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Nein, er war nicht tot, er lebte. Aber die Umwelt drang nur durch ein Tohuwabohu peinigender Visionen in sein Bewußtsein. Zuerst hatte er die Vorstellung, er sei in eine Art Teufelsrachen eingezwängt, dessen große scharfe Zähne seinem Körper schreckliche Qualen bereiteten. Der Kopf schmerzte heftig. Irgendwo im Innersten des Gehirns zuckte, stach und schnitt es. Waloka hatte nicht die Kraft, sich zu bewegen, und das war ihm merkwürdigerweise schrecklich unangenehm. Noch stärker schmerzte der Rükken. Waloka dünkte es, als liege er mit nacktem Oberkörper auf einem Stoppelfeld, und Disteln und nadelspitze Stoppeln bohrten sich in seinen Leib. Er wollte schreien, seinen Nachbarn Trofim rufen, der nebenan mit einer Mähmaschine arbeitete, brachte aber keinen Ton heraus. Gleich darauf merkte er jedoch, daß der, der da mähte, gar nicht Trofim, sondern der Deutsche Fritz war und daß er eine MPi hatte — mit der einen Hand hielt er die Zügel, mit der anderen die Waffe auf dem Schoß. Seltsamerweise sprach der Deutsche belorussisch. Waloka zitterte vor Angst, er wußte, daß Fritz gleich die Pferde anhalten und ihn erschießen würde. Er fuhr um Waloka herum, der Kreis wurde immer enger, und die Zähne der Mähmaschine näherten sich immer mehr seinen Füßen. Obendrein brannte so unbarmherzig die Sonne, daß der Kopf zu platzen drohte. Waloka fühlte sich wie ausgedörrt und verspürte einen unerträglichen Durst. «Trinken, trinken», flüsterte er. Es war jedoch nichts zu hören — die Lippen bewegten sich, aber kein Ton kam heraus. Dann sank die Sonne tiefer und näherte sich ihm, wurde jedoch seltsamerweise immer kleiner, bis sie die Größe einer Feuerzeugflamme erreicht hatte. Die Angst verging allmählich, nur die Hitze wurde unerträglich, und der Durst nahm noch zu. Dann wurde es ringsum dunkel, Feld und Mähmaschine verschwanden, und Waloka war bereits im Krieg. Hinter einem Berg ratterte ein MG, und dicht über seinem Kopf hörte er die beruhigende Stimme des Sanitäters Korban von seiner Kompanie: «Gut, Waloka, gut! Waloka lebt, shiw gut.» Der Sanitätsinstrukteur sprach deutsch, aber Waloka wunderte sich nicht darüber, er war froh, daß jemand bei ihm war, der ihn nicht im Stich lassen durfte. Und wieder leuchtete in der Dunkelheit das Flämmchen auf und entschwebte in unbekannte Fernen. Waloka bekam Angst, weil man ihn verließ; er schrie, wie er manchmal als Kind geschrien hatte, wenn ihn böse Träume schreckten. Dann erblickte er, bereits wirklicher, in der Dunkelheit eine von der anderen Seite beleuchtete Gestalt mit losgerissener, auf dem Rücken baumelnder Achselklappe. Die Gestalt bewegte sich, für einen Augenblick war die Wand von einem matten Fleck erhellt — erst an einer Stelle, dann an einer anderen. Und nun wurden in einer beleuchteten Ecke die vertrauten Konturen der MPi sichtbar. Waloka wunderte sich — das war doch seine PPS Nummer PL 0482! Er war sich noch nicht bewußt, wie ihm geschehen und wer da bei ihm war, aber daß das nicht der Sanitäter war, merkte er doch schon. Und das Bewußtsein, daß er entwaffnet war, löste in seinem Herzen beinahe wieder Angst aus. Er überwand sie, richtete sich auf, stützte sich auf die zitternden Arme, tastete nach einem Ziegelstein und wartete. Töten, töten, töten um jeden Preis, sonst tötet der andere dich! Waloka versuchte aufzustehen, sein Herz schlug heftig, er wurde nur noch schwächer, die schweren Arme gehorchten ihm nicht, und die schrecklichen Schmerzen im Kopf verstärkten sich noch. Der Feind aber kroch bereits in der dämmerigen Ferne mit seiner Lampe umher — was suchte er nur? Dann machte der Lichtfleck halt, flackerte auf der Stelle, und das Schloß der Maschinenpistole klirrte kurz. Von Schmerzen und Überanstrengung erschöpft, krümmte sich Waloka zusammen, ihm wurde schwarz vor Augen, und da krachte in der Ecke dumpf ein Schuß. Der rote Feuerschein blendete ihn, seine Arme knickten ein, und er fiel um, doch der Schmerz nahm nicht zu. Er fand die Kraft zu schreien — für einen Soldaten ist es schrecklich, in solcher Stille und Verborgenheit zu sterben — , doch da vernahm sein Ohr leise, regelmäßige Geräusche, die sehr an das Tröpfeln von den Dächern im März erinnerten. Aber natürlich, so konnte nur Wasser tropfen! Waloka sah in der Dunkelheit bereits einen hellglänzenden Strahl, und da er spürte, wie ihn seine Sinne wieder verließen, entrang sich ihm ein Stöhnen.

