Orakel zu behandeln, dachte Johanna. Wie schade, dass es nicht wirklich die Zukunft voraussagen konnte.
Das Wetter war so schön, wie Johanna es nur je auf der Klauenwelt erlebt hatte, ein endloser Nachmittag. Es war seltsam, dass so anhaltend schönes Wetter sie derart nervös machte, doch sie konnte nichts dagegen tun. Es ähnelte alles so sehr ihrer ersten Begegnung mit dieser Welt, als alles… schiefgegangen war.
Während der ersten Tage der Reise, als sie sich noch auf heimischem Gebiet befanden, zeigte Holzschnitzerin auf jeden Gipfel, der in Sicht kam, und versuchte, seinen Namen für sie in Samnorsk zu übersetzen. Nach sechshundert Jahren kannte die Königin ihr Land gut. Sogar die Fleckchen Schnee — diejenigen, die den ganzen Sommer über liegen blieben — waren ihr vertraut. Sie zeigte Johanna ein Skizzenbuch, das sie mitgenommen hatte. Jede Seite stammte aus einem anderen Jahr und stellte ihre speziellen Schneeflecken dar, wie sie an dem gleichen Tag im Sommer ausgesehen hatten. Wenn man die Seiten durch die Finger laufen ließ, war es fast eine Art grobes bewegtes Bild. Johanna konnte sehen, wie die Flecken sich bewegten, wie sie mehrere Jahrzehnte lang wuchsen und sich dann zurückzogen. »Die meisten Rudel leben nicht lange genug, um es zu empfinden«, sagte Holzschnitzerin, »aber für mich sind die Flecken, die den ganzen Sommer über bleiben, wie Lebewesen. Siehst du, wie sie sich bewegen? Sie sind wie Wölfe, von unseren Ländern durch das Feuer ferngehalten, das die Sonne ist. Sie streifen herum, wachsen. Manchmal vereinigen sie sich, und ein neuer Gletscher beginnt seinen Weg zum Meer.«
Johanna lachte ein wenig nervös. »Sie sind am Gewinnen?«
»In den letzten vier Jahrhunderten nicht. Die Sommer sind oft heiß und windig gewesen. Auf lange Sicht? Ich weiß nicht. Und es ist mir auch nicht mehr ganz so wichtig.« Sie wiegte eine Weile ihre kleinen Welpen und lachte sanft. »Wanderers Kleine denken noch nicht einmal, und ich fange schon an, meine große Perspektive zu verlieren!«
Johanna streckte die Hand aus, um ihren Hals zu streicheln. »Aber es sind auch deine Welpen.«
»Ich weiß. Die meisten meiner Welpen habe ich von anderen Rudeln bekommen, doch diese sind die ersten, die ich behalte, damit sie ich werden.« Ihr Blindes schnüffelte an einem der Jungen.
Es zappelte und machte ein Geräusch an Johannas Hörgrenze. Johanna hielt das andere auf dem Schoß. Klauenwelpen sahen eher wie Seesäuger als wie Hunde aus. Ihr Hals war so lang im Vergleich zum Körper. Und sie schienen sich viel langsamer zu entwickeln als das Hündchen, das sie und Jefri aufgezogen hatten. Selbst jetzt noch hatten sie anscheinend Mühe, den Blick zu fokussieren. Sie bewegte die Finger langsam vor dem Kopf eines Welpen hin und her; seine Versuche, mit dem Blick zu folgen, waren komisch.
Und nach sechzig Tagen konnten Holzschnitzerins Welpen nicht richtig gehen. Die Königin trug zwei besondere Jacken mit Tragetaschen an den Seiten. Den größten Teil der Wachzeit des Tages blieben ihre Jungen dort drin und saugten durch des Fell an ihrem Bauch hindurch. In mancherlei Hinsicht behandelte Holzschnitzerin ihren Nachwuchs wie ein Mensch. Sie war sehr unruhig, wenn sie aus ihrem Blickfeld genommen wurden. Sie schmuste gern mit ihnen und spielte mit ihnen kleine Geschicklichkeitsspiele. Oft legte sie beide auf den Rücken, stukte die acht Pfoten der Reihe nach an und dann plötzlich den einen oder den anderen in den Bauch. Die beiden zappelten wütend unter dem Angriff und fuchtelten mit den Beinchen in alle Richtungen. »Ich zwicke den, dessen Pfote zuletzt berührt worden ist. Wanderer ist meiner würdig. Diese beiden denken schon ein bisschen. Siehst du?« Sie zeigte auf das Junge, das sich zu einer Kugel zusammengerollt hatte und so das überraschende Kitzeln größtenteils vermied.
In anderer Hinsicht war die elterliche Fürsorge der Klauenwesen fremdartig, fast furchteinflößend. Weder Holzschnitzerin noch Wanderer sprachen jemals mit ihren Welpen in hörbaren Tönen, doch ihre Ultraschall-›Gedanken‹ schienen ständig die Jungen abzutasten. Manches davon war so einfach und regelmäßig, dass es Resonanzschwingungen in den Wänden des kleinen Wagens erzeugte. Das Holz summte unter Johannas Händen. Es war, als ob eine Mutter ein Wiegenlied sänge, doch sie sah, dass es einem anderen Zweck diente. Die kleinen Geschöpfe reagierten auf die Töne, indem sie in komplizierten Rhythmen zuckten. Wanderer sagte, dass es noch dreißig Tage dauern würde, bis die Welpen bewusstes Denken zum Rudel beitragen konnten, doch sie wurden darin bereits ausgebildet und geübt.
Für einen Teil jedes Tages schlugen sie ein Lager auf, wobei die Soldaten abwechselnd als Postenketten Wache hielten. Selbst in dem Teil des Tages, wo sie unterwegs waren, hielten sie oftmals an, um den Weg frei zu machen, auf die Rückkehr einer Patrouille zu warten oder einfach zu rasten. Bei einer solchen Rast saß Johanna mit Wanderer im Schatten eines Baumes, der wie eine Kiefer aussah, aber nach Honig roch. Pilger spielte mit seinen Jungen und half ihnen, sich aufzurichten und ein paar Schritte zu gehen. Am Surren in ihrem Kopf merkte sie, dass er zu den Welpen dachte. Und mit einem Mal kamen sie ihr eher wie Marionetten als wie Kinder vor. »Warum lässt du sie nicht allein spielen, oder mit ihren…« — Brüdern? Schwestern? Wie nannte man Geschwister, die ein anderes Rudel geboren hatte? — »… mit Holzschnitzerins Welpen?«
Mehr noch als Holzschnitzerin hatte der Pilger versucht, die Bräuche der Menschen kennen zu lernen. Er war bei weitem das flexibelste Rudel, das sie kannte — immerhin, wenn man einen Mörder im eigenen Geist aufnehmen kann, muss man flexibel sein. Doch Pilger war von ihrer Frage sichtlich überrascht. Das Summen in ihrem Kopf brach unvermittelt ab. Er lachte schwach. Es war ein sehr menschliches Lachen, wenn auch ein wenig theatralisch. Wanderer hatte Stunden mit interaktiven Komödien am Datio verbracht — ob zur Unterhaltung oder um der Erkenntnis willen, wusste sie nicht. »Spielen? Allein? Ja… Ich verstehe, wie natürlich das dir erscheinen würde. Für uns wäre es eine Art Perversion… Nein, schlimmer noch, denn Perversionen machen wenigstens manchmal manchen Leuten Spaß. Aber wenn ein Welpe als Solo aufgezogen würde, oder auch als Duo — es würde bedeuten, ein Tier aus etwas zu machen, was ein gesundes Glied werden könnte.«
»Du meinst, dass Welpen niemals ein eigenes Leben haben?«
Wanderer reckte die Köpfe vor und ließ sich zu Boden fallen. Eins von ihm schnüffelte weiter an den Welpen, doch seine Aufmerksamkeit galt Johanna. Er liebte es, über menschliche Exotika zu sinnieren. »Nun ja, manchmal kommt es zu einer Tragödie — ein verwaister Welpe, der ganz sich selbst überlassen ist. Oft gibt es dafür keine Heilung, das Geschöpf wird zu unabhängig, als dass es sich in irgendein Rudel einpassen könnte. Jedenfalls ist es ein sehr einsames, leeres Leben. Ich kann mich persönlich erinnern, wie unangenehm es ist.«
»Ihr verpasst eine Menge. Ich weiß, dass du dir im Datio Kindergeschichten angesehen hast. Es ist traurig, dass ihr niemals jung und närrisch sein könnt.«
»He! Das habe ich nie behauptet. Ich bin viele Male jung und närrisch gewesen, es ist meine Art zu leben. Und die meisten Rudel sind so, wenn sie mehrere junge Glieder von verschiedenen Eltern haben.« Während sie miteinander sprachen, hatte sich einer der Welpen an den Rand der Decke vorgekämpft, auf der sie saßen. Nun streckte er seinen Hals unbeholfen nach den Blumen aus, die aus den Wurzeln eines nahen Baumes wuchsen. Während er in dem Grün und Purpur herumstocherte, spürte Johanna wieder das Summen. Die Bewegungen des Welpen wurden eine Spur zielgerichteter. »Oha! Ich kann die Blumen zusammen mit ihm riechen. Ich wette, noch ehe wir Flensers Verborgene Insel erreichen, werden wir einer mit den Augen des anderen sehen.« Der Welpe fuhr zurück, und die beiden vollführten einen kleinen Tanz auf der Decke. Wanderers Köpfe wippten im Takt der Bewegung auf und ab. »Sie sind so kluge Kleine!« Er grinste. »Oh, wir sind nicht so sehr verschieden von euch, Johanna. Ich weiß, dass Menschen auf ihre Jungen stolz sind. Holzschnitzerin und ich, wir fragen uns beide, was aus unseren wohl werden wird. Sie ist so glänzend scharfsinnig, und ich bin — na ja, ein bisschen verrückt. Werden diese beiden ein wissenschaftliches Genie aus mir machen? Werden die von Holzschnitzerin eine Abenteurernatur aus ihr machen? He, he. Holzschnitzerin ist eine großartige Züchterin, doch nicht einmal sie weiß sicher, wie unsere neuen Seelen sein werden. Oh, ich kann es gar nicht erwarten, wieder sechs zu sein!«
Schreiber und Pilger und Johanna hatten nur drei Tage gebraucht, um aus Flensers Reich zum Hafen von Holzschnitzerheim zu segeln. Diese Armee würde fast dreißig Tage brauchen, um zurück zu dem Ort zu gehen, wo Johannas Abenteuer begonnen hatte. Auf der Karte hatte der Weg mühselig ausgesehen, wie er sich hin und her durch das Fjordland schlängelte. Doch die ersten zehn Tage waren erstaunlich leicht gewesen. Das Wetter blieb trocken und warm. Es war, als würde sich der Tag des Überfalls bis in alle Ewigkeit erstrecken. Einen Trockenwindsommer nannte es Holzschnitzerin. Im Sommer sollte es gelegentlich Stürme geben, zumindest bewölkten Himmel. Statt dessen kreiste die Sonne endlos über den Baumgipfeln, und wenn sie ins Freie gelangten — niemals für lange Zeit, und nur, wenn Feilonius es für zweifellos sicher hielt —, war der Himmel klar und fast wolkenlos.
Tatsächlich wurde das Wetter schon etwas beschwerlich. Mittags konnte es geradezu heiß werden. Es wehte ein stetiger und trockener Wind. Der Wald selbst trocknete allmählich aus, sie mussten sich mit dem Feuer vorsehen. Und bei einer ständig überm Horizont stehenden Sonne und wolkenlosem Himmel konnten sie von Spähern über viele Meilen hinweg gesehen werden. Besonders Scrupilo ärgerte sich. Er hatte nicht vorgehabt, seine Kanonen unterwegs abzufeuern, wohl aber, ›seine‹ Soldaten etwas öfter im Freien auszubilden.
Scrupilo war Ratsmitglied und der Chefingenieur der Königin. Seit seinem Experiment mit der Kanone hatte er auf dem Titel ›Befehlshaber der Kanoniere‹ bestanden. Johanna war der Ingenieur immer kurz angebunden und ungeduldig erschienen. Seine Glieder waren fast ständig in Bewegung, und das sprunghaft und abgehackt. Er verbrachte fast ebenso viel Zeit mit dem Datio, wie die Königin oder Wanderer Wickwracknarb, interessierte sich jedoch sehr wenig für menschliche Angelegenheiten. »Er ist für alles blind, außer für Maschinen«, sagte Holzschnitzerin einmal über ihn, »aber so habe ich ihn geschaffen. Er hat viel erfunden, auch schon vor deiner Ankunft.«
Scrupilo hatte sich in seine Kanonen verliebt. Für die meisten Rudel war das Abfeuern der Dinger eine schmerzhafte Erfahrung. Seit der ersten Erprobung hatte Scrupilo sie immer wieder abgefeuert, während er die Rohre, das Pulver und die Explosivgranaten zu verbessern versuchte. In seinem Fell hatte das Pulver Dutzende von Brandstellen hinterlassen. Er behauptete, dass Kanonendonner in der Nähe den Verstand klarer machte — aber fast alle anderen stimmten darin überein, dass man davon verblödete.
Während der Rastpausen war Scrup ein vertrauter Anblick, wie er die Reihe auf und ab ging und auf seine Kanoniere einredete. Er behauptete, selbst der kürzeste Halt sei eine Gelegenheit zum Üben, denn im wirklichen Gefecht würde alles vom Tempo abhängen. Er hatte besondere Epauletten entworfen, die den Ohrenklappen nyjoranischer Kanoniere nachgestaltet waren. Sie bedeckten die Tieftonohren überhaupt nicht, dafür aber die Stirn- und Schultertrommelfelle des Glieds, welches die Ladung zündete. Die Klappen herabzuziehen, war eigentlich ziemlich betäubend für den Verstand, doch für die Augenblicke unmittelbar um das Abfeuern lohnte es sich. Scrupilo trug seine eigenen Klappen ständig, allerdings hochgeklappt. Sie sahen aus wie dumme kleine Flügel, die aus seinem Kopf und seinen Schultern ragten. Er glaubte offensichtlich, das mache einen verwegenen Eindruck — und tatsächlich taten sich auch seine Mannschaften damit wichtig, die Ausrüstung ständig zu tragen. Nach einer Weile sah sogar Johanna, dass das Üben Früchte trug. Zumindest konnten sie die Kanonenrohre augenblicklich herumschwenken, sie mit Pulver- und Kugelattrappen laden und in der Klauensprache das Gegenstück zu ›BUMM!‹ rufen.
Die Armee führte viel mehr Schießpulver als Nahrung mit sich. Die Rudel sollten vom Walde leben. Johanna hatte wenig Erfahrung, wie man in einer Atmosphäre kampierte. Waren Wälder für gewöhnlich derart reich? Gewiss hatten sie kaum etwas mit den Stadtwäldern auf Straum gemein, wo man eine Sondergenehmigung brauchte, um die gekennzeichneten Wege zu verlassen, und die meisten Wildtiere mechanische Imitationen der nyjoranischen Originale waren. Dieser Ort hier war wilder als selbst die Geschichten von der Nyjora. Schließlich war jene Welt eine wohlgeordnete Siedlung gewesen, ehe sie ins Mittelalter zurückfiel. Die Klauenwesen waren niemals zivilisiert gewesen, hatten niemals Großstädte über Kontinente wachsen lassen. Pilger schätzte, dass es weniger als dreißig Millionen Rudel auf der Welt gab. Der Nordwesten stand noch am Anfang der Besiedlung. Wild gab es überall. Bei der Jagd waren die Klauenwesen wie Tiere. Soldaten rannten durch das Unterholz. Die beliebteste Jagdmethode beruhte auf reiner Ausdauer, wo die Beute gehetzt wurde, bis sie niederfiel. Das war hier in den seltensten Fällen möglich, doch es machte ihnen fast ebensolchen Spaß, ein ahnungsloses Tier in einen Hinterhalt zu treiben.
Johanna gefiel das nicht. War das eine mittelalterliche Perversion oder speziell eine der Klauenwesen? Wenn sie genug Zeit hatten, benutzten die Soldaten ihre Armbrüste und Messer nicht. Das Jagdvergnügen schloss auch das Aufreißen von Kehlen und Bäuchen mit Zähnen und Krallen ein. Nicht, dass die Waldgeschöpfe wehrlos gewesen wären: seit Jahrmillionen hatten sich hier Drohung und Gegendrohung entwickelt. Fast jedes Tier konnte ein Ultraschallkreischen ausstoßen, das das Denken jedes Rudels in der Nähe total untergehen ließ. Es gab Teile des Waldes, die Johanna still erschienen, durch die die Armee aber in wachsamem Galopp hindurchstürmte, während sich Fahrer und Soldaten von unsichtbaren Angriffen unter Schmerzen wanden.
Manche Waldtiere waren raffinierter.
Am fünfundzwanzigsten Tag tat sich die Armee schwer beim Versuch, das bisher größte Tal zu durchqueren. In der Mitte — größtenteils im Wald verborgen — strömte ein Fluss hinab zum westlichen Meer. Die Wände dieser Täler ähnelten nichts, was Johanna in den Parks auf Straum gesehen hatte: Wenn man einen Querschnitt senkrecht zum Fluss hindurchlegte, dann ergaben die Wände die Form eines U. An den oberen Rändern waren sie steil wie Klippen, wurden dann zu Hängen und schließlich zu einer sanften Ebene, wo der Fluss strömte. »So schürft sie das Eis aus«, erklärte Holzschnitzerin. »Es gibt Stellen weiter oben, wo ich wirklich gesehen habe, wie es geschieht«, und sie zeigte Johanna Erklärungen im Datio. Das geschah immer öfter; Pilger und Holzschnitzerin und manchmal sogar Scrupilo schienen mehr von der modernen Bildung eines Kindes zu kennen als Johanna.
Sie hatten bereits eine Anzahl kleinerer Täler überquert. Die steilen Stellen hinabzusteigen, war immer heikel, doch bisher waren die Wege gut gewesen. Feilonius führte sie an den Rand dieses letzten Tals.
Holzschnitzerin und ihr Gefolge standen im Schutze des Waldes knapp vor dem Steilhang. Ein paar Meter weiter hinten saß Johanna, von Wanderer Wickwracknarb umringt. Die Bäume auf dieser Anhöhe erinnerten Johanna ein wenig an Kiefern. Die Blätter waren schmal und scharf und blieben das ganze Jahr über. Doch die Borke war weiß gesprenkelt und das Holz selbst fahlblond. Am seltsamsten waren die Blumen. Sie sprossen purpurfarben und violett aus den freiliegenden Baumwurzeln. Die Klauenwelt hatte kein Gegenstück zu Honigbienen, doch es war ständige Bewegung zwischen den Blumen, da daumengroße Säugetiere von Pflanze zu Pflanze kletterten. Es gab Tausende von ihnen, doch sie schienen sich für nichts zu interessieren als für die Blumen und die Süße, die jene verströmten. Johanna lehnte sich zwischen die Blumen zurück und bewunderte den Anblick, während die Königin mit Feilonius kollerte. Wie viele Kilometer weit konnte man von hier aus sehen? Die Luft war so klar, wie sie es auf der Klauenwelt nur je erlebt hatte. Nach Osten und Westen hin schien sich das Tal endlos zu erstrecken. Der Fluss war ein Silberfaden, wo er zufällig durch den Wald am Grunde des Tals hindurchschimmerte.
Pilger stieß sie mit einer Nase an und nickte zur Königin hin. Holzschnitzerin zeigte hierhin und dahin über den Abhang. »Es liegt Streit in der Luft. Soll ich übersetzen?«
»Hm.«
»Holzschnitzerin gefällt der Weg nicht.« Pilgers Stimme nahm den Tonfall der Königin an, wenn sie Samnorsk sprach: »Der Weg liegt völlig offen. Jeder auf der anderen Seite kann dasitzen und jeden einzelnen Wagen zählen. Sogar meilenweit. (Eine Meile ist ein fetter Kilometer.)«
Feilonius ließ die Köpfe in seiner entrüsteten Art hin und her schnellen. Er kollerte etwas, worin Johanna Ärger erkannte. Pilger kicherte und änderte die Stimme, sodass sie der des Sicherheitschefs glich: »Euer Majestät! Meine Kundschafter haben das Tal und den gegenüberliegenden Hang durchkämmt. Es besteht keine Gefahr.«
»Du hast Wunder vollbracht, ich weiß, aber behauptest du allen Ernstes, dass du die gesamte Nordflanke erfasst hast? Die ist fünf Meilen entfernt, und ich weiß aus meiner Jugendzeit, dass es dort Dutzende von kleinen Höhlen gibt — du hast selbst diese Erinnerungen.«
»Das hat gesessen!«, sagte Pilger lachend.
»Lass sein. Übersetze einfach.« Sie war mittlerweile durchaus imstande, Körpersprache und Tonfall zu deuten. Manchmal ergaben sogar die Klänge der Klauensprache Sinn.
»Hmp. Also gut.«
Die Königin rückte ihre Babytaschen zurecht und setzte sich. Ihr Ton wurde versöhnlich. »Wenn das Wetter nicht so klar wäre oder wenn es Nächte gäbe, könnten wir es versuchen, aber… Du erinnerst dich an den alten Pfad? Zwanzig Meilen landeinwärts von hier? Er dürfte inzwischen zugewachsen sein. Und die Straße, die zurückführt, ist…«
Kollern und Zischen von Feilonius, wütend. »Ich sage Euch, es ist sicher! Wir werden auf dem anderen Weg Tage verlieren. Wenn wir zu spät bei Flenser eintreffen, wird meine ganze Arbeit vergeblich gewesen sein. Ihr müsst hier vorangehen.«
»Och«, wisperte Pilger, außerstande, sich einen kleinen Kommentar zu verkneifen. »Jetzt ist der alte Feilonius vielleicht zu weit gegangen.« Die Köpfe der Königin schwangen zurück. Pilgers Imitation ihrer menschlichen Stimme sagte: »Ich verstehe deine Besorgnis, Rudel von meinem Blute. Doch wir gehen dahin, wohin ich sage. Wenn das für dich unzumutbar ist, werde ich mit Bedauern deinen Rücktritt annehmen.«
»Aber Ihr braucht mich!«
»Nicht so sehr.«
Plötzlich wurde Johanna bewusst, dass der ganze Feldzug an Ort und Stelle scheitern konnte, ohne dass auch nur ein Schuss abgefeuert wurde. Wo wären wir ohne Feilonius? Sie hielt den Atem an und beobachtete die beiden Rudel. Teile von Feilonius gingen rasch im Kreis und hielten für Augenblicke inne, um Holzschnitzerin wütende Blicke zuzuwerfen. Schließlich senkten sich alle seine Hälse. »Ähm. Ich bitte um Verzeihung, Euer Majestät. Solange Ihr mich nützlich findet, bitte ich, in Eurem Dienst bleiben zu dürfen.«
Nun entspannte sich auch Holzschnitzerin. Sie streckte zwei Köpfe aus, um ihre Welpen zu streicheln. Sie hatten auf ihre Stimmung reagiert, in ihren Taschen gestrampelt und gezischt. »Gewährt. Ich möchte deinen unabhängigen Rat, Feilonius. Bisher war er wunderbar gut.«
Feilonius lächelte schwach.
»Ich hätte nicht geglaubt, dass der Trottel das fertig bringen würde«, sagte Pilger nahe bei Johannas Ohr.
Sie brauchten zwei Tage, um den alten Pfad zu erreichen. Wie Holzschnitzerin vorausgesagt hatte, war er zugewachsen. Mehr noch: an manchen Stellen war überhaupt keine Spur von dem Pfad. Es würde Tage dauern, um auf diesem Wege ins Tal hinabzusteigen. Wenn Holzschnitzerin irgendwelche Bedenken wegen der Entscheidung hatte, so sagte sie nichts davon zu Johanna. Die Königin war sechshundert Jahre alt, sie sprach oft genug von der Unbeweglichkeit des Alters. Nun bekam Johanna ein anschauliches Beispiel, was das bedeutete.
Wenn sie auf eine Wasserrinne stießen, wurden Bäume gefällt und auf der Stelle eine Brücke gebaut. Es kostete einen Tag, um jede solche Stelle zu passieren. Doch selbst wenn der Pfad noch vorhanden war, kamen sie quälend langsam voran. Niemand fuhr noch in den Wagen. Der Rand des Pfades war weggespült worden, und manchmal drehten sich die Wagenräder über dem Nichts. Zu ihrer Rechten konnte Johanna auf Baumkronen hinabblicken, die sich ein paar Meter neben ihren Füßen befanden.
Auf die Wölfe trafen sie am sechsten Tag des Umwegs, als sie die Talsohle fast erreicht hatten. Wölfe. So nannte sie zumindest Pilger; für Johanna sahen sie wie Springmäuse aus.
Sie hatten gerade eine leichte Wegstrecke von einem Kilometer zurückgelegt. Selbst unter den Bäumen spürten sie den Wind, der trocken und warm unablässig das Tal hinabwehte. Die letzten Fleckchen Schnee zwischen den Bäumen wurden weggesaugt, und über dem Nordhang des Tals stand eine Rauchwolke.
Johanna ging neben Holzschnitzerins Wagen. Pilger war ungefähr zehn Meter weiter hinten und schwatzte gelegentlich mit ihnen. (Die Königin selbst war dieser Tage sehr still gewesen.) Plötzlich ertönte über ihnen der kreischende Alarmruf der Klauenwesen.
Eine Sekunde später rief Feilonius hundert Meter weiter vorn etwas. Durch Lücken im Laubwerk konnte Johanna erkennen, wie Soldaten auf der nächsthöheren Serpentine Armbrüste in Anschlag brachten und auf den Hang weiter oben schossen. Das Sonnenlicht sickerte durch das Laubdach und brachte viel Helligkeit, aber in einzelnen Flecken, die sich teilten und bewegten, während die Soldaten sich hektisch hin und her drängten. Chaos, aber… da oben gab es Kreaturen, die keine Klauenwesen waren! Klein, braun oder grau, huschten sie durch die Schatten und die Lichtflecken. Sie strömten den Hang herauf und fielen von der anderen Seite über die Soldaten her als jener, wohin diese schossen.
»Umdrehen! Umdrehen!«, schrie Johanna, doch ihre Stimme ging in dem Tumult unter. Außerdem, wer konnte sie schon verstehen? Alle von Holzschnitzerin spähten zu der Schlacht hinauf. Sie packte Johanna am Ärmel. »Siehst du dort oben etwas? Wo?«
Johanna stammelte eine Erklärung, doch nun hatte Pilger auch etwas gesehen. Sein kollernder Ruf erhob sich laut über das Gefecht. Er rannte den Weg zurück nach oben, wo Scrupilo versuchte, eine Kanone in Stellung zu bringen. »Johanna! Hilf mir.«
Holzschnitzerin zögerte, dann sagte sie: »Ja. Vielleicht ist es so schlimm. Hilf bei der Kanone, Johanna.«
Es waren nur fünfzig Meter bis zum Kanonenwagen, doch bergauf. Sie rannte. Etwas Schweres klatschte kurz hinter ihr auf den Pfad. Ein Teil von einem Soldaten! Es zuckte und schrie. Ein halbes Dutzend rattengroße Pelzstücke hingen an dem Körper, und durch sein Fell liefen rote Streifen. Ein anderes Glied fiel an ihr vorbei. Noch eins. Johanna strauchelte, rannte aber weiter.
Wickwracknarb stand mit den Köpfen aneinander, nur ein paar Meter von Scrupilo entfernt. Jedes erwachsene Glied war bewaffnet — Mundmesser und Stahlklauen. Er winkte Johanna neben sich zu Boden. »Wir sind auf ein Nest von, von Wölfen gestoßen.« Er sprach unbeholfen, verzerrt. »Es muss zwischen hier und Pfad oben sein. Ein Haufen, wie ein kleiner Burgturm. Müssen Nest töten. Kannst du es sehen?« Offensichtlich konnte er es nicht, er schaute sich überall um. Johanna blickte zurück, den Hang hinauf. Es schien jetzt weniger Kampfgetümmel zu geben, nur die qualvollen Rufe der Klauenwesen.
Johanna zeigte: »Du meinst dort, das dunkle Ding?«
Pilger antwortete nicht. Seine Glieder zuckten, seine Mundmesser fuhren ziellos hin und her. Sie sprang von dem blitzenden Metall weg. Er hatte sich schon geschnitten. Schallangriff. Sie schaute den Pfad zurück. Sie hatte über ein Jahr lang Zeit gehabt, die Rudel kennen zu lernen, und was sie jetzt sah, war… Wahnsinn. Manche Rudel explodierten, sie rannten in alle Richtungen, so weit, dass sie unmöglich ihr Denken bewahren konnten. Andere — Holzschnitzerin in ihrem Wagen — krochen in sich selbst zusammen und ließen kaum einen Kopf sehen.
Knapp hinter den nächsten Bäumen hangaufwärts sah sie eine graue Flut. Die Wölfe. Jedes einzelne Fellknäuel sah ganz unschuldig aus. Alle zusammen… Johanna erstarrte für einen Augenblick, als sie sah, wie sie die Kehle eines Soldatengliedes herausrissen.
Johanna war die einzige Person, die noch bei Verstand war, und das würde weiter nichts bedeuten, als dass sie sehenden Auges sterben würde.
Das Nest töten.
Auf dem Kanonenwagen neben ihr war nur noch eins von Scrupilo geblieben, der gute alte Weißkopf. Närrisch wie eh und je, hatte es seine Kanoniersklappen heruntergezogen und schnüffelte unter dem Kanonenrohr herum. Das Nest töten. Vielleicht doch nicht so närrisch!
Johanna sprang auf den Wagen. Er rollte zurück auf den Abhang zu und stieß gegen einen Baum; sie nahm es kaum wahr. Sie zog den Kanonenlauf nach oben, ganz so, wie sie es bei den Übungen gesehen hatte. Das Weißköpfige zerrte am Pulversack, doch mit nur einem Paar Kiefer kam es nicht damit zurecht. Ohne den Rest seines Rudels hatte es weder Hände noch Verstand. Es schaute zu ihr auf, die Augen verzweifelt aufgerissen.
Sie griff nach dem anderen Ende des Sackes, und zu zweit kriegten sie das Pulver ins Rohr. Weißkopf tauchte wieder in die Ausrüstung und schnüffelte nach einer Kanonenkugel. Klüger als ein Hund, und ausgebildet. Vielleicht hatten sie zusammen doch eine Chance!
Gerade mal einen halben Meter unter ihren Füßen kamen die Wölfe angerannt. Mit einem oder zweien wäre sie selbst fertig geworden. Doch dort unten waren Dutzende, die einzelne Glieder anfielen und zerrissen. Drei von Pilger standen rings um Narbenhintern und die Welpen, doch ihre Verteidigung war ein gedankenloses Beißen. Das Rudel hatte seine Mundmesser und Klauen fallen lassen.
Zusammen mit Weißkopf brachte sie die Kugel in die Kanone. Weißkopf schnellte ans Ende der Kanone zurück und machte sich an dem kleinen Luntenfeuerzeug zu schaffen, das die Kanoniere benutzten. Es konnte in einem einzigen Mund gehalten werden, denn die Waffe wurde von einem einzelnen Glied abgefeuert.
»Warte, du Idiot!« Johanna stieß ihn mit einem Fußtritt zurück. »Wir müssen zielen!«
Einen Augenblick lang blickte Weißkopf beleidigt drein. Er verstand nicht recht, was sie von ihm wollte. Er hatte den Zündstock fallenlassen, hielt aber noch das Feuerzeug. Er entzündete die Flamme und drängte sich entschlossen nach hinten, versuchte, sich an Johannas Beinen vorbeizuschlängeln. Sie schob ihn wieder zurück und blickte hangaufwärts. Das dunkle Ding. Das muss das Nest sein. Sie schwenkte das Kanonenrohr und visierte an der Oberkante entlang. Ihr Gesicht kam nur ein paar Zentimeter neben den hartnäckigen Weißkopf und seine Flamme. Sein klappenbedeckter Kopf schoss vor, und die Flamme berührte das Zündloch.
Die Explosion hätte Johanna beinahe vom Wagen geschleudert. Einen Moment lang konnte sie an nichts anderes denken als an den stechenden Schmerz in den Ohren. Sie wälzte sich in eine sitzende Haltung herum und hustete vor Rauch. Sie konnte nichts außer einem hohen Klingeln hören, das immer weiterging. Ihr kleiner Wagen stand schräg, ein Rad hing überm Abgrund. Weißkopf zappelte unter dem Hinterteil der Kanone. Sie schob es von ihm weg und tätschelte den Kopf mit den Klappen. Er blutete — oder vielleicht war sie es. Sie blieb einfach ein paar Sekunden lang benommen sitzen, wunderte sich über das Blut und versuchte sich vorzustellen, wie sie hierher geraten war.
Eine Stimme irgendwo in ihrem Hinterkopf schrie. Keine Zeit, keine Zeit. Sie zwang sich auf die Knie und blickte sich um, während sich quälend langsam die Erinnerungen wieder einstellten.
Hangaufwärts standen zersplitterte Bäume, das helle Holz schimmerte zwischen den Blättern. Dahinter, wo das Nest gewesen war, sah sie einen Flecken frisch aufgeworfener Erde. Sie hatten es ›getötet‹ , doch… der Kampf ging weiter.
Es gab noch Wölfe auf dem Pfad, doch nun waren sie es, die in alle Richtungen davonrannten. Sie sah Dutzende von ihnen über den Rand des Pfades auf die Bäume und Felsen unterhalb stürzen. Und die Klauenwesen kämpften jetzt wirklich. Pilger hatte seine Messer wieder aufgehoben. Die Klingen und seine Lippen trieften rot, während er schnitt. Etwas Graues und Blutendes flog über den Rand des Wagens und landete neben Johannas Bein. Der ›Wolf‹ konnte nicht länger als zwanzig Zentimeter sein, mit schmutzig graubraunem Fell. Er sah wirklich wie ein Kuscheltier aus, doch die winzigen Kiefer schnappten in mörderischer Absicht nach ihren Knöcheln. Johanna ließ eine Kanonenkugel auf ihn fallen.
In den nächsten drei Tagen, während Holzschnitzerins Leute sich bemühten, ihre Ausrüstung und sich selbst wieder beisammen zu bringen, erfuhr Johanna allerlei über die Wölfe. Was sie und Scrupilos Weißkopf mit der Kanone getan hatten, hatte den Angriff völlig zum Erliegen gebracht. Zweifellos hatten sie mit der Vernichtung des Nests viele Leben und den Feldzug selbst gerettet. Die ›Wölfe‹ waren eine Art Tierstaat, den Rudeln nur in wenigem ähnlich. Die Rasse der Klauenwesen benutzte das Gruppendenken, um hohe Intelligenz zu erreichen; Johanna hatte niemals ein Rudel mit mehr als sechs Gliedern gesehen. Das Wolfsnest kümmerte sich nicht um hohe Intelligenz. Holzschnitzerin behauptete, dass ein Nest Tausende von Gliedern haben konnte — jenes, auf das sie gestoßen waren, war jedenfalls groß gewesen. Solch eine Meute konnte nicht so klug wie ein Mensch sein. Was die reine Denkkraft anging, war es wohl nicht viel klüger als ein einzelnes Rudelglied. Andererseits konnte es weitaus flexibler sein. Wölfe vermochten in großer Entfernung selbständig zu handeln. Im Umkreis von hundert Metern vom Heimatnest waren sie Anhängsel der ›königlichen‹ Glieder des Nests, und niemand zweifelte dann an ihrer Zugehörigkeit zu den Hundeartigen. Pilger kannte Legenden von Nestern mit fast rudelgleicher Intelligenz, von Förstern, die mit nahegelegenen Nestern Pakte abschlossen, wobei Nahrung gegen Schutz getauscht wurde. Solange die intensiven Geräusche im Nest anhielten, konnten die Arbeitswölfe fast wie Rudelglieder zusammenwirken. Doch man brauchte nur das Nest zu töten, und das Geschöpf zerfiel wie ein billiges Netzwerk mit Zentraltopologie.
Gewiss hatte dieses Nest Holzschnitzerins Armee allerhand angetan. Es hatte still abgewartet, bis die Soldaten im Bereich seiner größten Lautstärke waren. Dann hatten weiter draußen postierte Wölfe mit Hilfe synchronisierter Mimikry akustische ›Geister‹ erzeugt und die Rudel dazu gebracht, sich vom Nest abzuwenden und sinnlos in die Bäume zu schießen. Und als der eigentliche Überfall begann, hatte das Nest konzentrierte Verwirrung auf die Klauenwesen herabgeschrien. Dieser Angriff war weitaus mächtiger gewesen als der ›akustische Gestank‹ , dem sie in anderen Teilen des Waldes begegnet waren. Für die Klauenwesen waren die Stinker schmerzhaft laut und manchmal sogar furchteinflößend gewesen, aber nicht zu vergleichen mit dem den Verstand zerstörenden Chaos, mit dem das Wolfsnest angriff.
Mehr als hundert Rudel waren von dem Hinterhalt außer Gefecht gesetzt worden. Manche, größtenteils Rudel mit Welpen, hatten sich zusammengeballt. Andere, wie Scrupilo, waren ›zersprengt‹ worden. In den Stunden nach dem Überfall schleppten sich viele von diesen Fragmenten zurück und vereinigten sich wieder. Die betroffenen Klauenwesen waren erschüttert, doch unverletzt. Intakte Soldaten durchstreiften die Waldhänge auf und ab nach verletzten Gliedern ihrer Kameraden. An manchen Stellen fiel das Gelände neben dem Pfad zwanzig Meter tief ab. Wo ihr Fall nicht von Baumzweigen gedämpft worden war, waren die Glieder auf nackten Felsen aufgeschlagen. Fünf wurden schließlich tot gefunden, und weitere zwanzig ernstlich verletzt. Zwei Wagen waren abgestürzt. Sie waren nur noch Brennholz, und ihre Cherhogs zu schwer verletzt, um überleben zu können. Man konnte von Glück reden, dass der Kanonenschuss keinen Waldbrand entfacht hatte.
Dreimal zog die Sonne ihre schnelle, schräge Runde am Himmel. Holzschnitzerins Armee erholte sich in einem Lager in den Tiefen des Talwaldes am Fluss. Feilonius hatte am Nordhang Späher mit Signalspiegeln postiert. Der Ort war etwa so sicher wie jeder andere, den sie so weit im Norden finden konnten. Gewiss war er einer der schönsten. Er bot nicht die Aussichten des Höhenwaldes, dafür gab es das Geräusch des nahen Flusses, so laut, dass es das Seufzen des trockenen Windes übertönte. Die Bäume des Tieflandes hatten keine Wurzelblumen, dennoch unterschieden sie sich von dem, was Johanna kannte. Es gab kein Unterholz, nur weiches, bläuliches ›Moos‹ , von dem Pilger behauptete, dass es eigentlich ein Teil der Bäume sei. Es erstreckte sich wie ein gemähter Rasen bis ans Flussufer.
Am letzten Tag ihrer Rast berief die Königin eine Versammlung aller Rudel ein, die nicht auf Wache oder Spähposten waren. Es war die größte Ansammlung von Klauenwesen an einem Ort, die Johanna sah, seit ihre Familie umgebracht worden war. Doch diese Rudel kämpften nicht. So weit Johanna über das bläuliche Moos sehen konnte, standen Rudel, jedes mindestens acht Meter vom nächsten entfernt. Einen absurden Moment lang erinnerte es sie an den Siedlerpark in Overby: Familien beim Picknick auf dem Gras, jede mit ihrer eigenen traditionellen Decke und den eigenen Essenbehältern. Doch diese ›Familien‹ waren jede ein Rudel, und es war eine militärische Formation. Die Reihen bildeten sanft geschwungene Bögen, alle der Königin zugewandt. Wanderer Wickwracknarb befand sich zehn Meter hinter ihr im Schatten; als Gemahl der Königin hatte er keinerlei offizielle Position inne. Zur Linken Holzschnitzerins lagen die lebenden Opfer des Hinterhalts, Glieder mit Verbänden und Schienen. In mancherlei Hinsicht waren solche sichtbaren Verletzungen nicht das Schlimmste. Es gab auch noch das, was Pilger die ›wandelnden Verwundeten‹ nannte. Das waren Solos und Duos und Trios, die als einzige von ganzen Rudeln übrig geblieben waren. Manche von ihnen versuchten eine Hab-Acht-Stellung zu bewahren, doch andere strichen ziellos umher und fielen der Königin gelegentlich mit sinnlosem Geplapper ins Wort. Es war alles wieder wie bei Schreiber Yaqueramaphan, doch die meisten von diesen würden am Leben bleiben. Manche verschmolzen schon wieder und versuchten, neue Individuen zu bilden. Einige davon konnten sogar Bestand haben, wie Wanderer Wickwracknarb. Für die meisten würde es lange dauern, bis sie wieder komplette Persönlichkeiten waren.
Johanna saß mit Scrupilo in der ersten Reihe der Soldaten vor der Königin, der Befehlshaber der Kanoniere in der Rührt-euch-Haltung der Klauenwesen: Hinterbacken am Boden, Brust hoch, die meisten Gesichter nach vorn gerichtet. Scrup hatte es ohne ernsthafte Schäden überstanden. Sein Weißkopf hatte ein paar Rußspuren mehr, und eins von den anderen Gliedern hatte sich beim Fall den Hang hinab eine Schulter verstaucht. Seine Kanoniersklappen trug er mit großer Geste wie immer, doch etwas an ihm ließ ihn niedergeschlagen wirken — vielleicht lag es nur an der militärischen Formation und daran, dass er eine Medaille für Heldentum erhalten würde.
Die Königin trug ihre Spezialjacken. Jeder Kopf schaute auf eine andere Abteilung ihrer Zuhörer. Johanna konnte die Klauensprache noch nicht verstehen und würde sie sicherlich niemals ohne mechanische Hilfe sprechen können. Doch die Laute lagen größtenteils in ihrem Hörbereich — tiefe Frequenzen tragen wesentlich weiter als hohe. Selbst ohne Gedächtnishilfen und Grammatikgeneratoren lernte sie allmählich ein wenig. Sie konnte die gefühlsmäßigen Töne leicht erkennen, und auch Dinge wie das heisere Ark-ark-ark, das hier für Beifall galt. Was einzelne Wörter anging — nun, das waren eher Akkorde, einzelne Silben mit Bedeutung. Wenn sie jetzt aufmerksam zuhörte (und Pilger nicht in der Nähe war, um gleichzeitig zu übersetzen), konnte sie manche davon sogar verstehen.
… Jetzt gerade zum Beispiel sagte Holzschnitzerin Gutes über ihre Zuhörer. Zustimmendes Ark-ark kam aus allen Richtungen. Die Rudel klangen wie eine Gruppe Seesäuger. Einer von den Köpfen der Königin tauchte in eine Schüssel und kam mit einem kleinen geschnitzten Dings im Mund wieder hoch. Sie sagte den Namen eines Rudels, ein Tamptititam aus mehreren Akkorden, das Johanna, wenn sie es oft genug hörte, wiederholen könnte, so wie ›Yaqueramaphan‹ , oder in dem sie sogar eine Bedeutung erkennen könnte, wie in ›Wickwracknarb‹ .
Aus der vordersten Reihe der Zuhörer trottete ein einzelnes Glied auf die Königin zu. Es blieb praktisch Nase an Nase mit dem nächsten Glied der Königin stehen. Holzschnitzerin sagte etwas von Tapferkeit, und dann befestigten zwei von ihr die hölzerne — Brosche? — an der Jacke des Gliedes. Es machte geschickt kehrt und ging zu seinem Rudel zurück.
Holzschnitzerin holte eine weitere Auszeichnung hervor und rief ein weiteres Rudel auf. Johanna beugte sich zu Scrupilo hinüber. »Was geht hier vor?«, fragte sie erstaunt. »Warum bekommen einzelne Glieder Medaillen?« Und wie bringen sie es fertig, einem anderen Rudel derart nahe zu kommen?
Scrupilo hatte eine steifere Hab-Acht-Stellung eingenommen als die meisten anderen Rudel und sich kaum um sie gekümmert. Nun wandte er ihr einen Kopf zu. »Psst!« Er wollte sich wieder abwenden, doch sie fasste ihn an einer seiner Jacken. »Närrin«, antwortete er schließlich. »Die Auszeichnung ist für das ganze Rudel. Ein Glied wird ausgestreckt, um sie entgegenzunehmen. Mehr wären Wahnsinn.«
Hmm. Eins nach dem anderen waren drei weitere Rudel an der Reihe, ein Glied ›auszustrecken‹ , um ihre Medaillen in Empfang zu nehmen. Manche waren ganz exakt, wie menschliche Soldaten in den Geschichten. Andere gingen forsch los und wurden dann schüchtern und verwirrt, als sie sich Holzschnitzerin näherten.
