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Erstaunlich, daß er unversehrt geblieben war.

Ringsum war nichts mehr von der früheren Dunkelheit, zugleich war auch die Kühle verschwunden, es war stickig, und überall türmten sich Ziegel- und Betonschutthaufen. Zuerst dünkte es Waloka, die Explosion habe ihn fortgeschleudert von der Stelle, wo er mit dem Deutschen gekämpft hatte; nachdem er sich jedoch im Dämmerlicht umgesehen hatte, erblickte er die schuttbedeckte Treppe, die er vor einer Weile hinuntergestürzt war. Nur noch die sechs unteren Stufen waren zu sehen, darüber lag eine von der Decke niedergebrochene Betonplatte mit der Kante auf und versperrte den Ausgang. Auf der anderen Seite hatte sich ein durch die Explosion bizarr verbogener, rostiger Doppel-T-Träger mit dem einen Ende schräg in den von Ziegeltrümmern bedeckten Fußboden gebohrt. Wäre er nur einen halben Meter näher heruntergestürzt, so hätte Waloka ihn jetzt kaum betrachten können.

Waloka wälzte sich herum, befreite die Arme und richtete sich hoch; auf den Beinen lag jedoch noch eine große Last. Er drehte sich auf die Seite und versuchte sich zu erheben. Die Beine waren anscheinend heil, die Arme ebenfalls, nur der eine schmerzte am Ellbogen. Waloka schüttelte Staub und Schutt von sich ab, stützte sich mit den Händen auf, zog erst das eine, dann das andere Bein unter Schutt und Ziegelsteinen hervor und setzte sich aufrecht. Und nun brach ein unbändiger, erstickender Husten aus seiner Brust. Er bekam fast keine Luft mehr, die Brust drohte ihm zu zerspringen, Staub und Sand hatten ihm die Lungen verstopft. So hustete und spuckte er eine Weile, daß es seinen Körper heftig schüttelte, und erst als sich der Anfall etwas gelegt hatte, sah er sich erneut um.

Ja, hier war allerhand heruntergekommen. Die Treppe und die eine Ecke waren zugeschüttet, nur der Raum unter der Treppe und etwa zwei Meter Mauer daneben waren unversehrt geblieben. Die andere Seite des Kellers, gegenüber der Tür, war ganz unter Ziegelschutt und Betonbrokken begraben; die Decke hatte sich geneigt und wies Risse auf; stellenweise guckte die Armierung aus den schwarzen Spalten.

Durch eine dieser Spalten drang ein dünner Sonnenstrahl in das Halbdunkel des Kellers. Darin schwirrte es von Staubteilchen, so daß der Strahl kaum bis zum Fußboden gelangte und auf dem Ziegelschutt nur einen schwachen Lichtfleck zeichnete.

Waloka schüttelte den Kopf, um den Sand aus den Ohren zu bekommen; nun hörte er die Geräusche des Krieges wie dumpfe unterirdische Seufzer in den Keller dringen: die Detonationen, das ferne Heulen der Stukas und die gedämpften Feuerstöße der Maschinengewehre. Waloka wurde aufmerksam und dachte besorgt: Nur schleunigst raus hier, die Kompanie ist bestimmt längst woanders. Er stand auf und stolperte über die Trümmer zur Treppe. Als er sich dort näher umsah, entdeckte er unter dem Schutt seine Maschinenpistole, zog sie heraus und säuberte sie mit dem Ärmel vom Staub. Daß er seine Waffe wiedergefunden hatte, beruhigte ihn. Er verschnaufte ein wenig und spürte erst jetzt, wie stark die Schulter schmerzte. Da fiel ihm auch der Deutsche wieder ein. Den hat's natürlich erwischt, der ist irgendwo in der Ecke verschüttet. Gott sei Dank brauchte ich den Kerl nicht zu erwürgen, dachte Waloka. Dem Toten gegenüber empfand er keinen Zorn mehr.

