6

Die qualvolle Nacht hatte Walokas Bewußtsein getrübt, und er begriff nur langsam, wo er sich befand und was mit ihm geschehen war. Irgendwo knatterten Feuerstöße aus Maschinenpistolen, krachten Gewehrschüsse. Einmal ertönte sogar ein Schrei, aber Waloka konnte nicht ermitteln, aus welcher Richtung er kam. Er überwand seine Schwäche und öffnete die Augen.

Im Keller war es verhältnismäßig hell. Vor der Wand, da, wo sie die Platte herausgerissen hatten, war ein neuer Haufen Ziegelschutt emporgewachsen (das alles war wohl auf ihn herabgestürzt), und darüber schien durch ein Loch das helle Tageslicht herein. Sofort wurde Waloka von freudigem Verlangen beflügelt, er erwachte endgültig aus seinem Dämmerzustand, setzte sich auf und verschnaufte. Dann hob er langsam den Kopf; er war mit einem Lappen umwunden, dessen Ende neben dem Ohr herabhing. Vorsichtig betastete er den blutgetränkten Verband. Da blitzte in ihm die Erinnerung auf, was mit ihm geschehen war, und er dachte dankbar an den Deutschen.

Fritz Hagemann saß, mit dem Rücken an den verbogenen Träger gelehnt, neben ihm und schlief. Der Kopf war ihm auf die Schulter gesunken, das spärliche Haar war zerzaust, die Unterlippe hing herab. Über Nacht waren die Bartstoppeln auf seinen hageren Wangen noch länger geworden, und er sah sehr müde aus. Zu seinen Füßen stand ein Stahlhelm mit dem Rest Wasser. Waloka griff sofort danach, doch er stellte ihn gleich wieder angeekelt hin. Der Helm roch so stark nach Schweiß, daß ihm beinahe übel wurde. Es war ein deutscher Stahlhelm, wie sie zu Hunderten auf dem Schlachtfeld herumlagen; die sowjetischen Soldaten stießen sie stets mit dem Fuß beiseite, zumal sie meistens blutig und durchschossen waren. Der Helm weckte in Waloka sogleich feindselige, abweisende Gefühle.

Er runzelte die Stirn, horchte erneut und schaute sich um. In dem Winkel unter der Treppe war auf dem Fußboden ein nasser dunkler Fleck zu sehen, und er hörte regelmäßig Wasser tropfen. Aus der Wasserleitung wahrscheinlich, dachte er und blickte wieder auf den Deutschen. Der schlief, müde von der Nacht, und Waloka dachte in der Stille angestrengt darüber nach, was weiter zu tun war.

Er mußte hinaus. Er würde schon irgendwie allein hinausklettern können — das Loch war da, wozu brauchte er jetzt den Deutschen! Mochte er weiterschlafen, und wenn er aufwachte, sollte er selbst sehen, wo er blieb; ohne ihn war ihm wohler. Nur, wer war jetzt da oben? Das Schießen schien noch zuzunehmen — es war von der einen wie von der anderen Seite zu hören. Ganz in der Nähe ertönten nacheinander drei Detonationen. Wer ist das? Die Unseren? Und wenn es nun die Deutschen sind? Wenn es die Deutschen waren, würden sie ihm eine Kugel durch den Kopf jagen, und waren es die Kameraden, so würde es dem Deutschen schlecht ergehen. Der brauchte nur auf einen rigorosen sowjetischen MPi-Schützen zu stoßen, und schon lag er, bevor er überhaupt die Hände hochbekam, neben einem hartgesottenen SS-Mann hingestreckt. Die Jungs kannten oft keine Gnade mehr für den Feind, bei vielen waren die Wunden im Herzen noch zu frisch — da mußte man auf alles gefaßt sein.

Nein, er mußte doch mit Fritz zusammen hinausklettern und ihn als Gefangenen abliefern — alles andere war dann nicht mehr seine Sorge.

Während Waloka diese Überlegungen anstellte, saß er neben dem Deutschen und betrachtete den Schlafenden ohne Feindschaft, aber auch ohne Sympathie. In der Nacht war es anders gewesen — da hatte er nur das vom Feuerzeug beleuchtete Menschenantlitz gesehen, das genauso war wie andere auch. Jetzt aber saß ein deutscher Soldat in staubiger Uniform mit losgerissener Schulterklappe und kurzen Lederstiefeln vor ihm. Neben ihm lag sein Stahlhelm mit dem Adler darauf, nur die deutsche MPi fehlte. Walokas PPS lag in Reichweite. Nach Soldatengewohnheit langte er danach, erwischte sie am Riemen und zog sie zu sich heran. Das Magazin scharrte über den holprigen Boden, das ruhige, gleichmäßige Atmen des Deutschen riß plötzlich ab, und er erwachte.