Schließlich sagte Johanna: »Psst. Scrupilo! Wann kriegen wir unsere?«
Diesmal schaute er sie nicht einmal an, alle Köpfe starr der Königin zugewandt. »Zuletzt natürlich. Du und ich haben das Nest getötet und Holzschnitzerin selbst gerettet.« Seine Körper zitterten fast vor Erwartung. Er hat wahnsinnige Angst. Und plötzlich erriet Johanna den Grund. Anscheinend machte es Holzschnitzerin keine Schwierigkeiten, mit einem fremden Glied in der Nähe ihren Verstand zu bewahren. Aber umgekehrt galt das nicht. Eins von sich selbst unter ein fremdes Rudel zu schicken, hieß, einen Teil des Bewusstseins zu verlieren und sich diesem anderen Rudel anzuvertrauen. Wenn man es so sah… ja, es erinnerte Johanna an die historischen Romane, die sie abzuspielen pflegte. Während des Dunklen Zeitalters auf der Nyjora war es Brauch, dass Damen, denen eine Audienz bei der Königin gewährt wurde, ihr ihr Schwert überreichten und dann niederknieten. Es war eine Art Treueschwur. Ebenso hier, nur dass Johanna, wenn sie Scrupilo ansah, begriff, dass die Zeremonie sogar als reine Formsache verdammt beängstigend sein konnte.
Drei weitere Medaillen wurden verliehen, und dann kollerte Holzschnitzerin die Akkorde, die Scrupilos Namen bildeten. Der Befehlshaber der Kanoniere wurde völlig steif und stieß schwache Pfeiftöne aus seinen Mündern. »Johanna Olsndot«, sagte Holzschnitzerin, dann wieder etwas in der Klauensprache, das mit Vortreten zu tun hatte.
Johanna stand auf, doch keins von Scrupilo regte sich.
Die Königin ließ ein menschliches Lachen ertönen. Sie hielt zwei polierte Broschen. »Ich werde später alles in Samnorsk erklären, Johanna. Komm jetzt einfach mit einem von Scrupilo nach vorn. Scrupilo?«
Auf einmal waren sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, von Tausenden von Augen beobachtet. Es gab keine Arks oder Geschwätz im Hintergrund mehr. Johanna hatte sich noch nie so bloß gefühlt, seit sie die Erste Kolonistin im Landungsspiel ihrer Schule gespielt hatte. Sie beugte sich herab, sodass ihr Kopf nahe an einem von Scrupilo war. »Komm schon, Junge. Wir sind die großen Helden.«
Er blickte sie mit aufgerissenen Augen an. »Ich kann nicht.« Die Worte waren kaum zu hören. Bei all seinen feschen Kanonierklappen und forschen Manieren hatte Scrupilo entsetzliche Angst. Doch für ihn war es kein Lampenfieber. »Ich kann mich nicht so schnell wieder zerreißen. Ich kann nicht.«
Ein kollerndes Gemurmel in den Reihen hinter ihnen kam auf: Scrupilos eigene Kanoniere. Bei allen Mächten, würden sie ihm das verübeln? Willkommen im Mittelalter. Blödes Volk. Sogar in Stücke geschnitten, hat Scrupilo ihnen noch die Ärsche gerettet, und nun…
Sie legte die Hände auf zwei von seinen Schultern. »Wir haben es schon einmal geschafft, du und ich. Weißt du noch?«
Die Köpfe nickten. »Ein wenig. Dieser eine Teil von mir allein… hätte es niemals geschafft.«
»Genau. Und ich auch nicht. Aber zusammen haben wir ein Wolfsnest getötet.«
Scrupilo starrte sie eine Sekunde lang an, und seine Augen glitten hin und her. »Ja, das haben wir.« Er stand auf, schüttelte die Köpfe, sodass die Kanoniersklappen wippten. »Ja!« Und er schob sein Weißköpfiges näher an sie heran.
Johanna richtete sich auf. Sie und Weißkopf gingen auf den freien Platz hinaus. Vier Meter. Sechs. Sie hielt die Fingerkuppen einer Hand leicht an seinem Hals. Als sie etwa zwölf Meter vom Rest Scrupilos entfernt waren, erschlaffte Weißkopfs Gesicht. Er blickte seitlich zu Johanna auf, dann ging er langsamer weiter.
Johanna bekam nicht viel von der Zeremonie mit, so viel von ihrer Aufmerksamkeit galt Weißkopf. Holzschnitzerin sagte etwas Langes und Unverständliches. Irgendwie hatten sie am Ende beide kunstvoll geschnitzte Auszeichnungen am Kragen und waren auf dem Weg zurück zum Rest von Scrupilo. Dann kam ihr die Menge wieder zu Bewusstsein. Sie erstreckte sich unter dem Laubdach, soweit ihr Blick reichte — und jeder Einzelne schien Beifall zu rufen, Scrups Kanoniere am lautesten von allen.
Mitternacht. Hier am Grunde des Tales gab es drei, vier Stunden täglich, in denen die Sonne hinter dem Nordhang versank. Es hatte nicht viel von Nacht oder auch nur Zwielicht. Der Rauch von den Bränden weiter nördlich schien schlimmer zu werden. Sie roch ihn jetzt.
Johanna kam aus dem Kanoniersbereich des Lagers zurück ins Zentrum zu Holzschnitzerins Zelt. Es war still, sie hörte kleine Lebewesen in den Wurzelbüschen rascheln. Die Feiern hätten noch weitergehen können, wenn nicht alle gewusst hätten, dass sie sich in den nächsten paar Stunden für den Aufstieg an der Nordflanke fertig machen mussten. So erklang nur noch gelegentlich ein Lachen, nur gelegentlich kam ein Rudel vorbei. Johanna ging barfuß, die Schuhe über die Schulter gehängt. Sogar bei der trocknen Witterung fühlte sich das Moos wunderbar weich zwischen ihren Zehen an. Über ihr war das Blätterdach ein wechselndes Grün mit Fleckchen diesigen Himmels. Fast konnte sie vergessen, was vorher geschehen war und was vor ihr lag.
Die Wachen rings um Holzschnitzerins Zelt riefen sie nicht an, sondern meldeten nur leise ihre Ankunft. Schließlich liefen hier nicht so viele Menschen herum. Die Königin steckte einen Kopf heraus. »Komm rein, Johanna.«
Drinnen saß sie in ihrem üblichen Kreis, die Welpen in der Mitte geschützt. Es war ziemlich dunkel, da nur durch den Eingang Licht hereinfiel. Johanna ließ sich auf die Kissen fallen, wo sie für gewöhnlich schlief. Die ganze Zeit seit dem Nachmittag, seit der großen Auszeichnungsgeschichte, hatte sie vor, der Königin ordentlich die Meinung zu sagen. Jetzt… nun ja, die Feier bei den Kanonieren war eine fröhliche Sache gewesen. Es schien irgendwie schade um die Stimmung zu sein.
Holzschnitzerin reckte ihr einen Kopf entgegen. Gleichzeitig vollführten die beiden Welpen dieselbe Geste. »Ich habe dich bei der Feier gesehen. Du bist immer nüchtern. Du isst jetzt das meiste von unserer Nahrung, trinkst aber nie Bier.«
Johanna zuckte die Achseln. Ja, warum eigentlich? »Kinder sollten nicht trinken, bevor sie achtzehn Jahre alt sind.« Das war der Brauch, und ihre Eltern waren derselben Ansicht gewesen. Johanna war vor ein paar Monaten vierzehn geworden, das Datio hatte sie an die genaue Stunde erinnert. Sie fragte sich: Wenn nichts von alledem geschehen wäre, wenn sie sich noch daheim im Hochlabor oder im Straumli-Bereich befände — würde sie sich mit Freunden wegschleichen, um derlei verbotene Dinge auszuprobieren? Wahrscheinlich. Hier jedoch, wo sie ganz auf sich allein gestellt und gegenwärtig gerade eine große Heldin war, hatte sie keinen Tropfen versucht… Vielleicht lag es daran, dass Mutti und Vati nicht da waren, und wenn sie ihre Wünsche befolgte, schienen sie ihr näher zu bleiben. Sie fühlte, wie ihr die Tränen kamen.
»Hmm.« Holzschnitzerin schien es nicht zu bemerken. »Pilger hat gesagt, das sei der Grund.« Sie tätschelte ihre Welpen und lächelte. »Ich glaube, das hat Sinn. Diese beiden bekommen kein Bier, bis sie älter sind — obwohl ich weiß, dass sie heute durch mich ein bisschen aus zweiter Hand von der Feier abbekommen haben.« Im Zelt hing eine Spur von Bieratem.
Johanna wischte sich grob übers Gesicht. Sie hatte keine Lust, ausgerechnet jetzt darüber zu reden, dass sie eine Halbwüchsige war. »Weißt du, das war ein ziemlich gemeiner Streich, den du Scrupilo heute nachmittag gespielt hast.«
»Ich… Ja. Ich habe mit ihm vorher darüber gesprochen. Er wollte nicht, aber ich dachte, er sei einfach nur… ist halsstarrig das richtige Wort? Wenn ich gewusst hätte, wie schwer er es genommen hat, dann…«
»Er ist praktisch vor aller Augen zerfallen. Wenn ich richtig verstehe, wie das funktioniert, dann wäre er damit in Ungnade gefallen, nicht wahr?«
»… Ja. Im Angesicht der Gefährten Ehre gegen Treue tauschen ist eine wichtige Sache. Zumindest so, wie es bei mir üblich ist; gewiss können Pilger oder das Datio ein Dutzend andere Arten nennen, wie man führt. Siehst du, Johanna, ich brauchte die Zeremonie des Austauschs, und ich musste dich und Scrupilo dabei haben.«
»Ja, ja, ich weiß. ›Wir, die Retter.‹ «
»Sei still!« Ihre Stimme war plötzlich kantig, und Johanna fiel wieder ein, dass dies eine mittelalterliche Königin war. »Wir sind zweihundert Meilen nördlich von meinen Grenzen, fast im Herzen des Flenserreichs. In ein paar Tagen werden wir auf den Feind treffen, und noch viele von uns werden sterben, ohne recht zu wissen, wofür.«
Johanna sackte das Herz in die Hose. Wenn sie nicht zurück zum Schiff gelangen, nicht vollenden konnte, was Mutti und Vati begonnen hatten… »Bitte, Holzschnitzerin! Es ist es wert!«
»Ich weiß das. Pilger weiß es. Die Mehrheit meines Rates stimmt zu, wenn auch widerwillig. Doch wir vom Rat haben mit dem Datio gesprochen. Wir haben eure Welten gesehen, und was eure Wissenschaft vollbringen kann. Andererseits sind die meisten Leute hier« — sie deutete mit einem Kopf auf das Lager jenseits des Zeltes — »auf Treu und Glauben und aus Loyalität zu mir dabei. Für sie ist die Lage tödlich und der Zweck verschwommen.« Sie hielt inne, obwohl ihre Welpen noch eine Sekunde lang heftig gestikulierten. »Ich weiß nun nicht, wie du deinesgleichen überzeugen würdest, solche Risiken auf sich zu nehmen. Das Datio spricht von Wehrpflicht.«
»Das war auf der Nyjora, vor langer Zeit.«
»Egal. Der springende Punkt ist, meine Truppen sind aus Treue hier, größtenteils zu mir persönlich. Sechshundert Jahre lang habe ich mein Volk gut beschützt, ihre Erinnerungen und Legenden lassen daran keinen Zweifel. Mehr als einmal habe ich allein das Verderben gesehen, und es war mein Rat, der alle jene gerettet hat, die sich hineinstürzen wollten. Das ist es, was die meisten Soldaten, die meisten Kanoniere hier hält. Jedem von ihnen steht es frei umzukehren. Also. Was sollen sie denken, wenn wir in unserem ersten ›Gefecht‹ wie dumme… Touristen… einem Wolfsnest unterliegen? Wenn wir nicht das große Glück gehabt hätten, dass du und ein Teil von Scrupilo am richtigen Platz und wachsam waren, wäre ich getötet worden. Pilger wäre getötet worden. Vielleicht ein Drittel der Soldaten wäre gestorben.«
»Wenn nicht wir, dann vielleicht jemand anders«, sagte Johanna kleinlaut.
»Vielleicht. Ich glaube nicht, dass jemand anders eine Gelegenheit gehabt hätte, auf das Nest zu schießen. Du siehst die Wirkung auf meine Leute? ›Wenn Pech im Wald unsere Königin umbringen und unsere wunderbaren Waffen zerstören kann, was soll dann werden, wenn wir einem denkenden Feind gegenüberstehen?‹ Das war die Frage, die sich viele stellten. Hätte ich die nicht beantworten können, wären wir nie aus diesem Tal herausgekommen — zumindest nicht nach Norden.«
»Also hast du die Medaillen verliehen. Treue für Ehre.«
»Ja. Du hast den Sinn nicht erfasst, weil du die Klauensprache nicht verstehst. Ich habe groß hervorgestrichen, wie gut sie es gemacht hatten. Ich habe silberne Spangen an Rudel verteilt, die auch nur die geringste Tüchtigkeit bei dem Überfall bewiesen haben. Das war nützlich. Ich habe meine Gründe für diesen Feldzug wiederholt — die Wunder, die das Datio schildert, und wie viel wir verlieren, wenn Stahl seinen Willen bekommt. Aber diese Argumente haben sie schon früher gehört, und sie zielen auf weit entfernte Dinge, die sie sich kaum vorstellen können. Das Neue, was ich ihnen heute gezeigt habe, waren du und Scrupilo.«
»Wir?«
»Ich habe euch über den grünen Klee gelobt. Solos tun oft mutige Dinge. Manchmal sind sie halbwegs klug, oder sie reden, als ob sie es wären. Doch allein wäre Scrupilos Fragment nicht viel mehr als ein guter Messerfechter. Er wusste, wie man die Kanone benutzt, hatte aber weder die Pfoten noch die Münder, um etwas Rechtes damit anfangen zu können. Und auf sich allein gestellt, hätte er nie herausgefunden, wohin er schießen sollte. Du dagegen bist ein Zweibeiner. In vielerlei Hinsicht bist du hilflos. Du kannst überhaupt nicht anders denken, als für dich allein, doch du kannst es tun, ohne die anderen rings um dich zu stören. Zusammen habt ihr etwas getan, was kein Rudel mitten im Überfall durch ein Wolfsnest vermochte. Also habe ich meiner Armee erzählt, wie gut unsere beiden Rassen zusammenarbeiten könnten, wie jede die uralten Mängel der anderen ausgleicht. Zusammen sind wir einen Schritt näher daran, das Rudel aller Rudel zu sein. Wie geht es Scrupilo?«
Johanna lächelte schwach. »Es ist alles gut gegangen. Nachdem er einmal imstande war, dort hinauszugehen und seine Medaille in Empfang zu nehmen« — sie tastete nach der Brosche, die an ihrem Kragen steckte, ein schönes Stück, eine Ansicht von Holzschnitzerins Stadt —, »nachdem er das getan hatte, war er völlig verändert. Du hättest ihn danach bei den Kanonieren sehen sollen. Sie haben ihre eigene Treue-Ehre-Sache gemacht, und dann haben sie eine Menge Bier getrunken. Scrupilo hat ihnen alles erzählt, was wir getan haben. Er ließ mich sogar dabei helfen, es vorzuführen… Du glaubst wirklich, die Armee hat geschluckt, was du über Menschen und Klauenwesen gesagt hast?«
»Ich glaube schon. In meiner eigenen Sprache kann ich sehr beredt sein. Ich habe mich entsprechend gezüchtet.« Holzschnitzerin schwieg eine Weile. Ihre Welpen tapsten über den Teppich und drückten die Nasen gegen Johannas Hände. »Außerdem… vielleicht ist es sogar wahr. Pilger ist sich dessen sicher. Du bist imstande, in einem Zelt mit mir zu schlafen und trotzdem zu denken. Das ist etwas, das er und ich nicht können; auf unsere Weise haben wir beide lange gelebt, und ich glaube, wir sind jeder mindestens so klug wie die Menschen und die anderen Geschöpfe im Jenseits, von denen das Datio spricht. Aber ihr Solowesen könnt beieinander stehen und denken und bauen. Ich möchte wetten, dass im Vergleich zu uns die Solorassen die Wissenschaften sehr schnell entwickelt haben. Nun aber, mit eurer Hilfe, werden sich die Dinge vielleicht auch für uns rasch ändern.« Die beiden Welpen zogen sich zurück, und Holzschnitzerin legte die Köpfe auf die Pfoten. »Das ist es jedenfalls, was ich meinen Leuten erzählt habe. Du solltest versuchen, jetzt etwas Schlaf zu bekommen.«
Am Boden jenseits des Zelteingangs erschienen schon Flecken von Sonnenlicht. »In Ordnung.« Johanna zog die Oberkleidung aus. Sie legte sich hin und zog eine leichte Decke über sich. Die meisten von Holzschnitzerin schienen schon zu schlafen. Wie üblich, waren ein oder zwei Augenpaare offen, doch ihre Intelligenz würde beschränkt sein — und jetzt eben sahen sogar sie müde aus. Komisch. Holzschnitzerin hatte so viel mit dem Datio gearbeitet, ihre menschliche Stimme erfasste sowohl Gefühle als auch die Aussprache. Gerade eben hatte sie so müde geklungen, so traurig.
Johanna langte unter ihrer Decke hervor, um den Hals von Holzschnitzerins Nächstem, dem Blinden, zu streicheln. »Glaubst du, was du allen erzählt hast?«, fragte sie leise.
Einer der ›Wachköpfe‹ schaute zu ihr herüber, und ein sehr menschliches Seufzen schien aus allen Richtungen zu kommen. Holzschnitzerins Stimme war sehr schwach. »Ja…, aber ich habe große Angst, dass es keine Rolle mehr spielt. Sechshundert Jahre lang hatte ich das rechte Selbstvertrauen. Doch was am Südhang geschehen ist…, hätte nicht geschehen dürfen. Es wäre nicht geschehen, wenn ich Feilonius’ Rat gefolgt wäre und die Neue Straße genommen hätte.«
»Aber wir hätten gesehen werden können…«
»Ja. In jedem Falle ein Versagen, verstehst du nicht? Feilonius hat genaue Informationen aus den höchsten Räten des Flensers. Aber in Dingen des Alltags ist er ein ziemlich sorgloser Narr. Ich wusste das und dachte, ich könnte es ausgleichen. Aber die Alte Straße war in viel schlechterem Zustand, als ich mich erinnerte; das Wolfsnest hätte sich niemals dort festsetzen können, wenn es in den letzten paar Jahren mehr Verkehr gegeben hätte. Wenn Feilonius seine Patrouillen ordentlich geführt hätte, oder ich ihn, wären wir niemals überrascht worden. Statt dessen sind wir beinahe überrannt worden — und mein einziges verbliebenes Talent scheint es zu sein, diejenigen, die mir vertrauen, glauben zu machen, ich wüsste noch, was ich tue.« Sie öffnete ein zweites Paar Augen und machte die Geste eines Lächelns. »Sonderbar. Diese Dinge habe ich nicht einmal Pilger gesagt. Ist das noch ein ›Vorteil‹ menschlicher Beziehungen?«
Johanna tätschelte den Hals des Blinden. »Vielleicht.«
»Jedenfalls glaube ich, was ich über die Dinge gesagt habe, die sein könnten, aber ich fürchte, meine Seele wird womöglich nicht stark genug sein, sie wahr werden zu lassen. Vielleicht sollte ich die Führung an Pilger oder Feilonius abgeben; darüber muss ich nachdenken.« Holzschnitzerin unterband mit einem »Psst« Johannas überraschten Widerspruch.
»Schlaf jetzt bitte.«
Es hatte eine Zeit gegeben, da Ravna glaubte, ihr winziges Schiff könnte den ganzen Weg bis zum Grund unbemerkt fliegen. Zusammen mit allem anderen hatte sich das geändert. Momentan war die Aus der Reihe II vielleicht das berühmteste Sternenschiff, von dem das Netz wusste. Eine Million Rassen beobachteten die Verfolgungsjagd. Im Mittleren Jenseits sendeten ausgedehnte Antennenschwärme in ihre Richtung und lauschten den Geschichten — größtenteils Lügen —, die die Verfolger der ADR ausstrahlten. Sie konnte diese Lügen natürlich nicht direkt hören, aber die Übertragungen, sie sie empfing, waren so deutlich, als befänden sie sich in einem Hauptkanal.
Ravna brachte einen Teil jedes Tages mit der Lektüre der Nachrichten zu, um Hoffnung zu finden, um sich selbst zu beweisen, dass sie richtig handelte. Mittlerweile wusste sie ziemlich sicher, wer Jagd auf sie machte. Zweifellos würden dem sogar Pham und Blaustiel zustimmen. Warum sie verfolgt wurden und was sie am Ende finden könnten, war jetzt der Gegenstand endloser Spekulationen im Netz. Wie immer war die Wahrheit, was immer das sein mochte, gut zwischen Lügen versteckt.
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Hanse
[Keine Erwähnung vor dem Untergang von Relais. Keine wahrscheinliche Quelle. Das ist jemand sehr Vorsichtiges.]
GEGENSTAND: Allianz für die Verteidigung betrügerisch?
VERTEILER:
Pestgefahr
Interessengruppe Kriegsbeobachter
Interessengruppe Homo sapiens
DATUM: 5,80 Tage seit dem Untergang von Sjandra Kei
SCHLAGWÖRTER: Törichtes Unterfangen, unnötiger Genozid
TEXT DER BOTSCHAFT:
Zu einem früheren Zeitpunkt habe ich vermutet, es gäbe keine Zerstörungen bei Sjandra Kei. Ich entschuldige mich. Das beruhte auf einem Fehler bei der Katalogidentifikation. Ich stimme den Botschaften zu (13.123 bis vor ein paar Sekunden), die mir versichern, dass die Habitate von Sjandra Kei innerhalb der letzten sechs Tage durch Kollisionen beschädigt wurden.
Also hat die ›Allianz für die Verteidigung‹ anscheinend die militärischen Schritte unternommen, die sie vorher gefordert hat. Und anscheinend ist sie stark genug, um kleine Zivilisationen im Mittleren Jenseits zu vernichten. Es bleibt die Frage: »Warum?« Ich habe bereits Argumente mitgeteilt, die es unwahrscheinlich erscheinen lassen, dass Homo sapiens besonders gut für die Steuerung durch die PEST geeignet sei (obwohl sie dumm genug waren, diese Wesenheit zu erschaffen). Selbst in ihren eigenen Meldungen gibt die Allianz zu, dass weniger als die Hälfte der Intelligenzwesen von Sjandra Kei dieser Rasse angehörten.
Jetzt macht ein großer Teil der Allianzflotte zum Grund des Jenseits hin Jagd auf ein einzelnes Schiff. Welchen denkbaren Schaden kann die Allianz der PEST dort unten zufügen? Die PEST ist eine große Bedrohung, vielleicht die neuartigste und gefährlichste in der gut überlieferten Geschichte. Dennoch erscheint das Verhalten der Allianz destruktiv und zwecklos. Nun, da die Allianz einige der sie unterstützenden Organisationen offengelegt hat (siehe Botschaften [Kennziffern]), glaube ich, dass wir ihre wahren Motive kennen. Ich sehe Zusammenhänge zwischen der Allianz und der alten Aprahant-Hegemonie. Vor tausend Jahren hat eine Gruppe einen ähnlichen Kreuzzug unternommen und sich dabei Systeme einverleibt, die nach aktuellen Transzendenzen freigeworden waren. Der Hegemonie Einhalt zu gebieten, war eine aufregende Aktion in jenem Teil der Galaxis. Ich glaube, diese Leute sind wieder da und nutzen die allgemeine Panik wegen der PEST (die freilich eine viel größere Bedrohung darstellt).
Mein Rat: Hütet euch vor der Allianz und ihrer Behauptung, heroische Anstrengungen zu unternehmen.
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Schirachene -› Rondralip -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Kommunikationssynode Harmonische Ruhe
GEGENSTAND: Begegnung mit Agenten der PERVERSION
VERTEILER:
Pestgefahr
DATUM: 6,37 Tage seit dem Untergang von Sjandra Kei
SCHLAGWÖRTER: Hanse betrügerisch?
TEXT DER BOTSCHAFT:
Wir haben keine besonderen Beziehungen zu irgendeinem Teilnehmer dieser Gruppe. Dennoch ist es bemerkenswert, dass eine Wesenheit, die weder ihren Ort noch ihre besonderen Interessen offengelegt hat — nämlich ›Hanse‹ —, die Anstrengungen der Allianz für die Verteidigung herabmindert. Die Allianz hat ihre Mitglieder nur während des Zeitraums geheimgehalten, als sie ihre Kräfte zusammenzog und ein einziger Schlag der Kräfte der PERVERSION sie völlig hätte vernichten können. Seit jener Zeit hat sie durchaus offen agiert.
Hanse fragt sich, wieso ein einzelnes Sternenschiff die Aufmerksamkeit der Allianz verdienen könne. Da Harmonische Ruhe der Schauplatz der jüngsten Ereignisse in dieser Sache war, sehen wir uns in der Lage, einige Erklärungen zu geben. Das fragliche Schiff, die Aus der Reihe II, ist offensichtlich für Operationen am Grunde des Jenseits konstruiert und sogar zu beschränkten Aktionen innerhalb der Langsamen Zone imstande. Das Schiff hat sich als zonographischer Sonderflug ausgegeben, beauftragt, die jüngste Turbulenz am Grund zu untersuchen. Tatsächlich hat dieses Schiff einen völlig anderen Auftrag. In der durch seinen gewaltsamen Abflug geschaffenen Lage haben wir einige außergewöhnliche Fakten zusammengesetzt:
Mindestens einer von der Schiffsbesatzung war ein Mensch. Obwohl sie sich große Mühe gaben, außer Sicht zu bleiben, und zu den Skrodfahrern gehörende Kauffahrer als Mittler benutzten, haben wir Aufzeichnungen. Von einem der Individuen wurde eine Biosequenz ermittelt, und sie entspricht dem Muster, das in zwei von drei Homo-sapiens-Archiven gespeichert ist. (Es ist wohlbekannt, dass das dritte Archiv, bei Sneerot Tief, von Sympathisanten der Menschen kontrolliert wird.) Manche könnten sagen, dass dieses Täuschungsmanöver aus Angst erfolgte. Immerhin ereigneten sich diese Vorgänge nach der Vernichtung von Sjandra Kei. Wir glauben etwas anderes: Der erste Kontakt des Schiffes mit uns fand vor dem Sjandra-Kei-Zwischenfall statt.
Wir haben mittlerweile die Reparaturarbeiten, die unsere Werft an diesem Schiff durchgeführt hat, sorgfältig analysiert. Ultraantriebsautomatik ist eine tiefgründige und komplexe Angelegenheit, selbst die schlaueste Tarnung kann nicht alle Erinnerungen darin verbergen. Wir wissen jetzt, dass die Aus der Reihe II aus dem Relais-System kam und dass sie es nach dem Angriff der PERVERSION verlassen hat. Bedenkt, was das bedeutet.
Die Besatzung der Aus der Reihe II brachte Waffen in ein Habitat, tötete mehrere einheimische Intelligenzwesen und entfloh, ehe unsere Musiker [Harmonisatoren? Polizisten?] ausreichend im Bilde waren. Wir haben gute Gründe, ihnen übel zu wollen.
Dennoch ist unser Unglück geringfügig gegenüber der Enttarnung jener Geheimmission. Wir sind sehr dankbar, dass die Allianz gewillt ist, dieser Spur zu folgen und dabei so viel zu riskieren.
In dieser Nachrichtengruppe schwirren mehr haltlose Behauptungen als gewöhnlich herum. Wir hoffen, dass unsere Fakten manche Leute erwachen lassen. Überlegt insbesondere, was ›Hanse‹ wirklich sein kann. Die PERVERSION ist im Hohen Jenseits deutlich sichtbar, wo sie große Macht hat und mit ihrer eigenen Stimme sprechen kann. Hier unten ist es wahrscheinlicher, dass Täuschung und verdeckte Propaganda ihre Werkzeuge sein werden. Bedenkt das, wenn ihr Sendungen von nicht identifizierten Wesenheiten wie ›Hanse‹ lest!
Ravna biss die Zähne zusammen. Das Schlimme daran war, die Fakten in der Sendung stimmten. Die Schlussfolgerungen waren das Bösartige und Falsche. Und sie konnte nicht erraten, ob es sich um eine Art Gräuelpropaganda handelte oder ob Sankt Rihndell einfach ehrliche Ansichten äußerte (obwohl es nie so ausgesehen hatte, als ob Rihndell in die Schmetterlinge so großes Zutrauen setzte).
Über eines schienen sich alle Nachrichten einig zu sein: Viel mehr als die Flotte der Allianz machte Jagd auf die ADR. Den Schwarm von Ultraantriebs-Spuren konnte jedermann im Umkreis von eintausend Lichtjahren sehen. Am nächsten kamen diejenigen der Wahrheit, die meinten, drei Flotten verfolgten die ADR. Drei! Die Allianz für die Verteidigung, noch immer laut und prahlerisch, obwohl manche glaubten, sie nutze einfach die Gelegenheit zum Völkermord. Hinter ihr Sjandra Kei… und was von Ravnas Heimat übrig war; im ganzen Weltall womöglich die einzigen Leute, denen sie trauen konnte. Und kurz dahinter die schweigende Flotte. Verschiedene Netzteilnehmer behaupteten, sie stamme aus dem Hohen Jenseits. Jene Flotte würde am Grunde vielleicht Schwierigkeiten bekommen, aber zunächst holte sie auf. Wenige zweifelten daran, dass sie das Kind der PERVERSION war. Mehr als alles andere überzeugte sie das Universum davon, dass die ADR oder ihr Ziel von kosmischer Wichtigkeit waren. Warum sie es jedoch waren, blieb die große Frage. Spekulationen trafen mit einer Rate von fünftausend Sendungen pro Stunde ein. Von einer Million unterschiedlicher Gesichtspunkte aus wurde das Rätsel erörtert. Manche von diesen Gesichtspunkten waren derart fremdartig, dass sich dagegen Skrodfahrer und Menschen wie ein und dieselbe Species ausnahmen. Mindestens fünf Teilnehmer in dieser Nachrichtengruppe waren gasförmige Bewohner von Sternenkoronen. Es gab ein, zwei weitere, die Ravna für noch nicht registrierte Rassen hielt, derart scheue Wesen, dass sie nun vielleicht das erste Mal vom Netz Gebrauch machten.
Der Computer der ADR war jetzt ein Gutteil stumpfsinniger als im Mittleren Jenseits. Sie konnte ihn nicht auffordern, die Botschaften nach Feinheiten und Erkenntnissen zu durchforsten. Wenn eine eintreffende Nachricht nicht über einen Triskweline-Text verfügte, war sie eigentlich oft unleserlich. Die Übersetzungsprogramme des Schiffes kamen mit den wichtigsten Handelssprachen noch ganz ordentlich zurecht, doch selbst da war die Übersetzung langsam und voll von alternativen Bedeutungen und Kauderwelsch. Das war ein weiteres Anzeichen, dass sie sich dem Grunde des Jenseits näherten. Eine effektive Übersetzung natürlicher Sprachen erfordert etwas, das einem vernunftbegabten Übersetzerprogramm verteufelt nahe kommt.
Dennoch, bei der passenden Konstruktion hätten die Dinge besser stehen können. Die Automatik hätte mit Anstand nachlassen können, in dem Maße, wie die Tiefe ihr Beschränkungen auferlegte. Statt dessen fielen manche Geräte einfach aus; der Rest war langsam und steckte voller Fehler. Wenn doch nur die Umrüstung vor dem Untergang von Relais abgeschlossen worden wäre. Und wie oft habe ich mir das nun schon gewünscht? Sie hoffte, dass die Lage auf den Verfolgerschiffen ebenso schlecht wäre.
Ravna benutzte das Schiff also, um hier und da etwas aus der Nachrichtengruppe ›Bedrohungen‹ herauszupicken. Vieles vom Rest war einfach nur dumm, wie die Ansichten von Leuten, die ›aus dem Wetter Vorzeichen deuten‹ …
CRYPTO: 0
SYNTAX: 43
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Arbwyth -› Handel 24 -› Cherguelen -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Quirlipp von den Nebeln
[Vielleicht eine Organisation von Wolkenfliegern in einem Einzelsystem vom Jupitertyp. Sehr selten aufgetaucht, ehe diese Gruppe begann. Scheint ernstlich nicht auf dem Laufenden zu sein. Programmempfehlung: diesen Teilnehmer aus der Präsentationsliste löschen.]
GEGENSTAND: Das Ziel der PEST am Grund
VERTEILER:
Pestgefahr
Große Geheimnisse der Schöpfung
DATUM: 4,54 Tage seit dem Untergang von Sjandra Kei
SCHLAGWÖRTER: Zoneninstabilität und die PEST, Hexapodie als Schlüsselerkenntnis
TEXT DER BOTSCHAFT:
Entschuldigt zunächst, wenn ich allgemein bekannte Schlussfolgerungen wiederhole. Mein einziger Zugang zum Netz ist sehr teuer, und ich verpasse viele wichtige Sendungen. Ich glaube, dass jeder, der sowohl Große Geheimnisse der Schöpfung als auch die Pestgefahr verfolgt, ein wichtiges Muster sehen müsste. Seit den vom Informationsdienst von Harmonische Ruhe mitgeteilten Ereignissen stimmen die meisten darin überein, dass am Grunde des Jenseits in Region […] etwas für die PERVERSION Wichtiges existiert. Ich sehe hier einen möglichen Zusammenhang mit den Großen Geheimnissen. In den letzten 220 Tagen haben die Meldungen über Instabilitäten der Zonengrenzfläche im Gebiet unterhalb von Harmonischer Ruhe zugenommen. In dem Maße, wie die Bedrohung durch die PEST angewachsen ist und ihre Angriffe auf fortgeschrittene Rassen und andere MÄCHTE andauern, hat diese Instabilität zugenommen. Könnte es da nicht einen Zusammenhang geben? Ich fordere alle auf, ihre Informationen über die Großen Geheimnisse (oder das nächste von dieser Gruppe unterhaltene Archiv) zu konsultieren. Ereignisse wie dieses beweisen abermals, dass das Weltall zwischendrin durchweg ronzal ist.
Manche von den Botschaften waren zum Verrücktwerden…
CRYPTO: 0
SYNTAX: 43
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Schwabblings -› Baeloresk -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Grillenlied unterm Hohen Weidenbaum
[Grillenlied ist eine synthetische Rasse, die als Ulk/Experiment/Instrument vom Hohen Weidenbaum bei dessen Transzendenz erschaffen wurde. Grillenlied ist seit mehr als zehntausend Jahren im Netz. Anscheinend studiert es fanatisch die Wege zur Transzendenz. Seit achttausend Jahren ist es der häufigste Beiträger zu ›Wo sind sie jetzt‹ und verwandten Gruppen.
Es gibt keinen Hinweis, dass jemals eine Grillenlied-Siedlung selbst transzendiert wäre. Grillenlied ist eigenartig genug, dass es eine große Nachrichtengruppe für Spekulationen über die Rasse selbst gibt. Die allgemeine Ansicht ist, dass Grillenlied vom Hohen Weidenbaum als Sonde ins Jenseits entworfen wurde und dass die Rasse irgendwie außerstande ist, ihre eigene Transzendenz zu erreichen.]
GEGENSTAND: Das Ziel der PEST am Grund
VERTEILER:
Pestgefahr
Interessengruppe Kriegsbeobachter
Sonder-Interessengruppe ›Wo sind sie jetzt‹
DATUM: 5,12 Tage seit dem Untergang von Sjandra Kei
SCHLAGWÖRTER: Wie man transzendent wird
TEXT DER BOTSCHAFT:
Im Widerspruch zu anderen Sendungen gibt es eine Anzahl von Gründen, warum eine MACHT Artefakte am Grunde des Jenseits installieren könnte. Die Botschaft des Abselators in dieser Gruppe zitiert einige: Manche MÄCHTE haben Neugier in Bezug auf die Langsame Zone und erst recht die Gedankenleeren Tiefen erkennen lassen. In seltenen Fällen sind Expeditionen dorthin beordert worden (obwohl regelmäßig jede Rückkehr aus den Tiefen erst erfolgen konnte, nachdem die beauftragende MACHT jedes Interesse an örtlichen Angelegenheiten verloren hatte).
Keiner von diesen Beweggründen ist jedoch hier wahrscheinlich. Für diejenigen, die mit der Transzendenz durch Schnellbrand vertraut sind, ist klar, dass die PEST ein Geschöpf auf der Suche nach Stasis ist. Ihr Interesse am Grund ist sehr plötzlich erwacht, unserer Ansicht hervorgerufen durch die Enthüllungen bei Harmonische Ruhe. Es gibt am Grund etwas, das für das Wohlergehen der PERVERSION von kritischer Bedeutung ist.
Bedenkt die Idee einer ablativen Dissonanz (siehe Archiv der Gruppe ›Wo sind sie jetzt‹ ): Niemand weiß, was für Startprozeduren die Menschen des Straumli-Bereichs benutzt haben. Der Schnellbrand kann selbst transzendente Intelligenz besessen haben. Was, wenn er nicht mit der Richtung der Kanalepse zufrieden war? In diesem Fall kann er versucht haben, die Entburtsgang-Plattform zu verbergen. Der Grund wäre kein Ort, wo der Algorithmus selbst normalerweise ablaufen kann, aber es könnten daraus immer noch Avatars geschaffen werden, die für kurze Zeit lauffähig sind.
Bis zu einem gewissen Punkt konnte Ravna fast Sinn daraus entnehmen; ablative Dissonanz war ein Gemeinplatz der Angewandten Theologie. Aber dann — wie in einem jener Träume, wo sich jeden Augenblick das Geheimnis des Daseins entschlüsseln muss — driftete die Sendung in Nonsens ab.
Es gab Sendungen, die weder idiotisch noch unverständlich waren. Wie üblich traf Sandor beim Zoo in einer Menge Fragen den Nagel auf den Kopf.
CRYPTO:
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Sandor Schiedsintelligenz beim Zoo
[Eine bekannte Militärkorporation des Hohen Jenseits. Falls jemand anders den Namen benutzt, lebt er gefährlich.]
GEGENSTAND: Das Ziel der PEST am Grund
SCHLAGWÖRTER: Plötzliche Änderung der Taktik der PEST
VERTEILER:
Pestgefahr
Interessengruppe Kriegsbeobachter
Interessengruppe Homo sapiens
DATUM: 8,15 Tage seit dem Untergang von Sjandra Kei
TEXT DER BOTSCHAFT:
Falls ihr es nicht wisst: Sandor Schiedsintelligenz hat mehrere Zugänge zum Netz. Wir können Botschaften auf Pfaden sammeln, die keine Zwischenknoten gemein haben. Auf diese Weise können wir unterwegs vorgenommene Manipulationen entdecken und korrigieren. (Es verbleiben die von Anfang an vorhandenen Lügen und Missverständnisse, aber das ist es, was das Nachrichtendienst-Geschäft interessant macht.)
Die PEST ist seit ihrer Etablierung vor einem Jahr unser wichtigster Gegenstand gewesen. Und das nicht wegen der augenscheinlichen Stärke der PEST, der Zerstörung und der von ihr begangenen Deizide. Wir fürchten, all dies ist der geringere Teil der Bedrohung. Es hat in der überlieferten Geschichte PERVERSIONEN gegeben, die fast ebenso mächtig waren. Was die gegenwärtige wirklich auszeichnet, ist ihre Stabilität. Wir sehen keine Anzeichen innerer Evolution, in mancher Beziehung ist sie weniger als eine MACHT. Möglicherweise wird sie niemals das Interesse verlieren, das Hohe Jenseits unter Kontrolle zu halten. Wir werden vielleicht Zeugen einer massiven und dauernden Veränderung in der Natur der Dinge. Stellt euch vor: eine stabile Nekrose, wo das einzige Bewusstsein im Hohen Jenseits die PEST ist.
Das Studium der PEST ist daher für uns eine Frage von Leben und Tod gewesen (obwohl wir mächtig und weit verteilt sind). Wir sind zu einer Reihe von Schlüssen gekommen. Manche davon mögen euch offensichtlich erscheinen, andere wie krasse Spekulationen klingen. Alle erhalten mit den neuen Ereignissen, die von Harmonische Ruhe gemeldet werden, eine neue Schattierung:
Fast von Anfang an hat die PEST nach etwas gesucht. Diese Suche ist weit über ihre aggressive physische Expansion hinausgegangen. Ihre automatischen Agenten haben versucht, praktisch jeden Knoten an der Obergrenze des Jenseits zu durchdringen; das Hohe Netzwerk liegt in Trümmern, reduziert auf Protokolle, die kaum wirksamer als die weiter unten bekannten sind. Gleichzeitig hat die PEST mehrere Archive physisch gestohlen. Wir haben Hinweise auf sehr große Flotten, die an der Obergrenze und im Unteren Transzens nach vom Netz isolierten Archiven suchen. Mindestens drei MÄCHTE sind bei diesen Raubzügen ermordet worden.
Und nun haben diese Angriffe plötzlich aufgehört. Die physische Expansion der PEST geht weiter, ohne dass ein Ende abzusehen wäre, doch sie durchsucht nicht mehr das Hohe Jenseits. Soweit wir feststellen können, hat die Veränderung etwa zweitausend Sekunden vor der Flucht des Menschenschiffs von Harmonische Ruhe stattgefunden. Weniger als sechs Stunden später sahen wir die Anfänge der schweigenden Flotte, über die jetzt so viele Spekulationen anstellen. Diese Flotte ist in der Tat ein Geschöpf der PEST.
Zu anderer Zeit wären die Vernichtung von Sjandra Kei und die Motive der Allianz für die Verteidigung alles wichtige Vorgänge (und unsere Organisation könnte daran interessiert sein, mit den Betroffenen in geschäftliche Verbindung zu treten). Doch all dieses verblasst gegenüber jener Flotte und dem Schiff, das sie verfolgt. Und wir stimmen der Analyse von Harmonische Ruhe nicht zu: Für uns steht es außer Zweifel, dass die PEST vor der Entdeckung bei Harmonische Ruhe nichts von der Aus der Reihe II wusste.
Dieses Schiff ist kein Werkzeug der PEST, aber es enthält oder ist unterwegs zu etwas, das für die PEST von gewaltiger Bedeutung ist. Und was könnte das sein? Hier treten wir ins Gebiet der Spekulation ein. Und da wir spekulieren, werden wir jene mächtigen Pseudo-Gesetze verwenden, die Prinzipien der Mittelmäßigkeit und der Minimalen Annahme. Wenn die PEST imstande ist, sich die gesamte Obergrenze in permanenter Stabilität anzueignen, warum ist das dann nicht früher geschehen? Unsere Vermutung lautet, dass die PEST schon früher etabliert worden ist (mit so extremer Konsequenz, dass das Ereignis den Beginn der überlieferten Geschichte markiert), dass sie aber ihren eigenen spezifischen natürlichen Feind hat.
Die Abfolge der Ereignisse legt sogar ein bestimmtes Szenarium nahe, wie es aus der Netzwerk-Sicherheit bekannt ist. Es war einmal (vor sehr langer Zeit) ein anderer Fall von PEST. Eine wirksame Verteidigung wurde geschaffen, und alle bekannten Kopien vom Rezept der PEST wurden vernichtet. Natürlich kann man in einem weitverzweigten Netz niemals sicher sein, dass alle Kopien eines Übels entfernt sind. Zweifellos ist die Verteidigung in riesigen Mengen verbreitet worden. Doch selbst wenn ein Archiv, in dem die PEST Zuflucht gefunden hatte, von dieser Verbreitung erreicht wurde, kann die Wirkung ausgeblieben sein, wenn die PEST momentan nicht aktiv war.
Die glücklosen Menschen vom Straumli-Bereich sind zufällig auf solch ein Archiv gestoßen, zweifellos eine längst vom Netz isolierte Ruine. Sie etablierten die PEST und zufällig — vielleicht ein wenig später — das Verteidigungsprogramm. Irgendwie ist dieser Feind der PEST der Vernichtung entgangen. Und die PEST hat seither ständig danach gesucht — an sämtlichen falschen Stellen. In ihrer Schwäche hat sich die neue Erscheinungsform der Verteidigung in Tiefen zurückgezogen, die zu durchdringen keiner MACHT einfiele, woher sie ohne Hilfe von außen niemals zurückkehren könnte. Eine auf Spekulationen gegründete Spekulation: Wir können die Natur dieser Verteidigung nicht ahnen, außer dass ihr Rückzug ein entmutigendes Zeichen ist. Und nun ist selbst dieses Opfer sinnlos geworden, da die PEST das Täuschungsmanöver durchschaut hat.
Die Flotte der PEST ist offensichtlich eine Ad-hoc-Bildung, hastig aus allen Kräften zusammengewürfelt, die sich zufällig der Entdeckung am nächsten befanden. Ohne diese Hast wäre das Jagdwild ihr vielleicht ausgeliefert. So aber ist die Ausrüstung der Jäger wahrscheinlich schlecht geeignet für die Tiefen, und ihre Leistung wird in dem Maße nachlassen, wie der Abstieg voranschreitet. Wir schätzen jedoch, dass sie stärker sein wird als jede Streitkraft, die in naher Zukunft an den Ort des Geschehens gelangen kann.
Vielleicht erfahren wir mehr, nachdem die PEST das Ziel der Aus der Reihe II erreicht hat. Wenn sie dieses Ziel sofort vernichtet, werden wir wissen, dass es dort etwas für die PEST wahrlich Gefährliches gab (und vielleicht anderswo noch gibt, und sei es als Rezept). Wenn die PEST das nicht tut, bedeutet das möglicherweise, dass die PEST nach etwas gesucht hat, das sie noch gefährlicher als zuvor macht.