Oben ratterten erneut gedämpfte Feuerstöße — dort schoß eine sowjetische MPi. Der Klang war unverkennbar. Das gab ihm neuen Mut. Er stieg hinauf, beugte den Kopf vor, betastete die über den Stufen hängende Betonplatte und stemmte sich mit aller Kraft dagegen, doch sie rührte sich nicht einmal — augenscheinlich lag etwas Schweres obenauf. Aber wie hier herauskommen? Vor Schmerzen im Arm das Gesicht verziehend, stieg Waloka die Stufen wieder hinunter und suchte im Dämmerlicht die verschobene Decke ab. Nirgends war eine Öffnung, durch die er hätte hinausgelangen können. Auf dem Schutt abrutschend, erkletterte er einen Trümmerhaufen und tastete die schiefe Decke ab. Ein Stück Beton wackelte, doch die Armierung hielt es fest. Waloka blickte durch den Spalt; außer den hellbeleuchteten breiten Bruchrändern war jedoch nichts zu sehen.

Allmählich befiel ihn Unruhe: Wie komme ich hier raus? Ob ich schreie, um Hilfe rufe? Aber womöglich sind die Deutschen hier. Wer weiß, ob die Unsrigen die Grünanlage haben halten können. Der Bombenangriff hat den Deutschen bestimmt ganz schön geholfen. Er kletterte wieder vom Haufen herunter und blickte in die dunkle Ecke unter der Treppe. Überall türmten sich staubige Haufen zerschlagener Ziegelsteine. Wie lange würde er darin herumwühlen müssen, bis er ein Loch im Mauerwerk fand?

Während Waloka noch stand und sorgenvoll darüber nachdachte, rührte sich plötzlich etwas in einem der Haufen, und ein Ziegelbrocken rollte herunter. Gleich darauf folgten noch einige Brocken. Waloka wurde aufmerksam und beugte sich spähend hervor. Das hat mir gerade noch gefehlt! sagte er, nicht mehr ängstlich, sondern nur noch verwundert, zu sich selbst. Am Boden schimmerte eine mit Litze eingefaßte schwarze Schulterklappe, und das sandbepuderte Gesicht des Deutschen, das er bisher im Halbdunkel nicht wahrgenommen hatte, kam, grau von Schutt, zum Vorschein. Die feucht glänzenden hellgrauen Augen starrten Waloka furchtsam an.

Waloka duckte sich innerlich («Bist also doch heil geblieben, verdammter Kerl!»), und seine Linke griff nach dem Lauf der MPi. Doch die vorherige Angst war verschwunden, den angeschlagenen Feind fürchtete Waloka nicht mehr. Der Deutsche starrte ihn eine Zeitlang reglos an, dann wälzte er sich im Schutthaufen von einer Seite auf die andere. Dabei verzerrte sich sein Gesicht vor Schmerz; er unterdrückte ein Stöhnen und schloß kraftlos die Augen.

Töten! schoß es Waloka durch den Kopf, und er richtete gewohnheitsmäßig seine Waffe auf den Feind. Das war jetzt so leicht und so einfach. Aber wahrscheinlich deshalb zögerte er. Der Deutsche bewegte sich wieder und versuchte, sich aus den Trümmern herauszuarbeiten. Na, kriech nur raus! Komm nur näher! ermunterte Waloka ihn in Gedanken und verfolgte wachsam jede Bewegung des Feindes. Kommst du raus, geht's dir hier an den Kragen!

Dies war der vierte Feind, der ihm unter die Hände geriet. Den ersten hatte er dreiundvierzig bei Prochorowka durch einen Schuß aus dem Graben verwundet, als die Deutschen angriffen. Der war ins Gras gestürzt, hatte sich umgedreht, Waloka erstaunt angesehen und sich nicht mehr gerührt. Der zweite hatte ihm ein wenig zu schaffen gemacht. Waloka hatte ihn im Graben verfolgt, der Deutsche hatte mit einer Nullacht geschossen und seinen Freund Makiytschu verwundet. Es war ein Offizier mit Schirmmütze gewesen; Waloka hatte ihn in die Enge getrieben und ihn mit dem Bajonett durchbohrt. Den dritten hatte er heute im Torweg erschossen. Und nun war dieser an der Reihe.

