An manchen Stellen waren die Spalten ziemlich breit, so daß man die Finger hineinzwängen konnte, aber fest zuzupacken, daran war nicht zu denken. Den Kopf im Nacken, betrachtete Waloka lange die Decke, dann drückte er von unten her kräftig gegen das Bruchstück, neben dem der Lichtstrahl hineindrang. Sofort rieselte durch die Spalte Sand und Schutt. Waloka verzog das Gesicht, drehte den Kopf zur Seite und strengte sich noch mehr an, um die Platte zu lockern.
Dabei ließ er den Deutschen keinen Moment aus den Augen, verfolgte jede seiner Bewegungen. Zuerst sah der Deutsche Waloka neugierig zu, dann stand er etwas unsicher auf. Sofort ließ Waloka die Platte los und griff nach der MPi. Doch der andere lächelte gutmütig, klopfte auf die Pistolentasche und sagte beruhigend: «Nein, nein.» Dabei winkte er ab. Die Pistolentasche war anscheinend wirklich leer. Waloka ließ die MPi jedoch nur langsam und voller Mißtrauen sinken und fluchte innerlich — er übte unwillkürlich erneut angespannte Wachsamkeit gegenüber diesem Feind.
Unterdessen arbeitete sich der Deutsche humpelnd und mit den Armen schlenkernd auf den Schuttberg hinauf, betrachtete die Spalten und schob an einer Stelle die Finger in die Ritze.
Zwei Paar Hände stemmten sich gegen den Betonbrokken.
Sehr merkwürdig war das alles.
Hätte jemand Waloka vorher so etwas erzählt, er hätte es nicht für möglich gehalten. Nun hatte sich alles wie von selbst so ergeben, und er vermochte sich nicht einmal Vorwürfe deswegen zu machen. Noch kurz zuvor hatten sie, ohne sich zu sehen und ohne sich zu kennen, in dem Keller auf Tod und Leben miteinander gerungen, voll Wut und grimmigem Haß. Jetzt aber versuchten sie einträchtig, als sei nichts zwischen ihnen vorgefallen, den Betonbrocken hochzustemmen, um aus der gemeinsamen Notlage herauszukommen.
Die Platte bewegte sich etwas — ein wenig nach oben, ein wenig nach unten — , nach wie vor rieselte Dreck aus den Spalten, und Waloka glaubte, es werde ihnen gelingen, sie durch längeres Rütteln zu lockern und herauszureißen. Von Zeit zu Zeit warf er einen verstohlenen Blick auf den Deutschen, der sich mit hochgereckten Armen bemühte, seine Bewegungen denen Walokas anzupassen. Das stoppelige, sonnengebräunte Gesicht des Deutschen mit dem stark ausgeprägten Unterkiefer war vor Anstrengung und Schwäche verzerrt, und auf der Nasenwurzel perlten unausgesetzt Schweißtropfen. Von Zeit zu Zeit fuhr er sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Sein Haar, der durchgeschwitzte Kragen und die Schulter mit der losgerissenen Achselklappe waren von einer dicken Staubschicht bedeckt. Waloka hörte das Keuchen des Deutschen und das Trampeln seiner Stiefel, und infolge ihrer Nähe oder ihrer gut aufeinander abgestimmten gemeinsamen Anstrengungen nahm die Feindseligkeit, die er während der ganzen Zeit empfunden hatte, allmählich ab.
Waloka, der diese Veränderung in seinem Innern unklar fühlte, geriet in Verwirrung und konnte sich selbst nicht mehr begreifen.
So ruckten sie etwa zehn Minuten an der Platte, doch sie gab nicht nach. Der Atem des Deutschen ging keuchend, und auch Waloka war erschöpft; so ließ er schließlich die Arme sinken.
Der feine Lichtstrahl mit den tanzenden Stäubchen stemmte sich biegsam gegen den kalkbeschmutzten Stiefel des Deutschen.
«So ein Mist!» sagte Waloka und betrachtete sorgenvoll die Decke. «Es langt nicht.»
«Ja, ja», sagte der Deutsche leise. Auch er sah bedauernd zur Decke und fuhr dann zu Walokas Überraschung fort: «Zuwenig Kraft, malo sily.»
Waloka hob die sandigen Augenbrauen und sah den Deutschen erstaunt an. Er versteht Russisch, der Teufelskerl!
«Du versteh po-russki?»
«Malo, malo», antwortete der Deutsche schmunzelnd. «Witebsk bei russka Frau, bei grashdanka, malo hab gelernt, utschil.»
«Sieh einer an! Ist das ein Fokus!»
Waloka stieg vom Ziegelhaufen herunter, setzte sich auf das Ende des verbogenen Trägers und langte in die Tasche — wie immer in schwierigen Situationen, hatte er das Bedürfnis zu rauchen, «sich den Kopf klarzumachen». Die Maschinenpistole hielt er trotzdem zwischen den Knien. Der Deutsche, der auf diese Pause gewartet zu haben schien, ließ sich gleichfalls nieder, wo er stand, unmittelbar unter dem Lichtstrahl, auf einen Ziegelstein. Das verletzte Bein streckte er vorsichtig aus.
«Fokus, Fokus. Kenn ich nicht, ne snai, schto jest takoi», sagte er, vor Schmerzen das Gesicht verziehend.
«Tja, mein Lieber!» Waloka lächelte zum erstenmal. «So auf Anhieb verstehst du es doch nicht.»