Ravna lehnte sich zurück und starrte eine Zeit lang den Bildschirm an. Sandor Schiedsintelligenz gehörte zu den scharfsinnigsten Teilnehmern dieser Nachrichtengruppe… Doch nun waren selbst deren Vorhersagen nur noch andere Schattierungen des Verhängnisses. Und sie waren immer so verdammt gelassen, so analytisch. Sie wusste, dass Sandor polyspezifisch war und Filialen überall im Hohen Jenseits besaß. Doch sie waren keine MACHT. Wenn die PERVERSION Relais überrennen und den ALTEN umbringen konnte, würden alle Ressourcen von Sandor nichts nützen, falls der Feind beschloss, sie zu schlucken. Ihre Analyse glich im Ton dem Piloten eines scheiternden Schiffes, der die Gefahr klar versteht und sich keine Zeit für Entsetzen zubilligt.
O Pham, wie gern ich mit dir so wie früher reden würde! Sie rollte sich sanft zusammen, wie man es in der Schwerelosigkeit tun kann. Sie schluchzte leise, aber ohne Hoffnung. In den letzten fünf Tagen hatten sie keine hundert Worte gewechselt. Sie lebten, als hielte jeder dem anderen eine Pistole an den Kopf. Und das war buchstäblich wahr — sie hatte es so eingerichtet. Als sie und er und die Skrodfahrer zusammen gewesen waren, hatten sie wenigstens die Last der Gefahr gemeinsam getragen. Nun waren sie entzweit, und ihre Feinde kamen ihnen langsam näher. Was konnten Phams Gottsplitter schon gegen tausend feindliche Schiffe ausrichten — und gegen die PEST, die hinter ihnen stand?
Einen zeitlosen Moment lang schwebte sie so, und das Schluchzen versickerte in verzweifelter Stille. Und abermals fragte sie sich, ob es wohl richtig sein konnte, was sie getan hatte. Sie hatte Phams Leben bedroht, um Blaustiel und Grünmuschel und ihresgleichen zu schützen. Dabei hatte sie etwas verheimlicht, das vielleicht der größte Verrat in der Geschichte des Bekannten Netzes war. Kann ein Einzelner solch eine Entscheidung treffen? Pham hatte ihr diese Frage gestellt, und sie hatte mit Ja geantwortet, aber…
Die Frage machte ihr Tag für Tag zu schaffen. Und jeden Tag versuchte sie, einen Ausweg zu finden. Sie wischte sich schweigend das Gesicht ab. Sie zweifelte nicht an dem, was Pham entdeckt hatte.
Es gab ein paar großkotzige Netzteilnehmer, die behaupteten, etwas derart Ausgedehntes wie die PEST sei einfach eine tragische Katastrophe und nicht etwas Böses. Böses, behaupteten sie, könnte nur in kleinerem Maßstab eine Bedeutung haben, wenn ein vernunftbegabtes Wesen einem anderen Schaden zufügte. Vor RIP war diese Ansicht wie ein frivoles Wortspiel erschienen. Nun sah sie, dass es eine Bedeutung hatte — und eine grundfalsche. Die PEST hatte die Skrodfahrer erschaffen, eine wunderbare und friedfertige Rasse. Ihre Anwesenheit auf einer Milliarde Welten war etwas Gutes gewesen. Und hinter alldem stand die Möglichkeit, den Geist eigenständiger Freunde in etwas Ungeheuerliches zu verwandeln. Wenn sie an Blaustiel und Grünmuschel dachte und die Furcht in ihr aufstieg, da sie wusste, dass das Gift dort verborgen lag — obwohl sie gute Leute waren —, dann wusste sie, dass sie einen Blick auf das Böse im transzendenten Maßstab geworfen hatte.
Sie hatte Blaustiel und Grünmuschel zu dieser Mission bewegt; sie hatten sich nicht darum gerissen. Sie waren Freunde und Verbündete, und sie würde ihnen kein Leid tun, weil sie zu etwas anderem werden konnten.
Vielleicht lag es an den jüngsten Nachrichten. Vielleicht lag es daran, dass sie sich zum x-ten Mal denselben Unmöglichkeiten gegenübersah: Ravna straffte sich, während sie die letzten Botschaften betrachtete. So. Sie glaubte, was Pham über die von den Skrodfahrern ausgehende Gefahr sagte. Sie glaubte auch, dass diese beiden nur potentiell Feinde wären. Sie hatte alles hingeworfen, um sie und ihresgleichen zu retten. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, aber mach das Beste daraus. Wenn sie gerettet werden sollen, weil du sie für Verbündete hältst, dann behandle sie wie Verbündete. Behandle sie als die Freunde, die sie sind. Wie sind alle nur Bauern im Spiel.
Ravna schob sich sacht auf die Tür ihrer Kabine zu.
Die Kabine der Skrodfahrer lag dicht hinter dem Steuerdeck. Seit dem Debakel bei RIP hatten die beiden sie nicht verlassen. Während sie den Gang entlang auf ihre Tür zu schwebte, erwartete Ravna halbwegs, Phams Apparaturen in den Schatten lauern zu sehen. Sie wusste, dass er sein Bestes tat, um ›sich zu schützen‹ . Doch sie bemerkte nichts Ungewöhnliches. Was wird er davon halten, dass ich sie besuche?
Sie machte sich bemerkbar. Nach einer Weile erschien Blaustiel. Sein Skrod war von den Zierstreifen gesäubert, und im Raum hinter ihm herrschte Durcheinander. Er winkte sie mit knappen Rucken seiner Wedel herein.
»Meine Dame.«
»Blaustiel.« Sie nickte ihm zu. Die Hälfte der Zeit verfluchte sie sich, dass sie den Skrodfahrern traute, und die andere Hälfte war sie zu Tode betrübt, dass sie sie allein gelassen hatte. »W-wie geht es Grünmuschel?«
Zu ihrer Überraschung deutete Blaustiel mit einer kurzen Bewegung seiner Wedel ein Lächeln an. »Sie haben es erraten? Es ist der erste Tag mit ihrem neuen Skrod… Wenn Sie wollen, zeige ich es Ihnen.«
Er schlängelte sich um Vorrichtungen herum, die auf einem Haltegitter quer durch den Raum verstreut waren. Es ähnelte der Werkstattausrüstung, die Pham benutzt hatte, um seine Rüstung mit Antrieb zu bauen. Und wenn Pham es gesehen hätte, hätte er womöglich alle Selbstbeherrschung verloren.
»Ich habe jede Minute daran gearbeitet, seit… Pham uns hier eingesperrt hat.«
Grünmuschel befand sich im anderen Zimmer. Ihr Stiel und die Wedel ragten aus einem silbrigen Topf hervor. Er hatte keine Räder. Er sah überhaupt nicht wie ein herkömmlicher Skrod aus. Blaustiel rollte über die Decke und streckte einen Wedel zu seiner Partnerin hinab. Er raschelte ihr etwas zu, und nach einer Weile antwortete sie.
»Der Ersatzskrod ist sehr beschränkt, ohne Beweglichkeit, ohne zusätzliche Energiequellen. Ich habe ihn von einem Modell für Mindere Skrodfahrer kopiert, einer simplen Konstruktion, die die Dirokime entworfen haben. Er ist nur dafür gedacht, an ein und derselben Stelle zu sitzen, ein und derselben Richtung zugewandt. Aber er stellt ihr ein Kurzzeitgedächtnis und Aufmerksamkeitsbündler zur Verfügung… Sie ist wieder bei mir.« Er machte sich bei ihr zu schaffen, einige seiner Wedel streichelten sie, andere zeigten auf das Gerät, das er für sie gebaut hatte. »Sie selbst war nicht schlimm verletzt. Manchmal frage ich mich — was Pham auch sagt, vielleicht brachte er es in letzter Sekunde nicht fertig, sie zu töten.«
Er sprach nervös, als habe er Angst vor dem, was Ravna sagen könnte.
»Die ersten paar Tage habe ich mir große Sorgen gemacht. Aber der Chirurg ist gut. Es hat ihr eine Menge Zeit verschafft, in starker Brandung zu stehen. Langsam zu denken. Seit sie diesen Ersatzskrod hat, übt sie die Gedächtnis-Kalesthenik und wiederholt, was der Chirurg oder ich ihr sagen. Mit dem Ersatzskrod kann sie eine neue Erinnerung fast fünfhundert Sekunden lang behalten. Das genügt ihrem natürlichen Verstand für gewöhnlich, einen Gedanken an das Langzeitgedächtnis zu übergeben.«
Ravna schwebte näher heran. Es gab ein paar neue Furchen in Grünmuschels Wedeln. Das waren wohl Narben, die allmählich verheilten. Ihre Sehflächen verfolgten Ravnas Annäherung. Die Skrodfahrerin wusste, dass sie da war; ihre ganze Haltung war freundlich.
»Kann sie Trisk sprechen, Blaustiel? Hast du einen Voder angeschlossen?«
»Was?« Surren. Er war vergesslich oder nervös, Ravna konnte nicht sagen, was von beidem. »Ja, ja. Einen Moment bitte… Es war bisher nicht nötig. Niemand wollte mit uns reden.« Er machte sich an einem Teil des selbstgebauten Skrods zu schaffen.
Nach einer Weile: »Hallo Ravna. Ich… erkenne Sie.« Ihre Wedel raschelten im Rhythmus der Worte.
»Ich kenne dich auch. Wir… ich bin froh, dass du wieder bei uns bist.«
Die Voderstimme klang schwach — wehmütig? »Ja. Ich kann es schwer sagen. Ich will wirklich reden, aber ich bin nicht sicher… Ergibt es einen Sinn, was ich sage?«
Außerhalb von Grünmuschels Gesichtsfeld ließ Blaustiel eine lange Ranke vorzucken, eine Geste: Sag ja.
»Ja, ich verstehe dich, Grünmuschel.« Und Ravna beschloss, sich nie wieder über Grünmuschels Gedächtnislücken zu ärgern.
»Gut.« Ihre Wedel strafften sich, und sie sagte nichts weiter.
»Sehen Sie?«, ertönte Blaustiels Voderstimme. »Ich bin hoch erfreut. Sogar jetzt überträgt Grünmuschel dieses Gespräch ans Langzeitgedächtnis. Es geht vorläufig noch langsam, aber ich arbeite an der Verbesserung ihres Skrods. Ich bin sicher, dass ihre Langsamkeit größtenteils auf einen emotionalen Schock zurückzuführen ist.« Er strich weiter über Grünmuschels Wedel, doch sie sagte nichts mehr. Ravna fragte sich, wie hoch erfreut er wohl wirklich sein konnte.
Hinter den Skrodfahrern befand sich eine Anordnung von Bildschirmen, die jetzt auf die Sehgewohnheiten der Fahrer eingerichtet waren. »Ihr habt die Nachrichten verfolgt?«, fragte Ravna.
»Ja.«
»Ich… ich fühle mich so hilflos.« Ich fühle mich so dumm, euch das zu sagen.
Doch Blaustiel nahm es ihr nicht übel. Er schien für den Wechsel des Themas dankbar zu sein, wo die düsteren Aussichten in einiger Entfernung lagen. »Ja. Wir sind jetzt wahrlich berühmt. Drei Flotten machen Jagd auf uns. Ha ha.«
»Es sieht nicht so aus, als würden sie schnell aufholen.«
Ein Zucken der Wedel. »Herr Pham hat sich als fähiger Schiffsführer erwiesen. Ich fürchte, die Lage wird sich ändern, wenn wir tiefer kommen. Die höhere Automatik des Schiffs wird nach und nach versagen. Was Sie ›Handsteuerung‹ nennen, wird sehr wichtig werden. Die ADR ist für meine Rasse entworfen worden, meine Dame. Egal, was Herr Pham von uns denkt, am Grunde können wir das Schiff besser als jeder andere fliegen. Also werden die anderen Stück für Stück aufholen — zumindest jene, die wirklich etwas von ihren eigenen Schiffen verstehen.«
»S-sicherlich weiß Pham das?«
»Ich glaube, er muss es wissen. Aber er ist in seinen eigenen Ängsten gefangen. Was kann er tun? Wenn Sie nicht gewesen wären, meine Dame, hätte er uns vielleicht schon getötet. Vielleicht, wenn es so weit kommt, dass er entweder binnen einer Stunde sterben oder uns vertrauen muss — dann gibt es vielleicht eine Chance.«
»Dann wird es zu spät sein. Seht ihr, sogar wenn er euch nicht traut — auch, wenn er das Schlimmste von den Skrodfahrern glaubt —, muss es noch einen Weg geben.« Und es ging ihr auf, dass man mitunter die Denkweise der Leute nicht zu ändern braucht, nicht einmal ihren Hass auf jemanden. »Pham will den Grund erreichen, um dieses GEGENMITTEL zu retten. Er glaubt, ihr könntet Geschöpfe der PEST und hinter derselben Sache her sein. Doch bis zu einem gewissen Punkt…« Bis zu einem gewissen Punkt ist er durchaus zur Zusammenarbeit imstande, kann die Konfrontation, die er sich einbildet, solange zurückstellen, bis sie keine Rolle mehr spielt.
Noch ehe sie zu Ende gesprochen hatte, schrie Blaustiel sie an: »Ich bin kein Geschöpf der PEST! Grünmuschel ist auch keins! Die Rasse der Skrodfahrer ist es nicht!« Er fuhr rasch um seine Partnerin herum über die Decke, bis seine Wedel direkt vor ihrem Gesicht rasselten.
»Entschuldige. Es ist nur eine Möglichkeit…«
»Unsinn!« Sein Voder surrte in zu hohe Frequenzen hinein. »Wir sind auf ein paar Schlechte gestoßen. Solche gibt es in jeder Rasse, Leute, die gegen Bezahlung zu töten bereit sind. Sie haben Grünmuschel gezwungen, gegen ihren Willen Daten in ihren Voder gespeist. Pham Nuwen würde die vielen Milliarden von uns um seiner Einbildung willen töten.« Er gestikulierte wild. So etwas hatte sie noch niemals bei einem Skrodfahrer gesehen: Seine Wedel wechselten tatsächlich die Farbe, wurden dunkler.
Die Bewegung hörte auf, doch er sagte nichts weiter. Und da hörte Ravna es: einen hohen, langgezogenen Klagelaut, der vielleicht von einem Voder stammte. Der Laut wuchs stetig an, ein Heulen, gegen das alle Geräuscheffekte Blaustiels wie freundlicher Unsinn wirkten. Es war Grünmuschel.
Das Heulen erreichte beinahe die Schmerzgrenze, dann verwandelte es sich in abgehacktes Triskweline: »Es ist wahr! Oh, bei all unseren Handelsfahrten, Blaustiel, es ist wahr…« — und aus ihrem Voder drang statisches Rauschen. Ihre Wedel begannen zu zittern, unkoordinierte Drehungen, die bei einem Menschen wild starrenden Augen entsprechen mussten, dem hysterischen Gemurmel eines Mundes.
Blaustiel war schon wieder an der Wand und wollte ihren neuen Skrod regulieren. Grünmuschels Wedel stießen ihn beiseite, und ihr Voder fuhr fort: »Ich war von Entsetzen gepackt, Blaustiel. Ich war von Entsetzen gepackt, von Grauen. Und es hörte nicht auf…« Sie schwieg einen Augenblick lang. Blaustiel stand erstarrt da. »Ich erinnere mich an alles bis hin zu den letzten fünf Minuten. Und alles, was Pham sagt, ist wahr, Liebster. So treu du auch bist — und ich erlebe diese Treue jetzt seit zweihundert Jahren —, du würdest augenblicklich umgedreht werden… so wie ich.« Nun, da das Eis gebrochen war, kamen ihre Worte schnell, und die meisten ergaben Sinn. Das Grauen, an das sie sich erinnerte, hatte sich tief eingegraben, und sie befreite sich endlich von einem grässlichen Schock. »Ich war direkt hinter dir, weißt du noch, Blaustiel? Du warst in deinen Handel mit den Hauerbeinen versunken, so tief, dass du es nicht richtig gesehen hast. Ich bemerkte, wie die anderen Skrodfahrer auf uns zu kamen. Nun gut: eine freundschaftliche Begegnung so weit von Zuhause. Dann berührte einer meinen Skrod. Ich…« Grünmuschel zögerte. Ihre Wedel rasselten, und sie begann wieder: »… von Entsetzen gepackt, von Entsetzen…«
Nach einer Weile fuhr sie fort: »Es war, es seien plötzlich neue Erinnerungen im Skrod aufgetaucht, Blaustiel. Neue Erinnerungen, neue Einstellungen. Aber Jahrtausende tief. Und nicht von mir. Augenblicklich, augenblicklich. Ich habe keinen Moment das Bewusstsein verloren. Meine Gedanken waren unverändert klar, alle meine eigenen Erinnerungen noch da.«
»Und als du Widerstand leistetest?«
»… Widerstand? Meine Dame Ravna, ich habe keinen Widerstand geleistet, ich gehörte ihnen… Nein. Nicht ihnen, denn auch sie waren besessen. Wir waren Gegenstände, unsere Intelligenz diente einem fremden Zweck. Tot waren wir, und zugleich lebendig genug, um unseren Tod wahrzunehmen. Ich hätte Sie getötet, ich hätte Pham getötet, ich hätte Blaustiel getötet. Sie wissen, dass ich es versucht habe. Und als ich es versuchte, wollte ich, dass es gelänge. Sie können das niemals begreifen…« Eine lange Pause. »Das stimmt nicht ganz. An der Obergrenze des Jenseits, innerhalb der PEST selbst — dort lebt vielleicht jeder so, wie ich es tat.«
Das Zittern ließ nicht nach, doch ihre Gesten waren nicht mehr ziellos. Die Wedel sagten etwas in ihrer eigenen Sprache und streichelten Blaustiel sanft.
»Unsere ganze Rasse, lieber Blaustiel. Genauso, wie Pham sagt.«
Blaustiel wurde welk, und Ravna spürte, wie sich in ihm alles zusammenkrampfte, so wie bei ihr, als sie die Nachricht von Sjandra Kei erhalten hatte. Das waren ihre Welten gewesen, ihre Familie, ihr Leben. Die Nachricht für Blaustiel war schlimmer.
Ravna schwebte etwas näher heran, weit genug, um mit der Hand über die Seite von Grünmuschels Wedeln streichen zu können. »Pham sagt, dass die Ursache in den Höheren Skrods liegt.« Sabotage, eine Milliarde Jahre tief verborgen.
»Ja, es sind vor allem die Skrods. Die ›große Gabe‹ , die wir Fahrer so lieben… Ihre Konstruktion dient dazu, die Kontrolle zu übernehmen, aber ich fürchte, auch wir sind daran angepasst worden. Als sie meinen Skrod berührten, war ich augenblicklich verwandelt. Augenblicklich hatte alles, was mir teuer gewesen war, keine Bedeutung mehr. Wir sind wie intelligente Bomben, zu Billionen über einen Raum verstreut, den jedermann für sicher hält. Wir werden sparsam verwendet. Wir sind die Geheimwaffe der PEST, besonders im Unteren Jenseits.«
Blaustiel zuckte zusammen, und seine Stimme klang holprig: »Und alles, was Pham behauptet, stimmt.«
»Nein, Blaustiel, nicht alles.« Ravna erinnerte sich an die letzte Konfrontation mit Pham. »Er hat die Fakten, aber er wichtet sie falsch. Solange eure Skrods nicht pervertiert sind, seid ihr dieselben Leute, denen ich mich für den Flug zum Grund anvertraut habe.«
Blaustiel wandte mit einem zornigen Ruck seinen Blick von ihr ab. Statt seiner erklang Grünmuschels Stimme: »Solange der Skrod nicht pervertiert ist… Aber seht doch, wie leicht es ging, wie plötzlich ich ein Werkzeug der PEST wurde.«
»Ja, aber ist es auch ohne direkte Berührung möglich? Könnt ihr ›verändert‹ werden, wenn ihr die Netznachrichten lest?«
Die Frage war als grimmiger Sarkasmus gemeint, doch die arme Grünmuschel nahm sie ernst: »Nicht durch eine Nachricht, auch nicht durch die üblichen Protokollsendungen. Aber die Annahme einer an die Skrod-Hilfsprogramme gerichteten Übertragung könnte ausreichen.«
»Dann seid ihr hier in Sicherheit. Du, weil du keinen Höheren Skrod mehr fährst, Blaustiel, weil…«
»Weil ich nie berührt worden bin… Aber woher wollen Sie das wissen?« Sein Zorn war immer noch da, tief in Scham eingebettet, doch nun war es eine hoffnungslose Wut, die sich gegen etwas sehr Fernes richtete.
»Nein, Liebster, du bist nicht berührt worden. Ich wüsste es.«
»Ja, aber warum sollte Ravna dir glauben?«
Alles könnte Lüge sein, dachte Ravna,… aber ich glaube Grünmuschel. Ich glaube, dass wir vier die Einzigen im ganzen Jenseits sind, die der PEST schaden können. Wenn nur Pham das einsehen würde. Und das brachte sie auf das Thema zurück: »Du sagst, wir werden allmählich unseren Vorsprung einbüßen?«
Blaustiel winkte bestätigend. »Sobald wir noch ein wenig tiefer sind. In ein paar Wochen müssten sie uns eingeholt haben.«
Und dann würde es egal sein, wer pervertiert worden war und wer nicht. »Ich glaube, wir sollten ein bisschen mit Pham Nuwen plaudern.« Mit seinen Gottsplittern und überhaupt.
Vorher konnte sich Ravna nicht ausmalen, wie die Gegenüberstellung verlaufen würde. Es mochte durchaus sein — wenn er vollends den Kontakt zur Wirklichkeit verloren hatte —, dass Pham versuchte, sie zu töten, wenn sie auf dem Steuerdeck erschienen. Wahrscheinlicher war, dass es zu Wutausbrüchen und Streit und Drohungen käme und alle wieder da wären, wo sie begonnen hatten.
Statt dessen… Es war beinahe der alte Pham, aus der Zeit vor Harmonische Ruhe. Er ließ sie das Steuerdeck betreten, er sagte nichts, als Ravna sich sorgsam zwischen ihn und die Skrodfahrer setzte. Er hörte ohne Unterbrechung aufmerksam zu, als Ravna darlegte, was Grünmuschel gesagt hatte. »Diese beiden sind ungefährlich, Pham. Und ohne ihre Hilfe schaffen wir es nie bis zum Grund.«
Er nickte und schaute beiseite auf die Bildschirme. Manche zeigten den natürlichen Sternenhimmel; die meisten gaben Ultraspuren wieder, die immer noch am besten geeignet waren, sich ein Bild von den auf die ADR zukommenden Feinden zu machen. Sein ruhiger Gesichtsausdruck wich für einen Moment, und der Pham, der sie liebte, schien verzweifelt dahinter hervorzustarren: »Und du glaubst das alles wirklich, Rav? Wie?« Dann war die Klappe wieder zu, sein Ausdruck distanziert und neutral. »Macht nichts. Eins stimmt sicherlich: Wenn wir nicht alle zusammenarbeiten, schaffen wir es nie bis zur Klauenwelt. Blaustiel, ich nehme dein Angebot an. Unter bestimmten Sicherheitsvorkehrungen arbeiten wir zusammen.« Bis ich euch gefahrlos beseitigen kann — Ravna spürte die ungesagten Worte hinter seinem nüchternen Ton. Die Konfrontation war aufgeschoben.
Sie waren keine acht Wochen mehr von der Klauenwelt entfernt, sagten sowohl Pham als auch Blaustiel. Wenn die Zonenbedingungen stabil blieben. Wenn sie nicht in der Zwischenzeit überwältigt wurden.
Weniger als zwei Monate nach den sechs, die die Reise schon dauerte. Doch die Tage waren nicht wie vorher. Jeder einzelne war eine Herausforderung, eine Auseinandersetzung, die manchmal unter Höflichkeit verborgen blieb, manchmal in plötzlichen Todesdrohungen aufflammte — etwa, als Pham Blaustiels Werkstattausrüstung einzog.
Pham wohnte jetzt auf dem Steuerdeck; wenn er es verließ, war das Lukenschloss auf seine Person codiert. Er hatte alle anderen bevorrechtigten Zugänge zur Schiffsautomatik vernichtet — oder glaubte sie vernichtet zu haben. Er und Blaustiel arbeiteten fast ständig zusammen — aber nicht wie früher. Jeder Schritt war langsam, Blaustiel musste alles erklären und durfte nichts vorführen. Das waren die Momente, wo der Streit tödlicher Gewaltanwendung am nächsten kam, wenn Pham zwischen zwei Gefahren wählen musste. Denn jeden Tag waren die verfolgenden Flotten ein wenig näher: zwei Mörderbanden und die Reste von Sjandra Kei. Offensichtlich konnte die Flotte der Sicherheitsgesellschaft von Sjandra Kei zum Teil noch kämpfen und wollte Rache an der Allianz nehmen. Einmal schlug Ravna Pham vor, sie sollten Verbindung zur Sicherheitsgesellschaft aufnehmen und versuchen, sie zu einem Angriff auf die Pestflotte zu überreden. Pham schaute sie mit leerem Blick an. »Noch nicht, vielleicht überhaupt nicht«, sagte er und wandte sich ab. In gewisser Hinsicht war sie über seine Antwort erleichtert: Solch eine Schlacht würde auf Selbstmord hinauslaufen. Ravna wollte nicht, dass die letzten von ihren Leuten für sie starben.
Die ADR würde also vielleicht vor dem Feind bei der Klauenwelt eintreffen, doch mit welch geringer Zeitreserve! An manchen Tagen zog sich Ravna mit Tränen und voller Verzweiflung zurück. Was sie wieder aufrichtete, waren Jefri und Grünmuschel. Die beiden brauchten sie, und ein paar Wochen lang konnte sie ihnen noch helfen.
Herrn Stahls Verteidigungspläne kamen voran. Die Klauenwesen hatten sogar einigen Erfolg mit ihrem Breitbandradio. Stahl meldete, dass Holzschnitzerins Hauptkräfte nach Norden unterwegs waren; es gab mehr als einen Wettlauf mit der Zeit. Sie verbrachte viele Stunden in der Bibliothek der ADR und entwarf weitere Geschenke für Jefris Freunde. Manche — zum Beispiel Fernrohre — waren einfach, andere jedoch… Es war keine vergebliche Mühe. Selbst wenn die PEST gewann, ignorierte ihre Flotte vielleicht die Planetenbewohner und beschränkte sich darauf, die ADR zu vernichten und das GEGENMITTEL zurückzugewinnen.
Grünmuschels Zustand verbesserte sich langsam. Zuerst hatte Ravna Angst, sie könnte sich die Verbesserungen nur einbilden. Sie verbrachte einen Gutteil des Tages bei der Skrodfahrerin und versuchte, Fortschritte in ihren Reaktionen auszumachen. Grünmuschel war sehr ›weit weg‹ , fast wie ein Mensch mit Prothesen nach einem Schlaganfall. Das bei ihrem ersten Gespräch hervorgebrochene Entsetzen schien sie sogar zurückgeworfen zu haben. Vielleicht spiegelte sich in ihren neuerlichen Fortschritten nur Ravnas gewachsenes Einfühlungsvermögen, weil sie so oft bei ihr war. Blaustiel behauptete, es gäbe Fortschritte, doch er sagte es mit seiner üblichen starrsinnigen Beharrlichkeit. Zwei, drei Wochen, und es bestand kein Zweifel mehr: Etwas heilte an der Schnittstelle zwischen Fahrerin und Ersatzskrod. Grünmuschels Worte ergaben zusammenhängenden Sinn, vermittelten zusammenhängend wichtige Erinnerungen… Nun war ebenso oft sie es, die Ravna half. Grünmuschel sah Dinge, die Ravna entgangen waren: »Herr Pham ist nicht der Einzige, der vor uns Skrodfahrern Angst hat. Blaustiel fürchtet sich ebenfalls, und es zerreißt ihn. Er kann es nicht einmal mir eingestehen, doch er glaubt, dass wir möglicherweise unabhängig von unseren Skrods infiziert sind. Er wünscht sich verzweifelt, Pham vom Gegenteil zu überzeugen — und damit auch sich selbst.« Sie schwieg einen Moment lang, und einer ihrer Wedel strich über Ravnas Arm. Meeresgeräusche umgaben sie in der Kabine, doch die Schiffsautomatik konnte keine Wasserbrandung mehr erzeugen. »Tja. Wir müssen so tun, als ob hier eine Brandung wäre, liebe Ravna. Irgendwo wird es immer eine geben, egal, was mit Sjandra Kei geschehen ist, egal, was hier geschieht.«
Bei seiner Partnerin war Blaustiel sanft und herzlich, doch wenn er mit Ravna allein war, schimmerte sein Zorn durch: »Nein, nein, ich habe nichts gegen Herrn Phams Schiffsführung einzuwenden, zumindest jetzt nicht. Vielleicht könnten wir etwas weiter vorn liegen, wenn ich direkt das Steuer führen würde, aber die schnellsten Schiffe hinter uns würden trotzdem aufholen. Es sind die anderen Dinge, meine Dame. Sie wissen, wie unzuverlässig unsere Automatik hier unten ist. Pham fügt ihr noch mehr Schaden zu. Er hat die Sicherheitsroutinen mit seinen eigenen Programmen überschrieben. Er verwandelt die Lebenserhaltungs-Automatik des Schiffes in ein System von Fallen.«
Ravna hatte Anzeichen dafür bemerkt. Die Bereiche rings um das Steuerdeck der ADR und die Schiffswerkstatt ähnelten militärischen Kontrollpunkten. »Du kennst seine Ängste. Wenn das dazu beiträgt, dass er sich sicherer fühlt…«
»Darum geht es nicht, meine Dame. Ich würde alles tun, um ihn zu bewegen, meine Hilfe anzunehmen. Aber was er tut, ist von tödlicher Gefahr. Unsere Automatik für den Grund ist unzuverlässig, und er verschlechtert sie noch gezielt. Wenn wir plötzlich in eine angespannte Lage geraten, werden die Lebenserhaltungsprogramme wahrscheinlich chaotisch zusammenbrechen — Druckabfall, Störung des thermischen Gleichgewichts, alles Mögliche.«
»Ich…«
»Begreift er denn nicht? Pham hat gar nichts unter Kontrolle.« Seine Voderstimme glitt in ein nichtlineares Quieken ab. »Er kann zerstören, aber weiter nichts. Er braucht meine Hilfe. Er war mein Freund. Begreift er denn nicht?«
Pham begriff… o ja, Pham begriff. Er und Ravna sprachen noch miteinander. Ihre Streitgespräche waren das Schwerste in ihrem Leben. Und manchmal stritten sie sich nicht eigentlich; manchmal glich es fast einer vernünftigen Diskussion:
»Ich bin nicht übernommen worden, Ravna. Jedenfalls nicht so, wie die PEST Skrodfahrer übernimmt. Ich bin noch Herr meiner Seele.« Er wandte sich vom Pult ab und ließ ein mattes Lächeln zu ihr herüber huschen, das die Schwachstellen in derlei eigenen Überzeugungen eingestand. Und Dinge wie dieses Lächeln waren es, die Ravna überzeugten, dass Pham Nuwen noch lebte und manchmal sprach.
»Was ist mit dem Gottsplitter-Zustand? Ich sehe, wie du stundenlang einfach nur den Spurenschirm anstarrst oder in der Bibliothek und in den Nachrichten herumkramst« — wobei er schneller die Texte überflog, als jeder Mensch zu lesen vermochte.
Pham zuckte die Achseln. »Es studiert die Schiffe, die uns verfolgen, und versucht herauszufinden, was zu wem gehört, welche Fähigkeiten jedes einzelne haben könnte. Ich weiß keine Einzelheiten. Mein eigenes Bewusstsein hat dann Urlaub« — wenn Phams ganzer Verstand in einen Prozessor für die unbekannten Programme verwandelt war, die der ALTE eingespeist hatte. Etliche Stunden dieses Zustands mochten einem Augenblick des Denkens auf dem Niveau einer MACHT entsprechen — und selbst daran konnte er sich nicht bewusst erinnern. »Aber eins weiß ich. Was immer die Gottsplitter sind, sie sind sehr eng begrenzt. Sie leben nicht, in mancher Hinsicht sind sie vielleicht nicht einmal besonders klug. Für alltägliche Dinge wie die Führung eines Schiffs gibt es einfach den guten alten Pham Nuwen.«
»… und uns andere, Pham. Blaustiel würde gern helfen«, sagte Ravna leise. An diesem Punkt verfiel Pham für gewöhnlich in eisiges Schweigen — oder hatte einen Wutausbruch. Diesmal streckte er nur den Kopf vor. »Ravna, Ravna. Ich weiß, dass ich ihn brauche… Und ich bin froh darüber. Dass ich ihn nicht töten muss.« Vorläufig. Phams Lippen zuckten kurz, und sie glaubte, er begänne womöglich zu weinen.
»Die Gottsplitter können Blaustiel nicht kennen…«
»Nicht die Gottsplitter. Sie sind es nicht, die mich so handeln lassen — ich tue, was jeder tun sollte, wenn so viel auf dem Spiel steht.« Die Worte kamen ohne Zorn. Vielleicht war das eine Gelegenheit. Vielleicht konnte sie Vernunftargumente vorbringen: »Blaustiel und Grünmuschel sind loyal, Pham. Außer bei Harmonische Ruhe…«
Pham seufzte: »Tja. Ich habe darüber eine Menge nachgedacht. Es ist Tatsache, dass sie aus dem Straumli-Bereich nach Relais gekommen sind. Sie haben die Vrinimi veranlasst, nach dem Flüchtlingsschiff Ausschau zu halten. Das riecht nach abgekartetem Spiel, aber wahrscheinlich, ohne dass sie es wussten — vielleicht sogar von einem Gegner der PEST gelenkt. Jedenfalls waren sie damals unschuldig, sonst hätte die PEST von Anfang an über die Klauenwelt Bescheid gewusst. Vor RIP wusste die PEST nichts, bis Grünmuschel umgedreht wurde. Und ich weiß, dass Blaustiel sogar dann noch loyal war. Er wusste Dinge über meine Rüstung — die Spähmücken zum Beispiel —, vor denen er die anderen hätte warnen können.«
Zu ihrer Überraschung schöpfte Ravna Hoffnung. Er hatte es wirklich durchdacht, und… »Es sind nur die Skrods, Pham. Sie sind Fallen, die darauf warten, ausgelöst zu werden. Aber wir sind hier isoliert, und den von Grünmuschel hast du vernichtet…«
Pham schüttelte den Kopf. »Es sind nicht nur die Skrods. Die PEST hat auch in den Bauplan der Skrodfahrer eingegriffen, zumindest in gewissem Grade. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Grünmuschel sonst so glatt hätte übernommen werden können.«
»Hm-ja. Ein Risiko. Ein sehr kleines Risiko im Vergleich zu…«
Pham bewegte sich nicht, doch etwas in ihm schien sich von ihr abzuwenden und die Unterstützung auszuschlagen, die sie zu bieten hatte. »Ein kleines Risiko? Wir wissen es nicht. Es steht so viel auf dem Spiel. Ich balanciere auf einem Seil. Wenn ich Blaustiel jetzt nicht benutze, werden wir von der Pestflotte aus dem Raum gepustet. Wenn ich ihn zu viel tun lasse, wenn ich ihm vertraue, dann könnte er oder ein Teil von ihm uns verraten. Ich habe weiter nichts als die Gottsplitter und ein paar Erinnerungen, die… die vielleicht der größte Schwindel von allem sind.« Die letzten Worte waren fast unhörbar. Er schaute zu ihr auf, ein Blick, der zugleich kalt und schrecklich einsam war. »Aber ich werde benutzen, was ich habe, Rav, und was immer ich bin. Irgendwie werde ich uns auf die Klauenwelt bringen. Irgendwie werde ich die Gottsplitter des ALTEN zu alledem bringen, was uns dort erwarten mag.«
Es dauerte noch drei Wochen, bis sich Blaustiels Vorhersagen erfüllten.
Oben im Mittleren Jenseits war die ADR als robustes Geschöpf erschienen; sogar ihr beschädigter Ultraantrieb hatte mit Haltung versagt. Nun wimmelte es in den Schiffsprogrammen nur so von Fehlern. Das meiste davon hatte nicht mit Phams Einmischung zu tun. Ohne die letzten Funktionsproben war nichts an der für den Grund bestimmten Automatik der ADR wirklich vertrauenswürdig. Doch ihre Ausfälle wurden durch Phams verzweifelte ›Sicherheitsvorkehrungen‹ noch verschärft.
Die Schiffsbibliothek enthielt den Quellcode für generelle Grund-Automatik. Pham brachte mehrere Tage damit zu, ihn für die ADR einzurichten. Während der Installation waren sie alle vier auf dem Steuerdeck. Blaustiel versuchte zu helfen, Pham untersuchte jeden Vorschlag misstrauisch. Dreißig Minuten nach Beginn der Installation ertönte im Hauptkorridor gedämpftes Poltern. Ravna hätte es vielleicht nicht beachtet, doch sie hatte derlei an Bord der ADR nie gehört.
Pham und die Skrodfahrer reagierten fast in Panik; Raumfahrer mögen es nicht, wenn nachts etwas unerklärlich poltert. Blaustiel eilte zur Luke, schwebte mit den Wedeln voran durch die Öffnung. »Ich sehe nichts, Herr Pham.«
Pham schaltete rasch durch die Diagnosebildschirme, deren gemischtes Format teilweise schon von der neuen Installation stammte. »Ich habe hier ein paar Warnleuchten, aber…«
Grünmuschel wollte etwas sagen, doch Blaustiel war zurück und erklärte schnell: »Ich glaube es nicht. Was immer es ist, es müsste Bilder ergeben, eine ausführliche Meldung. Etwas geht schrecklich schief.«
Pham starrte ihn an, dann wandte er sich wieder der Diagnostik zu. Fünf Sekunden verstrichen. »Du hast Recht. Der Status läuft einfach nur in einer Schleife durch dieselben Meldungen.« Er begann hektisch, Bilder von überall im Innern der ADR einzuschalten. Kaum die Hälfte davon bekam er auch, doch was sie zeigten…
Das Wasserreservoir des Schiffs war eine neblige Eishöhle. Das war das Poltern — Tonnen von Wasser, die sich zusammenzogen. Ein Dutzend andere Lebenserhaltungssysteme spielten verrückt, und…
… der bewaffnete Kontrollpunkt vor der Werkstatt war losgegangen. Die Strahler feuerten ständig mit geringer Leistung. Und bei all den Zerstörungen zeigten die Diagnostikfelder noch immer Grün oder Bernstein oder gar nichts. Pham brachte eine Kamera in der Werkstatt selbst in Gang. Der Raum stand in Flammen.
Pham sprang von seinem Sattel auf und prallte von der Decke zurück. Einen Augenblick lang glaubte sie, er könnte von der Brücke stürmen. Dann schnallte er sich an und versuchte grimmig, das Feuer zu löschen.
Die nächsten paar Minuten lang war es auf der Brücke fast still, nur Pham fluchte leise, als von den naheliegenden Maßnahmen keine funktionierte. »Die Fehler greifen ineinander« — er murmelte den Satz ein paarmal. »Die Feuerwarnautomatik ist ausgefallen…
Ich kann die Luft nicht aus der Werkstatt pumpen. Meine Strahler haben alles zu Klump geschmolzen.«
Feuer an Bord. Ravna hatte Bilder von solchen Katastrophen gesehen, doch sie waren ihr immer als etwas Unwahrscheinliches erschienen. Wie sollte sich mitten im Vakuum des Weltalls ein Feuer halten? Und bei Schwerelosigkeit müsste sich ein Brand selbst ersticken, auch wenn die Besatzung nicht die Atmosphäre abpumpen konnte. Die Kamera in der Werkstatt bot ein verrücktes Bild der Wirklichkeit: Gewiss, die Flammen verzehrten nur den Sauerstoff in ihrer Umgebung. Es gab Lagen von Bauschaum, die nur leicht angesengt waren, vorläufig von verbrauchter Luft geschützt. Doch das Feuer breitete sich aus und drang stetig in Gebiete mit frischer Luft vor. Stellenweise reicherten von der Hitze erzeugte Turbulenzen das Gemisch an, und Stellen, über die das Feuer schon hinweggegangen war, flammten auf.
»Es strömt immer noch Luft zu, Herr Pham.«
»Ich weiß. Ich kann nichts dagegen machen. Die Ventile müssen geschmolzen sein.«
»Wahrscheinlich ist es die Software.« Blaustiel schwieg einen Moment lang. »Versucht es damit…« Die Anweisungen ergaben für Ravna keinen Sinn, irgendeine Umgehungsprozedur auf niedriger Ebene.
Doch Pham nickte, und seine Finger huschten über das Pult.
In der Werkstatt krochen die Flammen eng an den Oberflächen weiter über den Bauschaum. Nun griffen sie nach dem Inneren der Rüstung, auf die Pham so viel Zeit verwendet hatte. Dieses neueste Modell war erst halb fertig…Da drin mussten Oxydationsmittel sein. »Pham, ist die Rüstung hermetisch…«
Der Brand lag sechzig Meter entfernt und hinter einem Dutzend Zwischenschotts. Die Explosion kam als ferner, dumpfer Knall, fast unschuldig. Doch auf dem Bild der Kamera zerfiel die Rüstung in ihre Teile, und das Feuer loderte triumphierend auf.
Sekunden später brachte Pham Blaustiels Vorschlag zum Funktionieren, und die Ventile der Werkstatt schlossen sich. Das Feuer in der zerstörten Rüstung hielt noch eine halbe Stunde lang an, breitete sich aber nicht über die Werkstatt hinaus aus.
Sie brauchten zwei Tage, um aufzuräumen, um den Schaden abzuschätzen und sich halbwegs zu überzeugen, dass sich keine neue Katastrophe anbahnte. Der größte Teil der Werkstatt war zerstört.
Sie würden auf der Klauenwelt keine Rüstung haben. Pham rettete einen der Strahler, die den Zugang zur Werkstatt bewacht hatten. Überall im Schiff gab es katastrophale Ausfälle, die klassischen zufälligen Zerstörungen von ineinandergreifenden Programmfehlern: Sie hatten fünfzig Prozent ihres Wassers verloren. Das Landeboot des Schiffes hatte seine höhere Automatik eingebüßt.
Der Raketenantrieb der ADR war in seiner Leistungsfähigkeit schwer eingeschränkt. Hier im interstellaren Raum spielte das keine Rolle, doch am Ende würden sie den Geschwindigkeitsausgleich mit nur 0,4 Ge durchführen können. Gott sei Dank funktionierte der Agrav; sie würden ohne Schwierigkeiten imstande sein, in steilen Gravitationsschächten zu manövrieren — also auf der Klauenwelt zu landen.
Ravna wusste, wie nahe sie daran waren, das Schiff einzubüßen, doch sie beobachtete Pham mit noch größeren Befürchtungen. Sie hatte so große Angst, dass er dies als letzten Beweis für den Verrat der Skrodfahrer nehmen würde, dass es ihn endgültig aus dem Gleichgewicht brächte. Sonderbarerweise geschah beinahe das Gegenteil. Schmerz und innere Verwüstung waren ihm deutlich anzumerken, doch es kam zu keinem Ausbruch; er machte sich nur beharrlich daran, die Trümmer zu ordnen. Er sprach jetzt mehr mit Blaustiel, ließ ihn zwar nicht die Automatik verändern, nahm jedoch jetzt vorsichtig mehr Ratschläge von ihm an. Gemeinsam brachten sie das Schiff wieder annähernd in den Zustand vor dem Brand.
Sie fragte Pham danach. »Ich habe meine Ansichten nicht geändert«, sagte er schließlich, »ich musste die Risiken abwägen, und ich habe mich verrechnet… Und vielleicht gibt es da nichts abzuwägen. Vielleicht wird die PEST gewinnen.«
Die Gottsplitter hatten zu sehr darauf gesetzt, dass Pham alles allein schaffen würde. Jetzt dämpften sie seinen Verfolgungswahn ein wenig.
Sieben Wochen nach dem Abflug von Harmonische Ruhe, weniger als eine Woche vor dem, was auch immer sie auf der Klauenwelt erwarten mochte, verfiel Pham in eine mehrere Tage andauernde Trance. Vorher war er geschäftig gewesen — ein vergeblicher Versuch, selbstgemachte Testroutinen für die gesamte Automatik laufen zu lassen, die auf der Klauenwelt vielleicht benötigt würden. Jetzt konnte ihn Ravna nicht einmal zum Essen bewegen.
Die Navigationsbildschirme zeigten die drei Flotten, wie sie von den Nachrichten und Phams Intuition identifiziert wurden: die Agenten der PEST, die Allianz für die Verteidigung und die Überbleibsel von Sjandra Keis Sicherheitsgesellschaft: tödliche Ungeheuer und die Reste eines Opfers. Die Allianz meldete sich noch immer ab und zu mit Bulletins in den Nachrichten. Die SjK-Sicherheitsgesellschaft hatte ein paar knappe Erwiderungen gesendet, blieb aber größtenteils still: sie waren an Propaganda nicht gewöhnt oder — wahrscheinlicher — nicht daran interessiert. Private Rache war alles, was der Sicherheitsgesellschaft noch blieb. Und die Pestflotte? Die Nachrichten hatten nichts von ihr gehört. Aus einer Aufstellung von Abflügen und verlorenen Schiffen hatte die Nachrichtengruppe Kriegsbeobachter geschlossen, dass die Flotte wild aus dem Stegreif zusammengestellt worden war, aus allem, was die PEST hier unten zum Zeitpunkt der RIP-Katastrophe unter Kontrolle gehabt hatte. Ravna wusste, dass die Analyse der Kriegsbeobachter in einem Punkt falsch war: Die Pestflotte schwieg nicht. Dreißigmal in den letzten Wochen hatte sie Botschaften an die ADR gesendet — im Skrodsteuerformat. Pham hatte die Botschaften vom Schiff ungelesen verwerfen lassen — und sich dann Sorgen gemacht, ob der Befehl wirklich befolgt wurde. Schließlich war die ADR ein Skrodfahrer-Modell.