Doch auf einen hilflos Daliegenden zu schießen ging ihm gegen das Gewissen. Er wartete ab, was weiter geschehen würde.

Dem Deutschen bereitete es ziemliche Mühe, sich herauszuarbeiten. Als er den einen Arm aus dem Schutt zog, verzerrte sich sein Gesicht wieder vor Schmerz. Er stöhnte auf, warf Waloka einen langen, flehenden Blick zu und erstarrte abermals kraftlos.

«Aha, 's wird dir sauer, du Hund!» knurrte Waloka. Der Deutsche bemühte sich, die Beine freizubekommen, auf denen ein Betonbrocken lag, und Waloka stand dabei und sah seinen vergeblichen Anstrengungen zu. Der Deutsche stöhnte, biß sich auf die Lippen und ließ den Kopf sinken. Sein so deutlich erkennbarer Schmerz teilte sich Waloka fast körperlich mit. Wahrscheinlich sind die Beine gebrochen, dachte er. Als er sah, daß sich der Deutsche nicht ohne fremde Hilfe befreien konnte, trat er gleichsam instinktiv näher, stemmte den Absatz gegen den großen, flachen Mauerbrocken und schob ihn beiseite.

Hinterher wunderte er sich über sein Verhalten. Der Deutsche bewegte sich nun freier, er stützte sich mit den Armen auf und zog die Beine allmählich aus dem Schutthaufen. Aha! Doch heil. Er war jetzt frei, hatte jedoch keine Eile, seine Freiheit zu nutzen (anscheinend ist er bei dem Einsturz tüchtig gequetscht worden). Waloka verbarg seine widersprüchliche, mit Mitleid gemischte Schadenfreude und beobachtete den Feind zurückhaltend.

Mit den Händen auf den schuttbedeckten Boden gestützt, saß der Deutsche eine ganze Weile da, offensichtlich außerstande, seine Schwäche und die Schmerzen zu überwinden. Die staubbepuderten Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammengezogen, wartete Waloka mit der Maschinenpistole im Anschlag. Der Deutsche betastete immer wieder sein Knie und bewegte den Stiefel hin und her. Dann sah er erstaunt hoch, warf einen Blick auf Waloka und horchte. Von draußen drangen dumpf fernes Schießen und mehrere Detonationen herein; durch einen Spalt in der Decke rieselte Sand. Der Deutsche blickte nach oben, stand, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen, hastig auf und humpelte zur Treppe.

Waloka, der keine Waffe bei dem ändern sah und wußte, daß jener ihm nicht entfliehen konnte, setzte sich seelenruhig auf einen Mauerbrocken und schaute dem Gegner überlegen zu. Die Maschinenpistole hatte er zwischen den Knien. Probier's nur! dachte er höhnisch, als er beobachtete, wie der Deutsche die Betonplatte über den Stufen anzuheben versuchte. Sosehr er sich auch anstrengte, die Platte rückte und rührte sich nicht. Da wandte er sich um und blickte erstaunt, fragend, doch aus Walokas teilnahmslos-ruhiger Miene mochte er ersehen, daß es keinen Ausgang gab.

Schleppend kam er die Stufen wieder herunter und setzte sich, das eine Bein mit den Händen umfassend. Voll heimlicher Neugier musterte Waloka die staubbedeckte, müde Gestalt mit dem Gefreitenwinkel auf dem bis zum Ellbogen aufgerissenen Ärmel. Da erblickte er plötzlich die Pistolentasche an der Hüfte des Deutschen. Eine neue Sorge: Was sollte er tun, wenn der andere wieder zu Kräften kam, noch dazu, da er eine Waffe besaß?