Zuerst schien er zu erschrecken, blinzelte, doch als er Waloka erkannte, lächelte er und sagte leicht verwundert:

«Oh, Iwan leben? Gut, gut.»

Als er bemerkte, daß Iwan seine Maschinenpistole an sich genommen hatte, runzelte er besorgt die Stirn. Für einen Augenblick sprach Beunruhigung aus seinen Augen, doch er unterdrückte sie sofort und sagte forsch, bemüht, jedes Wort möglichst deutlich auszusprechen:

«Wir können gehen — moshno idi. Dahin idi. Tür, dwer ich machen.»

Waloka wollte lächeln, aber sofort stach es in seinem Kopf, und sein Gesicht verzerrte sich.

«Schmerzen? Bolno?»

«Macht nichts.» Waloka runzelte die Stirn. «So leicht sind wir nicht kleinzukriegen.»

Er wollte dem Deutschen seine Schwäche nicht zeigen und richtete sich, die Hände zu Hilfe nehmend, auf. Vor seinen Augen zerflossen rote Kreise. Er erhob sich mit großer Anstrengung, beherrschte sich jedoch und stöhnte nicht. Nachdem er eine Weile dagestanden hatte, kletterte er unsicher über den Schutt zu dem Loch hinten in der Ecke. Fritz wollte ihn stützen, aber Iwan wehrte eigensinnig ab.

Leicht humpelnd begab sich der Deutsche ebenfalls zu dem Loch, kletterte als erster hinauf und schaute hindurch; hinter ihm arbeitete sich auch Waloka den Schuttberg hinauf. In diesem Augenblick knatterten in der Nähe nacheinander zwei Feuerstöße und waren Stimmen zu hören — jemand schrie, dann wurde oben gesprochen, nicht leise, aber auch nicht so laut, daß sie etwas verstehen konnten. Waloka preßte die Zähne aufeinander, und der Deutsche sah ihn mit halbgeöffnetem Mund und nervöser Spannung in den grauen Augen an. Sie standen eine Zeitlang starr und stumm unter dem Durchbruch. Wieder ging ihnen die Frage: Wer ist das? durch den Kopf und ließ sie erstarren wie vom Eishauch des Todes.

Doch das Gespräch über ihnen brach ab — entweder waren die Männer weitergelaufen oder verstummt, aber noch eine ganze Weile drangen die langen Feuerstöße eines MG an ihr Ohr. Mit Tagesanbruch war der Kampf neu aufgelebt, und Waloka wurde von Unruhe erfaßt.

Er bedeutete dem Deutschen, er solle hinausklettern. Fritz verstand, nickte und suchte nach Gegenständen, die er unterstellen konnte, um bequemer das Loch zu erreichen. Er stapelte mehrere Betonklötze aufeinander und versuchte es, aber der Aufbau war noch nicht hoch genug. Da humpelte er wieder hinunter, holte den Stahlhelm und legte ihn obenauf. Nun konnte er sich am Rand des Loches festhalten.

Er zog sich hoch, blickte hinaus, ließ sich jedoch unentschlossen wieder hinuntergleiten. Abermals trafen sich ihre aufs höchste gespannten Blicke, und erneut lauschten beide, um festzustellen, wer oben war. Doch vergebens.

Da verfinsterte sich die Miene des Deutschen, er trat entschlossen auf den Stahlhelm, zog sich hoch, stützte sich mit dem gesunden Knie auf einen Vorsprung und war alsbald oben.

Dort stand er einige Augenblicke und sah sich um, während Waloka gespannt von unten zu ihm hinaufsah. Waloka hielt sich nur mit Mühe auf den Beinen, vor seinen Augen drehte sich alles, aber jetzt, das fühlte er, fiel die wichtigste Entscheidung, und den Moment wollte er nicht verpassen. Das Gefühl der Ohnmacht verstärkte sich bei ihm. Wenn nun der Deutsche davonläuft und mich allein im Keller zurückläßt? schoß es ihm durch den Sinn. Er fühlte bereits Zuneigung zu diesem ungewöhnlichen Feind in sich keimen — jetzt brauchte er ihn so nötig, wie man einen Kameraden in einer schwierigen Situation braucht.