Doch nun hatte der Sturm in ihm nachgelassen. Pham saß stundenlang da und starrte auf die Bildschirme. Bald würde Sjandra Kei die Allianz-Flotte eingeholt haben. Zumindest eine Gruppe von Schurken würde bezahlen. Doch die Pestflotte und zumindest ein Teil der Allianz würde überleben… Vielleicht bedeutete diese Trance einfach, dass die Gottsplitter allmählich verzweifelten.
Drei Tage vergingen; Pham kam mit einem Ruck aus der Trance. Abgesehen von seinem schmaler gewordenen Gesicht wirkte er normaler als seit Wochen. Er bat Ravna, die Skrodfahrer auf die Brücke zu holen.
Pham zeigte auf die Spuren der Ultraantriebe, die auf dem Bildschirm schwebten. Die drei Flotten waren annähernd über einen Zylinder verteilt, fünf Lichtjahre tief und drei im Durchmesser. Der Schirm erfasste nur das Herzstück dieses Raumgebiets, wo sich die schnellsten der Verfolger zusammengeballt hatten. Die gegenwärtige Position jedes Schiffes war ein Lichtfleck, dem sich ein endloser Strom schwächerer Lichtpunkte anschloss — die Ultraspuren, die der Antrieb des Raumschiffs hinterlassen hatte. »Ich habe Rot, Blau und Grün benutzt, um nach bestem Wissen und Vermuten die Flottenzugehörigkeit jeder Spur darzustellen.« Die schnellsten Schiffe waren derart dicht auf einem Fleck versammelt, dass er bei dieser Auflösung weiß aussah, doch mit einem Fächer von bunten Schleppen hinter sich. Es gab noch andere Markierungen, die er angebracht hatte, die er aber, wie er Ravna eingestand, nicht mehr begriff.
»Der Vorderrand dieser Meute — die Allerschnellsten — holt immer noch auf.«
Blaustiel sagte zögernd: »Wir würden ein bisschen mehr Geschwindigkeit erzielen, wenn Sie mir direkte Steuerung erlaubten. Nicht viel, aber…«
Wenigstens war Phams Antwort höflich. »Nein. Ich denke an etwas anderes, etwas, das Ravna vor einiger Zeit vorgeschlagen hat. Es ist immer eine Möglichkeit gewesen, und… ich… glaube, es ist jetzt vielleicht Zeit dafür.«
Ravna rückte näher an den Bildschirm heran und starrte auf die grünen Spuren. Ihre Verteilung entsprach annähernd dem, was die Nachrichten als die Überbleibsel der Sicherheitsgesellschaft von Sjandra Kei bezeichneten. Das ist alles, was von meinem Volk übrig ist. »Sie versuchen jetzt schon seit hundert Stunden, Kampfhandlungen mit der Allianz aufzunehmen.«
Phams Blick streifte ihren. »Tja«, sagte er leise. »Die armen Kerle. Sie sind buchstäblich die Flotte vom Verzweiflungshafen. Ich an ihrer Stelle würde…« Sein Ausdruck wurde wieder sanfter. »Hat jemand eine Vorstellung, wie gut bewaffnet sie sind?« Das war zweifellos eine rhetorische Frage, doch sie brachte das Thema zur Sprache.
»Die Kriegsbeobachter sagen, dass Sjandra Kei schon die ganze Zeit mit etwas Unangenehmem gerechnet hat, seit die Allianz von ›Tod dem Ungeziefer‹ zu reden begann. Die Sicherheitsgesellschaft stellte die Verteidigung in der Tiefe des Raums. Ihre Flotte besteht aus umgerüsteten Frachtern mit bei Sjandra Kei entwickelter Bewaffnung. Die Kriegsbeobachter behaupten, dass sie niemals dem gewachsen war, was die andere Seite ins Feld führen konnte, vorausgesetzt, dass die Allianz einige schwere Verluste hinzunehmen bereit war. Der Haken ist, dass Sjandra Kei nicht mit einem planetenvernichtenden Angriff gerechnet hat. Als die Allianz also aufkreuzte, flogen unsere ihr entgegen…«
»… und inzwischen kamen die Kinetischen Energie-Bomben mitten ins Herz von Sjandra Kei.«
In mein Herz. »Ja. Die Allianz muss diese Bomben Wochen vorher auf den Weg gebracht haben.«
Pham Nuwen lachte kurz auf. »Wenn ich mit der Allianz-Flotte unterwegs wäre, dann wäre ich jetzt ein bisschen nervös. Sie sind jetzt zahlenmäßig schwächer, und diese umgebauten Frachter scheinen so schnell wie nur irgendetwas zu sein… Ich wette, jeder Pilot von Sjandra Kei ist unerbittlich auf Rache aus.« Das Gefühl verebbte wieder. »Hmm. Sie können unmöglich alle Schiffe der Allianz oder der PEST vernichten, geschweige denn von beiden. Es wäre zwecklos, zu…«
Unvermittelt fixierte sein Blick Ravna. »Wenn wir den Dingen also ihren Lauf lassen, wird die Sjandra-Kei-Flotte früher oder später ihre Position der Allianz angleichen und versuchen, sie zur Hölle zu schicken.«
Ravna nickte nur. »In etwa zwölf Stunden, heißt es.«
»Und dann wird nur noch die eigene Flotte der PEST übrig sein, die uns auf den Fersen ist. Wenn wir aber deine Leute dazu bringen könnten, gegen die richtigen Feinde zu kämpfen…«
So hatte Ravna es sich in ihren Alpträumen vorgestellt. Alles, was von Sjandra Kei übrig war, würde umkommen, um die ADR zu retten…, um zu versuchen, ihre Besatzung zu retten. Es bestand wenig Hoffnung, dass die Sjandra-Kei-Flotte alle Schiffe der PEST vernichten könnte. Doch sie sind hier, um zu kämpfen. Warum keine Vergeltung, die einen Sinn hat! Das war die Botschaft des Alptraums. Nun passte sie irgendwie zu den Plänen der Gottsplitter. »Da gibt es Probleme. Sie wissen nicht, was wir im Begriff sind zu tun, und kennen auch nicht den Zweck der dritten Flotte. Was immer wir ihnen mitteilen, wird mitgehört werden.« Die Ultrawelle wirkte gerichtet, doch die meisten von ihren Verfolgern befanden sich eng beieinander.
Pham nickte. »Irgendwie müssen wir mit ihnen reden, und nur mit ihnen. Irgendwie müssen wir sie überzeugen zu kämpfen.« Ein schwaches Lächeln. »Und ich glaube, wir haben just die… Ausrüstung…, um all das zu tun. Blaustiel: Erinnerst du dich an die Nacht auf den Hohen Docks, als du uns von der ›verdorbenen Fracht‹ von Sjandra Kei erzählt hast?«
»Gewiss, Herr Pham. Wir transportierten ein Drittel eines Codierers, den die SjK-Sicherheitsgesellschaft für die Humanoiden mit den Rasierklingen-Kiefern erzeugt hatte. Es liegt immer noch in den Safes des Schiffes, wenngleich es ohne die beiden anderen Drittel wertlos ist.« Jedes einzelne Gramm von Crypto-Materialien war so ziemlich das Wertvollste, was zwischen den Sternen transportiert wurde — und so ziemlich das Wertloseste, wenn sie erst einmal kompromittiert waren. Irgendwo in den Frachtdateien der ADR befand sich eine von SjK hergestellte Einweg-Verschlüsselungsmatrix. Ein Teil davon.
»Wertlos? Vielleicht nicht. Selbst ein Drittel würde uns sichere Kommunikation gewährleisten.«
Blaustiel zauderte. »Ich darf Sie nicht irreführen. Kein Kunde mit Sachkenntnis würde so etwas annehmen. Gewiss gewährleistet es sichere Kommunikation, doch die andere Seite hat keine Bestätigung, dass Sie sind, was Sie zu sein behaupten.«
Phams Blick glitt zur Seite zu Ravna. Da war wieder dieses Lächeln. »Wenn sie uns zuhören, glaube ich, dass wir sie überzeugen können… Das Schwierige ist, ich möchte, dass nur einer von ihnen uns hört.« Pham erklärte, woran er dachte. Die Skrodfahrer raschelten schwach zu seinen Worten. Nach all der Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, konnte Ravna fast Sinn in ihrer Sprache erkennen — oder vielleicht verstand sie einfach nur ihre Persönlichkeiten. Wie üblich, machte sich Blaustiel Sorgen, wie unmöglich die Idee sei, und Grünmuschel ermahnte ihn, zuzuhören.
Doch als Pham fertig war, brach Blaustiel nicht in Einwände aus. »Über siebzig Lichtjahre hinweg ist Ultrawellen-Kommunikation zwischen Schiffen machbar; wir könnten sogar Live-Bildübertragung haben. Aber Sie haben Recht, der Strahl würde alle Schiffe in der zentralen Flottenansammlung erfassen. Wenn wir ein abgelegenes Schiff zuverlässig als zu Sjandra Kei gehörig identifizieren könnten, dann lässt sich vielleicht machen, was Sie verlangen; dieses Schiff könnte die internen Flottencodes verwenden, um unsere Nachricht an die anderen weiterzugeben. Doch ehrlich gesagt, ich muss Sie warnen«, fuhr Blaustiel fort und strich mit einem Wedel Grünmuschels sanften Einwand beiseite, »professionelle Kommunikationsleute würden Ihren Ruf nicht entgegennehmen — sie würden ihn wahrscheinlich nicht einmal als solchen zur Kenntnis nehmen.«
»Wie dumm.« Endlich sprach Grünmuschel, ihre Voderstimme klang sanft, aber deutlich. »Immer sagst du so etwas — außer wenn wir mit zahlenden Kunden reden.«
»Brap. Ja. Verzweifelte Zeiten, verzweifelte Maßnahmen. Ich will es versuchen, doch ich fürchte… Ich möchte, dass es da keine Anklagen wegen Verrats durch die Skrodfahrer gibt, Herr Pham. Ich möchte, dass Sie das in die Hand nehmen.«
Pham Nuwen lächelte zurück. »Ganz mein Gedanke.«
»Die Aniara-Flotte.« So nannten sich manche Besatzungen der Sicherheitsgesellschaft. Aniara hieß das Schiff in einem alten Mythos der Menschheit, der älter als die Nyjora war, vielleicht bis zu den Tuvo-Norwegischen Genossenschaften der Asteroiden im Sonnensystem der Erde zurückreichte. In der Geschichte war Aniara ein großes Schiff, das unmittelbar vor dem Tod seiner Herkunftszivilisation in interstellare Räume gestartet war. Die Besatzung beobachtete die Todesqualen des Heimatsystems, und in den folgenden Jahren — während ihr Schiff immer weiter hinaus ins endlose Dunkel fiel — starb sie dann selbst, während die Lebenserhaltungssysteme allmählich versagten. Das Bild war gespenstisch, und vermutlich aus diesem Grunde war es über Jahrtausende hinweg bekannt geblieben. Mit der Vernichtung von Sjandra Kei und dem Entkommen der Sicherheitsgesellschaft schien die Geschichte auf einmal wahr geworden zu sein.
Aber wir werden sie nicht bis zu Ende durchspielen. Gruppenkapitän Kjet Svensndot schaute auf den Spurenbildschirm. Diesmal war der Tod der Zivilisation ein Mord gewesen, und die Mörder befanden sich fast in Reichweite der Vergeltung. Tagelang hatte das Flottenhauptquartier sie an die Allianz heranmanövriert. Der Bildschirm zeigte, dass der Erfolg sehr, sehr nahe war. Der größte Teil der Schiffe von Allianz und Sjandra Kei waren zu einer leuchtenden Kugel von Antriebsspuren zusammengeballt — die auch die dritte, schweigende Flotte einschloss. Nach diesem Bildschirm hätte man die Schlacht schon für möglich halten können. Tatsächlich passierten die gegnerischen Schiffe fast denselben Raum — manchmal weniger als eine Milliarde Kilometer voneinander entfernt —, doch noch durch Millisekunden in der Zeit voneinander getrennt. Alle Schiffe flogen mit Ultraantrieb und sprangen vielleicht ein dutzendmal pro Sekunde. Und selbst hier am Grund des Jenseits ergab das einen merklichen Bruchteil eines Lichtjahrs bei jedem Sprung. Gegen einen Feind zu kämpfen, der nicht mitspielte, hieß, die Sprünge perfekt aufeinander abzustimmen und den gemeinsamen Raum mit Waffensonden zu überfluten.
Gruppenkapitän Svensndot stellte den Bildschirm um, sodass er die Schiffe zeigte, die ihre Sprungfolgen exakt der Allianz angepasst hatten. Fast ein Drittel der Flotte lag jetzt synchron. Noch ein paar Stunden, und… »Zur Hölle!« Er schlug gegen seine Bildschirmtafel, dass sie übers Deck wirbelte.
Sein erster Offizier fing die Tafel ein und warf sie zurück. »Ist es eine neue Hölle, oder die übliche?«, fragte Tirroll.
»Es war die übliche. Tut mir Leid.« Und es tat ihm wirklich Leid. Tirroll und Glimfrell hatten ihre eigenen Probleme. Zweifellos existierten noch Siedlungen der Menschheit im Jenseits, vor der Allianz verborgen. Doch von den Dirokimen gab es vielleicht nicht mehr als jene in der Flotte der Sicherheitsgesellschaft. Außer Abenteurernaturen wie Tirroll und Glimfrell hatten sich alle, die es von ihrer Art noch gab, in den Traumterraneen bei Sjandra Kei befunden.
Kjet Svensndot war seit fünfundzwanzig Jahren bei der Sicherheitsgesellschaft, seit der Zeit, da sie nur eine kleine Flotte von Privatpolizisten gewesen war. Er hatte Tausende von Stunden daran gesetzt, sich zum besten Kampfpiloten in der Organisation auszubilden. Nur zweimal war er tatsächlich in einem Gefecht gewesen. Manchen hätte das vielleicht Leid getan. Svensndot und seine Vorgesetzten betrachteten es als die Belohnung für den Besten. Seine Fähigkeiten hatten ihm die beste Kampfausrüstung in der Flotte der Sicherheitsgesellschaft eingebracht, bis hin zu dem Schiff, das er jetzt befehligte. Die Ølvira war von einem Teil der enormen Prämiensumme gekauft worden, die Sjandra Kei ausgezahlt hatte, als die Allianz zum ersten Mal Drohungen ausgestoßen hatte. Ølvira war kein umgebauter Frachter, sondern durch und durch eine Kampfmaschine. Das Schiff war mit den intelligentesten Prozessoren und dem raffiniertesten Ultraantrieb ausgerüstet, die auf Sjandra Keis Höhe im Jenseits funktionieren konnten. Es brauchte nur drei Personen Besatzung — und das Gefecht konnte vom Piloten allein mit seinen Computerassistenten geführt werden. Die Lagerräume enthielten über zehntausend Zielsuchbomben, jede einzelne klüger als die gesamte Antriebseinheit eines durchschnittlichen Frachters. Das war schon eine rechte Belohnung für fünfundzwanzig Jahre gediegene Leistung. Man erlaubte Svensndot sogar, seinem neuen Schiff einen Namen zu geben.
Und jetzt… Nun, die echte Ølvira war gewiss tot. Zusammen mit Milliarden von anderen, die zu beschützen sie angestellt worden waren, hatte sie sich auf Herte befunden, im inneren System. Glühbomben hinterlassen keine Überlebenden.
Und sein schönes Schiff mit demselben Namen — es hatte sich ein halbes Lichtjahr außerhalb des Systems befunden, auf der Suche nach Feinden, die nicht da waren. In jeder ehrlichen Schlacht hätten Kjet Svensndot und diese Ølvira sehr tüchtig sein können. Statt dessen jagten sie hinab auf den Grund des Jenseits zu. Jedes Lichtjahr entfernte sie weiter von den Regionen, für die die Ølvira gebaut war. Mit jedem Lichtjahr arbeiteten die Prozessoren ein bisschen langsamer (oder überhaupt nicht). Hier unten waren die umgebauten Frachter fast die optimale Konstruktion. Schwerfällig und stumpfsinnig, mit in die Dutzende gehender Besatzung — aber sie funktionierten weiter. Schon lag die Ølvira fünf Lichtjahre hinter ihnen zurück. Es waren die Frachter, die den Angriff auf die Allianzflotte führen würden. Und abermals würde Kjet ohnmächtig abseits stehen, während seine Freunde umkamen.
Zum hundertsten Mal starrte Svensndot auf die Spurenanzeige und spielte mit dem Gedanken an Meuterei. Auch bei der Allianz gab es Nachzügler — ›Hochleistungsschiffe‹ , die hinter der Hauptmeute zurückblieben. Doch er hatte den Befehl, seine Position beizubehalten, um den schnelleren Gefechtseinheiten der Flotte als taktischer Koordinator zu dienen. Gut, er würde tun, wofür er angestellt war — zum letzten Mal. Doch wenn die Schlacht geschlagen, die Flotte tot wäre, zusammen mit so vielen von der Allianz, wie sie mitzunehmen vermochten — dann würde er an seine eigene Rache denken. Zum Teil hing das von Tirroll und Glimfrell ab. Konnte er sie überreden, die Reste der Allianzflotte zu verlassen und ins Mittlere Jenseits hinaufzufliegen, dorthin, wo die Ølvira nicht ihresgleichen hatte? Es gab verlässliche Beweise, welche Sternensysteme hinter der ›Allianz zur Verteidigung‹ standen. Die Mörder rühmten sich in den Nachrichten ihrer Taten. Anscheinend glaubten sie, das würde ihnen weitere Unterstützung einbringen. Es konnte ihnen auch Besucher wie die Ølvira bringen. Die Bomben in ihrem Bauch vermochten Welten zu zerstören, wenn auch nicht so rasch und sicher wie jene, die bei Sjandra Kei verwendet worden waren. Und selbst jetzt schreckte Svensndots Denken vor dieser Art Rache zurück. Nein. Sie würden ihre Ziele sorgfältig auswählen: Schiffe, die sich sammelten, um neue Allianzflotten zu bilden, unzureichend geschützte Geleitzüge. Die Ølvira konnte lange Zeit überdauern, wenn er immer aus dem Hinterhalt zuschlug und niemals Überlebende zurückließ. Er starrte und starrte auf den Bildschirm und ignorierte die Feuchtigkeit, die sich in seinen Augenwinkeln sammelte. Sein ganzes Leben lang hatte er nach dem Gesetz gelebt. Oft war es seine Aufgabe gewesen, Racheakte zu unterbinden… Und nun war Rache das Einzige, was ihm im Leben noch blieb.
»Ich empfange gerade etwas Eigentümliches, Kjet.« Glimfrell hatte die Signalwache. Das war so etwas, was eigentlich völlig automatisch ablaufen müsste — und in der natürlichen Umgebung der Ølvira auch abgelaufen war —, was nun aber eine langweilige und ermüdende Arbeit bedeutete.
»Was? Weitere Netzlügen?«, sagte Tirroll.
»Nein. Es kommt aus der Richtung von diesem Grundschlepper, auf den alle Jagd machen. Es kann niemand anders sein.«
Svensndot hob die Augenbrauen. Er wandte sich dem Rätsel mit gewaltigem, ihm kaum bewusstem Vergnügen zu. »Kennzeichen?«
»Unser Signalprozessor sagt, es ist wahrscheinlich ein eng gebündelter Strahl. Wir sind sein einziges denkbares Ziel. Das Signal ist stark, und die Bandbreite reicht mindestens aus, um zweidimensionale Bildübertragung zu erlauben. Wenn unser snarfliger Digitalsignal-Prozessor richtig funktionieren würde, dann wüsste ich…« ’Frell sang ein kleines Lied, das unter seinesgleichen einem ungeduldigen Summen entsprach. »… Ayjae! Es ist verschlüsselt, aber auf einer hohen Ebene. Das Zeug ist eine Syntax-45-Bildübertragung. Eigentlich behauptet es, ein Drittel eines Codierers zu benutzen, den die Gesellschaft vor einem Jahr hergestellt hat.« Einen Augenblick lang glaubte Svensndot, ’Frell halte die Botschaft selbst für intelligent; das müsste hier am Grund völlig unmöglich sein. Der zweite Offizier müsste seinen Blick aufgefangen haben: »Bloß vernuschelte Sprache, Chef. Ich lese das aus dem Rahmenformat…« Etwas blitzte auf seinem Bildschirm auf. »In Ordnung, das ist die Geschichte von dem Codierer: Die Gesellschaft hat ihn und die anderen beiden Drittel zur Gewährleistung der Frachtsicherheit hergestellt.« In der Zeit vor der Allianz war das die höchste Crypto-Ebene in der Organisation gewesen. »Dies ist das Drittel, das nie geliefert wurde. Das Ganze ist für kompromittiert erklärt worden, doch Wunder über Wunder, wir haben immer noch eine Kopie.« Sowohl ’Frell als auch ’Roll schauten Svensndot erwartungsvoll an, mit großen und dunklen Augen. Nach der geltenden Verfahrensweise — nach den geltenden Befehlen — waren Übertragungen mit kompromittierten Schlüsseln zu ignorieren. Wenn die Signalleute der Gesellschaft ordentliche Arbeit geleistet hätten, wäre der verdorbene Codierer gar nicht an Bord gewesen, und die übliche Verfahrensweise hätte sich von selbst durchgesetzt.
»Entschlüssel das Zeug«, sagte Svensndot knapp. Die letzten Wochen hatten gezeigt, dass diese Gesellschaft kläglich versagte, wenn es um militärische Nachrichtendienste und Signale ging. Da konnten sie aus diesen Fehlleistungen auch einen Vorteil ziehen.
»Jawohl!« Glimfrell tippte auf eine einzelne Taste. Irgendwo im Signalprozessor der Ølvira wurde ein langes Segment ›zufälligen‹ Rauschens in Rahmen aufgeteilt und exakt dem ›zufälligen‹ Rauschen der empfangenen Datenrahmen überlagert. Es gab eine merkliche Pause (verdammter Grund!), und dann erschien im Kommunikationsfenster ein flaches Videobild.
»… vierte Wiederholung dieser Botschaft.« Die Worte waren Samnorsk, in einem reinen Dialekt von Herte i Sjandra. Die Sprecherin war… Einen Moment lang, der sein Herz stocken machte, sah er wieder Ølvira, lebendig. Er atmete langsam aus, versuchte sich zu entspannen. Schwarzhaarig, schlank, violettäugig — ganz wie Ølvira. Und ganz wie noch eine Million Frauen von Sjandra Kei. Es bestand eine Ähnlichkeit, doch so schwach, dass er sie früher niemals wahrgenommen hätte. Für einen Augenblick konnte er sich ein Universum außerhalb ihrer verlorenen Flotte und Ziele außerhalb von Vergeltung vorstellen. Dann zwang er seine Aufmerksamkeit wieder zur Sache, damit er so viel wie möglich in den Bildern des Fensters sah.
Die Frau sagte: »Wir werden sie noch dreimal wiederholen. Wenn Sie bis dahin noch nicht antworten, werden wir es mit einem anderen Ziel versuchen.« Sie wich von der Aufnahmekamera zurück und erlaubte einen Blick in den Raum hinter ihr. Er war tief, mit niedriger Decke. Ein Bildschirm mit Ultraantriebs-Spuren beherrschte den Hintergrund, doch Svensndot beachtete ihn kaum. Im Hintergrund sah er zwei Skrodfahrer. Einer trug auf seinem Skrod Streifen, die auf eine Handelstradition mit Sjandra Kei hindeuteten. Der andere musste ein Minderer Skrodfahrer sein, sein Skrod war klein und ohne Räder. Die Kamera schwenkte, konzentrierte sich auf eine vierte Gestalt. Einen Menschen? Wahrscheinlich, aber nicht von nyjoranischer Abstammung. Zu anderen Zeiten wäre diese Erscheinung eine große Neuigkeit in allen Menschenzivilisationen im Jenseits gewesen. Nun registrierte Svensndot diesen Punkt nur als weiteres Verdachtsmoment.
Die Frau fuhr fort: »Sie sehen, dass wir Menschen und Skrodfahrer sind. Wir sind die gesamte Besatzung der Aus der Reihe II. Wir sind weder Teil der Allianz für die Verteidigung noch Agenten der PEST… Doch wir sind in der Tat der Grund dafür, dass sich ihre Flotten hier unten befinden. Wenn Sie das verstehen, dann sind Sie sicherlich von Sjandra Kei. Wir müssen mit Ihnen reden. Bitte benutzen Sie für die Antwort die Schlusssequenz der Matrix, die diese Botschaft entschlüsselt.« Das Bild flackerte, und wieder erschien das Gesicht der Frau im Vordergrund. »Dies ist die fünfte Wiederholung dieser Botschaft«, sagte sie. »Wir werden sie noch zweimal wiederholen…«
Glimfrell schaltete den Ton ab. »Wenn sie es ernst meint, bleiben uns ungefähr hundert Sekunden. Was nun, Kapitän?«
Auf einmal war die Ølvira kein unbedeutender Nachzügler mehr. »Wir antworten«, entschied Svensndot.
Die Antwort und die Empfangsbestätigung darauf waren eine Sache von Sekunden. Danach… genügten fünf Minuten Unterredung mit Ravna Bergsndot, um Kjet davon zu überzeugen, dass die Flottenzentrale hören musste, was sie zu sagen hatte. Sein Schiff würde nur eine Relaisstation sein, aber wenigstens hatte es etwas sehr Wichtiges weiterzuleiten.
Die Flottenzentrale weigerte sich, die volle Bildübertragung zu empfangen, die von der Aus der Reihe kam. Jemand im Flaggschiff hielt starr an den Standardprozeduren fest — und kompromittierte Codeschlüssel zu verwenden, brachten sie nicht über sich. Selbst Kjet musste sich mit einer Gefechtsverbindung zufrieden geben: Der Bildschirm zeigte ein Farbbild mit hoher Auflösung. Wenn man genau hinsah, merkte man, dass es eine armselige Animation war… Kjet erkannte Eignerin Limmende und Jan Skrits, ihren Stabschef, doch sie sahen etliche Jahre aus der Mode aus: alte Videoaufnahmen, die von übertragenen Animationsroutinen gesteuert wurden. Der tatsächliche Übertragungskanal umfasste weniger als viertausend Bit pro Sekunde; die Zentrale ging kein Risiko ein.
Gott allein wusste, was sie als Phantombild von Pham Nuwen sahen. Der rauchäugige Mensch hatte seinen Standpunkt schon mehrmals dargelegt. Er hatte so wenig Erfolg, wie Ravna Bergsndot vor ihm. Seine kühle Manier hatte er allmählich eingebüßt.
Auf seinem Gesicht begann sich Verzweiflung abzuzeichnen. »… und ich sage Ihnen, sie sind beide unsere Feinde. Gewiss, die Allianz für die Verteidigung hat Sjandra Kei vernichtet, doch die PEST ist für die Situation verantwortlich, die das ermöglicht hat.«
Die halb einer Karikatur ähnelnde Gestalt von Jan Skrits warf einen Blick auf Eignerin Limmende. Mein Gott, was sind die Animationen am Grund doch schludrig, dachte Svensndot. Als Skrits sprach, passte seine Stimme nicht einmal zu den Lippenbewegungen: »Wir lesen durchaus die Nachrichten in ›Bedrohungen‹ , Herr Nuwen. Die Pestgefahr ist als Vorwand benutzt worden, um unsere Welten zu vernichten. Wir werden nicht aufs Geratewohl Mordzüge unternehmen, schon gar nicht gegen eine Organisation, die offensichtlich der Feind unseres Feindes ist… Oder wollen Sie behaupten, die PEST sei insgeheim mit der Allianz zur Verteidigung verbündet?«
Pham zuckte wütend die Achseln. »Nein. Ich habe keine Ahnung, wie die PEST zur Allianz steht. Aber Sie müssten wissen, welche Untaten die PEST verübt hat, Dinge, die diese ›Allianz‹ bei weitem übertreffen.«
»Ach ja. Davon ist im Netz die Rede, Herr Nuwen. Doch diese Ereignisse liegen Tausende von Lichtjahren weit entfernt. Sie sind durch vielfache Übertragungssprünge und unbekannte Übersetzungen gegangen, ehe sie überhaupt im Mittleren Jenseits eintrafen — selbst, wenn die Geschichten zu Beginn wahr gewesen sein sollten. Es heißt nicht umsonst das Netz der Million Lügen.«
Das Gesicht des Fremden verdüsterte sich. Er sagte laut und zornig etwas in einer Sprache, die fast in nichts an die Nyjora erinnerte. Die Töne sprangen auf und ab, fast wie das Zwitschern der Dirokime. Er zwang sich mit sichtlicher Anstrengung zur Beherrschung, doch als er fortfuhr, hatte sein Samnorsk einen noch stärkeren Akzent als zuvor. »Ja. Aber eins sage ich Ihnen. Ich habe den Untergang von Relais miterlebt. Die PEST übertrifft die schlimmsten Gräuel, die Sie jemals gehört haben. Die Ermordung von Sjandra Kei war ihr kleinster Nebeneffekt. Werden Sie uns gegen die Pestflotte helfen?«
Eignerin Limmende schob ihre massige Gestalt in ihr Sesselgespinst zurück. Sie schaute ihren Stabschef an, und die beiden unterhielten sich unhörbar. Kjets Blick wanderte an ihnen vorbei; das Steuerdeck des Flaggschiffs erstreckte sich ein Dutzend Meter hinter Limmende. Subalterne Offiziere bewegten sich lautlos hin und her, manche verfolgten das Gespräch. Das Bild war scharf und deutlich, doch wenn sich die Gestalten bewegten, taten sie es unbeholfen wie Karikaturen. Und manche Gesichter gehörten Leuten, die, wie Kjet wusste, vor dem Untergang von Sjandra Kei auf andere Schiffe versetzt worden waren. Die Prozessoren hier auf der Ølvira nahmen das in der Bandbreite eingeschränkte Signal von der Flottenzentrale entgegen, ergänzten es um einen detaillierten (und veralteten) Hintergrund und erzeugten das dargestellte Bild. Nie wieder Animationen nach dieser hier, gelobte sich Svensndot, zumindest solange wir hier unten sind.
Eignerin Limmende schaute wieder in die Kamera. »Entschuldigen Sie den Verfolgungswahn einer alten Polizistin, aber ich halte es für möglich, dass Sie zur PEST gehören.« Limmende hob die Hand, als wollte sie Einwürfen zuvorkommen, doch der Rotschopf sperrte nur überrascht den Mund auf. »Wenn wir Ihnen glauben, müssen wir akzeptieren, dass es etwas Nützliches und Gefährliches in dem Sternensystem gibt, zu dem wir alle unterwegs sind. Weiterhin müssen wir akzeptieren, dass sowohl Sie als auch die Pestflotte besonders geeignet sind, dieses Ding zu nutzen. Wenn wir gegen sie kämpfen, wie Sie es verlangen, dann werden danach wahrscheinlich nur noch wenige von uns am Leben sein. Sie allein werden den Preis erhalten. Wir haben Angst, als was Sie sich dann erweisen könnten.«
Einen langen Augenblick schwieg Pham Nuwen. Die Wildheit wich allmählich aus seinem Gesicht. »Sie haben da ein gewichtiges Argument, Eignerin Limmende. Und ein Dilemma. Gibt es irgendeinen Ausweg?«
»Skrits und ich haben es erörtert. Egal was wir tun, sowohl wir als auch Sie müssen schreckliche Risiken eingehen… Nur, die anderen Möglichkeiten sind noch schrecklicher. Wir sind bereit, Ihren Rat in der Schlacht anzunehmen, falls Sie zuerst Ihr Schiff zu uns zurücklenken und uns an Bord kommen lassen.«
»Wenn wir den Vorsprung bei dieser Verfolgung aufgeben, meinen Sie?«
Limmende nickte.
Pham öffnete und schloss den Mund, doch es kamen keine Worte heraus. Er schien um Luft zu ringen. Ravna sagte: »Wenn Sie dann nicht siegen, ist alles verloren. Jetzt haben wir wenigstens sechzig Stunden Vorsprung. Das reicht vielleicht, um eine Mitteilung über dieses Artefakt nach draußen zu senden, selbst wenn die Pestflotte überlebt.«
Skrits Gesicht verzog sich, ein karikaturhaftes Lächeln. »Sie können nicht beides haben. Sie wollen, dass wir alles auf Ihre Behauptungen hin aufs Spiel setzen. Wir sind bereit, dafür zu sterben, nicht aber, Bauern in einem Spiel von Ungeheuern zu sein.« Die letzten Worte hatten einen seltsamen Ton, abgesehen von der zornigen Art, wie sie gesagt wurden. Und nun gab es keine Bewegung mehr im Bild von der Flottenzentrale außer schlecht synchronisierten Lippenbewegungen. Glimfrell zog Svensndots Blick auf sich und deutete auf die Störleuchten auf seinem Kommunikationspult.
Skrits’ Stimme fuhr fort: »Und Gruppenkapitän Svensndot: Sie haben strikten Befehl, die gesamte weitere Kommunikation mit diesem unbekannten Schiff über einen Kanal…« Das Bild erstarrte, und es kamen keine Worte mehr.
Ravna: »Was ist passiert?«
Glimfrell machte einen Laut zwischen Zwitschern und Schnauben: »Wir verlieren die Verbindung mit der Flottenzentrale. Unsere effektive Bandbreite ist auf zwanzig Bit pro Sekunde gesunken und nimmt weiter ab. Skrits’ letzte Übertragung enthielt kaum hundert Bit«, ergänzt von der Software der Ølvira, um den Anschein von Leserlichkeit zu erwecken.
Kjet deutete ärgerlich auf den Bildschirm. »Schalt das verdammte Ding aus.« Wenigstens müsste er sich die Animationen nicht länger ansehen. Und er wollte nicht hören, was er als Jan Skrits’ letzten Befehl vermutete.
Tirroll sagte: »Hei, warum lassen wir ihn nicht an? Wir würden vielleicht keinen großen Unterschied merken.« Glimfrell kicherte über den Witz seines Bruders, doch seine Innenfinger huschten über das Kommunikationspult, und der Bildschirm zeigte den Sternenhimmel. Die beiden Dirokime konnten Bürokraten nicht ausstehen.
Svensndot beachtete sie nicht und schaute auf das verbliebene Kom-Fenster. Der Kanal zu Pham und Ravna war eine Breitband-Bildübertragung fast ohne Interpretation; es würde keine perversen Feinheiten geben, wenn er zusammenbrach. »Tut mir Leid. In den letzten paar Tagen haben wir eine Menge Scherereien mit der Verbindung gehabt. Anscheinend ist dieser Zonensturm der schlimmste seit Jahrhunderten.« In der Tat wurde es noch schlimmer: Die Hälfte der Ultraspur-Bildschirme zeigte nur zufälligen Müll.
»Sie haben den Kontakt zu Ihrem Kommando verloren?«, fragte Ravna.
»Für den Moment…« Er schaute Pham an. Die Augen des Rotschopfs waren noch ein bisschen glasig. »Sehen Sie… Mir tut es sogar noch mehr Leid, wie sich die Dinge entwickelt haben, aber Limmende und Skrits sind kluge Leute. Man kann ihren Standpunkt verstehen.«
»Seltsam«, unterbrach ihn Pham. »Die Bilder waren seltsam.« Er klang geistesabwesend.
»Sie meinen, was wir aus der Flottenzentrale weitergeleitet haben?« Svensndot erklärte die Sache mit der geringen Bandbreite und der miesen Leistung seiner Schiffsprozessoren hier unten am Grund.
»Also muss ihr Bild von uns ebenso schlecht gewesen sein… Ich frage mich, wofür sie mich gehalten haben.«
»Ähm…« Gute Frage. Wenn man Pham Nuwen betrachtete: Struppiges rotes Haar, rauchgraue Haut, eine Singsang-Stimme. Wenn derlei Schlüsselmerkmale gesendet wurden, würde der Bildschirm in der Flottenzentrale etwas ziemlich anderes zeigen als den Menschen, den Kjet sah. »… Moment mal. So funktioniert die Animation nicht. Ich bin sicher, dass sie ein ziemlich deutliches Bild von Ihnen bekommen haben. Sehen Sie, zu Beginn der Übertragung werden ein paar Bilder mit hoher Auflösung gesendet. Die werden dann als Grundlage für die Animation benutzt.«
Pham starrte ihn ausdruckslos an, fast, als nehme er ihm das nicht ab und erwarte, dass Kjet selbst es überdenke. Ja verdammt, die Erklärung stimmte, zweifellos hatten Limmende und Skrits den Rotschopf als Menschen gesehen. Und doch war da etwas, das Kjet beunruhigte… Limmende und Skrits hatten beide wie auf alten Aufnahmen ausgesehen.
»Glimfrell! Überprüfe den Datenfluss, den wir von der Zentrale empfangen haben. Haben sie irgendwelche Startbilder gesendet?«
Glimfrell brauchte nur Sekunden. Er stieß einen lauten Pfiff der Überraschung aus. »Nein, Chef. Und da alles ordentlich verschlüsselt war, hat unser Ende seinen Teil einfach mit alten Reklamebildern erledigt.« Er sagte etwas zu Tirroll, und die beiden zwitscherten schnell. »Hier unten scheint nichts zu funktionieren. Vielleicht ist es bloß wieder das Programm.« Doch Glimfrell schien an seine Vermutung nicht recht zu glauben.
Svensndot wandte sich wieder dem Bild von der Aus der Reihe zu. »Sehen Sie. Der Kanal zur Flottenzentrale war voll verschlüsselt, unter Verwendung von einmaligen Mustern, denen ich mehr traue als dem, womit wir uns jetzt unterhalten. Ich kann nicht glauben, dass es eine Imitation war.« Dennoch stieg in Kjet beklemmende Übelkeit hoch. Es war wie in den ersten Minuten der Schlacht um Sjandra Kei, als ihm aufging, wie gründlich sie ausmanövriert worden waren, als er begriff, dass jeder, den er zu beschützen versuchte, ermordet werden würde. »Hei, wir werden Verbindung zu anderen Schiffen aufnehmen. Wir werden die Position der Zentrale überprüfen…«
Pham Nuwen hob eine Augenbraue. »Vielleicht war es keine Imitation.« Ehe er mehr sagen konnte, begann einer der Skrodfahrer — der mit dem Höheren Skrod — laut zu sprechen. Er rollte über das, was die Raumdecke zu sein schien, und schob die Menschen beiseite, um dicht an die Kamera zu kommen. »Ich habe eine Frage!« Die Sprache des Voders klang gestört, fast unverständlich. Die Ranken des Wesens rasselten trocken gegeneinander, so erschüttert, wie Kjet Svensndot es nur jemals gehört hatte. »Meine Frage: Gibt es Skrodfahrer an Bord Ihres Flaggschiffs?«
»Warum wollen Sie…«
»Beantworten Sie die Frage!«
»Wie soll ich das wissen?« Kjet versuchte zu überlegen. »Tirroll. Du hast Freunde in Skrits’ Stab. Sind Skrodfahrer an Bord?«
Tirroll stotterte ein paarmal: »A’a’a’a. Ja. Ersatzleute — eigentlich Gerettete —, direkt nach der Schlacht angeheuert.«
»Das ist alles, was wir tun können, Freund.«
Der Skrodfahrer zitterte. Schwieg. Dann schienen seine Ranken zu welken. »Danke«, sagte er leise. Er rollte zurück und aus dem Blickfeld der Kamera.
Pham Nuwen verschwand aus dem Bild. Ravna blickte wild um sich. »Wartet bitte!«, sagte sie zur Kamera, und Kjet schaute auf das verlassene Steuerdeck der Aus der Reihe. An der Grenze der Hörbarkeit drangen gedämpfte Gesprächsfetzen herüber, Voder- und Menschenstimmen. Dann war sie wieder da.
»Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte Svensndot Ravna.
»N-nichts, was jemand von uns noch ändern könnte… Kapitän Svensndot, ich habe den Eindruck, dass Ihre Flotte nicht mehr von den Leuten befehligt wird, von denen Sie es glauben.«
»Vielleicht.« Wahrscheinlich. »Darüber muss ich nachdenken.«
Sie nickte. Einen Moment lang schauten sie einander wortlos an. So seltsam, so weit von Daheim und nach all dem Unglück jemanden derart Vertrautes zu sehen. »Ihr wart wirklich bei Relais?« Die Frage kam ihm selbst dumm vor. Und doch war die Frau in gewisser Weise eine Brücke zwischen dem, was er kannte und glaubte, und der tödlichen Fremdheit der gegenwärtigen Lage.
Ravna Bergsndot nickte. »Ja…, und es war ganz so, wie Sie es gelesen haben. Wir hatten sogar direkten Kontakt zu einer MACHT… Und doch hat es nicht genügt, Gruppenkapitän. Die PEST hat alles vernichtet. Was das betrifft, sind die Nachrichten wahr.«
Tirroll schob sich von seinem Steuerpult zurück. »Wie kann dann irgendetwas, das Sie hier unten tun, der PEST schaden?« Die Worte klangen plump, doch ’Rolls Augen waren groß und ernst. Eigentlich hoffte er nur, in all dem Tod einen Sinn zu sehen. Die Dirokime waren nicht der größte Teil der Zivilisation von Sjandra Kei gewesen, doch bei weitem deren älteste zugehörige Rasse. Vor einer Million Jahren waren sie aus der Langsamen Zone hervorgebrochen und hatten die drei Systeme kolonisiert, die die Menschen eines Tages Sjandra Kei nennen sollten. Lange bevor die Menschen eintrafen, waren sie schon eine Rasse von nach innen gewandten Träumern gewesen. Sie beschützten ihre Sternensysteme mit uralter Automatik und freundlich gesonnenen jüngeren Rassen. Noch eine halbe Million Jahre, und ihre Rasse hätte aus dem Jenseits verschwunden sein können, ausgestorben oder zu etwas anderem weiterentwickelt. Es war ein weit verbreitetes Schema, ähnlich dem Tod und hohem Alter, nur sanfter.
Es besteht ein allgemeines Fehlurteil über solche überalterten Rassen: Dass auch ihre Mitglieder überaltert seien. In jeder großen Population gibt es eine Variationsbreite. Es gibt immer welche, die die Außenwelt sehen und dort eine Zeit lang spielen wollen. Die Menschheit war mit solchen wie Glimfrell und Tirroll sehr gut ausgekommen.
Und Bergsndot schien zu verstehen. »Habt ihr jemals von Gottsplittern gehört?«
»Nein«, sagte Kjet und bemerkte dann, dass beide Dirokime aufgehorcht hatten. Etliche Sekunden lang pfiffen sie miteinander. »Ja«, sagte ’Roll schließlich auf Samnorsk, so viel Ehrfurcht in der Stimme, wie Kjet nur je darin gehört hatte. »Sie wissen, dass wir Dirokime schon seit langem im Jenseits sind. Wir haben viele Kolonien ins Transzens entsandt, manche davon sind MÄCHTE geworden… Und einmal… kam Etwas zurück. Es war natürlich keine MACHT. Eigentlich glich es eher einem geistig verkrüppelten Dirokim. Doch es wusste Dinge und tat Dinge, die große Veränderungen für uns bewirkten.«
»Fentrollar?«, fragte Kjet erstaunt, der plötzlich die Geschichte wiedererkannt hatte. Sie hatte sich einhunderttausend Jahre vor der Ankunft der Menschen bei Sjandra Kei zugetragen, dennoch war sie ein zentraler Streitpunkt in den Terraneen der Dirokime.
»Ja«, bestätigte Tirroll. »Noch heute können sich unsere Leute nicht einigen, ob Fentrollar ein Segen oder ein Fluch war, doch er begründete die Traumhabitate und die Alte Religion.«
Ravna nickte. »Das ist der bei uns von Sjandra Kei am besten bekannte Fall. Vielleicht ist es kein glückliches Beispiel, wenn man alle seine Auswirkungen bedenkt…« Und sie erzählte ihnen vom Untergang vom Relais, was dem ALTEN widerfahren und was aus Pham Nuwen geworden war. Das Geplapper aufseiten der Dirokime verebbte, und sie waren sehr still.
Schließlich sagte Kjet: »Was also weiß Nu…« — er stolperte über den Namen, der so seltsam wie alles an diesem Burschen war — »Nuwen über das Ding, das er am Grunde sucht? Was kann er damit tun?«
»Ich… ich weiß nicht, Gruppenkapitän. Pham Nuwen weiß es selbst nicht. Die Erleuchtung kommt in kleinen Stücken. Ich glaube das, weil ich manchmal dabeigewesen bin…, aber ich weiß nicht, wie ich Sie dazu bringen soll, es zu glauben.« Sie holte krampfhaft Luft. Auf einmal ahnte Kjet, was für ein Ort der Qual die Aus der Reihe sein musste. Irgendwie verlieh das der Geschichte mehr Glaubwürdigkeit. Was immer wirklich die PEST vernichten konnte, musste auf ungesunde Weise fremdartig sein. Kjet fragte sich, wie er wohl zurecht käme, wenn er mit so einem Ding eingeschlossen wäre.