Unterdessen zog sich der Deutsche mit dem rechten Fuß den linken Stiefel aus, krempelte das Hosenbein hoch und verband das Knie mit dem Taschentuch. Das Knie war aufgeschlagen, und von der kleinen, aber stark blutenden Wunde war das Taschentuch bald durchnäßt. Bei diesem Anblick fiel Waloka das alte Verbandspäckchen ein, das er bereits seit einem Monat für alle Fälle bei sich trug. Er brauchte es jenem nicht zu geben, so leid tat ihm der angeschlagene Hitlersoldat gar nicht, doch eine gewisse menschliche Großmut trieb ihn, ihm zu helfen.

Der Deutsche, auf keine Hilfe gefaßt, zuckte zusammen, als das kleine Päckchen neben seinen Stiefeln in den Schutt klatschte. Zuerst war er verwirrt, doch dann begriff er, und seine Augen leuchteten auf. Er murmelte «danke» und hob das Päckchen lächelnd auf.

Sein Gesicht war nicht mehr jung, die sonnengebräunte Stirn war dicht von Falten durchzogen, und oberhalb der Schläfen glänzten kahle Stellen. Die wettergegerbten, unrasierten Wangen waren voller hellblonder Bartstoppeln.

Waloka beobachtete den Feind aufmerksam, unschlüssig, wie er sich weiter verhalten sollte, und fühlte nur instinktiv, daß er auf der Hut sein mußte. Der Deutsche krempelte die Hosen noch etwas höher und wickelte sich behutsam die Binde ums Knie. Dabei wiegte er sich hin und her, so daß die Wange mit der breiten, schrägen Narbe neben dem Ohr — der unauslöschlichen Spur eines Splitters — immer wieder in das Lichtbündel geriet. Beim Anblick dieser Narbe lächelte Waloka innerlich: Genau so eine Narbe hatte auch er auf der linken Seite — ein Andenken an die Kämpfe bei Kursk. Der Deutsche seinerseits sah Waloka leicht verlegen an.

Doch das gegenseitige Betrachten währte nicht lange. Wieder erbebte die Erde von Detonationen. Allem Anschein nach feuerte eine «Katjuscha», ein sowjetisches Salvengeschütz, oder ein deutscher Nebelwerfer. Waloka hob den Kopf und lauschte angespannt. Der Deutsche erstarrte, das lose Verbandende straff angezogen, und wartete ebenfalls, den Blick unverwandt zur Decke gerichtet. Aber die Detonationen verstummten allmählich, der letzte Sand rieselte durch die Spalten, und wieder war es ruhig. Nur der spärliche Sonnenstrahl drang als schräges, rauchgraues Band in den Keller.

Waloka war beunruhigt. Es galt, etwas zu unternehmen, irgendwie herauszukommen. Daß dieser Deutsche aber auch gerade hierhergeraten mußte! Aber der war verletzt und schien nur mit seinem Schmerz beschäftigt. Walokas vordringliche Sorge, hier wieder hinauszukommen, verdrängte für eine Weile seine Angst vor dem Deutschen. Ich riskier's, dachte er im Hinblick auf einen etwaigen überraschenden Angriff. Er besaß schließlich eine Maschinenpistole und fühlte genügend Kraft in sich. Außerdem sah Waloka hier kein sagenhaftes faschistisches Ungeheuer vor sich, sondern einen bereits gealterten, verwundeten und vom Krieg gezeichneten Menschen. Der Deutsche schwieg, es war jedoch nicht schwer zu erraten, was er jetzt fühlte, und nur seine Uniform ließ Waloka nicht vergessen, daß er einen Feind vor sich hatte. Mit mißtrauischem Blick warf Waloka die Maschinenpistole über die Schulter und kletterte auf einen der Haufen, zur halbzerstörten, geborstenen Decke empor.

Er mußte eine Öffnung zum Hinausgelangen finden.

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