Aber der Deutsche lief nicht davon. Er trat von einem Fuß auf den anderen und hielt Umschau. Unter seinen Absätzen rieselte Sand in den Keller. Dann steckte er seinen Arm fast bis zum Ellbogen durch das Loch.

«Iwan, schnell! Bystro.»

Waloka kletterte auf den Stahlhelm und streckte ihm die Hand entgegen, doch der Deutsche wies auf die Maschinenpistole. Iwan nahm die PPS von der Schulter, reichte sie ihm und erschrak dann plötzlich. Einen Moment glaubte er, der andere habe ihn überlistet. Doch der Deutsche dachte nicht daran, auf ihn zu schießen — behutsam, wie Soldaten mit Waffen umzugehen pflegen, legte er die MPi neben sich und streckte beide Hände durch das Loch.

Waloka reckte sich und reichte ihm seine, der Deutsche packte sie kräftig und zog ihn hoch. Waloka stemmte sich mit dem Stiefel gegen die Wand und wälzte sich seitlich über den Rand des Loches. Dabei mußte er die Zähne fest zusammenbeißen, um nicht aufzustöhnen.

Nun waren sie oben, in einer großen Hausruine, die, eine unversehrt gebliebene Brandmauer gen Himmel reckend, wie ein riesiges Mahnmal des alles zerstörenden Krieges dastand. An der Wand des ersten oder zweiten Stockwerkes hing schief ein Bild in vergoldetem Rahmen, daneben ein von Splittern zerfetzter Wandteppich mit Elchen. Darüber ragte, sich an den Rest des Fußbodens klammernd, ein umgestürztes Bett mit Drahtnetz vor. Mit zerschlagenem Rahmen schwang ein Fensterflügel im Morgenwind hin und her. Die Straße war nicht zu sehen; sie wurde von einer zweiten Wand verdeckt, die nach innen gestürzt war. Als riesige Platte stieg sie vor ihnen schräg an, und darüber wiegten sich im hell gewordenen Morgenhimmel die Wipfel der Akazien, unter denen tags zuvor die MPi-Schützen zum Angriff vorgegangen waren.

Beide verschnauften ein wenig und horchten auf das von der Straße herüberdringende Schießen und die Schritte der Laufenden. Auch Schreie waren zu hören, doch Waloka verstand kein Wort. Der Deutsche aber zuckte plötzlich zusammen und stürmte, die Arme schwenkend, die Trümmerwand hinauf. Er entfernte sich rasch von Waloka, der mühsam einen Fuß vor den anderen setzte und sich hinter ihm herschleppte. Fritz erreichte als erster die Stelle, von der man auf die Straße springen konnte. Scharf zeichnete sich seine schlanke und sehnige Gestalt gegen den Himmel ab. Da hörte Waloka deutlich rufen:

«Hagemann, Hagemann! Los, hierher! Hagemann!»

Waloka war auf das Schlimmste gefaßt gewesen, dennoch überlief es ihn in diesem Augenblick kalt. Er duckte sich, kauerte sich nieder. Fritz aber drehte sich um und schrie, plötzlich vor Freude strahlend:

«Iwan! Iwan! Komm!»

Und setzte zum Sprung an, um zu seinen Kameraden zu laufen.

«Stoi!» rief Iwan halblaut, aber mit fester Entschlossenheit. «Stoi!»

Auf dem Gesicht des Deutschen malte sich Bestürzung, ja sogar Schmerz, vielleicht auch Angst, doch gleich darauf fuchtelte er mit den Armen in der Luft herum und verschwand auf der anderen Seite der Ruine.

Zuerst war Waloka wie vor den Kopf geschlagen — das hatte er nicht erwartet. Doch dann überwand er mit einer gewaltigen Willensanstrengung seine Schwäche und kletterte über die Trümmer dorthin, wo Fritz verschwunden war.

Der war noch nicht weit gekommen. Die ganze Straße lag voller Trümmer, und er kletterte gerade über einen großen Mauerbrocken unweit der Stelle, an der Waloka auftauchte. Auf der anderen Seite, längs der eisernen Umzäunung der Grünanlage, liefen, schießend und sich duckend, Deutsche.

«Stoi!» schrie Waloka Hagemann nach. «Fritz! Stoi!»