»Meine Dame Ravna«, sagte er, und die Worte kamen steif und förmlich. Immerhin schlage ich Verrat vor. »Ich… äh… habe ein paar Freunde in der Flotte der Sicherheitsgesellschaft. Ich kann dem Verdacht, den Sie geäußert haben, nachgehen und…« Sag es! »Möglicherweise kann ich Sie entgegen meinem Hauptquartier unterstützen.«
»Danke, mein Herr. Danke.«
Glimfrell brach das Schweigen. »Wir empfangen jetzt ein schlechtes Signal auf dem Kanal der Aus der Reihe.«
Kjets Blick huschte über die Bildschirmfenster. Alle Ultraspuren-Anzeigen schienen zufälliges Rauschen zu sein. Was immer dieser Sturm zu bedeuten hatte, er war schlimm.
»Sieht so aus, als würden wir nicht mehr lange reden, Ravna Bergsndot.«
»Ja. Wir verlieren das Signal… Gruppenkapitän, wenn alles nicht klappt, wenn Sie nicht für uns kämpfen können… Ihre Leute sind alles, was von Sjandra Kei übrig ist… Es war gut, Sie und die Dirokime zu sehen — nach so langer Zeit vertraute Gesichter zu sehen, Leute, die ich wirklich verstehe. Ich…« Während sie sprach, zerfiel ihr Bild stückweise in niederfrequente Bestandteile.
»Huui!«, sagte Glimfrell. »Die Bandbreite ist eben ins Bodenlose gestürzt.« An ihrer Verbindung zur Ausder Reihe war nichts besonders Raffiniertes. Angesichts der Kommunkationsschwierigkeiten hatten die Schiffsprozessoren einfach auf Minimalcode umgeschaltet.
»Hallo, Aus der Reihe. Wir haben jetzt Probleme mit diesem Kanal. Schlage vor, wir unterbrechen.«
Das Fenster wurde grau, und gedrucktes Samnorsk flackerte darüber:
Ja. Das ist mehr als ein Kommunikati
Glimfrell schlug gegen sein Kommunikationspult. »Aus. Null«, sagte er. »Kein Signal mehr auszumachen.«
Tirroll schaute von seiner Steuerkonsole auf. »Das ist viel mehr als ein Kommunikationsproblem. Unsere Computer sind seit mehr als zwanzig Sekunden nicht imstande gewesen, einen Ultrasprung durchzuführen.« Sie hatten fünf Sprünge in der Sekunde ausgeführt und reichlich ein Lichtjahr pro Stunde zurückgelegt. Jetzt…
Glimfrell lehnte sich von seinem Pult zurück. »Hei — willkommen also in der Langsamen Zone.«
Die Langsame Zone. Ravna Bergsndot schaute über das Deck der Aus der Reihe II. Irgendwie hatte sie sich im Hintergrund ihrer Gedanken das Langsam als eine beengende Dunkelheit vorgestellt, bestenfalls von Fackeln erhellt, das Reich von Schwachköpfen und mechanischen Rechenmaschinen. In Wahrheit sah es nicht viel anders als vorher aus. Decke und Wände leuchteten ganz wie zuvor. Die Sterne schienen noch durch die Bildschirmfenster (nur dass es jetzt sehr lange dauern konnte, ehe sich einer von ihnen bewegte).
Es waren die anderen Bildschirme der ADR, die die Veränderungen am augenscheinlichsten darstellten. Die Ultraspuren-Einheit blinkte monoton, und eine rote Aufschrift zeigte die seit der letzten Aktualisierung der Werte vergangene Zeit an. Die Navigationsfenster waren voll von den Ausgaben der Diagnoseroutinen, die die Antriebsprozessoren testeten. Eine hörbare Meldung in Triskweline wiederholte immer wieder: »Achtung. Übergang ins Langsam registriert. Sofort Rücksprung ausführen! Achtung. Übergang ins Langsam registriert. Sofort…«
»Schalt das ab!« Ravna ergriff den Sattel und schnallte sich an. Sie fühlte sich richtig benommen, obwohl das eine (sehr natürliche) Panik sein konnte. »Das ist vielleicht ein Grundschlepper! Wir fliegen geradewegs in die Langsame Zone hinein, und er kann weiter nichts, als nachher Warnungen auszuteilen!«
Grünmuschel schwebte näher heran, indem sie sich wie auf Zehenspitzen mit ihren Ranken von der Decke abstieß. »Selbst Grundschlepper können so etwas nicht vermeiden, meine Dame Ravna.«
Pham sagte etwas zum Schiff, und die meisten Bildschirme erloschen.
Blaustiel: »Sogar ein großer Zonensturm erstreckt sich normalerweise nicht weiter als ein paar Lichtjahre. Wir waren zweihundert Lichtjahre über der Zonengrenze. Was uns getroffen hat, muss eine ungeheure Flutwelle sein, die Sorte, von der man nur in Archiven liest.«
Ein schwacher Trost. »Wir wussten, dass so etwas geschehen konnte«, sagte Pham. »In den letzten Wochen war ziemlich viel los.« Zur Abwechslung schien er sich nicht allzu sehr zu ärgern.
»Ja«, sagte sie. »Wir haben damit gerechnet, vielleicht langsamer zu werden, aber doch nicht das Langsam.« Wir sitzen in der Falle. »Wo liegt das nächste bewohnbare System? Zehn Lichtjahre entfernt? Fünfzig?« Die Vorstellung von der Dunkelheit war nun wahr geworden, und der Sternenhimmel jenseits der Schiffswände war nicht mehr freundlich und beruhigend. Sie waren von endlosem Nichts umgeben und bewegten sich mit einem verschwindenden Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit… eingesargt; all der Mut von Kjet Svensndot und seiner Mannschaft vergebens; Jefri Olsndot für immer ohne Rettung.
Phams Hand berührte ihre Schulter, die erste Berührung seit… Tagen? »Wir können es immer noch zur Klauenwelt schaffen. Das ist ein Grundschlepper, weißt du noch? Wir sind nicht gefangen.
Zum Teufel, der Staustrahlantrieb in dieser Karre ist besser als alles, was ich je in der Dschöng Ho hatte. Und damals hielt ich mich für den freiesten Menschen im Weltall.«
Jahrzehnte unterwegs, die meiste Zeit im Kälteschlaf. So war die Welt der Dschöng Ho gewesen, die Welt von Phams Erinnerungen. Ravna atmete stoßweise aus und lachte schwach. Für Pham hatte der schreckliche Druck abgenommen, zumindest vorübergehend. Er konnte Mensch sein.
»Was ist da so komisch?«, fragte Pham.
Sie schüttelte den Kopf. »Wir alle. Egal.« Sie atmete ein paarmal langsam durch. »In Ordnung. Ich glaube, ich bin zu einer vernünftigen Unterhaltung imstande. Die Zone ist also hochgeschwappt. Etwas, das normalerweise tausend Jahre braucht — sogar bei einem Sturm —, um sich ein einziges Lichtjahr weit zu verlagern, hat sich plötzlich um zweihundert verschoben. Ha! Noch in einer Million Jahren werden Leute davon in den Archiven lesen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich so viel Ehre haben möchte… Wir wussten, dass es einen Sturm gab, aber ich hätte nie erwartet, unterzugehen«, im Meer versunken, Lichtjahre tief.
»Der Vergleich mit einem Sturm auf See trifft nicht ganz zu«, sagte Blaustiel. Der Skrodfahrer war noch an der anderen Seite des Decks, wohin er sich zurückgezogen hatte, nachdem er dem Kapitän von Sjandra Kei seine Frage gestellt hatte. Er sah noch immer bestürzt aus, obwohl er wieder exakt und pingelig klang. Blaustiel studierte den Navigationsbildschirm, offensichtlich eine’ Aufzeichnung unmittelbar vor der Flutwelle. Er kopierte das Bild auf eine Anzeigetafel und rollte langsam über die Decke auf sie zu. Grünmuschels Wedel streiften ihn sanft, als er vorbeikam.
Er ließ die Anzeigetafel in Ravnas Hände schweben und fuhr in seinem belehrenden Ton fort. »Sogar bei einem Sturm auf dem Meer ist die Wasseroberfläche niemals so verwirbelt wie bei einer großen Störung der Grenzschicht. Die letzten Nachrichten zeigten sie als eine fraktale Oberfläche von einer Dimensionszahl nahe drei… Wie Schaum und Gischt.« Sogar er konnte die Analogie zu einem Sturm nicht vermeiden. Die Sternbilder hingen ruhig und klar hinter Kristallwänden, und das lauteste Geräusch kam von den Schiffsventilatoren. Dennoch waren sie von einem Mahlstrom verschlungen worden. Blaustiel deutete mit einem Wedel auf die Anzeigetafel. »In ein paar Stunden sind wir vielleicht wieder im Jenseits.«
»Was?«
»Sehen Sie: Die Ebene der Darstellung wird von den Positionen des vermutlichen Flaggschiffs von Sjandra Kei, des abseits fliegenden Schiffs und unserer eigenen bestimmt.« Die drei bildeten ein spitzwinkliges Dreieck, in dem die Ecken von Limmende und Svensndot eng beieinander lagen. »Ich habe die Zeiten festgehalten, wann der Kontakt zu den anderen verlorenging. Beachten Sie: Die Verbindung mit der Sicherheitsgesellschaft brach 150 Sekunden ab, ehe wir getroffen wurden. Aus dem eintreffenden Signal und seiner Anforderung von Protokolländerungen schließe ich, dass sowohl wir als auch das abseits fliegende Schiff etwa zur gleichen Zeit erfasst wurden.«
Pham nickte. »Hm. Die am weitesten entfernten Seiten verloren den Kontakt zuletzt. Das muss bedeuten, dass die Flutwelle von der Seite gekommen ist.«
»Genau!« Von seinem Halt an der Decke langte Blaustiel herunter, um auf die Tafel zu tippen. »Die drei Schiffe waren wie Sonden bei der üblichen Zonographietechnik. Wenn wir die Spuranzeigen zurückspielen, werden wir diese Schlussfolgerung sicherlich bestätigt finden.«
Ravna schaute auf die Tafel. Der spitze Winkel des Dreiecks mit der ADR am Ende zeigte fast genau ins Herz der Galaxis. »Es muss eine riesige Woge steil wie ein Klippe gewesen sein, senkrecht zur übrigen Oberfläche.«
»Eine ungeheure Welle, die seitwärts läuft!«, sagte Grünmuschel. »Und das ist auch der Grund, weshalb es nicht lange dauern wird.«
»Ja. Es sind die radialen Veränderungen, die meistens langfristig wirken. Dieses Ding muss eine Rückfront haben. Wir müssten sie in ein paar Stunden passieren — und wieder im Jenseits sein.«
Also war immer noch ein Wettlauf zu gewinnen… Oder zu verlieren.
Die ersten Stunden waren seltsam. Auf ›ein paar Stunden‹ hatte Blaustiel die Zeit geschätzt, bis sie wieder im Jenseits wären. Sie lungerten auf der Brücke herum, blickten abwechselnd zur Uhr und verdauten das sonderbare Gespräch, das soeben zu Ende gegangen war. Pham baute in sich wieder die Spannung auf, die jeden Moment losbrechen konnte. Jeden Moment konnten sie jetzt wieder im Jenseits sein. Was dann? Wenn nur ein paar Schiffe pervertiert waren, konnte Svensndot vielleicht noch einen Angriff koordinieren. Würde das etwas nützen? Pham spielte die Ultraspur-Aufzeichnungen immer wieder ab und studierte jedes auffindbare Schiff in allen Flotten. »Aber wenn wir herauskommen, wenn wir herauskommen…, werde ich wissen, was ich zu tun habe. Nicht warum ich es tun muss, sondern was.« Und mehr konnte er nicht erklären.
Jeden Moment… Es hatte kaum Sinn, sich viel mit der Einrichtung von Aggregaten abzugeben, die ohnehin wieder neu initialisiert werden mussten.
Nach acht Stunden aber: »Es könnte wirklich länger dauern, sogar einen Tag.« Sie hatten einige von den historischen Aufzeichnungen durchstöbert. »Vielleicht sollten wir uns ein bisschen um den Haushalt kümmern.« Die Aus der Reihe II war sowohl für das Jenseits als auch für das Langsam konstruiert, doch die zweite Ausrüstung wurde als Reserve für unwahrscheinliche Notfälle betrachtet. Es gab Spezialprozessoren für die Langsame Zone, doch sie waren nicht automatisch eingeschaltet worden. Mit Blaustiels Ratschlägen schaltete Pham die Hochleistungsautomatik ab; das war nicht allzu schwer, abgesehen von ein paar stimmgesteuerten selbständigen Einheiten, die nicht mehr klug genug waren, um die Ausschaltbefehle zu verstehen.
Die neue Automatik zu benutzen, jagte Ravna einen Schauder über den Rücken, der auf verborgene Weise fast ebenso beängstigend wie der erste Ausfall des Ultraantriebs war. Ihre Vorstellung vom Langsam als Dunkelheit und Fackelschein war nur eine Alptraum-Phantasie. Andererseits, das Langsam als das Reich von Schwachköpfen und mechanischen Rechenmaschinen — da war etwas dran. Die Leistungsfähigkeit der ADR hatte während ihrer Reise zum Grund stetig nachgelassen, doch jetzt… Es war Schluss mit den stimmgesteuerten Grafikgeneratoren; sie waren halt ein bisschen zu komplex, um von der neuen ADR unterstützt zu werden, zumindest im vollen Dialogmodus. Es war Schluss mit den intelligenten Kontext-Analysatoren, die die Schiffsbibliothek fast so leicht zugänglich wie das eigene Gedächtnis machten. Schließlich schaltete Ravna sogar die Malerei- und Musikeinheiten ab, ohne Empfänglichkeit für Stimmung und Zusammenhang wirkten sie so hölzern — eine ständige Mahnung, dass keine Intelligenz hinter ihnen stand. Sogar die einfachsten Dinge hatten gelitten. Zum Beispiel die Stimm- und Gesten-Steuerung: Sie reagierte nicht mehr sinnvoll auf Sarkasmus und Umgangssprache. Es bedurfte einer gewissen Disziplin, um sie wirksam zu benutzen. (Pham schien das geradezu zu gefallen. Es erinnerte ihn an die Dschöng Ho.)
Zwanzig Stunden. Fünfzig. Noch erklärte jeder allen anderen, es gebe keinen Grund zur Beunruhigung. Doch nun sagte Blaustiel, dass es unrealistisch gewesen sei, von ›Stunden‹ zu sprechen. Wenn man die Höhe des ›Tsunami‹ (mindestens zweihundert Lichtjahre) in Betracht zog, würde er in Laufrichtung wohl mehrere hundert Lichtjahre messen — falls man sich an die Proportionsgesetze historischer Präzedenzfälle hielt. Diese Betrachtungen hatten nur einen Fehler: Die Wirklichkeit übertraf jeden Präzedenzfall bei weitem. Größtenteils folgten die Zonengrenzen der mittleren Dichte der Galaxis. Von einem Jahr zum anderen gab es scheinbar keine Veränderungen, nur das äonenlange Schrumpfen, das vielleicht eines Tages — nach dem Tod aller Sterne bis auf die kleinsten — den Galaxiskern dem Jenseits aussetzen würde. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt konnte man vielleicht vom milliardsten Teil dieser Grenze sagen, dass er sich ›im Zustand eines Sturms‹ befand. Bei einem gewöhnlichen Sturm verlagerte sich die Oberfläche etwa ein Lichtjahr pro Jahrzehnt nach innen oder außen. Solche Stürme ereigneten sich oft genug, um alljährlich das Schicksal vieler Welten zu beeinflussen.
Viel seltener — vielleicht einmal in hunderttausend Jahren in der gesamten Galaxis — gab es einen Sturm, bei dem die Grenze ernstlich gestört wurde und wo sich Flutwellen mit dem Vielfachen der Lichtgeschwindigkeit bewegen konnten. Das waren die Querwellen, nach denen Pham und Blaustiel die Proportionen geschätzt hatten. Die schnellsten liefen etwa ein Lichtjahr pro Sekunde über eine Entfernung von weniger als drei Lichtjahren; die größten waren dreißig Lichtjahre hoch und legten kaum ein Lichtjahr pro Tag zurück.
Was war also über Monster wie das bekannt, das sie verschlungen hatte? Nicht viel. Geschichten aus dritter Hand in der Schiffsbibliothek berichteten von Flutwellen, vielleicht so hoch wie ihre, doch die angeführten Abmessungen und Laufgeschwindigkeiten waren nicht klar. Auf Geschichten, die älter als hundert Millionen Jahre sind, kann man sich schwerlich verlassen; es gibt kaum Sprachen, die sie vermitteln konnten. (Und selbst wenn es welche gegeben hätte, hätte es nichts genützt. Die neue, stupide Ausgabe der ADR brachte absolut keine Übersetzung natürlicher Sprachen zustande. Es hatte keinen Sinn, die Bibliothek zu durchforsten.)
Als Ravna sich darüber bei Pham beklagte, sagte er: »Es könnte schlimmer sein. Was ist die Ur-Teilung wirklich gewesen?«
Fünf Milliarden Jahre her. »Niemand weiß es gewiss.«
Pham stieß mit einem Daumen nach dem Bibliotheks-Bildschirm. »Du weißt, manche halten sie für eine ›Super-Superflutwelle‹ . Etwas derart Großes, dass es die Rassen verschlang, die es hätten aufzeichnen können. Manchmal werden die größten Katastrophen überhaupt nicht wahrgenommen — es ist niemand da, der diese Gruselgeschichten schreiben könnte.«
Großartig.
»Tut mir Leid, Ravna. Ehrlich, wenn wir in etwas drinstecken, was mit den meisten Katastrophen der Vergangenheit zu vergleichen ist, dann kommen wir in ein, zwei Tagen heraus. Das Beste ist, sich darauf einzurichten. Es ist wie eine Kampfpause in einer Schlacht. Nutze sie, damit du ein bisschen Frieden hast. Finde heraus, wie wir die nicht pervertierten Teile der Sicherheitsgesellschaft dazu bringen, uns zu helfen.«
»… Tja.« Je nachdem, welche Form die Rückfront der Flutwelle besaß, hatte die ADR womöglich einen Gutteil ihres Vorsprungs eingebüßt… Aber ich wette, die Allianz flotte ist wegen all dessen in heller Panik. Solche Opportunisten würden wohl zusehen, sich in Sicherheit zu bringen, sobald sie wieder im Jenseits waren.
Der Rat gab ihr für die nächsten zwanzig Stunden zu tun, in denen sie mit schwachsinnigen Dingern kämpfte, die vorgaben, die Strategieplaner der neuen Ausgabe der ADR zu sein. Selbst wenn die Flutwelle augenblicklich vorbei wäre, könnte es zu spät sein. Es gab in diesem Spiel Teilnehmer, für die die Flutwelle keine Kampfpause war: Jefri Olsndot und seine Verbündeten unter den Klauenwesen. Seit ihrem letzten Kontakt waren siebzig Stunden vergangen; Ravna hatte drei Funksitzungen mit ihnen verpasst. Wenn sie hier in Panik geriet, wie musste es dann für den armen Jefri aussehen? Selbst wenn sich Stahl seine Feinde vom Halse halten konnte, würde die Zeit — und mit ihr das Vertrauen — auf der Klauenwelt ablaufen.
Hundert Stunden, nachdem sie in die Flutwelle eingetaucht waren, bemerkte Ravna, dass Blaustiel und Pham die Energiesysteme für den Staustrahlantrieb der ADR erprobten… Manche Kampfpausen dauern ewig.
Der Bann der Sommerhitze war für eine Weile gebrochen, es war sogar fast zu kühl. Es gab noch Rauch, und die Luft war noch trocken, doch die Winde schienen weniger Kraft zu haben. In ihrem Kabäuschen im Schiff merkten Amdijefri nicht viel von dem schönen Wetter.
»Sie haben sich auch früher schon mit der Antwort verspätet«, sagte Amdi. »Sie hat erklärt, wie die Ultrawelle…«
»Ravna hat sich nie so sehr verspätet!« Jedenfalls seit dem Winter nicht mehr. Jefris Ton schwankte zwischen Furcht und Starrsinn. In der Mitte der Nacht hätte eine Sendung eintreffen müssen, technische Daten, die sie an Herrn Stahl weiterleiten sollten. Sie war bis zum Morgen nicht eingegangen, und nun hatte Ravna auch ihre Nachmittagssitzung verpasst, die Gelegenheit, wo sie normalerweise einfach ein bisschen plaudern konnten.
Die beiden Kinder überprüften alle Einstellungen des Kom-Geräts. Vorigen Herbst hatten sie diese mühevoll abgeschrieben, dazu die erste Diagnostikstufe. Es sah alles unverändert aus… außer einem Wert, der ›Träger-Erkenn.‹ hieß. Wenn sie nur ein Datio hätten, dann hätten sie nachsehen können, was das bedeutete.
Sie hatten sogar manche von den Kom-Parametern sehr sorgfältig zurückgesetzt… und sie dann hastig wieder auf den alten Wert eingestellt, als nichts geschah. Vielleicht hatten sie den Änderungen nicht genug Zeit gegeben, dass sie funktionieren konnten. Vielleicht hatten sie jetzt wirklich etwas durcheinandergebracht.
Sie blieben den ganzen Nachmittag über in der Steuerkabine und fühlten abwechselnd Furcht und Langeweile und Enttäuschung. Nach vier Stunden siegte zumindest vorerst die Langeweile. Jefri war schließlich in seines Vaters Hängematte eingenickt, zwei von Amdi zusammengerollt in den Armen.
Amdi streifte müßig im Raum herum und betrachtete die Raketensteuerung. Nein… nicht einmal sein Selbstvertrauen war groß genug, damit herumzuspielen. Ein anderes von ihm rüttelte an der Wandpolsterung. Eine Zeit lang konnte er immer beobachten, wie der Pilz wuchs. Es ging alles so langsam.
Das graue Zeug hatte sich eigentlich ein gutes Stück weiter ausgebreitet als bei der letzten Betrachtung. Hinter dem Polster war es ziemlich dick. Er schob eine Nase zwischen Wand und Stoff. Es war dunkel, doch durch die Lücke an der Decke sickerte etwas Licht herein. An den meisten Stellen war der Schimmel gerade mal einen Zoll dick, aber hier hinten waren es fünf oder sechs. Genau über seiner forschenden Nase wuchs ein großer Klumpen aus der Wand. Er war so groß wie manche von den Moosornamenten, mit denen Versammlungssäle in den Burgen verziert wurden. Dünne graue Fäden wuchsen von dem Pilz herab. Fast hätte er Jefri gerufen, aber seine beiden in der Hängematte hatten es so gemütlich.
Er brachte mehrere Köpfe nahe an das fremdartige Zeug. Die Wand dahinter sah auch ein wenig seltsam aus — als ob ein Teil ihrer Substanz von dem Schimmel aufgenommen worden wäre. Und das Graue selbst — wie Rauch. Er befühlte die Fäden mit einer Nase. Sie waren fest, trocken. In seiner Nase kribbelte es. Amdi erstarrte vor jäher Überraschung. Mit den Gliedern, die ihn selbst von hinten beobachteten, sah er, dass zwei von den Fäden eben den Kopf seines Gliedes durchdrungen hatten! Und dennoch verspürte er keinen Schmerz, nur ein leichtes Kribbeln.
»Was… was?« Jefri war gerade aufgeweckt worden, als Amdi sich um ihn drängte.
»Ich habe etwas wirklich Seltsames hinter der Wandpolsterung gefunden. Ich habe diesen großen Pilzbuckel berührt, und…«
Während er sprach, wich Amdi sachte von dem Ding an der Wand zurück. Die Berührung hatte nicht wehgetan, ihn aber eher nervös als neugierig gemacht. Er spürte, wie die Fäden langsam herausglitten.
»Ich hab dir gesagt, wir sollen nicht mit dem Zeug spielen. Es ist schmutzig. Ein Glück, dass es wenigstens nicht riecht.« Jefri war aus der Hängematte gestiegen. Er durchquerte die Kabine und hob die Polsterung an. Amdis vorderstes Glied verlor das Gleichgewicht und sprang von dem Pilz weg. Es gab ein klackendes Geräusch, und er fühlte einen stechenden Schmerz in der Lippe.
»He, ist das Ding groß!« Dann, als er Amdi vor Schmerz pfeifen hörte: »Alles in Ordnung?«
Amdi wich von der Wand zurück. »Ich denke.« Die Spitze einer letzten Faser steckte noch in seiner Lippe. Es tat nicht so weh wie die Nesseln, die er ein paar Tage vorher erwischt hatte. Amdijefri sah sich die Wunde an. Was von dem rauchigen Strang übrig war, wirkte hart und spröde. Jefris Finger zogen es sachte heraus. Dann wandten sie sich beide um und bestaunten das Ding in der Wand.
»Es hat sich wirklich ausgebreitet. Sieht so aus, als ob es auch die Wand angegriffen hätte.«
Amdi betupfte seine blutige Schnauze. »Hm. Ich verstehe, warum deine Leute dir gesagt haben, du sollst dich davon fern halten.«
»Vielleicht sollten wir von Herrn Stahl alles wegschrubben lassen.«
Eine halbe Stunde lang krochen die beiden überall hinter der Polsterung herum. Das graue Zeug hatte sich weit ausgebreitet, doch es gab nur die eine Stelle, wo es so wundersame Blüten trieb. Sie kehrten dorthin zurück, um sie anzustarren, und steckten Teile der Kleidung in die Büschel. Keiner riskierte mehr eine Berührung mit Fingern oder Nasen.
Den Pilz an der Wand zu bestaunen, war bei weitem das Aufregendste, was an diesem Nachmittag geschah; es kam keine Nachricht von der ADR.
Tags darauf war das Wetter wieder heiß.
Zwei weitere Tage vergingen… und noch immer war nichts von Ravna zu hören.
Fürst Stahl schritt die Mauern ab, die den Schiffsberg krönten. Es war nahe an Mitternacht, und die Sonne hing etwa fünfzehn Grad über dem nördlichen Horizont. Schweiß durchtränkte sein Fell, dies war der wärmste Sommer seit zehn Jahren. Der trockene Wind wehte schon seit dreißig Tagen. Er war schon keine willkommene Unterbrechung der Kühle des Nordlandes mehr. Die Ernte verdorrte auf den Feldern. Rauch von den Bränden in den Fjords war als bräunlicher Dunst sowohl nördlich als auch südlich der Burg zu sehen. Anfangs war die rötliche Farbe etwas Neues gewesen, eine Abwechslung gegenüber dem endlosen Blau des Himmels und der Ferne und dem weißlichen Schleier der Seenebel. Nur anfangs. Als das Feuer Ost-Stromtal erfasste, war der ganze Himmel in Rot getaucht gewesen. Asche war den ganzen Tag herabgeregnet, und der einzige Geruch war der nach Verbranntem gewesen. Manche sagten, es sei schlimmer als die stickige Luft der Städte im Süden.
Die Soldaten auf den Mauern machten einen großen Bogen um ihn. Es war mehr als Höflichkeit, mehr als die Angst vor Stahl. Seine Truppen waren noch immer nicht an die Verhüllten gewöhnt, und die Tarnlegende, die Sreck verbreitete, trug nicht dazu bei, sie zu beruhigen: Fürst Stahl wurde von einem Solo begleitet — in den Farben eines Fürsten. Das Geschöpf machte keine Denkgeräusche. Es ging unglaublich nahe neben seinem Meister.
Stahl sagte zu dem Solo: »Erfolg ist eine Frage der Zeitplanung. Ich erinnere mich, dass du mich das gelehrt hast«, es eigentlich in mich hineingeschnitten hast.
Das Glied erwiderte seinen Blick und reckte den Kopf hoch. »Nach meiner Erinnerung habe ich gesagt, dass der Erfolg eine Frage ist, wie man sich an Änderungen in der Zeitplanung anpasst.« Die Worte waren perfekt artikuliert. Es gab Solos, die so gut sprechen konnten, doch selbst die Sprachgewandtesten konnten kein vernünftiges Gespräch führen. Es fiel Sreck nicht schwer, seine Truppen davon zu überzeugen, dass die Wissenschaft Flensers eine Rasse von Superrudeln geschaffen hatte, dass die Verhüllten jedes für sich allein so klug waren wie ein gewöhnliches Rudel. Das war eine gute Tarnung für das eigentliche Wesen der Umhänge. Es flößte zugleich Furcht ein und verdunkelte die Wahrheit.
Das Glied trat ein Stückchen näher — näher an Stahl heran, als jemals jemand gewesen war, außer während Morden und Vergewaltigungen und den Auspeitschungen der Vergangenheit. Unwillkürlich leckte sich Stahl die Lippen und wich vor der Bedrohung zurück. Doch in gewisser Hinsicht war das Verhüllte wie ein Leichnam, ohne eine Spur von Denklauten. Stahl ließ die Kiefer zuschnappen und sagte: »Ja. Das Genie liegt darin, zu siegen, auch wenn die Pläne den Bach hinunter gegangen sind.« Er wandte alle Blicke von dem Flenser-Glied ab und musterte den rotverhangenen Horizont. »Wie kommt Holzschnitzerin nach der neuesten Schätzung voran?«
»Sie lagert noch ungefähr fünf Tage südlich von hier.«
»So eine verdammte Unfähigkeit! Es ist kaum zu glauben, dass sie dein Elter ist. Feilonius hat es ihr so leicht gemacht; ihre Soldaten und Spielzeugkanonen hätten fast vor einem Zehntag hier sein müssen…«
»Um fristgerecht abgeschlachtet zu werden.«
»Ja! Lange bevor unsere Freunde vom Himmel ankommen. Statt dessen geht sie ins Landesinnere und scheut dann zurück.«
Das Flenser-Glied zuckte in seinem dunklen Umhang mit den Schultern. Stahl wusste, dass das Radio so schwer war, wie es aussah. Es tröstete ihn, dass der andere für seine Allwissenheit bezahlen musste. Man stelle sich nur vor, bei so einer Hitze bis über alle Trommelfelle vermummt zu sein. Er konnte sich vorstellen, wie unbequem das war… In geschlossenen Räumen konnte er es riechen.
Sie kamen an einem der Mauergeschütze vorbei. Der Lauf glänzte von beschichtetem Metall. Das Ding hatte die dreifache Reichweite von Holzschnitzerins armseliger Erfindung. Während Holzschnitzerin mit dem Datio und der Intuition eines Menschenkinds gearbeitet hatte, hatte er über den unmittelbaren Rat von Ravna & Co. verfügt. Zuerst fürchtete er ihre Großzügigkeit und glaubte, die Besucher seien so überlegen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchten. Jetzt aber… Je mehr er von Ravna und den anderen hörte, um so deutlicher erkannte er ihre Schwächen. Sie konnten nicht mit sich selbst experimentieren, sich selbst vervollkommnen. Starre, sich — wenn überhaupt — nur langsam ändernde Dummköpfe. Mitunter ließen sie eine simple Schläue erkennen — Ravnas Zurückhaltung bei der Frage, was sie von dem ersten Sternenschiff wollte —, aber ihre Verzweiflung in all ihren Botschaften war unüberhörbar, und ebenso, wie sehr sie an dem Menschenkind hingen.
Bis vor ein paar Tagen war alles so gut gegangen. Als sie außer Hörweite des Kanonierrudels waren, sagte Stahl zu dem Glied Flensers: »Und immer noch keine Nachricht von unseren ›Rettern‹ .«
»Scheint so.« Das war der andere gestörte Zeitplan, der wichtige, den sie nicht unter Kontrolle hatten. »Ravna hat vier Sendungen ausgelassen. Zwei von mir sind jetzt eben unten bei Amdijefri.« Das Solo zuckte mit der Schnauze zu der Kuppel im inneren Mauerring. Die Geste wirkte unbeholfen. Ohne andere Mäuler und andere Augen war die Körpersprache ziemlich eingeschränkt. Wir sind einfach nicht dafür geschaffen, einen Teil hier, den anderen da herumlaufen zu lassen. »Noch ein paar Minuten, und die Weltraumleute werden die fünfte Sendung verpasst haben. Die Kinder sind am Verzweifeln, weißt du.«
In der Stimme des Gliedes klang Mitgefühl. Fast unbewusst wich Fürst Stahl noch ein bisschen weiter nach außen von ihm zurück. Stahl erinnerte sich dieses Tonfalls von seiner eigenen frühen Existenz her. Er erinnerte sich auch an das Schneiden und den Tod, die darauf immer gefolgt waren. »Ich möchte, dass sie froh bleiben, Tyrathect. Wir gehen davon aus, dass die Verbindung wieder in Gang kommen wird; dann werden wir sie brauchen.« Stahl bleckte dem umringten Solo sechs Paar Kiefer entgegen. »Keinen von deinen alten Tricks.«
Das Glied zuckte zurück, eine fast unmerkliche Bewegung, die Stahl größere Befriedigung verschaffte, als die Unterwürfigkeit von zehntausend. »Natürlich nicht. Ich sagte nur, dass du sie besuchen und ihnen in ihrer Angst beistehen solltest.«
»Du tust das.«
»Äh… sie vertrauen mir nicht vollends. Ich habe es dir schon gesagt, Stahl, sie lieben dich.«
»Ah! Und sie haben deine Gemeinheit durchschaut, he?« Die Situation machte Stahl stolz. Er hatte einen Erfolg erzielt, wo Flensers eigene Methoden versagt hätten. Er hatte ohne Drohungen oder Schmerz manipuliert. Es war Stahls verrücktestes Experiment gewesen, und gewiss sein einträglichstes. Aber… »Sieh mal, ich habe keine Zeit, jeden zu beeitern. Es macht Mühe, mit den beiden zu reden.« Und es war sehr ermüdend, sich zu beherrschen, Jefris ›Schmusen‹ und Amdis Streiche zu ertragen. Anfangs hatte Stahl darauf bestanden, dass niemand anders engen Kontakt zu den Kindern haben dürfe. Sie waren zu wichtig, als dass man sie anderen aussetzen durfte, der erste beste Lapsus konnte ihnen die Wahrheit zeigen und sie verderben. Sogar jetzt war Tyrathect das einzige Rudel außer ihm selbst, das regelmäßig mit ihnen in Berührung kam. Doch für Stahl war jede Begegnung schlimmer als die vorige, ein Härtetest für seine Selbstbeherrschung. Es war schwer, in tödlicher Wut klar zu denken, und damit endete für Stahl fast jedes Gespräch mit ihnen. Wie wundervoll würde es sein, wenn die Weltraumleute landeten. Dann konnte er das andere Ende des Werkzeugs benutzen, das Amdijefri war. Dann würde er ihr Vertrauen und ihre Freundschaft nicht mehr nötig haben. Dann würde er einen Hebel besitzen, etwas, das er foltern und töten konnte, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen.
Natürlich, wenn die Fremden niemals landeten, oder wenn… »Wir müssen etwas tun! Ich will kein Treibgut auf der Woge der Zukunft sein.« Stahl schlug auf die Brüstung ein, die auf der Innenseite des Wehrgangs entlanglief, und hieb mit seinen schimmernden Klauen Splitter aus dem Holz. »Wir können bei den Fremden nichts machen, also wollen wir uns mit Holzschnitzerin befassen. Ja!« Er lächelte des Flenserglied an. »Ironisch, nicht wahr? Hundert Jahre lang hast du versucht, sie zu beseitigen. Nun kann ich es schaffen. Was dein großer Triumph gewesen wäre, ist für mich nur eine lästige Abschweifung, die ich unternehme, weil sich größere Projekte zeitweilig verspäten.«
Das Verhüllte wirkte nicht beeindruckt. »Da ist noch eine Kleinigkeit — Geschenke, die aus heiterem Himmel herabfallen.«
»Ja, in meine offenen Kiefer. Und das ist mein Glück, nicht wahr?« Er ging ein paar Schritte weiter und kicherte in sich hinein. »Ja. Es wird Zeit, dass Feilonius seine vertrauensselige Königin an die Schlachtbank führt. Vielleicht wird es sich mit anderen Ereignissen überlagern, aber… Ich weiß, wir werden die Schlacht östlich von hier schlagen.«
»Der Margrum-Steig?«
»Richtig. Holzschnitzerins Truppen müssten ziemlich dicht beisammen sein, wenn sie den Hohlweg heraufkommen. Wir werden unsere Geschütze da hinüber schaffen, sie hinter dem Grat am oberen Ende des Steigs aufstellen. Es wird leicht sein, alle ihre Leute zu vernichten. Und es ist weit genug vom Schiffsberg entfernt; sogar wenn die Weltraumleute zur gleichen Zeit eintreffen, können wir die beiden Projekte getrennt halten.« Das Solo sagte nichts, und nach einer Weile starrte Stahl es an. »Ja, lieber Lehrer, ich weiß, dass ein Risiko darin liegt. Aber wir haben eine Armee vor unserer Schwelle sitzen. Sie sind unpassend spät eingetroffen, doch nicht einmal Feilonius kann sie jetzt kehrtmachen und nach Hause gehen lassen. Und wenn er versucht, die Ereignisse zu bremsen, könnte die Königin… Kannst du dir vorstellen, was sie tun würde?«
»Nein. Sie ist immer für eine Überraschung gut gewesen.«
»Sie könnte sogar Feilonius’ Spiel durchschauen. Er soll die Armee der Königin in spätestens zwei Tagen den Margrum-Steig heraufkommen lassen. Du kannst dir Einzelheiten überlegen, du kennst die Gegend besser als ich. Die letzten Details legen wir fest, wenn beide Seiten in Stellung sind.« Es war wunderbar, im Grunde der Befehlshaber beider Seiten in einer Schlacht zu sein! »Noch etwas. Es ist wichtig, und Feilonius muss sich binnen eines Tages darum kümmern: Ich will Holzschnitzerins Menschen tot sehen.«
»Was kann sie dir schaden?«
»Das ist eine dumme Frage«, vor allem von dir. »Wir wissen nicht, wann Ravna und Pham uns erreichen können. Bis wir sie sicher zwischen unseren Kiefern haben, ist es gefährlich, diese Johanna in der Nähe zu haben. Sag Feilonius, er soll es wie einen Unfall aussehen lassen, aber ich will, dass dieser Zweibeiner tot ist.«
Flenser war überall. Es war eine Form der Göttlichkeit, von der er geträumt hatte, seit er Holzschnitzerins Neukunft gewesen war. Während sich eines von ihm mit Stahl unterhielt, lungerten zwei andere mit Amdijefri beim Sternenschiff herum, und zwei weitere trabten durch den lichten Wald ein kleines Stück nördlich von Holzschnitzerins Lager.
Das Paradies kann auch eine Qual sein, und jeden Tag war die Folter etwas schwerer zu erdulden. Vor allem war dieser Sommer so unerträglich heiß wie nur jemals einer im Norden. Und die Radioumhänge waren nicht bloß heiß und schwer. Sie bedeckten notwendigerweise die Trommelfelle seiner Glieder. Und im Unterschied zu jeder anderen unbequemen Kleidung bedeutete, diese auch nur für einen Augenblick abzulegen, den Verstand zu verlieren. Seine ersten Versuche hatten nur ein, zwei Stunden gedauert. Dann war eine fünftägige Expedition zusammen mit Fernspäher Rangolith gekommen, um Stahl mit sofortigen Informationskanälen und der augenblicklichen Kontrolle über das Land um den Schiffsberg zu versorgen. Es hatte ein paar Tage gedauert, ehe er sich von den wundgescheuerten Stellen und den Schmerzen erholte, die er sich unter den Radioumhängen geholt hatte.
Diese letzte Übung in Allwissenheit dauerte schon zwölf Tage. Es war unmöglich, die Umhänge dauernd zu tragen. Jeden Tag warf der Reihe nach eins von seinen Gliedern das Radio ab, wurde gebadet und bekam das Futter seiner Umhänge gewechselt. Es war Flensers Stunde des täglichen Wahnsinns, in der manchmal die willensschwache Tyrathect wieder hervortrat und vergebens versuchte, ihre Vorherrschaft wiederherzustellen. Es machte nichts. Wenn eins von seinen Gliedern abgetrennt war, war das verbleibende Rudel nur zu viert. Es gibt Viersams von normaler Intelligenz, doch es steckte keins in Flenser/Tyrathect. Das ganze Baden und Kleiderwechseln fand in einem wirren Dämmerzustand statt.
Und obwohl sich Flenser ›überall zugleich‹ befand, war er natürlich keine Spur klüger als zuvor. Nach den ersten schrillen Versuchen entwickelte er eine Vorliebe, radikal unterschiedliche Szenen zu sehen und zu hören — aber es war so schwierig wie eh und je, ein mehrgleisiges Gespräch zu führen. Wenn er mit Stahl plänkelte, hatten seine anderen Glieder Amdijefri oder Rangoliths Spähern sehr wenig zu sagen.
Fürst Stahl war mit ihm fertig. Flenser ging mit seinem früheren Schüler die Wehrgänge entlang, doch wenn Stahl etwas zu ihm gesagt hätte, hätte es ihn von seinem gegenwärtigen Gespräch abgelenkt. Flenser lächelte (und vermied sorgfältig, dass sein eines Glied bei Stahl es zeigte). Stahl glaubte, dass er gerade mit Fernspäher Rangolith sprach. O ja, er würde es tun — in ein paar Minuten. Ein Vorteil dieser Situation war, dass niemand mit Sicherheit alles wissen konnte, was Flenser gerade im Schilde führte. Wenn er vorsichtig war, würde er vielleicht wieder hier herrschen. Es war ein gefährliches Spiel, und die Umhänge selbst waren gefährliche Vorrichtungen. Man brauchte einen Umhang nur für ein paar Stunden aus dem Sonnenlicht zu nehmen, und er verlor an Kraft, und das Glied, das ihn trug, war vom Rudel abgeschnitten. Schlimmer war das Problem des Rauschens — das war das Wort der Pfahlwesen. Der zweite Satz Umhänge hatte seinen Benutzer umgebracht, und die Raumleute waren sich nicht über den Grund im klaren, außer dass es eine Art ›Interferenzproblem‹ sei.
Flenser hatte nichts derart Extremes durchgemacht. Doch manchmal, auf seinen fernsten Streifzügen mit Rangolith oder wenn die Kraft eines Umhangs schwand…, dann war ein unglaubliches Kreischen in seinem Geist, als drängte sich ein Dutzend Rudel um ihn, Klänge, die zwischen dem Wahnsinn von Sex und Blutrausch hin und her schwankten. Tyrathect schienen solche Gelegenheiten zu gefallen, sie kam dann aus der Verwirrung hervor und überschwemmte ihn mit ihrem weichen Hass. Normalerweise lauerte sie an den Rändern seines Bewusstseins und verschob hier ein Wort, da ein Motiv. Nach dem Rauschen war sie viel schlimmer; einmal hatte sie fast einen Tag lang die Kontrolle behalten. Wenn er ein Jahr Zeit ohne Krisen gehabt hätte, hätte Flenser Ty und Ra und Thect studieren und das richtige herausschneiden können. Thect, das Glied mit den weißen Ohrspitzen, war wahrscheinlich dasjenige, das getötet werden musste: Es war nicht besonders klug, aber anscheinend das Bindeglied des Trios. Mit einem präzise geformten Ersatz konnte Flenser vielleicht großartiger werden als vor dem Massaker in der Parlaments-Senke. Doch vorerst saß Flenser fest; ein chirurgischer Eingriff in die eigene Seele war eine schreckliche Herausforderung — sogar für Den Meister.
So. Vorsichtig. Vorsichtig. Halte die Umhänge gut geladen, unternimm keine langen Ausflüge und lass niemanden alle Fäden in deinem Plan sehen. Während Stahl glaubte, er suche Rangolith, sprach Flenser mit Amdi und Jefri.
Das Gesicht des Menschen war nass von Tränen. »V-viermal haben wir R-ravna verpasst. Was ist mit ihr geschehen?« Seine Stimme glitt hoch. Flenser hatte nicht gewusst, dass so viel Flexibilität in der Rülpsvorrichtung steckte, die die Menschen zum Erzeugen von Lauten verwendeten.
Die meisten von Amdi drängten sich rings um den Jungen. Er leckte Jefris Wangen. »Es könnte unsere Ultrawelle sein. Vielleicht ist sie kaputt.« Er sah Flenser flehend an. Auch in den Augen der Welpen standen Tränen. »Tyrathect, fragt bitte Stahl noch einmal. Lasst uns den ganzen Tag im Schiff bleiben. Vielleicht gibt es Botschaften, die durchgekommen, aber nicht aufgezeichnet worden sind.«
Flenser bei Stahl stieg die Nordtreppe hinab, überquerte den Paradeplatz. Eine schmale Scheibe Aufmerksamkeit widmete er den Klagen des anderen über die schlampige Pflege der Übungsstände. Wenigstens war Stahl klug genug, die Strafschaffotts drüben auf der Verborgenen Insel zu lassen.
Flenser bei Rangoliths Soldaten watete durch einen Bergbach. Selbst im Hochsommer, mitten in einem Trockenwind, gab es noch Schneeflecken, und die darunter hervorströmenden Bäche waren eiskalt.