Mit seinen schwieligen Fingern knüpfte er den mit Hähnchen bestickten Tabaksbeutel auf, holte ziehharmonikaartig gefaltetes Papier hervor, riß ein Stück für eine Zigarette ab, schüttete Machorka darauf und verteilte ihn gleichmäßig. Dann drehte er das Ganze ein paarmal, hielt jedoch inne, warf einen Blick auf den Deutschen, überlegte und warf ihm den Tabaksbeutel zu.
«Da fang!»
Der Deutsche, der die russischen Worte wohl nicht verstanden hatte, schlug die Hände ein wenig zu spät zusammen, trotzdem erwischte er den Tabaksbeutel noch dicht über den Stiefeln.
«Oh, russki machorka!» sagte er und schnupperte erst mit dem einen, dann mit dem anderen Nasenloch an dem einfachen Soldatenknaster. Dann zog er ungeschickt die Schnüre auseinander und drehte sich eine unförmige Zigarette.
Jeder zündete sich seine Zigarette selber an: Waloka mit einem Streichholz, das sich in seiner breitgequetschten Schachtel fand, der Deutsche mit einem Feuerzeug, das kunstvoll in Form einer blanken kleinen Pistole gefertigt war.
Nachdem Waloka den ersten Zug genossen hatte, sah er den Deutschen aufmerksam an. «Was machen wir nun? Wie kommen wir hier raus?»
«Ja, ja.» Der Deutsche nickte. «Weg hier. Idi, nado idi. Tuda, nawerch.» Er zeigte mit dem Finger zur geborstenen, aber noch festen Decke.
«Nawerch», äffte Waloka ihn nach. «Natürlich nach oben. Nicht nach unten. Aber wie?»
Es bleibt offen, wieviel der Deutsche von diesen Worten verstanden hatte, jedenfalls ließ er seinen Blick sorgenvoll über die Wände und den dunklen Winkel unter der Treppe gleiten und musterte die Decke.
«Arbeit nado.» Er wies mit dem Kopf auf die dunkelste Ecke, die voller Ziegelschutt lag. «Arbeit. Mnoga Arbeit.»
«Natürlich Arbeit. Was du sein? Arbeiter oder… Bauer?» fragte Waloka.
Der Deutsche sah ihn mit gekrauster Stirn an.
«Ja, ja», antwortete er freudig, nachdem er die Frage verstanden hatte. «Arbeiter! Tischler. Kak po-russki?»
Da ihm das russische Wort nicht einfiel, machte er mit beiden Händen die Bewegung des Hobeins, und Waloka fragte verwundert:
«Stoljar?»
«Ja, ja», bestätigte der Deutsche.
«Ist das ein Fokus! Ich bin auch Tischler. Ich bin Tischler!» schrie Waloka, sich mit dem Finger an die Brust tippend, auf russisch, als könnte der Deutsche laute Worte besser verstehen.
Er schien sie tatsächlich verstanden zu haben, lächelte kurz durch den Rauch hindurch und sog am Rest der Machorkazigarette.
«Ich Haus — dom — arbeiten. Mnoga, mnoga Haus», sagte er und deutete mit den Händen ein Dach an.
«Ich auch chaus gebaut», sagte Waloka und legte zum besseren Verständnis die Hände zusammen. «Balkenbinder hab ich gemacht. Russischer Winkel. Ich versteh was vom Handwerk.»
«Gut, gut.» Der Deutsche nickte befriedigt.
«Ich kenn mich aus. Da gibt's noch,rigel? und,rejsmas? — das sind Bezeichnungen von euch.»
«Ja, ja. Riegel! Reißmaß!» wiederholte der Deutsche wie ein Echo die auch ihm vertrauten Worte. Dann wurde er ernst und stand auf, nachdem Waloka seine Zigarette zu Ende geraucht hatte. «Nado idi!» sagte er und wies nach oben.
Waloka erhob sich ebenfalls, nahm die Maschinenpistole und betrachtete sie unschlüssig; er wußte nicht wohin damit. Nach kurzem Überlegen streifte er den Traggurt über den Kopf, so daß sie ihm auf dem Rücken hing.
Der Deutsche kletterte ganz nach oben, bückte sich dort im Dunkeln und begann die Ziegeltrümmer hinunterzuwerfen. In seiner Haltung fand Waloka nichts Feindseliges, keine Hinterhältigkeit mehr, der Deutsche war schlicht, aufgeweckt, und aus kaum merklichen Anzeichen war zu erkennen, daß er ein feinfühliger und offener Charakter war. Waloka kletterte zu ihm hinauf und fragte ihn, sein restliches Mißtrauen unterdrückend, auf russisch:
«Wie heißt du?»
Der Deutsche unterbrach seine Arbeit und wandte ihm das Gesicht zu — er hatte die Frage nicht verstanden.
«Wie du heißen!» sagte Waloka lauter, als sei der andere schwerhörig. «Ich heiß Iwan Waloka, und du? Hans? Fritz?»
«Fritz! Ja, ja! Fritz Hagemann», gab der Deutsche, froh, daß er verstand, bereitwillig Auskunft und lachte. «Ich Fritz und du Iwan Waloka. Gut!» Er lachte erneut, wobei sich sein nicht mehr junges Gesicht in lauter Fältchen legte.
«Gut schon», sagte Waloka, ohne sich von der Heiterkeit des anderen anstecken zu lassen. «Aber nicht sehr. Wenn wir rausgekrochen sind, was ist dann?»
Auf den Deutschen machten seine Worte jedoch keinen Eindruck. Er zerrte wieder eifrig Mauerbrocken aus dem Haufen und warf sie nach unten.
Waloka stellte sich neben ihn, bückte sich unbeholfen und tat es ihm nach.