Der Deutsche zuckte zusammen und hob den Kopf. Sein Gesicht, so schien es Waloka, verzog sich wie vor Schmerz. Er hielt inne und warf einen Blick zu Waloka und dann zu der Grünanlage hinüber, wo die Deutschen, erstaunt über die Zurufe zwischen ihrem Kameraden und einem Russen, stehenblieben und sich ihnen zuwandten. Doch sie besannen sich nicht lange. Schlösser knackten, und eine gellende Offiziersstimme hallte über die Trümmer:

«Hagemann, hierher! Wir schießen!»

Fritz wälzte sich über den Ziegelbrocken, der ihm den Weg zu seinen Kameraden versperrte. Waloka fühlte, daß jetzt alles aus war, er dachte nicht mehr an sich selbst, sondern nur noch daran, diesen Mann nicht dem Feind zu überlassen, und gab einen Feuerstoß auf ihn ab. Die Kugeln wirbelten in den Trümmern Staub auf und spritzten nach allen Seiten.

Der Deutsche fuhr herum und warf ihm einen Blick zu, aus dem die tierische Wut eines in die Enge getriebenen Menschen sprach. Waloka warf sich hin, ohne den Deutschen aus den Augen zu lassen, und sah, wie dieser mit fieberhafter Hast in die Tasche griff, ausholte und etwas zu ihm herüberschleuderte. Klein und schnell, sauste es wie ein schwarzer Vogel durch die Morgenluft und schlug vor ihm dumpf gegen den Putz der Wand. Waloka erfaßte nicht sofort, daß es eine Handgranate war; erst als sie abprallte und in seiner Nähe niederfiel, begriff er, daß es keine Rettung mehr gab. Da riß er die Maschinenpistole an die Schulter und drückte ab.

Seine Schüsse hörte er nicht, er sah nur noch im Bruchteil einer Sekunde, wie Fritz Hagemann sich um sich selbst drehte und zu Boden stürzte. Fast gleichzeitig detonierte krachend die Handgranate. Waloka bekam einen heftigen Schlag gegen die Schulter, und gleich darauf verschwand er im Staub, der die Trümmer als dichte, stickige Wolke einhüllte.

Der Staub rettete ihn.

Er hörte die Deutschen mit MPis schießen, mehrere Kugeln zerschmetterten Ziegelsteine in seiner Nähe. Doch behende zog er sich geduckt zurück, warf sich hin, sprang wieder auf, rollte sich über einen großen Steinbrocken, lief um das Loch in dem tiefen Trichter herum, aus dem sie kurz zuvor herausgeklettert waren, und gelangte aus der Ruine auf ein mit Trümmern übersätes Grundstück. Auf einem mit Betonplatten ausgelegten Weg lief er bis zu einer Dornenhecke, zwängte sich durch das dichte Gestrüpp, das ihm die Sachen zerriß, und befand sich in einer schmalen Gasse.

Im nächsten Augenblick hätten ihn beinahe sowjetische MPi-Schützen über den Haufen gerannt. Mit lautem Getrappel kamen sie vorbeigelaufen, offenbar um den Deutschen, die längs der Grünanlagen vorgingen, den Weg zu verlegen. Der letzte warf einen finsteren Blick auf Walokas blutigen Kopf, sagte jedoch nichts. Erst jetzt spürte Waloka, daß der brennende Schmerz seine ganze Schulter erfaßt hatte.

Die MPi-Schützen verschwanden um die Ecke, und die trümmerübersäte Gasse lag verödet. Waloka schaute in die eine Richtung, dann in die andere, hängte sich die MPi um und wankte, die von Splittern verletzte Schulter schonend, dahin, wo seine Kameraden hergekommen waren. Hoch oben am klaren Frühlingshimmel krachte, pfiff und donnerte das laute Echo des Kampfes. Wie ist das nur möglich? Was ist das bloß? Erst jetzt befielen ihn Verwunderung und Nachdenklichkeit. Vergeblich versuchte er, etwas zu begreifen, sich an etwas zu erinnern. Innerlich aufgewühlt und erschöpft, spürte er nur, daß ein entsetzliches, ihm noch nicht voll verständliches Unrecht geschehen war, dem er und auch Fritz Hagemann machtlos gegenüberstanden. Von ohnmächtiger Kränkung und Schmerz gewürgt, hätte er am liebsten losgeheult.

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