Flenser bei Amdijefri trat vor und ließ zwei von Amdi sich an seine Seiten lehnen. Beide Kinder mochten Körperkontakt, und er war der Einzige, den sie außer dem jeweils anderen hatten. Es war natürlich alles Perversion, doch Flenser hatte sein Leben darauf gegründet, die Schwächen anderer zu manipulieren, und nahm es — abgesehen vom Schmerz — gern hin. Flenser ließ einen tiefen summenden Ton durch seine Schultern laufen, während er den nächsten der Welpen streichelte. »Ich werde unseren Fürst Stahl gleich das nächste Mal fragen, wenn ich ihn sehe.«
»Danke.« Ein Welpe schnüffelte an seinem Umhang, entfernte sich dann gnädig. Unter dieser Hülle war Flenser fast eine einzige wunde Stelle. Vielleicht hatte Amdi das erkannt, oder vielleicht… Mehr und mehr sah Flenser die Zurückhaltung bei den beiden. Mit seiner Bemerkung zu Stahl war ihm die Wahrheit herausgerutscht: Diese beiden trauten ihm wirklich nicht. Das war Tyrathects Fehler. Allein wäre es Flenser nicht schwer gefallen, Amdijefris Liebe zu erringen. Flenser hatte nichts von Stahls mörderischem Temperament und seiner verletzlichen Würde. Flenser konnte zum gelegentlichen Vergnügen plaudern und dabei die ganze Zeit Wahrheit mit Lügen vermischen. Eins seiner größten Talente war Einfühlungsvermögen; kein Sadist kann hoffen, ohne diese diagnostische Fähigkeit zur Vollkommenheit zu gelangen. Doch gerade wenn es gut lief, wenn sie im Begriff zu sein schienen, sich ihm zu öffnen, dann tauchte Ty oder Ra oder Thect auf und verdrehte seinen Ausdruck oder vergiftete die gewählte Formulierung. Vielleicht sollte er sich damit zufriedengeben, die Achtung der Kinder vor Stahl zu untergraben (natürlich ohne jemals etwas direkt gegen ihn zu sagen). Flenser seufzte und tätschelte tröstend Jefris Arm. »Ravna kommt wieder. Da bin ich sicher.« Der Mensch schnüffelte ein bisschen und streckte dann die Hand aus, um den Teil von Flensers Kopf zu streicheln, der nicht vom Umhang bedeckt war. Sie saßen eine Weile in geselligem Schweigen, und seine Aufmerksamkeit wanderte zurück zu…
… dem Wald und Rangoliths Truppen. Die Gruppe ging seit fast zehn Minuten bergauf. Die anderen waren nur leicht bepackt und an derlei Übungen gewöhnt. Die beiden Glieder Flensers blieben zurück. Er zischte dem Führer der Gruppe etwas zu.
Der Führer wich zur Seite, und seine Mannschaft umging ihn zügig. Er blieb stehen, als sein Nächstes fünfzehn Fuß von Flensers beiden entfernt war. Der Soldat reckte die Köpfe hierhin und dahin. »Eure Wünsche… mein Fürst?« Dieser war neu, man hatte ihn kurz über die Umhänge informiert, doch Flenser wusste, dass der Bursche die neuen Regeln nicht begriff. Das Gold und Silber, das in der Dunkelheit der Umhänge schimmerte — diese Farben waren den Fürsten des Reichs vorbehalten. Doch hier befanden sich nur zwei von Flenser, normalerweise konnte solch ein Fragment kaum ein Gespräch führen, erst recht keine vernünftigen Befehle erteilen. Genauso irritierend war, wie Flenser wusste, das Fehlen von Denkgeräuschen bei ihm. ›Untoter‹ war das Wort, das manche Soldaten gebrauchten, wenn sie sich allein wähnten.
Flenser zeigte den Berg hinauf, die Waldgrenze war nur ein paar Ellen entfernt. »Fernspäher Rangolith ist auf der anderen Seite. Wir werden eine Abkürzung nehmen«, sagte er schwach.
Ein Teil des anderen blickte bereits den Berg hinauf. »Das ist nicht gut, Herr.« Der Soldat sprach langsam. Verdammtes blödes Duo, sagte seine Haltung. »Die Bösen werden uns sehen.«
Flenser blitzte den anderen an, eine schwierige Sache, wenn man nur zu zweit ist. »Soldat, siehst du das Gold auf meinen Schultern? Sogar eins von mir ist so viel wert wie alle von dir. Wenn ich sage, dass wir eine Abkürzung nehmen, dann tun wir es — sogar wenn das heißt, bis an den Bauch durch Schwefel zu gehen.« Tatsächlich wusste Flenser genau, wo Feilonius Späher postiert hatte. Es war kein Risiko, das Freie hier zu überqueren. Und er war so müde.
Der Gruppenführer wusste immer noch nicht recht, was Flenser darstellte, doch er sah, dass die in den dunklen Umhängen mindestens so gefährlich wie irgendein Fürst im kompletten Rudel waren. Er wich demütig zurück, die Bäuche am Boden schleifend. Die Gruppe wandte sich bergauf und ging ein paar Minuten später über offene Heide.
Rangoliths Befehlsstand lag weniger als eine halbe Meile auf diesem Weg…
Flenser bei Stahl ging in den inneren Mauerring. Der Stein war frisch behauen, die Wände im selben fieberhaften Tempo hochgezogen wie alles an dieser Burg. Dreißig Fuß über ihren Köpfen, wo das Gewölbe auf den Strebpfeilern ruhte, waren kleine Löcher ins Mauerwerk eingelassen. Diese Löcher würden bald mit Schießpulver gefüllt werden — wie auch die Schlitze in den Wänden, die den Landeplatz umgaben. Stahl nannte sie die Kiefer des Willkommens. Nun wandte er Flenser einen Kopf zu. »Was sagt Rangolith also?«
»Tut mir Leid. Er ist auf Patrouille. Er müsste jede Minute hier sein — ich meine, im Lager.« Flenser tat sein Bestes, um seine eigenen Ausflüge mit den Kundschaftern geheim zu halten. Solche Spähunternehmen waren nicht verboten, doch Stahl hätte Erklärungen verlangt, wenn er es gewusst hätte.
Flenser bei Rangoliths Truppen stapfte durch das nasse Heidekraut. Die Luft über der Schneeschmelze war wohltuend frisch, und der Luftzug schob kühle Zungen ein Stück unter seine elenden Umhänge.
Rangolith hatte den Platz für seinen Befehlsstand gut gewählt. Seine Zelte standen in einer flachen Senke am Rande eines großen Sommerteichs. Hundert Ellen entfernt bedeckte ein großer Fleck Schnee den Berg über ihnen, speiste den Teich und hielt die Luft angenehm kühl. Die Zelte waren von unten her nicht zu sehen, aber der Ort lag so hoch in den Bergen, dass man vom Rande der Senke freien Blick in drei Himmelsrichtungen hatte, vor allem nach Süden. Nachschub konnte ohne nennenswertes Risiko einer Entdeckung aus dem Norden herangeschafft werden, und sogar wenn die verdammten Brände den Wald weiter unter erfassen sollten, würde dieser Posten verschont bleiben.
Fernspäher Rangolith lag bei seinen Signalspiegeln und ölte die Zielvorrichtungen. Einer seiner Untergebenen lag da, die Schnauzen über die Kante der Anhöhe gestreckt, und beobachtete die Landschaft mit seinen Teleskopen. Beim Anblick des Flensers nahm Rangolith Haltung an, doch sein Blick war nicht voller Angst. Wie die meisten Fernkundschafter, hatte ihn die Burgpolitik nicht völlig in Angst und Schrecken versetzt. Außerdem hatte Flenser mit dem Burschen eine Beziehung des ›wir gegen die Schnösel‹ kultiviert. Jetzt knurrte Rangolith den Gruppenführer an: »Wenn du wieder so durchs Freie spaziert kommst, kriegen deine Hintern was ab.«
»Meine Schuld, Fernspäher«, warf Flenser ein. »Ich habe wichtige Neuigkeiten.« Sie gingen von den anderen weg, zu Rangoliths Zelt hinunter.
»Ihr habt was Interessantes gesehen, nicht wahr?« Rangolith lächelte merkwürdig. Er hatte längst herausgefunden, dass Flenser kein geniales Duo, sondern Teil eines Rudels mit Gliedern daheim in der Burg war.
»Wann findet dein nächstes Treffen mit Tonkelkopfler statt?« Das war der Tarnname von Feilonius.
»Kurz nach Mittag. Er kommt seit vier Tagen jedesmal. Die Südländer scheinen sich nicht vom Fleck zu rühren.«
»Das wird sich ändern.« Flenser wiederholte Stahls Befehle für Feilonius. Die Worte kamen schwer heraus. Die Verräterin in ihm war aufsässig, er fühlte den Beginn eines Großangriffs.
»He! Ihr wollt alles hinüber nach dem Margrum-Steig verlegen, in weniger als zwei… Egal, davon sollte ich besser nichts wissen.«
Unter seinen Umhängen sträubte sich Flenser das Fell. Kumpelei hat ihre Grenzen. Rangolith hatte seine Vorzüge, aber wenn das alles vorüber war, konnte man vielleicht dafür sorgen, dass er etwas weniger… spontan wäre.
»Ist das alles, mein Fürst?«
»Ja… Nein.« Flenser erschauderte, sonderbar verwundert. Das Problem bei diesen Umhängen: Manchmal erschwerten sie es, sich an etwas zu erinnern. Beim Großen Rudel, nein! Es war wieder diese Tyrathect. Stahl hatte die Tötung von Holzschnitzerins Menschen befohlen — recht betrachtet, ein völlig vernünftiger Zug, aber…
Flenser bei Stahl schüttelte wütend den Kopf, seine Kiefer schnappten zu. »Ist etwas?«, fragte Fürst Stahl. Es schien ihm wirklich zu gefallen, welche Schmerzen die Radioumhänge Flenser bereiteten.
»Nichts, mein Fürst. Nur eine Spur von Rauschen.« In Wahrheit gab es kein Rauschen, doch Flenser fühlte, wie er zerfiel. Was hatte der anderen so plötzlich Macht verliehen?
Flenser bei Amdijefri ließ die Kiefer auf und zu schnappen. Die Kinder wichen mit aufgerissenen Augen vor ihm zurück. »Es ist in Ordnung«, sagte er grimmig, obwohl seine beiden Körper gerade aufeinanderprallten. Es gab wirklich eine Menge gute Gründe, Johanna Olsndot am Leben zu halten: Auf lange Sicht sicherte es Jefris guten Willen. Und sie konnte der geheime Mensch Flensers werden. Vielleicht konnte er Stahl weismachen, der Zweibeiner sei tot, und… Nein. Nein. Nein! Flenser ergriff wieder die Kontrolle und stieß die Vernunftgründe aus seinen Gedanken. Dieselben Tricks, die er gegen Tyrathect benutzt hatte, wollte sie gegen ihn kehren. Bei mir klappt es nicht. Ich bin der Meister der Lügen.
Und dann änderte sich ihr Angriff wieder, wurde zu einer Folge massiver Schläge, die alles Denken auslöschten.
Mit Stahl, mit Rangolith, mit Amdijefri — alle von Flenser stießen jetzt kleine Brabbellaute aus. Fürst Stahl tanzte um ihn herum, unsicher, ob er lachen oder sich Sorgen machen sollte. Rangolith glotzte ihn mit unverhüllter Verwunderung an.
Die beiden Kinder rückten wieder heran, um ihn zu berühren. »Bist du verletzt? Bist du verletzt?« Der Mensch schob diese bemerkenswerten Hände unter den Radioumhang und strich sanft über Flensers blutendes Fell. Die Welt verschwamm in einer Woge von Rauschen. »Nein. Tu das nicht. Es könnte ihm noch mehr schaden«, sagte Amdi. Die winzigen Schnauzen der Welpen langten her und versuchten die Umhänge zu richten.
Flenser spürte, wie sein Ich ins Nichts hinabgezogen wurde. Tyrathects letzter Angriff war ein frontaler Überfall gewesen, ohne Vernunftgründe oder schlaue Infiltration, und…
… Und sie betrachtete sich selbst verwundert. Nach so vielen Tagen bin ich ich selbst. Und ich bestimme. Schluss mit dem Abschlachten Unschuldiger. Wenn jemand sterben muss, dann Stahl und Flenser. Ihr Kopf folgte Stahls hin und her gehenden Gestalten, suchte sich das sprachgewandteste Glied heraus. Sie zog die Beine unter sich und machte sich bereit, ihm an die Kehle zu springen. Komm nur noch ein bisschen näher… und stirb.
Tyrathects letzter bewusster Augenblick dauerte wohl nicht länger als fünf Sekunden. Ihr Angriff auf den Flenser in ihr war eine Verzweiflungstat, die alles auf eine Karte setzte und sie ohne Reserven oder innere Abwehrkräfte ließ. Schon als sie sich spannte, um auf Stahl zu springen, spürte sie, wie ihre Seele zurück und hinab gezogen wurde und Flenser sich aus dem Dunkel erhob. Sie fühlte, wie die Beine des Gliedes sich verkrampften und versagten, wie der Erdboden gegen ihr Gesicht schlug…
… Und Flenser hatte wieder die Kontrolle. Der Angriff des Schwächlings war erstaunlich gewesen. Sie hatte sich wirklich gesorgt um diejenigen, die vernichtet werden sollten, sich so sehr gesorgt, dass sie sich selbst opfern wollte, wenn Flenser dabei umkäme. Und das war ihr Verhängnis gewesen. Selbstmord ist nie etwas, woran man Rudeldominanz knüpfen kann. Ihr Entschluss selbst hatte ihre Kontrolle über die Person im Hintergrund geschwächt — und Dem Meister seine Chance gegeben. Er hatte wieder die Führung und eine hervorragende Gelegenheit dazu. Tyrathects Überfall hatte sie wehrlos gemacht. Die innersten geistigen Barrieren um ihre drei Glieder waren plötzlich so dünn wie die Schale einer überreifen Frucht. Flenser zerfetzte die Trennschicht, hieb mit den Krallen auf das Fleisch ihres Geistes und verspritzte es über sein eigenes. Die drei, die ihr Kern gewesen waren, würden weiterleben, doch niemals mehr würden sie eine Seele haben, die von seiner getrennt war.
Flenser bei Stahl ließ sich zusammensacken, als sei er bewusstlos, während seine Krämpfe abklangen. Mochte Stahl denken, er sei unzurechnungsfähig. Das würde ihm Zeit geben, sich die vorteilhafteste Erklärung auszudenken.
Flenser bei Rangolith kam langsam auf die Beine, obwohl die Haltung seiner beiden Glieder immer noch Verwirrung ausdrückte. Flenser riss sich zusammen. Er brauchte hier nichts zu erklären, doch es wäre am besten, wenn Fernspäher keinen Seelenstreit argwöhnte. »Die Umhänge sind mächtige Werkzeuge, lieber Rangolith; manchmal ein bisschen zu mächtig.«
»Ja, mein Fürst.«
Flenser ließ ein Lächeln auf seine Züge treten. Einen Augenblick lang schwieg er und kostete aus, was er als Nächstes sagen würde. Nein, nichts deutete auf die Anwesenheit der Willensschwachen hin. Es war ihr letzter, bester Versuch gewesen, die Herrschaft an sich zu reißen — ihr letzter und größter Fehler. Flensers Lächeln breitete sich aus, bis zu den beiden bei Amdijefri hin. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass seit seiner Rückkehr auf die Verborgene Insel Johanna Olsndot die erste Person sein würde, deren Tötung er befahl. Johanna Olsndot würde also das erste Blut an drei von seinen Schnauzen sein.
»Es gibt noch einen Auftrag für Tonkelkopfler, Fernspäher. Eine Hinrichtung…« Während er die Einzelheiten mitteilte, breitete sich die Wärme einer wohlgetroffenen Entscheidung durch seine Glieder aus.
Das einzige Gute an all dem Warten war die Chance gewesen, die es den Verwundeten bot. Nun, da Feilonius einen Weg hinter die Verteidigungslinien der Flenseristen gefunden hatte, konnten es alle kaum erwarten aufzubrechen, aber…
Johanna verbrachte den letzten Nachmittag im Feldlazarett. Das Lazarett war in grobe Vierecke unterteilt, jedes etwa sechs Meter lang und breit. In manchen von den Abteilungen standen zerlumpte Zelte — sie gehörten Verwundeten, die noch klug genug waren, für sich selbst zu sorgen. Andere waren von Seilabsperrungen umgeben, in jedem befand sich ein einzelnes Glied, das Überlebende eines vormals vollständigen Rudels. Die Solos hätten leicht über die Absperrungen springen können, doch die meisten schienen deren Zweck zu erkennen und blieben drin.
Johanna zog den Essenwagen durch das Gebiet und hielt erst bei einem Patienten, dann beim nächsten an. Der Wagen war etwas zu groß für sie und verfing sich manchmal in den Wurzeln, die am Waldboden wuchsen. Aber es war eine Arbeit, die sie besser als jedes Rudel zu tun vermochte, und es war schön, einen Weg zu finden, wie sie helfen konnte.
Im Wald rings um das Lazarett ertönten die Geräusche von Cherhogs, die angeschirrt wurden, die Rufe von Mannschaften, die die Kanonen sicherten und die Lagerausrüstung verstauten. Aus den Karten, die Feilonius bei der Versammlung gezeigt hatte, ging hervor, dass die beiden nächsten Tage anstrengend sein würden — doch dann würden sie die Höhe hinter nichtsahnenden Flenseristen gewonnen haben.
Sie hielt am ersten kleinen Zelt an. Das Dreisam darin hatte sie kommen hören, war jetzt draußen und lief in kleinen Kreisen um ihren Wagen. »Johanna! Johanna!«, sagte es mit ihrer eigenen Stimme. Das war alles, was von einem der untergeordneten Strategen Holzschnitzerins übrig geblieben war; einst hatte es ein wenig Samnorsk gesprochen. Das Rudel war ursprünglich zu sechst gewesen; drei waren von den Wölfen getötet worden. Übrig geblieben war der ›Sprecher‹ -Teil — etwa so klug wie ein Fünfjähriger, aber mit einem sonderbaren Wortschatz. »Danke für das Essen. Danke.« Es presste die Mäuler an sie. Sie streichelte die Köpfe, ehe sie in den Wagen langte und Schüsseln mit lauwarmem Eintopf hervorholte. Zwei von ihnen machten sich gleich darüber her, aber das dritte blieb noch eine Weile sitzen und schwatzte. »Ich höre, wir kämpfen bald.«
Du nicht mehr, aber: »Ja. Wir gehen das trockene Flussbett hinauf, ein Stück weiter östlich.«
»Oh, oh«, sagte es. »Oh, oh. Das ist schlecht. Schlecht sehen, keine Kontrolle, Angst vor Hinterhalt.« Anscheinend hatte das Fragment einige Erinnerungen an seine Arbeit als Taktiker. Aber Johanna konnte nicht Feilonius’ Argumente erklären. »Mach dir keine Sorgen, es wird gut gehen.«
»Du sicher? Du versprichst?«
Johanna lächelte die Überbleibsel des ziemlich netten Kerls sanft an. »Ja. Ich verspreche es.«
»Ah-ah-ah… Gut.« Nun hatten alle drei ihre Schnauzen in den Schüsseln. Das war wirklich einer von denen, die noch Glück gehabt hatten. Das Dreisam zeigte eine Menge Interesse an dem, was ringsum vorging. Und — fast ebenso wichtig — es verfügte über eine kindliche Begeisterung. Pilger hatte gesagt, solche Fragmente könnten leicht wieder vollwertige Rudel werden, wenn man sie lange genug richtig behandelte, dass sie ein, zwei Welpen bekommen konnten.
Sie schob den Wagen ein paar Meter weiter, zu dem Seilquadrat, das als symbolisches Gehege für ein Solo diente. Es lag ein schwacher Kotgeruch in der Luft. Manche von den Solos und Duos waren nicht stubenrein; außerdem befanden sich die Lageraborte hundert Meter entfernt.
»Hier, Schwarzer. Schwarzer?« Johanna schlug mit einer leeren Schüssel gegen die Seite ihren Wagens. Ein einzelner Kopf erhob sich hinter ein paar Wurzelbüschen; manchmal zeigte dieses eine nicht einmal so viel Reaktion. Johanna kniete sich hin, sodass ihre Augen nicht viel höher als das Glied mit dem schwarzen Gesicht waren. »Schwarzer?«
Das Geschöpf arbeitete sich hinter dem Gebüsch hervor und kam langsam näher. Das war alles, was von einem der Kanoniere Scrupilos übrig war. Sie erinnerte sich dunkel an das Rudel, ein stattliches Sechssam, alle Glieder groß und flink. Doch jetzt war nicht einmal ›Schwarzer‹ heil: Eine fallende Kanone hatte ihm die Hinterbeine zerschmettert. Er zog sein beinloses Hinterteil auf einem kleinen Wagen mit dreißig Zentimeter großen Rädern einher — eine Art Skrodfahrer mit Vorderbeinen. Sie schob eine Schüssel mit Eintopf zu ihm hin und machte die Geräusche, die Pilger ihr beigebracht hatte. Schwarzer hatte die letzten drei Tage die Nahrung verweigert, doch heute rollte und lief er nahe genug heran, dass sie ihm den Kopf streicheln konnte. Nach einer Weile senkte er die Schnauze zu dem Eintopf herab.
Johanna grinste, angenehm überrascht. Dieses Lazarett war ein seltsamer Ort. Vor einem Jahr hätte es sie in Angst und Schrecken versetzt; selbst jetzt sah sie die Verletzten nicht aus der richtigen Rudelperspektive. Während sie weiter den gesenkten Kopf des Schwarzen streichelte, schaute Johanna über den Waldboden hinüber zu den rohen Zelten, den Patienten und Teilen von Patienten. Es war wirklich ein Lazarett. Die Ärzte versuchten tatsächlich, Leben zu retten, obwohl die ärztliche Kunst ein grauenhafter Vorgang war, bei dem ohne Betäubung geschnitten und geschient wurde. In dieser Beziehung war es durchaus der menschlichen Medizin im Mittelalter vergleichbar, wie Johanna sie im Datio gesehen hatte. Doch mit den Klauenwesen war es noch anders. Die Ärzte waren am Wohlergehen von Rudeln interessiert. Für sie waren Solos Einzelteile, Organe, die vielleicht von Nutzen sein mochten, um größere Fragmente wieder zum Funktionieren zu bringen, wenigstens zeitweise. Verletzte Solos standen auf dem allerletzten Platz in der medizinischen Rangliste. »In solchen Fällen ist nicht mehr viel zu retten«, hatte ihr einer der Ärzte durch Pilger gesagt. »Und selbst wenn es möglich wäre — würdest du ein verkrüppeltes, unsicher eingebundenes Glied in deinem Ich haben wollen?« Der Bursche war zu erschöpft gewesen, um die Absurdität seiner Frage zu erfassen. Seine Schnauzen hatten vor Blut getrieft, er hatte stundenlang gearbeitet, um verwundete Glieder ganzer Rudel zu retten.
Außerdem hörten die meisten verwundeten Solos einfach auf zu essen und starben in weniger als einem Zehntag. Selbst nachdem sie ein Jahr bei den Klauenwesen verbracht hatte, konnte sich Johanna nicht recht damit abfinden. Jedes Solo erinnerte sie an den lieben Schreiber; sie wünschte ihnen bessere Chancen, als dessen letztes Überbleibsel gehabt hatte. Sie hatte den Essenwagen übernommen und verbrachte mit den verletzten Solos ebenso viel Zeit wie mit jedem anderen Patienten. Es hatte gute Ergebnisse gezeitigt. Sie konnte sich jedem Patienten nähern, ohne dass es zu Denk-Intereferenzen kam. Ihre Hilfe gab den Züchtern mehr Zeit, die Fragmente und Solos zu studieren und zu versuchen, funktionsfähige Rudel aus den Trümmern zusammenzustellen.
Und jetzt würde dieses eine vielleicht nicht verhungern. Sie würde es Pilger sagen. Er hatte bei einigen der anderen Neuzusammenstellungen Wunder vollbracht und schien das einzige Rudel zu sein, das ihre Gefühle für verletzte Solos in gewissem Grade teilte. »Wenn sie nicht verhungern, bedeutet das oft Geistesstärke. Selbst als Krüppel könnten sie für ein Rudel von Vorteil sein«, hatte er zu ihr gesagt. »Ich bin auf meinen Reisen oft verkrüppelt gewesen; man kann es sich nicht immer aussuchen, wenn man auf drei geschrumpft und tausend Meilen weit von daheim in einem unbekannten Land ist.«
Johanna stellte eine Schüssel mit Wasser neben den Eintopf. Nach einer Weile drehte sich das verkrüppelte Glied auf seinen Rädern um und nahm ein paar kleine Schlucke. »Halte durch, Schwarzer, wir werden jemanden finden, der du sein kannst.«
Tschitirattu war da, wo er sein sollte, und schritt seinen Postenbereich exakt so ab, wie es sich gehörte. Nichtsdestoweniger fühlte er nervöse Anspannung. Mit mindestens einem Kopf betrachtete er unablässig das Pfahlwesen, den Zweibeiner. Auch daran war nichts Verdächtiges. Er sollte hier Wache stehen, und das bedeutete, alle Richtungen im Auge zu behalten. Er schob seine Armbrust nervös aus den Kiefern in die Tragetasche und wieder in die Kiefer. Nur noch ein paar Minuten…
Tschitirattu umrundete abermals das Lazarett. Es war ein leichter Dienst. Obwohl dieser Waldstreifen verschont geblieben war, hatten die Trockenwind-Brände die größeren Wildtiere stromabwärts getrieben. So nahe am Fluss war der Boden mit Weichsträuchern bewachsen, und es war kaum ein Dorn zu finden. Das Lazarett zu umschreiten war wie ein Spaziergang auf der Holzschnitzerwiese im Süden. Ein paar hundert Ellen weiter östlich gab es schwerere Arbeit — die Wagen und Vorräte für den Aufstieg fertig zu machen.
Die Fragmente wussten, dass etwas vorging. Hier und da ragten Köpfe von Pritschen und Erdgruben empor. Sie sahen zu, wie die Wagen beladen wurden, hörten die vertrauten Stimmen von Freunden. Die dümmsten fühlten sich zum Dienst gerufen; er hatte drei am Körper gesunde Solos ins Lazarett zurückgetrieben. Solche Schwachköpfe konnten sowieso nicht von Nutzen sein. Wenn die Armee den Margrum-Steig hinanmarschierte, würde das Lazarett zurückbleiben. Tschitirattu wünschte, er könnte das auch. Er arbeitete schon lange genug für den Boss, um zu ahnen, wo seine Befehle letzten Endes herkamen; Tschitirattu vermutete, dass nicht viele vom Margrum-Steig zurückkehren würden.
Er richtete drei Augenpaare auf das Pfahlwesen. Dieser letzte Auftrag war die riskanteste Sache, an der er je beteiligt war. Wenn es klappte, könnte er einfach verlangen, dass ihn der Boss beim Lazarett zurückließ. Sei bloß vorsichtig, alter Junge. Feilonius hatte es nicht so weit gebracht, indem er Sachen unerledigt ließ. Tschitirattu hatte gesehen, was dem Ostler widerfahren war, der ein bisschen zu tief in den Angelegenheiten des Bosses herumgeschnüffelt hatte.
Verdammt, war der Mensch langsam! Schon seit fünf Minuten grunzte sie auf dieses eine Solo ein. Man könnte meinen, dass sie mit all diesen Fragmenten Sex trieb, bei all der Zeit, die sie mit ihnen verbrachte. Gut, sie würde schon bald für ihre Vertraulichkeit bezahlen. Er spannte seine Armbrust, überlegte es sich dann aber anders. Unfall, Unfall. Es musste ganz wie ein Unfall aussehen.
Aha. Der Zweibeiner sammelte die Schüsseln ein und lud sie auf den Essenwagen. Tschitirattu eilte unauffällig um das Lazarett zu der Stelle, wo ihn das Duo Krazi sehen konnte — das Fragment, das die eigentliche Tötung erledigen würde.
Krazinissinari war ein Infanteriesoldat gewesen, ehe er seine Nissinari-Teile eingebüßt hatte. Er hatte keine Verbindung zum Boss oder zum Sicherheitsdienst gehabt. Aber er war ein verrücktes Biest gewesen, ein Rudel, das sich immer am Rande der Gefechtswut befunden hatte. Wenn man bis auf zwei Glieder getötet wurde, so hatte das für gewöhnlich mäßigende Wirkung. In diesem Fall — nun, der Boss behauptete, Krazi sei speziell präpariert worden, eine Falle, die jederzeit zum Zuschnappen gebracht werden konnte. Tschitirattu brauchte weiter nichts zu tun, als das Signal zu geben, und das Duo würde das Pfahlwesen zerreißen. Eine große Tragödie. Natürlich würde Tschitirattu zur Stelle sein, der wachsame Posten am Lazarett. Er würde Krazi schnell Pfeile durch die Köpfe jagen — leider nicht schnell genug, um den Zweibeiner zu retten.
Der Mensch zog den Essenwagen unbeholfen um Wurzelbüsche herum zu Krazi, dem nächsten Patienten. Das Duo kam aus seinem Erdloch und sprach schwachsinnige Begrüßungsworte, die nicht einmal Tschitirattu verstand. Doch es gab Untertöne, eine tödliche Wut, die dicht neben seiner freundlichen Haltung lag. Das Pfahlwesen merkte natürlich nichts. Sie hielt den Wagen an, begann Essen- und Wasserschüsseln zu füllen und grunzte dabei die ganze Zeit auf das Zweisam ein. Gleich würde sie sich herabbeugen, um das Essen auf den Boden zu stellen… Einen winzigen Augenblick lang erwog Tschitirattu, das Pfahlwesen selbst zu erschießen, wenn Krazi nicht sofort Erfolg hatte. Er konnte den Zweibeiner wirklich nicht leiden. Das Pfahlwesen war ein bedrohliches Geschöpf, sie war so groß und bewegte sich so sonderbar. Inzwischen wusste er, dass sie im Vergleich zu Rudeln verletzlich war, doch es war ein beängstigender Gedanke, dass ein einzelnes Tier so schlau wie dieses sein konnte. Er unterdrückte die Versuchung noch schneller, als er daran gedacht hatte. Wer wusste, welchen Preis er dafür zahlen müsste, selbst wenn sie ihm glaubten, dass sein Schuss ein Unfall war. Keine selbstlosen Taten heute, danke sehr; Krazis Kiefer und Krallen würden genügen müssen.
Einer von Krazis Köpfen schaute in Tschitirattus Richtung herüber. Das Pfahlwesen nahm jetzt die Schüsseln und wandte sich vom Essenwagen ab…
»Hallo, Johanna? Wie geht’s?«
Johanna blickte von dem Eintopf auf und sah Wanderer Wickwracknarb den Rand des Lazaretts entlangkommen. Er bewegte sich so, dass er möglichst nahe heran kam, ohne die Denklaute der Patienten zu beeinträchtigen. Der Wachposten, der eben dort Halt gemacht hatte, zog sich vor ihm zurück und blieb ein paar Meter weiter stehen. »Ganz gut«, rief sie zurück. »Kennst du den mit den Rädern? Er hat heute wirklich etwas gegessen.«
»Gut, ich habe mir über ihn und das Dreisam auf der anderen Seite des Lazaretts Gedanken gemacht.«
»Den verwundeten Arzt?«
»Ja. Der Rest von Trellelak ist ganz weiblich, weiß du. Ich habe den Denklauten zugehört und…« Pilger lieferte seine Erklärung in fließendem Samnorsk, doch für Johanna ergab es nicht viel Sinn. Zur Zuchtkunde gehörten so viele Vorstellungen, für die es in der Menschensprache keine Entsprechung gab, dass nicht einmal Pilger es verständlich machen konnte. Der offensichtliche Gedanke war, dass Schwarzer als Rüde und das Arzt-Dreisam vielleicht früh genug Welpen bekommen konnten, um die Gruppe zusammenzuschweißen. Der Rest drehte sich um ›Stimmungsresonanz‹ und das ›Durchsetzen schwacher Stellen mit starken‹ . Pilger behauptete, in der Zuchtkunde ein Amateur zu sein, doch es war interessant, wie die Ärzte — und manchmal sogar Holzschnitzerin — seinen Rat einholten. Auf seinen Reisen hatte er eine Menge durchgemacht. Seine Neuzusammenstellungen schienen öfter als die von allen anderen zu ›greifen‹ . Sie winkte ihm zu, dass er still sein solle. »In Ordnung. Wir werden es versuchen, sobald ich alle gefüttert habe.«
Pilger reckte ein, zwei Köpfe zu den nächstgelegenen Abteilungen des Lazaretts hin. »Irgendetwas Seltsames ist im Gange. Ich kann nicht recht ›den Finger drauflegen‹ , aber… alle Fragmente beobachten dich. Sogar mehr als üblich. Spürst du es?«
Johanna zuckte mit den Achseln. »Nein.« Sie kniete sich hin, um die Schüsseln mit Eintopf und Wasser vor den zweisamen Patienten zu stellen. Die beiden hatten vor Eifer gezittert, obwohl sie höflicherweise niemandem ins Wort gefallen waren. Am Rande ihres Blickfeldes sah sie den Lazarettposten eine seltsame zuckende Bewegung mit den beiden mittleren Köpfen machen, und…
Die Schläge trafen sie wie zwei große Fäuste gegen Brust und Gesicht. Johanna fiel zu Boden, und sie waren über ihr. Sie erhob blutige Arme gegen reißende Kiefer und Krallen.
Als Tschitirattu das Signal gab, sprangen beide von Krazi los — und prallten aufeinander, wobei sie fast zufällig das Pfahlwesen zu Boden warfen. Ihre Krallen und Zähne zerrissen die Luft und den jeweils anderen ebenso wie den Zweibeiner. Einen Moment lang war Tschitirattu starr vor Überraschung. Vielleicht ist sie nicht tot. Dann besann er sich und sprang über den Zaun, zugleich seine Armbrust spannend und ladend. Vielleicht konnte er mit dem ersten Schuss fehlen. Krazi zerriss das Pfahlwesen, aber langsam…
Mit einem Mal gab es keine Möglichkeit mehr, das Zweisam zu erschießen. Eine Woge von knurrendem Schwarz und Weiß schlug über Krazi und dem Pfahlwesen zusammen. Jedes körperlich taugliche Fragment im Lazarett schien sich in den Angriff zu stürzen. Es war unvermittelte Mordwut, weitaus wilder als alles, wozu ganze Rudel imstande waren. Tschitirattu wich zurück, erstaunt über den Anblick und seinen Gedankenklang.
Sogar der Pilger schien davon erfasst zu sein, das Rudel rannte an Tschitirattu vorüber und umkreiste das Durcheinander. Der Pilger stürzte sich niemals direkt hinein, schnappte aber hier und da zu und schrie Worte, die in dem allgemeinen Aufruhr untergingen.
Eine Fontäne koordinierter Denklaute spritzte aus der Meute hervor, so laut, dass sie Tschitirattu noch auf zwanzig Ellen Entfernung betäubte. Die Meute schien in sich selbst zusammenzufallen, nachdem die Wut aus den meisten Gliedern gewichen war. Was beinahe eine einzige Bestie mit zwei Dutzend Körpern gewesen war, verwandelte sich plötzlich in eine verwirrte und blutige Ansammlung einzelner Glieder.
Der Pilger rannte noch immer am Rand entlang und brachte es irgendwie fertig, bei Verstand zu bleiben. Sein großes, narbenbedecktes Glied tauchte immer wieder in die übrig gebliebende Menge ein und schlug mit den Krallen nach allem, was noch kämpfte.
Die Patienten schleppten sich vom Ort des Gemetzels fort. Manche, die sich als Dreisams hineingestürzt hatten, kamen als Duos oder Solos wieder heraus. Andere schienen zahlreicher als vorher zu sein. Der Boden war blutgetränkt. Mindestens fünf Glieder waren umgekommen. Nahe bei der Mitte lag eine Radprothese verbogen da.
Der Pilger beachtete das alles nicht, seine vier standen rings um und über dem blutigen Häufchen in der Mitte.
Tschitirattu lächelte in sich hinein. Pfahlwesen-Brei. Wie tragisch.
Johanna verlor nie vollends das Bewusstsein, doch der Schmerz und das erdrückende Gewicht von Dutzenden von Körpern ließen keinen Raum fürs Denken. Nun wurde der Druck schwächer. Irgendwo jenseits des Getöses hörte sie Rufe in normaler Klauensprache. Sie schaute auf und sah Pilger rings um sie stehen. Narbenhintern stand breitbeinig über ihr, die Schnauze nur wenige Zentimeter entfernt. Er beugte sich herab und leckte ihr das Gesicht. Johanna lächelte und versuchte zu sprechen.
Feilonius hatte es eingerichtet, bei einer Besprechung mit Scrupilo und Holzschnitzerin zu sein. Gerade eben war der ›Befehlshaber der Kanoniere‹ tief in taktische Fragen versunken und benutzte das Datio, um seinen Plan für den Margrum-Steig zu illustrieren. Wellen von Wutlauten drangen vom Fluss unten herauf.
Scrupilo blickte gereizt vom Rosa Olifanten auf. »Was, zum Teufel…«
Die Geräusche dauerten an, länger als eine gelegentliche Schlägerei. Holzschnitzerin und Feilonius wechselten besorgte Blicke, während sie gleichzeitig die Hälse bogen, um zwischen den Bäumen hindurchzuschauen. »Ein Kampf im Lazarett?«, sagte die Königin.
Feilonius ließ sein Notizbrett fallen und sprang aus der Versammlungsfläche heraus, wobei er den Wachen in der Nähe zurief, sie sollten die Königin beschützen. Während er durch das Lager rannte, sah er, wie sich seine Streifenposten schon um das Lazarett sammelten. Alles schien glatt zu laufen wie ein Programm im Datio… nur, warum so viel Lärm?
Auf den letzten paar hundert Ellen überholte ihn Scrupilo. Der Kanonier rannte ins Lazarett und stolperte über sich selbst, von plötzlichem Entsetzen erfasst. Feilonius stürzte auf die Lichtung hinaus, ganz darauf eingestellt, seine eigene Erschütterung zusammen mit wachsamer Entschlossenheit zu zeigen.
Wanderer Wickwracknarb stand bei dem Essenwagen, Tschitirattu nicht weit hinter ihm. Der Pilger stand über dem Zweibeiner inmitten der Überreste eines Gemetzels. Beim Rudel aller Rudel, was ist geschehen? Es gab viel zu viel Blut. »Jeder zurück außer den Ärzten«, brüllte Feilonius die Soldaten an, die sich am Rande des Lazaretts drängten. Er ging einen Weg entlang, der die am lautesten denkenden Patienten mied. Es gab eine Menge frischer Wunden und hier und da dunkle Blutspritzer an den hellen Baumstämmen. Etwas war schiefgegangen.
Inzwischen war Scrupilo um den Rand des Lazaretts gelaufen und stand nur ein paar Dutzend Ellen von dem Pilger entfernt. Die meisten von ihm starrten auf den Boden unter Wickwracknarb. »Es ist Johanna! Johanna!« Einen Augenblick lang sah es aus, als wollte der Narr über den Zaun springen.
»Ich glaube, sie ist in Ordnung, Scrupilo«, sagte Wickwracknarb. »Sie war gerade dabei, eins von den Duos zu füttern, und es drehte durch — griff sie an.«
Einer von den Ärzten ließ die Blicke über das Blutbad schweifen. Es lagen drei Leichen am Boden, und die Menge Blut sah nach weiteren aus. »Ich frage mich, womit sie sie provoziert hat.«
»Mit nichts, sage ich dir! Aber als sie fiel, hat sich das halbe Lazarett auf das da gestürzt.« Er deutete mit einer Nase auf die unkenntlichen Überreste.
Feilonius blickte Tschitirattu an und sah gleichzeitig Holzschnitzerin eintreffen. »Was hast du zu sagen, Soldat?«, fragte er. Vermassel es nicht, Tschitirattu.
»Es… es ist genauso, wie der Pilger sagt, mein Fürst. Ich habe nie so etwas gesehen.« Er klang wirklich richtig erstaunt über die ganze Sache.
Feilonius trat ein bisschen näher an den Pilger heran. »Wenn ich sie mir etwas genauer ansehen darf, Pilger?«
Wickwracknarb zögerte. Er hatte an dem Mädchen herumgeschnüffelt, nach Wunden gesucht, die sofort versorgt werden mussten. Dann nickte ihm das Mädchen schwach zu, und er zog sich zurück.
Feilonius kam näher, ganz ernst und besorgt. Innerlich raste er vor Wut. Er hatte niemals von so etwas gehört. Doch selbst wenn ihr das ganze verdammte Lazarett zu Hilfe gekommen war, müsste sie tot sein; das Krazi-Duo hätte ihr im Bruchteil einer Sekunde die Kehle durchbeißen können. Sein Plan war ihm narrensicher erschienen (und selbst jetzt würde der Misserfolg keinen dauerhaften Schaden tun), doch er fing eben erst an zu begreifen, was schiefgegangen war: Tagelang war der Mensch im Kontakt mit diesen Patienten gewesen, sogar mit Krazi. Kein Arztrudel konnte sich ihnen so nähern und sie berühren wie der Zweibeiner. Sogar manche ganzen Rudel spürten die Wirkung, für Fragmente musste sie überwältigend sein. Im Innersten ihrer Seele betrachteten die meisten Patienten die Fremde als einen Teil von sich selbst.
Er musterte den Zweibeiner von drei Seiten, wohl eingedenk, dass die Augen von fünfzig Rudeln jede seiner Bewegungen verfolgten. Sehr wenig von dem Blut stammte von dem Zweibeiner. Die Wunden an ihrem Hals und den Armen waren lang und flach, Spuren zielloser Hiebe. In letzter Minute hatte Krazis Konditionierung vor seiner Beziehung zu dem Menschen als einem Rudelglied versagt. Er erwog kurz, sie unter den ärztlichen Schutz des Sicherheitsdienstes zu stellen. Der Trick hatte bei Schreiber gut funktioniert, hier aber wäre es sehr riskant. Pilger war Nase an Nase bei Johanna gewesen, er würde Behauptungen über ›unerwartete Komplikationen‹ sehr misstrauisch aufnehmen. Nein. Sogar gute Pläne misslingen manchmal. Betrachte es als Lehre für die Zukunft. Er lächelte das Mädchen an und sagte in Samnorsk: »Du bist jetzt völlig sicher«, im Moment und zu meinem größten Bedauern. Der Kopf des Menschen wandte sich zur Seite und blickte in die Richtung von Tschitirattu.
Scrupilo war die ganze Zeit über am Zaun auf und ab gegangen, so nahe bei Tschitirattu und Pilger, dass die beiden zurückweichen mussten. »Das passt mir nicht!«, sagte der Kanonier laut. »Unsere wichtigste Person derart angegriffen. Das riecht nach einer Aktion des Feindes!«
Wickwracknarb starrte ihn erstaunt an. »Aber wie?«
»Ich weiß nicht!«, rief Scrupilo verzweifelt aus. »Aber sie braucht Schutz genauso wie Pflege. Feilonius muss einen Ort finden, wo sie bleiben kann.«
Das Pilgerrudel war von dem Argument offensichtlich beeindruckt — und entmutigt. Er neigte einen Kopf zu Feilonius hin und sagte mit untypischer Ehrerbietung: »Was meint Ihr, Feilonius?«
Natürlich hatte Feilonius den Zweibeiner beobachtet. Es war interessant, wie wenig die Menschen den Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit verheimlichen konnten. Johanna hatte Tschitirattu angestarrt, nun schaute sie zu Feilonius auf, und ihre unsteten engstehenden Augen wurden schmal. Feilonius hatte dieses Jahr den menschlichen Gesichtsausdruck systematisch studiert, sowohl an Johanna als auch an den Geschichten im Datio. Sie argwöhnte etwas. Und sie musste auch einen Teil von Scrupilos Worten verstanden haben. Sie bäumte sich auf und hob schwach eine Hand. Zum Glück für Feilonius kam ihr Schrei als Wispern heraus, das sogar er kaum hören konnte: »Nein… nicht wie Schreiber.«
Feilonius war ein Rudel, das an sorgfältige Planung glaubte. Er wusste auch, dass die besten Pläne den Umständen angepasst werden mussten. Er blickte auf Johanna herab und lächelte für die Zuschauer mit der sanftesten Sympathie. Es würde riskant sein, sie wie Schreibers Fragment zu töten, doch er sah nun, dass die anderen Möglichkeiten weitaus gefährlicher waren. Gott sei Dank saß Holzschnitzerin mit ihrem Hinkefuß auf der anderen Seite des Lagers fest. Er nickte Pilger zu und nahm sich zusammen. »Ich fürchte, Scrupilo hat Recht. Ich weiß zwar nicht, wie sie es angestellt haben könnten, aber wir dürfen kein Risiko eingehen. Ich werde Johanna in meinen Bau mitnehmen. Sagt es der Königin.« Er zog Umhänge von seinen Rücken und begann das Mädchen sanft für ihre letzte Reise einzuwickeln. Nur ihre Augen protestierten.
Johanna trieb in die Bewusstlosigkeit und wieder daraus hervor, entsetzt über ihr Unvermögen, ihre Ängste herauszuschreien. Ihre lautesten Rufe waren weniger als Wispern. Ihre Arme und Beine reagierten mit wenig mehr als Zuckungen, und selbst die verloren sich in Feilonius’ Umschnürung. Gehirnerschütterung vielleicht, oder etwas Ähnliches — die Erklärung kam aus einer absurd vernünftigen Ecke ihres Verstandes. Alles erschien ihr so fern, so dunkel…
Johanna erwachte in ihrer Hütte in Holzschnitzerheim. Was für ein schrecklicher Traum! Dass sie so zerschnitten worden sei, außerstande, sich zu bewegen, und dann Feilonius für einen Verräter zu halten. Sie versuchte sich in eine sitzende Haltung aufzurichten, doch nichts regte sich. Die verdammten Laken haben sich ganz um mich herumgewickelt Sie lag eine Sekunde lang still, noch immer schwer von dem Traum desorientiert. »Holzschnitzerin?«, versuchte sie zu sagen, doch nur ein leises Stöhnen kam heraus. Ein Glied bewegte sich sacht um die Feuergrube. Der Raum war nur schwach beleuchtet, und etwas stimmte nicht damit. Es gab einen Augenblick verwunderter Mattigkeit, als sie versuchte, die Anordnung der dunklen Wände zu begreifen. Komisch. Die Decke war schrecklich niedrig. Alles roch nach rohem Fleisch. Die Seite ihres Gesichts tat weh, und sie schmeckte Blut auf den Lippen. Sie war nicht in Holzschnitzerheim, und dieser fürchterliche Traum war…
Drei Köpfe eines Klauenwesens schoben sich als Silhouetten ins Blickfeld. Einer kam näher, und im trüben Licht erkannte sie das Muster von Weiß und Schwarz auf seinem Gesicht. Feilonius.
»Gut«, sagte er. »Du bist wach.«
»Wo bin ich?« Die Worte kamen verzerrt und schwach heraus. Das Entsetzen war wieder da.
»Die verlassene Bauernhütte am Ostende des Lagers. Ich habe sie übernommen. Als Sicherheitsbau, weißt du.« Sein Samnorsk war ruhig und geläufig, gesprochen in einer der typischen Datio-Stimmen. Eines von seinen Mäulern hielt einen Dolch, die Klinge ein Schimmer im Dämmerlicht.
Johanna wand sich in den fest verschnürten Umhängen und schrie fast lautlos. Etwas stimmte nicht mit ihr, es war, als schriee sie ohne Luft in den Lungen.
Eins von Feilonius schritt das Obergeschoss der Hütte ab. Tageslicht glitt über seine Schnauze, als es erst durch einen, dann durch den anderen von den schmalen Schlitzen spähte, die in die Bretter geschnitten waren. »Ah, es ist gut, dass du dich nicht verstellst. Ich habe gesehen, dass du etwas ahnst von meinem… zweiten Beruf. Meinem Steckenpferd. Aber Schreien — sogar laut — würde dir nichts nützen. Wir haben nur wenig Zeit für eine Plauderei. Ich bin sicher, dass die Königin bald zu Besuch kommt…, und ich werde dich töten, kurz bevor sie eintrifft. Wie traurig. Deine verborgenen Wunden haben sich leider als schwer erwiesen…«
Johanna war sich nicht sicher, ob sie alles verstand, was er sagte. Ihre Sicht verschwamm jedesmal, wenn sie den Kopf bewegte. Selbst jetzt konnte sie sich nicht der Einzelheiten entsinnen, was im Lazarett geschehen war. Irgendwie war Feilonius tatsächlich ein Verräter, aber wie… Die Erinnerungen schlängelten sich durch den Schmerz. »Du hast Schreiber ermordet, nicht wahr? Warum?« Ihre Stimme war lauter als zuvor, und sie verschluckte sich an Blut, das ihr in die Kehle rann.
Sanftes, menschliches Lachen ertönte rings um sie. »Er hat die Wahrheit über mich herausgefunden. Welche Ironie, dass so ein Nichtskönner der Einzige war, der mich durchschaute… Oder meinst du den höheren Grund?« Die drei nahen Schnauzen kamen noch näher, und die Klinge in einer davon berührte Johannas Wange. »Armer Zweibeiner, ich bin nicht sicher, ob du es jemals verstehen könntest. Manches davon vielleicht, den Willen zur Macht. Ich habe gelesen, was das Datio über menschliche Motive zu sagen hat, das ›freudianische‹ Zeug. Wir Klauenwesen sind viel komplizierter. Ich bin durch und durch männlich, hast du das gewusst? Eine gefährliche Sache, ganz von einem Geschlecht zu sein. Wahnsinn lauert da. Doch es war mein Entschluss. Ich hatte es satt, weiter nichts als ein guter Erfinder zu sein, in Holzschnitzerins Schatten zu leben. So viele von uns sind ihre Abkömmlinge, und sie dominiert die meisten von uns. Sie war ziemlich froh, dass ich mich der Sicherheit zuwandte, weißt du. Sie hat nicht die rechte Kombination von Gliedern dafür. Sie dachte, bis auf ein Glied männlich zu sein, würde mich auf kontrollierbare Weise abartig machen.«
Sein Wachglied machte eine weitere Runde an den Fensterschlitzen. Wieder erklang ein menschliches Kichern. »Ich habe lange Zeit Pläne geschmiedet. Es ist nicht bloß Holzschnitzerin, gegen die ich antrete. Der Machtaspekt ihrer Seele ist über die ganze arktische Küste verstreut; Flenser war mir fast um ein Jahrhundert voraus, Stahl ist neu, doch er besitzt das Reich, das Flenser aufgebaut hat. Ich habe mich für sie alle unersetzlich gemacht: Ich bin Holzschnitzerins Sicherheitschef… und Stahls wertvollster Spion. Wenn ich richtig spiele, habe ich am Ende das Datio, und alle anderen sind tot.«
Seine Klinge stieß wieder leicht gegen ihr Gesicht. »Glaubst du, du kannst mir helfen?« Augen blickten tief in ihr Entsetzen. »Daran zweifle ich stark. Wenn mein eigentlicher Plan gelungen wäre, wärst du inzwischen hübsch tot.« Ein Seufzen schwebte durch den Raum. »Aber er ist misslungen, und ich habe es selbst am Halse, dich zu zerschnitzen. Vielleicht wird es so am besten sein. Das Datio bringt eine Flut von Information über die meisten Dinge, aber es gibt kaum zu, dass so etwas wie Folter existiert. In mancher Beziehung wirkt eure Rasse so verletzlich, so leicht zu töten. Ihr sterbt, ehe euer Verstand zergliedert werden kann. Dennoch weiß ich, dass ihr Schmerz und Schrecken fühlen könnt; der Trick besteht darin, Gewalt anzuwenden, ohne gleich zu töten.«
Die drei nahen Glieder glitten in bequemere Haltungen, wie ein Mensch, der sich zu einem ernsten Gespräch hinsetzt. »Und es gibt wirklich ein paar Fragen, die du vielleicht beantworten kannst, Dinge, nach denen ich vorher nicht fragen konnte. Stahl ist sehr zuversichtlich, weißt du, und nicht nur, weil er mich bei Holzschnitzerin hat. Dieses Rudel hat einen anderen Vorteil. Ob er vielleicht sein eigenes Datio besitzt?«
Feilonius machte eine Pause. Johanna antwortete nicht; sie schwieg gleichermaßen vor Grauen und Halsstarrigkeit. Das war das Ungeheuer, das Schreiber ermordet hatte.
Die Schnauze mit dem Messer schob sich zwischen die Laken und Johannas Haut, und Schmerz schoss an Johannas Arm hoch. Sie schrie. »Ah, das Datio hat gesagt, dass man einem Menschen dort weh tun kann. Du brauchst diese Frage nicht zu beantworten, Johanna. Weißt du, was ich glaube, worin Stahls Geheimnis besteht? Ich denke, dass einer von eurer Familie überlebt hat — wahrscheinlich dein kleiner Bruder, wenn man berücksichtigt, was du uns über das Massaker erzählt hast.«
Jefri? Am Leben? Für einen Moment vergaß sie den Schmerz, vergaß fast die Angst. »Wie…?«
Feilonius zuckte nach Art der Klauenwesen mit den Schultern. »Du hast ihn nie tot gesehen. Du kannst sicher sein, dass Stahl einen lebenden Zweibeiner haben wollte, und nach allem, was ich über den Kälteschlaf in Datio gelesen habe, bezweifle ich, dass er einen von den anderen wiederbelebt haben kann. Und etwas hat er bei sich da oben. Er war scharf auf Informationen von dem Datio, aber er hat nie verlangt, dass ich das Gerät für ihn stehle.«
Johanna schloss die Augen, als könnte sie die Existenz des verräterischen Rudels leugnen. Jefri lebt! Erinnerungen tauchten vor ihr auf: Jefris verspielte Freude, seine kindlichen Tränen, seine vertrauensvolle Tapferkeit an Bord des fliehenden Schiffs — Dinge, die sie für immer verloren geglaubt hatte. Einen Augenblick lang erschienen sie ihr wirklicher als die schneidende Gewalt der letzten Minuten. Doch was konnte Jefri tun, um den Flenseristen zu helfen? Die anderen Datios waren mit Sicherheit verbrannt. Da steckt noch mehr dahinter, etwas, das Feilonius noch nicht weiß.
Feilonius packte ihr Kinn und verpasste ihrem Kopf einen kurzen Ruck. »Mach die Augen auf, ich habe gelernt, darin zu lesen, und ich will sehen… Hmm, ich weiß nicht, ob du mir glaubst oder nicht. Egal. Wenn wir Zeit haben, werde ich herausfinden, was er für Stahl getan haben könnte. Es gibt andere, dringendere Fragen. Das Datio ist offensichtlich der Schlüssel zu allem. In weniger als einem halben Jahr haben ich und Holzschnitzerin und Pilger eine Unmenge über eure Rasse und Zivilisation gelernt. Ich wage zu sagen, wir kennen eure Leute besser als ihr selbst. Wenn all die Gewalt vorüber ist, wird derjenige Sieger sein, der das Datio noch unter Kontrolle hat. Ich habe vor, dieses Rudel zu sein. Und ich habe mich oft gefragt, ob es andere Passwörter gibt, oder Programme, die ich laufen lassen kann, damit sie direkt über meine Sicherheit wachen…«
Der Babysitter-Code.
Die Köpfe, die sie beobachteten, wippten im Gegenstück eines Grinsens. »Aha, es gibt also so etwas! Vielleicht war das Pech von heute Morgen doch das Beste, was passieren konnte. Sonst hätte ich womöglich nie erfahren…« Seine Stimme brach mit einer Dissonanz ab. Zwei von Feilonius sprangen zu dem einen hoch, der schon an den Fensterschlitzen stand. An ihrem Ohr fuhr die Stimme leise fort: »Es ist der Pilger, noch weit weg, aber er kommt näher… Ich weiß nicht. Es wäre viel sicherer, wenn du tot wärst. Eine tiefe Wunde, ganz außer Sicht.« Das Messer glitt tiefer. Johanna bäumte sich vergeblich von der Spitze weg. Dann wurde die Klinge zurückgezogen, die Spitze sanft gegen ihre Haut gedrückt. »Wir wollen hören, was Pilger zu sagen hat. Es hat keinen Sinn, dich jetzt gleich zu töten, wenn er nicht darauf besteht, dich zu sehen.« Er steckte ihr ein Stück Stoff in den Mund und band es fest.
Es folgte für einen Augenblick Stille, unterbrochen vielleicht durch das Knistern von Pfoten im Unterholz unmittelbar an der Hütte. Dann hörte sie ein Rudel laut von jenseits der Holzwände trällern. Johanna zweifelte, ob sie jemals lernen würde, Rudel an der Stimme zu erkennen, aber… ihr Verstand stolperte durch die Klänge, versuchte, die Akkorde der Klauenwesen zu entziffern, die aufeinandergestapelte Wörter waren:
»Johanna
unverständlich Frage
knirsch sicher.«
Feilonius kollerte zurück:
»Gruß Wanderer Wickwracknarb
Johanna triller
keine sichtbaren Verletzungen
traurig ungewiss quiek.«
Und der Verräter flüsterte ihr ins Ohr: »Jetzt wird er fragen, ob ich ärztliche Hilfe brauche, und wenn er darauf besteht…, wird unsere Plauderei schnell zu Ende sein.«
Doch Pilgers einzige Antwort war ein Chor von mitfühlender Besorgnis. »Die verdammten Arschlöcher setzen sich einfach draußen hin«, wisperte Feilonius irritiert.
Das Schweigen zog sich einen Moment lang hin, und dann sagte Wanderers menschliche Stimme, der Hofnarr aus dem Datio, in deutlichem Samnorsk: »Mach keine Dummheiten, Feilonius, alter Junge.«
Feilonius stieß einen Laut höflicher Verwunderung aus — und drängte sich enger um sie. Sein Messer grub sich einen Zentimeter tief zwischen Johannas Rippen, ein schmerzender Dorn. Sie fühlte, wie die Klinge zitterte, spürte den Atem seines Glieds auf ihrer blutigen Haut.
Pilgers Stimme fuhr fort, selbstsicher und wissend: »Ich meine, wir wissen, was du vorhast. Dein Rudel beim Lazarett ist völlig zerbrochen, hat das bisschen, was er wusste, Holzschnitzerin gestanden. Glaubst du, dass du bei ihr mit deinen Lügen durchkommst?
Wenn Johanna tot ist, bleiben von dir nur blutige Fetzen übrig.« Er summte eine verhängnisvolle Melodie aus dem Datio. »Ich kenne sie gut, die Königin. Sie scheint so ein gütiges Rudel zu sein — aber was meinst du, woher Flenser seine grässliche Schöpferkraft hatte? Töte Johanna, und du wirst herausfinden, um wie viel ihr Genie in diesen Dingen das Flensers übertrifft.«
Das Messer wurde zurückgezogen. Noch einer von Feilonius sprang an die Fensterschlitze, und die beiden bei Johanna lockerten ihren Griff. Er strich mit der Klinge sanft über ihre Haut. Überlegte er? Ist Holzschnitzerin wirklich so furchteinflößend? Die vier an den Fenstern schauten in alle Richtungen, zweifellos zählte Feilonius die Wachrudel und schmiedete fieberhaft Pläne. Als er schließlich antwortete, sprach er Samnorsk: »Die Drohung wäre glaubhafter, wenn sie nicht aus zweiter Hand käme.«
Pilger kicherte. »Stimmt. Aber wir haben uns denken können, was geschehen wäre, wenn sie sich genähert hätte. Du bist ein vorsichtiger Kerl, du hättest Johanna augenblicklich umgebracht und einen Berg von Lügen aufgetischt, ehe du überhaupt gehört hättest, was die Königin weiß. Aber einen armen Pilger vorbeischlendern zu sehen… Ich weiß, dass du mich für einen Dummkopf hältst, nicht viel besser als Schreiber Yaqueramaphan.« Wanderer stolperte über den Namen und verlor für einen Moment seinen schnoddrigen Ton. »Jedenfalls kennst du jetzt die Lage. Wenn du daran zweifelst, dann schicke deine Wachen hinter das Unterholz und sieh dir an, was die Königin dort rings um dich postiert hat. Johannas Tod bedeutet nur deinen. Apropos, ich nehme an, dass dieses Gespräch noch Zweck hat?«
»Ja. Sie lebt.« Feilonius nahm den Knebel aus Johannas Mund. Sie drehte den Kopf, einen Kloß im Halse. Tränen rannen ihr übers Gesicht. »Pilger, o Pilger!« Die Worte waren kaum mehr als ein Wispern. Sie holte schmerzhaft Atem und konzentrierte sich darauf, laut zu sein. Helle Flecke tanzten ihr vor den Augen. »He, Pilger!«
»He, Johanna. Hat er dich verletzt?«
»Etwas, ich…«
»Das reicht. Sie lebt, Pilger, aber das lässt sich leicht ändern.« Feilonius stopfte ihr den Knebel nicht wieder in den Mund. Johanna sah, wie er nervös die Köpfe aneinander rieb, während er immerzu am Fenstersims entlanglief. Er trillerte etwas von ›Pattsituation‹ .
Wanderer erwiderte: »Sprich Samnorsk, Feilonius. Ich möchte, dass Johanna dich versteht — und du kannst ziemlich genauso glatt reden wie in Rudelsprache.«
»Wie dem auch sei.« Die Stimme des Verräters klang gleichmütig, aber seine Glieder liefen weiter nervös auf und ab. »Die Königin muss begreifen, dass wir hier Gleichstand haben. Gewiss werde ich Johanna töten, wenn ich nicht ordentlich behandelt werde. Doch selbst dann könnte es sich Holzschnitzerin nicht leisten, mich zu verletzen. Ist dir klar, welche Falle Stahl am Margrum-Steig aufgestellt hat? Ich bin der Einzige, der weiß, wie man sie vermeiden kann.«
»Große Sache. Ich hatte ohnehin nie vor, den Margrum-Steig hinaufzugehen.«
»Ja, aber du zählst nicht, Pilger. Du bist eine zusammengeflickte Promenadenmischung. Holzschnitzerin wird verstehen, wie gefährlich diese Situation ist. Stahls Streitkräfte sind all das, was ich geleugnet habe, und ich habe ihnen jedes Geheimnis geschickt, das ich von meinen eigenen Untersuchungen am Datio aufschreiben konnte.«
»Mein Bruder lebt, Pilger«, sagte Johanna.
»Oh… Du bist eine Art Rekordhalter für Verrat, nicht wahr, Feilonius? Alles, was du uns gesagt hast, war Lüge, während Stahl die ganze Wahrheit über uns erfahren hat. Du denkst, das bedeutet, dass wir dich nicht zu töten wagen?«
Gelächter, und Feilonius hörte auf, hin und her zu gehen. Er sieht, wie er die Dinge wieder in den Griff bekommt. »Mehr als das, ihr braucht meine Kooperation mit allen Gliedern. Gut, ich habe die Anzahl feindlicher Agenten in Holzschnitzerins Truppen übertrieben, aber ein paar habe ich wirklich — und vielleicht hat Stahl andere eingeschleust, von denen ich nichts weiß. Wenn ihr mich jemals festnehmt, werden die Flenser-Armeen davon erfahren. Vieles von dem, was ich weiß, wird nutzlos sein — und ihr werdet euch einem unverzüglichen, überwältigenden Angriff ausgesetzt sehen. Du verstehst? Die Königin braucht mich.«
»Und woher sollen wir wissen, dass das nicht wieder Lügen sind?«
»Das ist ein Problem, nicht wahr? Nur zu vergleichen mit dem, wie meine Sicherheit gewährleistet werden kann, wenn ich erst einmal den Feldzug gerettet habe. Das geht zweifellos über deinen Mischlingsverstand. Holzschnitzerin und ich müssen miteinander sprechen, wechselseitig sicher und ungesehen. Bring ihr diese Botschaft. Sie kann die Hintern dieses Verräters nicht kriegen, aber wenn sie zur Zusammenarbeit bereit ist, kann sie ihre eigenen retten!«
Draußen war Stille, unterstrichen vom Quietschen von Tieren in den nahen Bäumen. Schließlich lachte Pilger überraschend auf. »Mischlingsverstand, hm? Gut, in einem Punkt hast du mich erwischt, Feilonius. Ich bin überall auf der Welt herumgekommen, und meine Erinnerungen reichen ein halbes Jahrtausend zurück — aber von allen Schurken und Verrätern und Genies bist du der Gipfel an blanker Unverschämtheit!«
Feilonius stieß einen Akkord in der Klauensprache aus, unübersetzbar, aber ein Zeichen behaglichen Vergnügens. »Es ist mir eine Ehre.«
»Also gut, ich werde deine Argumente der Königin überbringen. Ich hoffe, dass ihr beide schlau genug seid, um euch zu einigen… Noch etwas: Die Königin verlangt, dass Johanna mit mir kommt.«
»Die Königin verlangt? Das klingt mir eher nach deinen Mischlingsgefühlen.«
»Kann sein. Aber es wird beweisen, dass du es ernst meinst mit deinem Vertrauen. Betrachte es als meinen Preis für Zusammenarbeit.«
Feilonius wandte sämtliche Köpfe Johanna zu und überlegte schweigend. Dann spähte er ein letztes Mal durch alle Fenster hinaus. »Also gut, du kannst sie haben.« Zwei sprangen zur Eingangsluke der Hütte hinab, während ein weiteres Paar sie dorthin zog. Seine Stimme war sanft und nahe an ihrem Ohr. »Der verdammte Pilger. Lebendig wirst du mir Scherereien mit der Königin bereiten.« Sein Messer fuhr durch ihr Gesichtsfeld. »Stell dich mir bei ihr nicht entgegen. Ich werde diese Angelegenheit überleben und immer noch mächtig sein.«
Er hob die Tür hoch, und Tageslicht strömte ihr blendend übers Gesicht. Sie blinzelte; da waren ein Büschel Zweige und die Wand der Hütte. Feilonius schob und zog ihre Trage auf den Waldboden und kollerte gleichzeitig seinen Wachen zu, sie sollten auf ihren Posten bleiben. Er und Wanderer plauderten höflich miteinander und vereinbarten, wann der Pilger wiederkommen würde.
Einer nach dem anderen trottete Feilonius zurück durch die Luke in die Hütte. Pilger kam näher und packte die Griffe vorn an der Trage. Einer von seinen Welpen langte aus der Jackentasche, um an ihrem Gesicht zu schnüffeln. »Bist du in Ordnung?«
»Ich bin nicht sicher. Ich habe einen Schlag auf den Kopf bekommen… und irgendwie scheint das Atmen schwer zu fallen.«
Er lockerte die Laken um ihre Brust, während seine übrigen die Trage von der Hütte fortzogen. Das Halbdunkel des Waldes war friedlich und tief, und… Feilonius’ Wachen standen da und dort im Gelände. Wie viele von ihnen waren in den Verrat eingeweiht? Vor zwei Stunden hatte Johanna sie in der Hoffnung auf Schutz angeschaut. Nun ließ jeder Blick von ihnen sie erschaudern. Sie wälzte sich zurück in die Mitte der Trage, wieder benommen, und starrte hinauf in die Zweige und Blätter und Flecken rauchgetrübten Himmels. Wesen wie die Baumschnörkelchen auf Straum jagten einander hin und her und schnatterten, als stritten sie über etwas.
Komisch. Es ist fast ein Jahr her, dass Pilger und Schreiber mich herumgeschleppt haben, und ich war noch schlimmer verletzt und hatte vor allem Angst — auch vor ihnen. Und jetzt… Nie war sie so froh gewesen, jemand anders zu sehen. Sogar Narbenhintern bedeutete nun eine Sicherheit verleihende Kraft an ihre Seite.
Die Wellen des Entsetzens ebbten langsam ab. Was übrig blieb, war ein Zorn, ebenso intensiv wie im Jahr zuvor, wenn auch vernünftiger. Sie wusste, was hier geschehen war, die Spieler waren keine Fremden, der Verrat kein blindwütiges Morden. Nach all der Verräterei von Feilonius, nach all seinen Mordtaten und seinen Plänen, sie alle umzubringen…, sollte er frei ausgehen! Pilger und Holzschnitzerin würden sich das einfach noch einmal überlegen müssen. »Er hat Schreiber getötet, Pilger. Er hat Schreiber getötet…« Er hat Schreiber in Stücke geschnitten, dann Jagd auf das gemacht, was übrig war, und es mitten aus unseren Armen heraus ermordet. »Und Holzschnitzerin will ihn frei ausgehen lassen? Wie kann sie das tun? Wie kannst du das tun?« Die Tränen kamen ihr wieder.
»Psst, psst.« Zwei von Pilgers Köpfen kamen in Sicht. Sie blickten auf sie herab und drehten sich dann fast nervös hin und her. Sie streckte eine Hand aus und berührte das kurze flauschige Fell. Pilger zitterte! Eins von ihm kam nahe herunter, seine Stimme klang überhaupt nicht munter. »Ich weiß nicht, was die Königin tun wird, Johanna. Sie weiß von alledem nichts.«
»Wa…«
»Psst.« Und seine Stimme war kaum noch mehr als ein Surren durch ihre Hand. »Seine Leute können uns noch sehen. Er könnte es immer noch durchschauen… Nur wir beide wissen es, Johanna. Ich glaube nicht, dass jemand anders etwas ahnt.«
»Aber das Rudel, das gestanden hat?«
»Bluff, alles Bluff. Ich habe in meinem Leben ein paar verrückte Sachen gemacht, aber abgesehen davon, dass ich Schreiber hinab zu deinem Sternenschiff gefolgt bin, schießt das den Vogel ab… Nachdem Feilonius dich mitgenommen hatte, begann ich nachzudenken. Du warst nicht so schwer verletzt. Es ähnelte alles zu sehr dem, was Yaqueramaphan widerfahren war, aber ich hatte keinen Beweis.«
»Und du hast es niemandem gesagt?«
»Nein. Ich bin genauso ein Narr wie der arme Schreiber, nicht wahr?« Seine Köpfe schauten in alle Richtungen. »Wenn ich Recht hatte, wäre er töricht, dich nicht sofort zu töten. Ich hatte solche Angst, ich würde schon zu spät kommen…«
Das wärst du, wenn Feilonius nicht eben das Ungeheuer wäre, als das ich ihn kennen gelernt habe.
»Jedenfalls habe ich die Wahrheit ebenso wie der arme Schreiber erfahren — fast zufällig. Aber wenn wir noch siebzig Meter weiter wegkommen können, werden wir nicht so wie er sterben. Und alles, was ich Feilonius gegenüber behauptet habe, wird wahr sein.«
Sie tätschelte seine nächste Schulter und blickte zurück. Die winzige Hütte und ihr Ring von Wachposten verschwanden hinter dem Unterholz des Waldes.
… und Jefri lebt!
CRYPTO: 0
[95 verschlüsselte Pakete wurden übergangen]
EMPFANGEN VON: Ølvira ad hoc
SPRACHPFAD: Tredeschk -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Zonograph Eidolon
[Genossenschaft (oder religiöser Orden) im Mittleren Jenseits, unterhalten von Beiträgen etlicher tausend Zivilisationen im Unteren Jenseits, vor allem solchen, die von Überflutung bedroht sind]
GEGENSTAND: aktualisiertes Flutbulletin und Rufzeichen
VERTEILER:
Abonnenten von Zonograph Eidolon
Interessengruppe Zonometrie
Interessengruppe Bedrohungen, Untergruppe Schifffahrt
Rufzeichen-Teilnehmer
DATUM: 1087892301 Sekunden seit Eichereignis 239.011, Eidolon-Zählung
[66,91 Tage seit dem Untergang von Sjandra Kei]
SCHLAGWÖRTER: Ereignis galaktischen Maßstabes, superluminal, großzügige Notdurchsage
TEXT DER BOTSCHAFT:
(Bitte in allen Antwort-Rufzeichen genaue Ortszeit angeben) Wenn ihr dies empfangt, wisst ihr, dass sich die ungeheuerliche Flutwelle zurückgezogen hat. Die neue Zonenoberfläche scheint ein stabiler Schaum von niedriger Dimensionalität (zwischen 2,1 und 2,3) zu sein. Mindestens fünf Zivilisationen sind in der neuen Anordnung gefangen. Dreißig jungfräuliche Sonnensysteme haben das Jenseits erreicht. (Abonnenten finden die Spezifikationen in den verschlüsselten Daten, die diesem Bulletin folgen.)
Die Veränderung entspricht dem, was normalerweise binnen zweier Jahre über die ganze Oberfläche der galaktischen Langsamen Zone hinweg zu beobachten ist. Diese Flutwelle hat sich jedoch in weniger als zweihundert Stunden und auf weniger als einem Tausendstel dieser Oberfläche ereignet.
Selbst diese Zahlen machen den Maßstab des Ereignisses nicht deutlich. (Das Folgende können nur Schätzungen sein, da so viele Messstellen zerstört wurden und kein Instrument auf Ereignisse dieser Größenordnung geeicht war.) Auf ihrem Höhepunkt reichte die Flutwelle 1000 Lichtjahre über die Normale Zonenoberfläche. Flutgeschwindigkeiten von mehr als dreißigmillionenfacher Lichtgeschwindigkeit [etwa ein Lichtjahr pro Sekunde] wurden über Zeiträume von mehr als hundert Sekunden beibehalten. Berichte von Abonnenten zeigen mehr als zehn Milliarden Todesfälle von Intelligenzwesen, die unmittelbar der Flutwelle zugeschrieben werden können (örtliche Netzausfälle, von Ausfällen verursachte Zusammenbrüche der Umwelt, medizinische Ausfälle, Fahrzeugunfälle, Sicherheitsversagen). Der bekanntgewordene wirtschaftliche Schaden ist weitaus größer.
Eine wesentliche Frage ist nun, was an Nachbeben zu erwarten ist. Unsere Vorhersagen beruhen auf Messstellen und zonometrischen Erkundungen, kombiniert mit historischen Daten aus unseren Archiven. Abgesehen von Langzeittrends ist die Vorhersage niemals eine exakte Wissenschaft gewesen, doch wir haben unsere Abonnenten mit Ankündigungen von Nachbeben und Hinweisen auf verfügbare neue Welten versorgt. Leider macht die gegenwärtige Lage die gesamte vorhergehende Arbeit fast nutzlos. Wir haben präzise Aufzeichnungen, die zehn Millionen Jahre zurückreichen. Flutwellen mit Überlichtgeschwindigkeit sind etwa alle zwanzigtausend Jahre aufgetreten (für gewöhnlich mit Geschwindigkeiten unter 7,0 c). Nichts mit diesem Ungeheuer Vergleichbares ist dokumentiert. Die Flutwelle, deren Zeugen wir soeben geworden sind, ist von der Art, wie sie aus dritter Hand in alten und aufgeschwemmten Datenbanken beschrieben wird: Sculptor hatte eine von dieser Größe vor fünfzig Millionen Jahren. Der [Perseus-Arm] unserer Galaxis hat etwas Ähnliches vor einer halben Milliarde Jahre durchgemacht.
Diese Ungewissheit macht unsere Mission fast unmöglich und ist ein wichtiger Grund für diese öffentliche Botschaft an die Nachrichtengruppe Zonometrie und andere: Alle, die an Zonometrie und Schifffahrt interessiert sind, müssen ihre Ressourcen für dieses Problem vereinigen. Ideen, Archivzugang, Algorithmen — all das kann von Nutzen sein. Wir versprechen Nichtabonnenten wesentliche Beiträge und einen Austausch eins zu eins mit allen, die über wichtige Informationen verfügen. Anmerkung: Wir richten diese Botschaft auch an das Swndwp-Orakel und strahlen sie gerichtet an Punkte im Transzens, die als bewohnt gelten. Ein Ereignis wie dieses muss doch gewiss auch dort von Interesse sein? Wir appellieren an die MÄCHTE ÜBER UNS: Lasst uns euch senden, was wir wissen. Gebt uns einen Hinweis, wenn ihr Vorstellungen von diesem Ereignis habt.
Um unseren guten Glauben zu beweisen, folgen jetzt die Schätzungen, über die wir gegenwärtig verfügen. Sie beruhen auf einfachen Extrapolationen wohldokumentierter Flutwellen in dieser Region. Einzelheiten finden sich im unverschlüsselten Anhang zu dieser Sendung. Das nächste Jahr über wird es fünf oder sechs Nachbeben von abnehmender Geschwindigkeit und Ausbreitung geben. In dieser Zeit werden wahrscheinlich zwei weitere Zivilisationen (siehe Risikotabelle) auf Dauer überflutet werden. Die Bedingungen eines Zonensturms werden sogar dann vorherrschen, wenn keine Nachbeben im Gange sind. Schifffahrt im Raumgebiet [folgen Koordinaten] wird während dieses Zeitraums äußerst gefährlich sein; wir empfehlen, den Schiffsverkehr für diese Zeit einzustellen. Die Zeit reicht vermutlich nicht aus, um machbare Rettungspläne für die bedrohten Zivilisationen zu erlauben. Unsere langfristige Vorhersage (wahrscheinlich die am wenigsten mit Unsicherheit behaftete): Die Schrumpfrate pro Jahrhundert wird für den Maßstab von einer Million Jahre überhaupt nicht berührt. Die nächsten hunderttausend Jahre werden jedoch eine Verzögerung beim Rückweichen der Zonengrenze in diesem Teil der Galaxis erkennen lassen.
Schließlich eine philosophische Anmerkung. Wir von Zonograph Eidolon beobachten die Zonengrenze und die Umlaufbahnen von Grenzsternen. Größtenteils erfolgen die Veränderungen der Zone sehr langsam: 700 Meter pro Sekunde im Falle der Jahrhundert-Langzeitrate. Dennoch betreffen diese Veränderungen zusammen mit der Umlaufbewegung jährlich Milliarden von Leben. Ebenso, wie die Gletscher und Dürrezeiten einer prätechnischen Welt ein Volk beeinflussen, müssen wir diese langfristigen Veränderungen hinnehmen. Stürme und Flutwellen sind zweifellos Tragödien, der fast augenblickliche Tod für manche Zivilisationen. Dennoch sind sie, wie die langsameren Bewegungen, weit jenseits unserer Kontrolle. In den letzten paar Wochen waren einige Nachrichtengruppen voller Geschichten von Krieg und Schlachtflotten, von Milliarden Todesopfern beim Zusammenprall von Arten. All jenen — und denen, die friedlicher rings um sie leben — sagen wir: Schaut auf das Universum. Ihm ist es gleich, und selbst bei all unserer Wissenschaft gibt es manche Katastrophen, die wir nicht verhindern können. Alles Böse und Gute ist ein Nichts vor der Natur. Wir für unsere Person finden Trost darin, dass es ein Universum gibt, das nicht zu Bosheit oder Güte verbogen werden kann, sondern einfach da ist.
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: Ølvira ad hoc
SPRACHPFAD: Arbwyth -› Handel 24 -› Cherguelen -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Quirlipp von den Nebeln
[Wer weiß wer, wahrscheinlich aber keine Propagandastimme. Vorher sehr selten aufgetaucht.]
GEGENSTAND: Die Ursache der jüngsten Großen Flutwelle
VERTEILER:
Pestgefahr
Große Geheimnisse der Schöpfung
Interessengruppe Zonometrie
DATUM: 66,47 Tage seit dem Untergang von Sjandra Kei
SCHLAGWÖRTER: Zoneninstabilität und die PEST, Hexapodie als Schlüsselerkenntnis
TEXT DER BOTSCHAFT:
Entschuldigt, wenn ich allgemein bekannte Schlussfolgerungen wiederhole. Mein einziger Zugang zum Netz ist sehr teuer, und ich verpasse viele wichtige Sendungen. Die Große Flutwelle, die jetzt im Vordringen ist, scheint allen Mitteilungen nach ein Ereignis von kosmischer Dimension und Seltenheit zu sein. Des Weiteren lokalisieren die anderen Teilnehmer ihr Epizentrum weniger als 6000 Lichtjahre vom jüngsten Kriegsgeschehen im Zusammenhang mit der PEST entfernt. Kann das ein rein zufälliges Zusammentreffen sein? Wie seit langem erwogen wird [Zitate aus verschiedenen Quellen, drei davon der Ølvira unbekannt; die zitierten Theorien sind seit langem im Umlauf und nicht falsifizierbar], sind vielleicht die Zonen selbst ein künstliches Gebilde, vielleicht von jemandem jenseits der Tranzendenz geschaffen, um niedere Formen oder [hypothetische] intelligente Gaswolken in Galaxiskernen zu schützen.
Wir haben jetzt zum ersten Mal in der Geschichte des Netzes eine Transzendente Form, die PEST, die das Jenseits wirksam beherrschen kann. Viele im Netz [zitiert Hanse und Sandor beim Zoo] glauben, dass die PEST ein Artefakt nahe am Grunde sucht. Ist es kein Wunder, dass dies das Natürliche Gleichgewicht stören und das jüngste Ereignis hervorrufen sollte?
Bitte schreibt mir und sagt mir, was ihr denkt. Ich kriege nicht viel Post.
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: Ølvira ad hoc
SPRACHPFAD: Baeloresk -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Allianz für die Verteidigung
[Angeblich Union von fünf Imperien unterhalb des Straumli-Bereichs. Vor dem Untergang des Straumli-Bereichs nicht verzeichnet. Zahlreiche Gegenbehauptungen (u.a. von der Aus der Reihe II), dass hinter dieser Allianz die alte Aprahant-Hegemonie steckt. Siehe Schmetterlings-Schrecken.]
GEGENSTAND: Kühne Mission vollendet
VERTEILER:
Pestgefahr
Interessengruppe Kriegsbeobachter
Interessengruppe Homo sapiens
DATUM: 67,07 Tage seit dem Untergang von Sjandra Kei
SCHLAGWÖRTER: Handeln, nicht reden
TEXT DER BOTSCHAFT:
Im Anschluss an unsere Aktion gegen das Menschennest bei [Sjandra Kei] hat ein Teil unserer Flotte Menschen und andere von der PEST kontrollierte Streitkräfte zum Boden des Jenseits verfolgt. Augenscheinlich hat die PEST gehofft, diese Kräfte schützen zu können, indem sie sie in einer Umgebung platzierte, die zu gefährlich für eine Herausforderung wäre. Diese Denkweise hat nicht mit der Tapferkeit der Kommandeure und Mannschaften unserer Allianz gerechnet. Wir können jetzt mitteilen, dass wir diese fliehenden Streitkräfte im Wesentlichen vernichtet haben.
Die erste große Operation unserer Allianz ist ein enormer Erfolg gewesen. Mit der Ausmerzung ihrer wichtigsten Verbündeten ist der Vormarsch der PEST auf das Mittlere Jenseits gestoppt worden. Doch viel bleibt noch zu tun:
Die Flotte der Allianz kehrt ins Mittlere Jenseits zurück. Wir haben einige Schäden erlitten und brauchen eine grundlegende Versorgung mit neuen Vorräten. Wir wissen, dass es noch verstreute Nester der Menschheit im Jenseits gibt, und wir haben Rassen zweiter Ordnung identifiziert, die die Menschheit unterstützen. Die Verteidigung des Mittleren Jenseits muss das Ziel eines jeden Intelligenzwesens sein, das guten Willens ist. Einheiten eurer Allianzflotte werden bald Systeme im Raumgebiet [folgen Koordinaten] besuchen. Wir bitten um eure Hilfe und Unterstützung gegen die Überreste des schrecklichen Feindes.
Tod dem Ungeziefer.
Hjjet Svensndot war allein auf der Brücke der Ølvira, als die Flutwelle vorüberging. Sie hatten längst alle Vorbereitungen getroffen, die Sinn ergaben, und in dem Langsam, das sie umgab, verfügte das Schiff über keine Antriebsmittel. Dennoch verbrachte der Gruppenkapitän viel von seiner Zeit hier oben und versuchte, der verbleibenden Automatik eine Art vernünftige Reaktionen einzuprogrammieren. Programmieren auf halbidiotischem Niveau war ein Zeitvertreib, der wie Stricken bis zu den Anfängen menschlicher Erfahrung zurückreichen musste.
Natürlich wäre der tatsächliche Austritt aus dem Langsam völlig unbemerkt geblieben, wenn er und die Dirokime nicht all die Alarmanlagen installiert hätten. So rissen ihn der Lärm und die Lichter aus halbem Dahindösen in hellwache Erregung. Er hieb auf die Kom-Tasten des Schiffs: »Glimfrell! Tirroll! Seht zu, dass ihr herauf kommt.«
Als die Brüder das Deck erreichten, waren vorläufige Navigationsanzeigen berechnet worden, und eine Sprungsequenz wartete auf Bestätigung. Die beiden grinsten über beide Ohren, als sie hereinplatzten und sich an ihren Posten anschnallten. Ein paar Augenblicke lang gab es nicht viel Geplapper, nur gelegentlich einen Pfiff des Vergnügens von den Dirokimen. In den letzten reichlich hundert Stunden hatten sie das immer wieder durchgespielt, und bei der armseligen Automatik hatten sie jetzt eine Menge zu tun. Allmählich wurde das Bild auf den Bildschirmen des Decks schärfer. Wo zunächst nur vage Schlieren gewesen waren, meldeten die Ultrawellen-Sensoren einzelne Spuren mit zunehmend genauer Information über Sprungweite und -häufigkeit. Das Kommunikationsfenster zeigte eine ständig wachsende Warteschlange von Flottenmeldungen.
Tirroll blickte von seiner Arbeit auf. »He, Chef, diese Sprungberechnungen scheinen in Ordnung zu sein — zumindest für den ersten Versuch.«
»Gut. Bestätigen und Selbstbestätigung erlauben.« In den Stunden nach dem Eintritt in die Flutwelle hatten sie beschlossen, dass zunächst die Fortsetzung der Verfolgung Vorrang haben sollte. Was sie dann tun würden — darüber hatte sie lange gesprochen, und Gruppenkapitän Svensndot hatte sogar noch länger nachgedacht. Nichts war mehr wie üblich.
»Jawohl!« Die Innenfinger des Dirokims tanzten über das Pult, und ’Roll fügte ein paar verbale Kommandos hinzu. »Bingo!«
Der Statusschirm zeigte, dass fünf Sprünge durchgeführt worden waren, zehn. Kjet starrte ein paar Sekunden lang auf den optischen Außenbildschirm. Keine Veränderung, keine Veränderung… Dann bemerkte er, dass sich einer der hellsten Sterne im Bildausschnitt bewegt hatte, unmerklich über den Himmel glitt. Wie ein Jongleur, der allmählich sein Tempo fand, gewann die Ølvira an Geschwindigkeit.
»Hei hei!« Glimfrell beugte sich herüber, um zu sehen, was sein Bruder tat. »Wir machen 1,2 Lichtjahre pro Stunde. Das ist besser als vor der Flutwelle.«
»Gut. Kommunikation und Beobachtung?« Wo waren die anderen, und was hatten sie vor?
»Ja, ja. Ich bin dran.« Glimfrell beugte seine schlanke Gestalt zum Pult zurück. Ein paar Sekunden lang war er fast still. Svensndot begann, die Post durchzublättern. Es war noch nichts von Eignerin Limmende dabei. Seit fünfundzwanzig Jahren arbeitete Kjet für Limmende und die Sicherheitsgesellschaft von Sjandra Kei. Konnte er meutern? Und wenn er es tat, würde ihm jemand folgen?
»In Ordnung. So ist die Lage, Chef.« Glimfrell verschob das Hauptfenster, um seine Auslegung der Schiffsmeldungen zu zeigen. »Es ist, wie wir vermutet haben, vielleicht ein bisschen extremer.« Sie hatten fast von Anfang an begriffen, dass die Flutwelle größer als alles in der überlieferten Geschichte war; das war es nicht, was der Dirokim mit ›extrem‹ meinte. Er fuhr mit den Außenfingern nach unten und zog eine unscharfe blaue Linie über das Fenster. »Wir haben angenommen, dass sich die Vorderfront der Welle senkrecht zu dieser Linie bewegt. Das würde bewirken, dass sie Chefin Limmende vierhundert Sekunden früher ausschaltete, als sie die Aus der Reihe traf, und uns zehn Sekunden danach… Wenn nun die Vorderfront mit gewöhnlichen Wellen vergleichbar war« — in millionenfach größerem Maßstab —, »müssten erst wir und dann der Rest der verfolgenden Flotten auch vor der Aus der Reihe wieder heraustreten.« Er zeigte auf einen einzelnen leuchtenden Fleck, der die Ølvira darstellte. Neben und knapp vor ihm flammten Dutzende von Lichtpunkten auf, in dem Maße, wie die Schiffsdetektoren beobachtete Einleitungen von Ultrasprüngen meldeten. Es war wie ein kaltes Feuer, das sich von ihnen fort in die Dunkelheit ausbreitete. Schließlich würden auch Limmende und das Herz der anonymen Flotte wieder präsent sein. »Unser Empfangslog zeigt, dass es sich ungefähr so zugetragen hat. Der größte Teil der Verfolgerflotten wird vor der Aus der Reihe aus der Welle hervortauchen.«
»Hm. Sie wird also einen Teil ihres Vorsprungs einbüßen.«
»Ja. Doch wenn sie dahin fliegt, wohin wir glauben« — ein Stern der G-Klasse achtzig Lichtjahre vor dem Flüchtling —, »dann kommt sie immer noch an, ehe sie sie vernichten.« Er hielt inne und zeigte auf einen Nebel, der sich seitlich aus dem wachsenden Lichtklumpen löste. »Es nehmen nicht mehr alle an der Jagd teil.«
»Tja…« Svensndot hatte weiter in den Nachrichten gelesen, während er ’Frells Zusammenfassung hörte. »Dem Netz zufolge ist das die Allianz für die Verteidigung, die siegreich das Schlachtfeld verlässt.«
»Wie bitte?« Tirroll drehte sich abrupt in seinem Gefechtsharnisch. In seinen großen, dunklen Augen stand nichts von seinem gewohnten Humor.
»Wie ich sagte.« Kjet platzierte die Meldung so, dass die Brüder sie sehen konnten. Rasch lasen die beiden, wobei ’Frell manche Sätze laut murmelte: »… Tapferkeit der Kommandeure und Mannschaften… die fliehenden Streitkräfte im Wesentlichen vernichtet…«
Glimfrell schauderte, all seine Leichtfertigkeit war verschwunden. »Sie erwähnen die Flutwelle nicht einmal. Alles, was sie sagen, ist eine feige Lüge!« Seine Stimme glitt zu seinen normalen Sprechfrequenzen hinauf, und er fuhr in der eigenen Sprache fort. Kjet verstand einen Teil davon. Die Dirokime, die ihre Traumhabitate verließen, waren für gewöhnlich leichtfertige Leute, voll Ironie und sanftem Sarkasmus. Genauso klang Glimfrell jetzt beinahe, abgesehen von den hohen Spitzen in seinem Pfeifen und Schimpfworten, die saftiger waren als alles, was Svensndot jemals von ihnen gehört hatte: »… Söhne eines verwanzten Kuhfladens… Mörder unschuldiger Träume…« Sogar in Samnorsk waren das starke Worte, doch in der Dirokim-Sprache troff ›verwanzter Kuhfladen‹ geradezu von eindeutigen Bildern, die fast den Geruch solch eines Dings heraufbeschworen. Glimfrells Stimme kletterte immer höher, dann über die menschliche Hörschwelle hinaus. Auf einmal brach er ab, zitternd und leise stöhnend. Dirokime konnten weinen, obwohl Svensndot derlei niemals zuvor gesehen hatte. Glimfrell wiegte sich in den Armen seines Bruders hin und her.
Tirroll schaute über Glimfrells Schulter auf Kjet. »Wohin führt uns die Rache nun, Gruppenkapitän?« .
Eine kurze Zeit erwiderte Kjet den Blick schweigend. »Ich werde es dich wissen lassen, Leutnant.« Er schaute auf die Anzeigen. Noch ein bisschen hören und beobachten, und wir werden es vielleicht wissen. »Zunächst bring uns näher ans Zentrum der Verfolger«, sagte er sanft.
»Zu Befehl.« Tirroll schlug seinem Bruder sacht auf den Rücken und kehrte an sein Pult zurück.
In den nächsten fünf Stunden sah die Besatzung der Ølvira zu, wie die Allianzflotte Hals über Kopf das Weite suchte. Man konnte es nicht einmal einen Rückzug nennen, eher eine panische Auflösung. Große Opportunisten, die sie waren, hatten sie nicht gezögert, heimtückisch zu morden und sich an einer Jagd zu beteiligen, da sie glaubten, am Ende Beute machen zu können. Nun, angesichts der Möglichkeit, im Langsam gefangen zu werden oder zwischen den Sternen zu sterben, brachten sie sich eilends in Sicherheit. Ihre Verlautbarungen an die Nachrichtengruppen troffen vor Wagemut, doch ihr Manöver war nicht zu kaschieren. Bisher neutrale Beobachter wiesen auf die Diskrepanz hin; man stimmte mehr und mehr überein, dass die Allianz eine Schöpfung der Aprahant-Hegemonie war und vielleicht andere Motive als selbstlosen Widerstand gegen die PEST hatte. Man spekulierte nervös, wem sich die Aufmerksamkeit der Allianz wohl als Nächstes zuwenden würde.
Noch immer waren Haupttransceiver auf die Flotten ausgerichtet. Sie hätten ebenso gut in einem Hauptstamm des Netzes sein können. Der Nachrichtenverkehr war ein breiter Wasserfall und überstieg völlig die gegenwärtige Empfangskapazität der Ølvira. Nichtsdestoweniger hatte Svensndot ein Auge darauf. Irgendwo dort gab es vielleicht einen Schlüssel, eine Erleuchtung… Die Mehrheit der ›Kriegsbeobachter‹ oder der Gruppe ›Bedrohungen‹ schien wenig Interesse für die Allianz oder die Vernichtung von Sjandra Kei an sich aufzubringen. Die meisten waren entsetzt über die PEST, die sich noch immer über die Obergrenze des Jenseits ausbreitete. Keine von den Höchsten Zivilisationen hatte erfolgreich Widerstand geleistet, und es gab Gerüchte, zwei weitere MÄCHTE, die sich eingemischt hatten, seien vernichtet worden. Es gab welche (insgeheim Sprachrohre der PEST?), die die neue Stabilität an der Obergrenze begrüßten, selbst wenn sie auf ständigem Parasitismus beruhte.
Die Jagd hier unten am Grund, der Flug der Aus der Reihe und ihrer Verfolger, schien eigentlich die einzige Stelle zu sein, wo die PEST keinen vollständigen Triumph errungen hatte. Kein Wunder, dass sie Gegenstand von 10.000 Botschaften pro Stunde waren.
Die Geometrie des Austritts aus der Flutwelle war außerordentlich günstig für die Ølvira. Sie hatten sich am Rande des Geschehens befunden, doch nun hatten sie Stunden Startvorsprung vor den Hauptflotten. Glimfrell und Tirroll arbeiteten mehr als je in ihrem Leben, sie verfolgten das allmähliche Auftauchen der Flotte und teilten den anderen Schiffen der Sicherheitsgesellschaft die Identität der Ølvira mit. Solange Skrits und Limmende nicht aus dem Langsam hervortraten, war Kjet Svensndot der ranghöchste Offizier der Organisation. Außerdem kannten ihn die meisten Befehlshaber persönlich. Kjet war nie der Typ eines Admirals gewesen; seinen Rang als Gruppenkapitän hatte er für seine Fähigkeiten als Pilot erhalten, und das in Friedenszeiten. Er hatte sich immer damit abgefunden, den Willen seiner Arbeitgeber zu tun. Nun jedoch…
Der Gruppenkapitän nutzte die Privilegien seines Rangs. Die Schiffe der Allianz wurden nicht verfolgt. (»Warten Sie, bis wir alle zusammen handeln können«, befahl Svensndot.) Mögliche taktische Pläne sprangen zwischen den Schiffen der auftauchenden Flotte hin und her, einschließlich Vorgehensweisen für den Fall, dass das Hauptquartier zerstört war. Einigen Kommandeuren gegenüber deutete Kjet an, dass dies der Fall sein könnte, dass sich Limmendes Flaggschiff in der Hand des Feindes befand und dass die Allianz in gewisser Hinsicht nur ein Nebeneffekt jenes wahren Feindes war. Sehr bald würde Kjet auf den ›Verrat‹ festgelegt sein, den er plante.
Das Flaggschiff Limmendes und der Kern der Pestflotte tauchten fast gleichzeitig aus dem Langsam auf. Signalalarme erklangen auf dem Deck der Ølvira, während vorrangige Botschaften eintrafen und die Crypto-Apparatur des Schiffs durchliefen. »Absender: Limmende im HQ. Priorität Sternenbrecher«, sagte die Stimme des Schiffs.
Glimfrell legte die Botschaft auf den Hauptbildschirm, und Svensndot spürte, wie ihm kalte Gewissheit den Nacken hinaufkroch.
… Alle Einheiten haben fliehende Schiffe zu verfolgen. Dies ist der Feind, die Mörder unseres Volkes. WARNUNG: Tarnung zu erwarten. Vernichten Sie alle Schiffe, die diese Befehle widerrufen. Schlachtordnung und Beglaubigungscodes folgen.
Die Schlachtordnung war einfach, selbst für die Verhältnisse der Sicherheitsgesellschaft: Limmende wollte, dass sie sich trennten und verschwanden und gerade lange genug blieben, um ›getarnte Feinde‹ zu vernichten. Kjet sagte zu Glimfrell: »Was ist mit den Beglaubigungscodes?«
Der Dirokim schien wieder er selbst zu sein. »Sie sind sauber. Wir würden die Botschaft gar nicht empfangen, wenn der Absender nicht über die heutige Tagesmatrix verfügen würde… Wir bekommen die ersten Anfragen von den anderen, Chef. Über Ton- und Bildkanal. Sie wollen wissen, was sie tun sollen.«
Hätte er nicht in den letzten paar Stunden den Grund gelegt, so wäre Kjets Meuterei völlig aussichtslos gewesen. Wäre die Sicherheitsgesellschaft eine richtige Militärorganisation gewesen, wäre Limmendes Befehl vielleicht blindlings befolgt worden. So wie die Dinge lagen, erwogen die anderen Befehlshaber die Fragen, die Svensndot aufgeworfen hatte: Auf diese Entfernungen waren Bildübertragungen leicht, und die Flotte besaß hinreichend große Einwegcodierer, um riesige Informationsmengen zu verarbeiten. Dennoch hatte ›Limmende‹ eine ausgedruckte Botschaft für ihre vorrangige Botschaft gewählt. Wenn die Verschlüsselung korrekt war, war sie militärisch vollkommen sinnvoll, doch es war auch, was Svensndot vorhergesagt hatte: Das vermeintliche Hauptquartier hatte keine rechte Lust, hier unten, wo perfekte Tarnung unmöglich war, sein Gesicht zu zeigen. Seine Befehle würden schriftlich eintreffen oder als Animationen, die jeder scharfe Beobachter erkennen konnte.
An solch einer dünnen Schnur von Schlussfolgerungen hingen Kjet und seine Freunde.
Kjet betrachtete den Lichtknoten, der die Pestflotte darstellte. Sie litt nicht unter Unentschlossenheit. Keins von ihren Schiffen zog sich in sicherere Höhen zurück. Was immer dort den Befehl führte, gebot über eine Disziplin, die die der meisten menschlichen Armeen übertraf. Es würde für sein einziges Ziel, die Verfolgung eines einzelnen kleinen Sternenschiffs, alles opfern. Was nun, Gruppenkapitän?
Ein kleines Stück vor diesem kalten Lichtklumpen tauchte ein vereinzeltes Lichtpünktchen auf. »Die Aus der Reihe!«, sagte Glimfrell. »Jetzt fünfundsechzig Lichtjahre voraus.«
»Ich empfange verschlüsselte Bilder von ihr, Chef. Dieselbe angeknackste XOR-Matrix wie zuvor.« Er legte das Signal auf den Hauptschirm, ohne Kjets Anweisung abzuwarten.
Es war Ravna Bergsndot. Den Hintergrund bildete ein Wirrwar von Bewegung und Geschrei; der seltsame Mensch und ein Skrodfahrer stritten sich. Bergsndot blickte von der Kamera weg und trug ihren Teil zum Geschrei bei. Es sah noch schlimmer aus, als Kjet es von den ersten Momenten nach dem Austritt seines Schiffes in Erinnerung hatte.
»Das ist jetzt egal, sagte ich dir! Lass ihn in Ruhe. Wir müssen Verbindung…« Dann bemerkte sie offensichtlich Glimfrells Bestätigungssignal. »Sie sind da! Bei den MÄCHTEN, Pham, bitte…« Sie winkte wütend ab und wandte sich der Kamera zu. »Gruppenkapitän. Wir sind…«
»Ich weiß. Wir sind schon seit Stunden aus der Flutwelle heraus. Wir befinden uns jetzt nahe am Zentrum der Verfolger.«
Sie schnappte nach Luft. Selbst bei hundert Stunden Vorausplanung folgten die Ereignisse zu schnell für sie. Und für mich auch. »Das ist wenigstens etwas«, sagte sie nach einem Augenblick. »Alles, was wir vorher gesagt haben, gilt noch, Gruppenkapitän. Es ist die PEST, die uns auf den Fersen ist. Bitte!«
Svensndot bemerkte eine Kontrolllampe neben dem Fenster. Der dreiste Glimfrell leitete die Sendung an alle in der Flotte weiter, denen sie trauen konnten. Gut. Er hatte die Situation in den letzten Stunden mit den anderen durchgesprochen, doch es war etwas anderes, Ravna Bergsndot auf dem Bildschirm zu sehen, jemanden von Sjandra Kei, der noch lebte und ihre Hilfe brauchte. Ihr könnt den Rest eures Lebens damit zubringen, im Mittleren Jenseits der Rache nachzujagen, doch ihr werdet nichts als die Geier töten. Das, was auf Ravna Bergsndot Jagd macht, muss der Urheber all dessen sein.
Die Schmetterlinge waren längst weg und sangen immer noch das Loblied ihres Mutes übers Netz. Weniger als ein Prozent der Sicherheitsgesellschaft hatte ›Limmendes‹ Befehl, ihnen nachzusetzen, befolgt. Diese waren nicht das Problem: Es waren die zehn Prozent, die zurückblieben und sich zu den Streitkräften der PEST gesellten, die Kjet Svensndot Sorgen bereiteten. Manche von diesen Schiffen waren vielleicht nicht unterwandert, hielten sich vielleicht an Befehle, denen sie glaubten. Es würde sehr schwer sein, auf sie zu schießen.
Und es würde einen Kampf geben, kein Zweifel. Sich unter Ultraantrieb in die Position für eine Auseinandersetzung zu manövrieren, war schwer — wenn die andere Seite auszuweichen versuchte. Doch die Flotte der PEST blieb beharrlich bei ihrer Jagd auf die Aus der Reihe. Langsam, langsam kamen die beiden Flotten dahin, dasselbe Raumgebiet einzunehmen. Gegenwärtig waren sie über Kubik-Lichtjahre verstreut, doch mit jedem Sprung war die Aniara-Flotte des Gruppenkapitäns besser auf das Antriebsstakkato ihrer Beute abgestimmt. Manche Schiffe befanden sich schon wenige hundert Millionen Kilometer vom Feind entfernt — oder von der Stelle, wo der Feind gewesen war oder sein würde. Die taktischen Zielzuweisungen wurden festgelegt. Der erste Feuerwechsel lag nur noch ein paar hundert Sekunden entfernt.
»Nachdem die Aprahanti fort sind, haben wir die zahlenmäßige Überlegenheit. Ein normaler Feind würde sich jetzt zurückziehen…«
»Aber genau das ist die Pestflotte nicht.« Es war der rothaarige Bursche, der jetzt redete. Es war gut, dass Glimfrell sein Gesicht nicht an der Rest von Svensndots Flotte weitergegeben hatte. Der Bursche handelte die meiste Zeit kantig und fremdartig. Jetzt eben schien er darauf aus zu sein, jede Idee, die Svensndot aufbrachte, zu verwerfen. »Der PEST sind ihre Verluste gleichgültig, wenn sie nur bei der Ankunft die Oberhand hat.«
Svensndot zuckte die Achseln. »Sehen Sie, wir werden tun, was wir können. Das Feuer wird in einhundertundfünfzig Sekunden eröffnet. Wenn sie nicht einen geheimen Vorteil haben, können wir diesmal gewinnen.« Er musterte sein Gegenüber scharf. »Oder meinen Sie das? Könnte die PEST…« Noch immer trafen Geschichten darüber ein, wie sich die PEST an der Obergrenze des Jenseits ausbreitete. Zweifellos war es eine transhumane Intelligenz. Ein unbewaffneter Mann konnte einem Rudel Hunde zahlenmäßig unterlegen sein und sie dennoch besiegen. Könnte also die PEST…
Pham Nuwen schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nein. Die Taktik der PEST hier unten wird Ihrer wahrscheinlich unterlegen sein. Ihren großen Vorteil hat sie an der Obergrenze, wo sie ihre Sklaven wie die Finger einer Hand unter Kontrolle hat. Ihre Kreaturen hier unten sind wie schlecht synchronisierte Fern-Manipulatoren.« Nuwen bedachte etwas außerhalb des Kamera-Blickfelds mit einem Stirnrunzeln. »Nein, was wir fürchten müssen, ist ihre strategische Schläue.« Seine Stimme klang auf einmal abwesend, und das war irritierender als die Ungeduld zuvor. Es war nicht die Ruhe von jemandem, der sich einer Drohung stellt; es war eher die Ruhe eines Schwachsinnigen. »Einhundert Sekunden bis zum Kontakt… Gruppenkapitän, wir haben eine Chance, wenn Sie Ihre Kräfte auf die richtigen Punkte konzentrieren.« Ravna schwebte von oben her ins Bild, legte dem Rotschopf eine Hand auf die Schulter. Gottsplitter hatte sie ihn genannt, ihre Geheimwaffe gegen den Feind. Gottsplitter, die Sterbebotschaft einer MACHT; Anfall oder ein Schatz — wer konnte das sagen?
Verdammt. Wenn die anderen Kerle schlecht synchronisierte Fern-Manipulatoren sind, was wird dann aus uns, wenn wir Pham Nuwen folgen? Doch er wies Tirroll an, die Ziele zu markieren, die Nuwen nannte. Neunzig Sekunden. Zeit für die Entscheidung. Kjet deutete auf die roten Markierungen, die Tirroll über die feindliche Flotte verstreut hatte. »Ist an diesen Zielen irgendwas Besonderes, ’Roll?«
Einen Moment lang pfiff der Dirokim. Quälend langsam erschienen in den Fenstern vor ihm die Korrelationen. »Die Schiffe, die er als Ziele nennt, sind weder die größten noch die schnellsten. Es wird zusätzliche Zeit erfordern, für sie in Position zu gehen.« Flaggschiffe? »Noch etwas. Manche von ihnen haben hohe Echtgeschwindigkeiten, überhaupt nicht das, was man als Restimpuls erwarten kann.« Schiffe mit Staustrahlantrieb? Planetenknacker?
»Hm.« Svensndot schaute nur noch eine Sekunde auf den Bildschirm. Dreißig Sekunden, und Jo Haugens Schiff Lynsnar würde Feindberührung haben, aber mit keinem von Pham Nuwens Zielen. »Nimm Verbindung auf, Glimfrell. Sag der Lynsnar, sie soll sich zurückziehen und neue Ziele suchen.« Alle sollten sich neue Ziele suchen.
Die Lichter, die die Aniara-Flotte waren, glitten langsam um den Kern der Pestflotte und suchten ihre neuen Ziele. Zwanzig Minuten vergingen, und mit ihnen nicht wenige Diskussionen mit den anderen Kapitänen. Was Kjet Svensndots Appell zum Erfolg verholfen hatte, war auch der Anlass zu ständigen Fragen und Gegenvorschlägen. Und dann gab es noch die Drohungen, die auf dem Kanal von Eignerin Limmende eintrafen: Tötet alle Meuterer, Tod allen, die der Gesellschaft nicht die Treue halten. Die Codes waren gültig, der Ton aber passte überhaupt nicht zu der milden, profitorientierten Giske Limmende. Jeder sah jetzt, dass es jedenfalls richtig gewesen war, Limmende nicht zu glauben.
Johanna Haugen war die Erste, die Synchronisation mit den neuen Zielen erreichte. Glimfrell öffnete das Hauptfenster für den Datenfluss der Lynsnar: Die Sicht war fast eine natürliche, ein Nachthimmel sich langsam verschiebender Sterne. Das Ziel lag weniger als dreißig Millionen Kilometer von der Lynsnar entfernt, aber etwa eine Millisekunde phasenverschoben. Haugen kam jedes Mal an, unmittelbar bevor oder nachdem der andere gesprungen war.
»Sonden ausgesetzt«, ertönte Haugens Stimme. Jetzt empfingen sie ein optisches Bild von der Lynsnar aus ein paar Meter Entfernung, aufgenommen von einer Kamera in einer der ersten gestarteten Sonden. Das Schiff war kaum zu sehen, eine dunkle Masse, die die Sterne dahinter verdeckte — ein gewaltiger Fisch in den Tiefen eines endlosen Meeres. Ein Fisch, der nun laichte. Das Bild flackerte, die Lynsnar verschwand und tauchte wieder auf, als die Sonde für Augenblicke außer Phase geriet. Ein Schwarm blauer Lichter quoll aus den Laderäumen des Schiffes. Waffensonden. Der Schwarm schwebte rings um die Lynsnar, eichte sich, richtete sich auf den Feind aus.
Das Licht rings um die Lynsnar verglomm in dem Maße, wie die Sonden gruppenweise die Phase in Raum und Zeit wechselten. Tirroll öffnete ein Fenster, das eine Sphäre von hundert Millionen Kilometern rund um die Lynsnar zeigte. Das Ziel war ein roter Punkt, der wie ein verrücktes Insekt die Sphäre umflatterte. Die Lynsnar schlich sich bei achttausendfacher Lichtgeschwindigkeit an ihre Beute an. Manchmal verschwand das Ziel für eine Sekunde, wenn die Synchronisation fast verloren war; dann wieder verschmolzen Lynsnar und Ziel für einen Moment, wenn sich die beiden Schiffe für eine Zehntelsekunde in einer Entfernung von weniger als einer Million Kilometer befanden. Was nicht akkurat dargestellt werden konnte, war die Verteilung der Sonden. Der Laich breitete sich auf einer Myriade von Flugbahnen aus, seine Sensoren auf der Suche nach Anzeichen des feindlichen Schiffes.
»Was ist mit dem Ziel, hat es einen Gegenschwarm abgesetzt? Braucht ihr Unterstützung?«, fragte Svensndot. Tirroll zuckte auf Dirokim-Art die Achseln. Was sie beobachteten, lag drei Lichtjahre entfernt. Er konnte es unmöglich wissen.
Doch Jo Haugen antwortete: »Ich glaube nicht, dass mein Popanz schwärmt. Ich habe nur fünf Sonden verloren, nicht mehr, als von knappen Fehltreffern her zu erwarten ist. Wir werden sehen…« Sie machte eine Pause, doch Spur und Signal der Lynsnar blieben kräftig. Kjet blickte auf die anderen Fenster. Fünf von der Aniara hatten schon Feindberührung, und drei hatten Schwärme ausgesetzt. Nuwen schaute von der Aus der Reihe her schweigend zu. Die Gottsplitter hatten ihren Willen gehabt, und nun waren Kjet und die Seinen festgelegt.
Und jetzt trafen gute und schlechte Nachrichten sehr schnell ein:
»Erwischt!«, rief Jo Haugen. Der rote Punkt im Schwarm der Lynsnar war nicht mehr da. Er war in ein paar Kilometern Entfernung an einer der Sonden vorbeigekommen. In den Millisekunden, die zur Berechnung und Durchführung eines neuen Sprungs nötig waren, hatte die Sonde seine Anwesenheit entdeckt und war detoniert. Selbst das wäre nicht tödlich gewesen, wenn das Ziel gesprungen wäre, ehe die Explosionsfront es traf; in den Sekunden zuvor hatte es mehrere solche knappen Fehltreffer gegeben. Diesmal konnte der Sprung nicht rechtzeitig vollendet werden. Ein Ministern war geboren, dessen Licht erst nach Jahren den Rest des dreidimensionalen Schlachtfeldes erreichen würde.
Glimfrell stieß ein kratzendes Pfeifen aus, einen unübersetzbaren Fluch. »Wir haben eben Ablsndot und Holder verloren, Chef. Ihr Ziel muss einen Gegenschwarm ausgesetzt haben.«
»Schick Gliwing und Trance hin.« Etwas in seinem Hinterkopf ballte sich zu einem Knoten des Entsetzens zusammen. Es waren seine Freunde, die da starben. Kjet war dem Tod schon früher begegnet, doch niemals so. Bei einer Polizeiaktion ging niemand tödliche Risiken ein, außer um jemanden zu retten. Und doch… Er wandte sich von der Feldübersicht ab, um weitere Schiffe zu einem Ziel zu beordern, um das sich Verteidiger geschart hatten. Tirroll führte selbständig andere in die Schlacht. Wenn sie sich um ein paar unwichtige Ziele zusammenrotteten, verloren sie vielleicht auf lange Sicht, doch vorerst… wurde der Feind verletzt. Zum ersten Mal seit dem Untergang von Sjandra Kei schlug die Sicherheitsgesellschaft zurück.
Haugen: »Bei den MÄCHTEN, war der Bursche in Fahrt! Eine Sekundärsonde hat bei der Vernichtung das elektromagnetische Spektrum aufgenommen. Das Ziel flog mit 15.000 Kilometer pro Sekunde Echtgeschwindigkeit.« Eine Raketenbombe, die sich gerade in Gang setzte? Verdammt. Sie mussten das zurückstellen, bis sie das Schlachtfeld unter Kontrolle hatten.
Tirroll: »Weitere Treffer am anderen Rande des Schlachtfelds. Der Feind gruppiert sich um. Irgendwie haben sie erraten, hinter welchen wir her sind…«
Glimfrell: Triumphierendes Pfeifen. »Erledigt sie, erledigt sie… och. Chef, ich glaube, Limmende hat herausgefunden, dass wir alles koordinieren…«
Über Tirrolls Posten öffnete sich ein neues Fenster. Es zeigte die fünf Millionen Kilometer rings um die Ølvira. Zwei weitere Schiffe waren jetzt dort: das Fenster identifizierte sie als Limmendes Flaggschiff und eins von den Schiffen, die nicht auf Svensndot Anwerbung geantwortet hatten.
Für einen Moment war es auf dem Steuerdeck der Ølvira still. Die Triumph- und Panikrufe vom Rest der Flotte schienen auf einmal sehr weit weg zu sein. Svensndot und seine Mannschaft sahen dem Tod in die Augen. »Tirroll! Wann werden sie…«
»Sie schwärmen schon — eben sind wir einer Sonde um zehn Millisekunden entgangen.«
»Tirroll! Steuerung laufender Gefechte einstellen. Glimfrell, sag Lynsnar und Trance, sie sollen das Kommando übernehmen, wenn wir Verbindung verlieren.« Diese Schiffe hatten ihre Sonden schon verbraucht, und Jo Haugen war allen anderen Kapitänen bekannt.
Dann war der Gedanke vergessen, und er hatte zu tun, den eigenen Kampfschwarm der Ølvira zu koordinieren. Das örtliche Taktikfenster zeigte, wie sich der Schwarm verteilte und verschiedene Farben annahm, je nachdem, ob die Sonden der Ølvira voraus- oder nacheilten.
Ihre beiden Angreifer hatten die Pseudo-Geschwindigkeiten perfekt angepasst. Zehnmal pro Sekunde sprangen alle drei Schiffe um den winzigen Bruchteil eines Lichtjahrs weiter. Wie flache Steine, die über die Oberfläche eines Teiches schnellen, erschienen sie in perfekt bemessenen Sprüngen im Echtraum — und bei jedem Auftauchen betrug der Abstand zwischen ihnen weniger als fünf Millionen Kilometer. Das Einzige, was sie jetzt trennte, waren Unterschiede von Millisekunden zwischen den Sprungzeiten und die Tatsache, dass das Licht selbst in der kurzen Zeit, die sie an jedem Sprungpunkt verweilten, nicht vom einen zum anderen laufen konnte.
Drei grelle Lichtblitze erhellten das Deck und zeichneten scharfe Schatten von Svensndot und den Dirokimen. Es war Licht aus zweiter Hand, das Notsignal des Bildschirms, das eine Explosion in nächster Nähe anzeigte. Mach, dass du wegkommst, war die Botschaft, die jede vernünftige Person aus diesem schrecklichen Licht lesen müsste. Es wäre einfach genug gewesen, aus der Phase zu gehen… und die taktische Kontrolle der Aniara-Flotte zu verlieren. Tirroll und Glimfrell wandten den Kopf vom örtlichen Fenster weg, scheuten vor dem Glanz des nahen Todes zurück. Ihre pfeifenden Stimmen gerieten kaum aus dem Gleichmaß, und weiterhin ergingen von der Ølvira die Befehle an die anderen. Ringsum waren Dutzende von weiteren Gefechten im Gange. Momentan war die Ølvira die einzige Quelle von Präzision und Steuerung, über die ihre Seite verfügte. Jede Sekunde, die sie auf dem Posten blieben, bedeutete für die Aniara Schutz und Vorteil. Zu fliehen hätte Minuten des Chaos bedeutet, bis Lynsnar oder Trance die Leitung übernehmen konnten.
Fast zwei Drittel von Pham Nuwens Zielen waren jetzt vernichtet. Der Preis war hoch gewesen, die Hälfte von Svensndots Freunden. Der Feind hatte viel geopfert, um diese Ziele zu schützen, dennoch war noch viel von seiner Flotte übrig.
Eine unsichtbare Hand versetzte der Ølvira einen Schlag und schleuderte Svensndot hart gegen seinen Gefechtsharnisch. Die Lichter gingen aus, selbst das Leuchten der Anzeigefenster. Dann drang trübes rotes Licht vom Fußboden her. Ein einziger kleiner Bildschirm zeichnete die Silhouetten der Dirokime. ’Roll pfiff leise. »Wir sind aus dem Spiel, Chef, zumindest solange es darauf ankommt. Ich habe nicht gewusst, dass Fehltreffer so nahe sein können.«
Vielleicht war es gar kein Fehltreffer. Kjet schälte sich aus seinem Harnisch und schnellte sich quer durch den Raum, um kopfunter über dem winzigen Monitor hängen zu bleiben. Vielleicht sind wir schon tot. Irgendwo sehr nahe war eine Sonde detoniert, und die Wellenfront hatte die Ølvira erreicht, ehe sie sprang. Der harte Stoß war die Explosion der äußeren Teile des Schiffsrumpfes gewesen, als sie die weiche Röntgenkomponente der feindlichen Ladung absorbiert hatten. Er starrte auf die roten Buchstaben, wie sie langsam über die Schadensanzeige wanderten. Höchstwahrscheinlich war die Elektronik auf Dauer tot; eventuell hatten sie alle eine tödliche Dosis Gammastrahlung abgekriegt. Der Geruch verbrannter Isolation drang mit dem Luftstrom des Ventilators durch den Raum.
»Ayja! Seht euch das an. Noch fünf Nanosekunden, und wir wären überhaupt nicht gestreift worden. Wir sind tatsächlich gesprungen, nachdem uns die Front traf!« Und irgendwie hatte die Elektronik lange genug durchgehalten, um den Sprung zu vollenden. Der Gammastrom durch das Steuerdeck hatte 200 rem betragen, nichts, was sie in den nächsten paar Stunden beeinträchtigen würde, und vom Schiffs-Chirurgen leicht zu behandeln. Was den Chirurgen und die übrige Automatik der Ølvira betraf…
Tirroll tippte etliche lange Abfragen in den Kasten; die Stimmerkennung war ausgefallen. Mehrere Sekunden vergingen, bis eine Antwort über den Bildschirm lief. »Zentrale Automatik außer Betrieb. Bildschirmverwaltung außer Betrieb. Antriebsberechnung außer Betrieb.« Tirroll stieß seinen Bruder an. »He, ’Frell, es sieht aus, als ob die ’Vira sich noch ordentlich abgeschaltet hat. Das meiste davon können wir wieder in Gang bringen!«
Dirokime waren bekannt als haltlose Optimisten, doch in diesem Fall lag Tirroll nicht weit von der Wahrheit entfernt. Ihre Begegnung mit der Bombensonde war etwas gewesen, das einmal in einer Milliarde Fälle vorkommt, der winzigste Bruchteil eines Treffers. Die nächsten anderthalb Stunden hindurch ließen die Dirokime vom gehärteten Prozessor des Monitors aus Routinen für den Neustart laufen und brachten erst ein Aggregat, dann das andere wieder in Gang. Manches war nicht mehr zu retten: Die Kommunikationsautomatik hatte die Sprachanalyse-Intelligenz verloren, und die Ultraantriebsdorne auf einer Seite des Schiffes waren teilweise geschmolzen. (Absurderweise hatte der Brandgeruch von einem verirrten Diagnosesystem gestammt, das eigentlich zusammen mit der übrigen Automatik der Ølvira hätte abgeschaltet werden müssen.) Sie lagen weit hinter der Pestflotte zurück.
… und es gab immer noch eine Pestflotte. Der Knoten der feindlichen Lichter war kleiner als zuvor, doch unbeirrbar auf derselben Flugbahn. Die Schlacht war lange vorüber. Die Reste der Sicherheitsgesellschaft waren über vier Lichtjahre verlassenes Schlachtfeld verstreut; sie hatten die Schlacht mit zahlenmäßiger Überlegenheit begonnen. Wenn sie richtig gekämpft hätten, hätten sie vielleicht gewonnen. Statt dessen hatten sie die Schiffe mit signifikanten Echtgeschwindigkeiten zerstört — und nur etwa die Hälfte der übrigen. Einige von den größten Flotteneinheiten des Feindes waren noch intakt. Diese übertrafen die entsprechenden Überlebenden der Aniara-Flotte zahlenmäßig um mehr als das Vierfache. Die PEST hätte leicht alles vernichten können, was von der Sicherheitsgesellschaft übrig war. Doch das hätte einen Umweg bei der Verfolgungsjagd bedeutet, und diese Jagd war die einzige Konstante im Verhalten des Feindes.
Tirroll und Glimfrell brachten Stunden damit zu, die Verbindung wiederherzustellen und herauszufinden, was zerstört war und was vielleicht wiederhergestellt werden konnte. Fünf Schiffe hatten alle Antriebsmittel eingebüßt, die Besatzungen aber hatten überlebt. Manche Schiffe waren an bekannten Orten getroffen worden, und Svensndot sandte Schiffe mit Sondenschwärmen aus, um die Wracks zu suchen. Kriegführung Schiff gegen Schiff war für die meisten Überlebenden eine saubere, intellektuelle Übung, doch Trümmer und Zerstörungen waren nicht weniger wirklich als bei einem Bodenkrieg, nur über das Billionenfache an Raum verteilt.
Schließlich war die Zeit für wunderbare Rettungen und traurige Entdeckungen vorüber. Die Befehlshaber von SjK versammelten sich auf einem gemeinsamen Kanal, um über eine gemeinsame Zukunft zu entscheiden. Es wäre vielleicht besser eine Totenwache gewesen — für Sjandra Kei und die Aniara-Flotte. Mitten in der Besprechung tauchte ein neues Fenster auf, ein Blick auf die Brücke der Aus der Reihe. Ravna Bergsndot verfolgte die Unterredung schweigend. Die ›Gottsplitter‹ von einst waren nirgends auszumachen.
»Was ist noch zu tun?«, sagte Johanna Haugen. »Die verdammten Schmetterlinge sind längst fort.«
»Sind wir sicher, dass wir alle gerettet haben?«, fragte Jan Trenglets. Svensndot gab eine wütende Erwiderung von sich. Der Kommandeur der Trance fing immer wieder damit an. Er hatte zu viele Freunde in der Schlacht verloren; den ganzen Rest seines Lebens würden ihn Alpträume von Schiffen plagen, die einen langsamen Tod in der tiefen Nacht starben.
»Wir haben alles registriert, sogar Gaswolken«, sagte Haugen so sanft, wie die Worte es erlaubten. »Die Frage ist, wohin wir uns jetzt wenden sollen.«
Ravna räusperte sich. »Meine Herren und Damen, wenn…«
Trenglets schaute auf ihr übertragenes Bild. All sein Schmerz verwandelte sich in einen Wutausbruch. »Wir sind nicht deine Herren, du Schlampe! Du bist keine Fürstin, für die wir gern in den Tod gehen. Du verdienst jetzt unser tödliches Feuer und weiter nichts.«
Die Frau wurde klein angesichts von Trenglets’ Zorn. »Ich…«
»Ihr habt uns in diese selbstmörderische Schlacht gehetzt«, schrie Trenglets. »Ihr habt uns dazu gebracht, unbedeutende Ziele anzugreifen. Und dann habt ihr nichts getan, um uns zu helfen. Die PEST ist auf euch fixiert wie ein Dämhai auf einen Kraken. Wenn ihr euren Kurs auch nur um den winzigsten Bruchteil geändert hättet, hättet ihr die Pestler von unserem Weg abbringen können.«
»Ich glaube nicht, dass das etwas genutzt hätte, mein Herr«, sagte Ravna. »Die PEST scheint eher an unserem Ziel interessiert zu sein.« An dem Sonnensystem ein paar Dutzend Lichtjahre vor der Aus der Reihe. Die Flüchtlinge würden dort gerade mal reichlich zwei Tage vor ihren Verfolgern eintreffen.
Jo Haugen zuckte die Achseln. »Ihnen muss klar sein, was der verrückte Schlachtplan Ihres Freundes angerichtet hat. Wenn wir den Angriff vernünftig geführt hätten, dann hätte unser Feind nur noch den Bruchteil seiner gegenwärtigen Stärke. Wenn er beschlossen hätte, die Verfolgung fortzusetzen, hätten wir Sie vielleicht auf dieser… dieser Klauenwelt beschützen können.« Sie schien dem Klang des sonderbaren Namens nachzulauschen und sich zu fragen, was er bedeuten mochte. »Jetzt… ich denke nicht daran, sie dorthin zu verfolgen. Was von dem Feind übrig ist, könnte uns auslöschen.« Sie schaute in Svensndots Richtung. Kjet zwang sich, den Blick zu erwidern. Egal, wer der Aus der Reihe die Schuld geben mochte, es war Gruppenkapitän Kjet Svensndot gewesen, der die Flotte zu ihrer Taktik überredet hatte. Aniaras Opfer war vergeudet worden, und er wunderte sich, dass Haugen und Trenglets und die anderen überhaupt noch mit ihm sprachen. »Schlage vor, wir setzen die Besprechung später fort. Rendezvous in eintausend Sekunden, Kjet.«
»Ich werde bereit sein.«
»Gut.« Jo unterbrach die Verbindung, ohne noch etwas zu Ravna Bergsndot zu sagen. Sekunden später waren Trenglets und die anderen Kommandeure fort. Nur noch Svensndot und die beiden Dirokime waren da — und Ravna Bergsndot, die über den Bildschirm von der Aus der Reihe her blickte.
Schließlich sagte Bergsndot: »Als ich ein kleines Mädchen auf Herte war, haben wir manchmal Kidnapper und Sicherheitsgesellschaft gespielt. Ich habe immer davon geträumt, von Ihrer Gesellschaft vor Dingen schlimmer als der Tod gerettet zu werden.«
Kjet lächelte matt. »Nun, Sie haben einen Rettungsversuch gekriegt«, und dabei sind Sie zur Zeit nicht einmal ein eingetragener Kunde. »Das war bei weitem die größte Schießerei, die ich je mitgemacht habe.«
»Es tut mir Leid, Kjet — Gruppenkapitän.«
Er betrachtete ihre dunklen Gesichtszüge. Ein Mädchen von Sjandra Kei, bis hin zu den violetten Augen. Das konnte unmöglich eine Simulation sein, nicht hier unten. Er hatte alles darauf gesetzt, dass sie keine war; er glaubte das noch immer. Dennoch… »Was sagt Ihr Freund zu alledem?« Pham Nuwen war seit seiner so beeindruckenden Gottsplitter-Nummer zu Beginn der Schlacht nicht mehr gesehen worden.
Ravnas Blick glitt etwas seitlich von der Kamera weg. »Er sagt nicht viel, Gruppenkapitän. Er läuft noch bestürzter als Ihr Kapitän Trenglets herum. Pham erinnert sich, dass er absolut überzeugt war, das Richtige zu verlangen, aber jetzt kann er nicht herausfinden, warum es richtig war.«
»Hmm.« Etwas spät, um es sich noch einmal zu überlegen. »Was werden Sie jetzt tun? Sie wissen, dass Haugen Recht hat. Es wäre für uns sinnloser Selbstmord, den Pestlern zu ihrem Ziel zu folgen. Ich wage zu sagen, dass es auch für Sie sinnloser Selbstmord ist. Sie werden vielleicht fünfundfünfzig Stunden vor ihnen ankommen. Was können Sie in der Zeit tun?«
Ravna Bergsndot erwiderte seinen Blick, und ihr Gesichtsausdruck brach langsam in gramvolles Schluchzen zusammen. »Ich weiß nicht. Ich… weiß nicht.« Sie schüttelte den Kopf, das Gesicht hinter den Händen und einer Strähne schwarzen Haares verborgen. Schließlich schaute sie auf und strich die Haare zurück. Ihre Stimme war ruhig, doch sehr leise.
»Ich… weiß nicht. Aber wir fliegen weiter. Darum sind wir gekommen. Es könnte immer noch klappen… Sie wissen, dass es da unten etwas gibt, etwas, das die PEST verzweifelt haben will. Vielleicht sind fünfundfünfzig Stunden genug, es herauszufinden und dem Netz mitzuteilen. Und… wir haben immer noch Phams Gottsplitter.«
Euren schlimmsten Feind? Es mochte durchaus sein, dass Pham Nuwen ein Gebilde der MÄCHTE war. Jedenfalls sah er so aus, als sei er nach einer Beschreibung der Menschheit aus zweiter Hand gebaut worden. Doch wie sollte man Gottsplitter von gewöhnlicher Spinnerei unterscheiden?
Sie zuckte die Achseln, als sei sie sich der Zweifel bewusst — und nehme sie hin. »Was werden Sie und die Sicherheitsgesellschaft also tun?«
»Es gibt keine Sicherheitsgesellschaft mehr. Es sieht so aus, als ob alle unsere Kunden vor unseren Augen abgeschossen worden seien. Jetzt haben wir die Besitzerin unserer Gesellschaft getötet — oder zumindest ihr Schiff zerstört, und die Schiffe, die sie unterstützt haben. Wir sind jetzt die Aniara-Flotte.« Das war der offizielle Name, der auf der soeben beendeten Flottenbesprechung beschlossen worden war. Es lag eine Art grimmiges Vergnügen darin, sich mit diesem Namen zu verbinden, mit dem Gespenst aus der Zeit vor Sjandra Kei und vor der Nyjora, aus den frühesten Zeiten der menschlichen Rasse. Denn nun waren sie tatsächlich abgeschnitten von ihren Welten und ihren Kunden und ihren früheren Führern. Einhundert Schiffe auf dem Wege nach… »Wir haben es besprochen. Ein paar wollten Ihnen immer noch auf die Klauenwelt folgen. Manche von den Besatzungen wollen ins Mittlere Jenseits zurückkehren und den Rest ihres Lebens mit dem Töten von Schmetterlingen zubringen. Die Mehrheit will die Rasse von Sjandra Kei von neuem beginnen lassen, an einem Ort, wo wir nicht bemerkt werden, wo es niemanden kümmert, ob wir leben.«
Und in einem Punkt stimmten alle überein: dass Aniara nicht weiter aufgespalten werden durfte, keine Opfer mehr für andere bringen sollte. Nachdem das klar war, fiel es nicht schwer, zu entscheiden, was zu tun sei. Nach der Großen Flutwelle war dieser Teil des Grundes ein unglaublicher Schaum von Langsam und Jenseits. Es würde Jahrhunderte dauern, ehe die zonographischen Schiffe von weiter oben brauchbare Karten der neuen Grenzschicht besaßen. Versteckt in den Falten und Fugen lagen Welten frisch aus dem Langsam, Welten, wo Sjandra Kei wiedergeboren werden konnte. Ny Sjandra Kei?
Er schaute quer über die Brücke nach Tirroll und Glimfrell. Sie waren damit beschäftigt, die Haupt-Navigationsprozessoren wieder in Gang zu bringen. Das war nicht unbedingt nötig für das Rendezvous mit der Lynsnar, doch es wäre viel bequemer, wenn beide Schiffe manövrieren könnten. Die Brüder schienen Kjets Unterhaltung mit Ravna nicht wahrzunehmen. Und vielleicht beachteten sie sie nicht. In mancher Hinsicht bedeutete für sie die Entscheidung für Aniara mehr als für die Menschen in der Flotte: Niemand zweifelte daran, dass im Jenseits noch Millionen von Menschen lebten (und wer wusste, wie viel Menschenwelten es vielleicht noch im Langsam gab, entfernte Vettern der Nyjora, ferne Nachkommen der Alten Erde). Doch diesseits des Transzens waren die Dirokime von Aniara die einzigen, die es gab. Die Traumhabitate von Sjandra Kei waren dahin, und mit ihnen die Rasse. An Bord der Aniara befanden sich mindestens eintausend Dirokime, Paare von Schwestern und Brüdern, auf hundert Schiffe verteilt. Es waren die Abenteuerhungrigsten aus den alten Tagen ihrer Rasse, und nun sahen sie sich ihrer größten Herausforderung gegenüber. Die beiden auf der Ølvira hatten schon unter den Überlebenden nach Freundinnen und Freunden Ausschau gehalten und begonnen, eine neue Wirklichkeit zu träumen.
Ravna hörte sich seine Erklärungen mit großem Ernst an. »Gruppenkapitän, Zonographie ist eine heikle Sache — und Ihre Schiffe haben bald ihre Grenzen erreicht. In diesem Schaum könnten Sie jahrelang suchen, ohne eine neue Heimat zu finden.«
»Wir treffen Sicherheitsvorkehrungen. Wir geben alle Schiffe außer die mit Staustrahlantrieb und Kälteschlaf-Vorrichtungen auf. Wir werden in koordinierten Netzen vorgehen; niemand dürfte länger als ein paar Jahre verlorengehen.« Er zuckte die Achseln. »Und wenn wir niemals finden, was wir suchen« — wenn wir zwischen den Sternen sterben, während die Lebenserhaltungssysteme allmählich versagen —, »nun gut, dann werden wir immer noch getreu unserem Namen gelebt haben.« Aniara. »Ich glaube, wir haben eine Chance.« Das ist mehr, als man von euch sagen kann.
Ravna nickte langsam. »Ja, gut. Es… ist gut, das zu wissen.«
Sie redeten noch eine Weile, Tirroll und Glimfrell beteiligten sich. Sie hatten sich im Mittelpunkt von etwas sehr Großem befunden, doch wie üblich in den Angelegenheiten der MÄCHTE wusste niemand recht, was geschehen war, noch welches Ergebnis die Bemühungen hatten.
»Rendezvous Lynsnar zweihundert Sekunden«, sagte die Stimme des Schiffs.
Ravna hörte es, nickte. Sie hob die Hand. »Lebt wohl, Kjet Svensndot und Tirroll und Glimfrell.«
Die Dirokime pfiffen das gemeinsame Lebewohl zur Antwort, und Svensndot hob die Hand. Das Fenster mit Ravna Bergsndot verschwand.
… Kjet Svensndot erinnerte sich sein ganzes Leben lang an ihr Gesicht, obwohl es in späteren Jahren immer mehr mit dem von Ølvira zu verschmelzen schien.