Seine nächste Empfindung war eine sanfte, behutsame Berührung am Bart und am Hals, ihm war, als krieche ihm ein lebendiges, kühlschlüpfriges Wesen in den Kragen, aber die Lippen belebten sich plötzlich, er hatte ein angenehmes Gefühl im Mund, und etwas Hartes, Eisernes stieß wiederholt gegen seine Zähne. Waloka hob die Lider, da sah er schmerzhaft grelle Funken auf sich zukommen, sie schwankten und tanzten dicht vor seinem Gesicht, ohne ihn jedoch zu verbrennen. Dann merkte er, daß alles nur eine Spiegelung im Wasser war. Aus weiter Ferne drangen die Worte: «Trinken, Iwan! Trinken!» in sein getrübtes Bewußtsein.

Er schluckte lange und viel, seine Zähne stießen fortwährend gegen den Rand des Gefäßes. Urplötzlich kam ihm die Wirklichkeit wieder eindringlich zum Bewußtsein — er erinnerte sich, wo er sich befand und wer bei ihm war. Der Deutsche! Fritz! Für einen Augenblick riß er sich vom Wasser los und blickte auf — über ihm brannte in einer Hand das Feuerzeug; das unnatürlich beleuchtete Gesicht mit den behaarten großen Nasenlöchern und den buschigen Brauen, unter denen das vorgewölbte gelbliche Weiß der Augen flimmerte, sah von unten schrecklich, stumpfsinnig aus und schien zu einer grotesken Grimasse verzogen. Aus den Augen sprach jedoch gutmütiges Mitgefühl, und das beruhigte Iwan.

«Trinken, Iwan! Trinken.»

Er beugte den Kopf wieder über das Gefäß, in dessen Tiefe die vertraute Flamme tanzte. Auf einmal wurde Waloka übel, und er hob den Kopf. Fritz brummte etwas und stellte das Wasser beiseite.

Waloka wurde leichter — die unerträgliche Hitze ließ nach, nur im Kopf, in den Schultern und innerlich hatte er dumpfe Schmerzen. Er schloß erneut die Augen und überließ sich der Ruhe, doch plötzlich fiel ihm seine MPi ein. Er fuhr hoch, aber die Hände des Deutschen hielten ihn sogleich zurück und zwangen ihn, sich wieder hinzulegen. In einem lichten Moment wunderte sich Waloka über sich selbst: Warum sich fürchten? War er doch jetzt ganz in der Hand des Deutschen. Waloka empfand eine stille Zuneigung zu ihm, so als seien sie gute alte Bekannte, die einander brauchten. Deshalb weg mit dem Mißtrauen, der Vorsicht, den Zweifeln. Alles, was über ihnen lag, geschichtet aus nationalen Gegensätzen, politischer Feindschaft und Kriegserlebnissen — das alles blieb jetzt in der Außenwelt, verlor hier unten seinen Sinn, seine Macht.

Waloka berührte mit der Hand das Knie des Deutschen und drückte es schwach. Fritz reagierte lebhaft, ergriff Walokas Arm, drückte ihn behutsam nahe dem Ellbogen und legte ihn vorsichtig wieder auf die Erde.

Dann sank Waloka in eine Art Halbschlaf. Die Schmerzen ließen allmählich nach, doch die inneren Qualen dauerten fort. War es nur ein Traum, oder war es Alpdrücken, jedenfalls suchten ihn die bösen Visionen weiter hartnäckig heim.

Er sah sich in Breslau, am Stadtrand, in einem Garten, wo ihr Regiment eine Woche vor dem Angriff umgruppiert wurde. Der bereits bei Orscha gefallene Bataillonskommandeur Poprenko lebte plötzlich wieder. Er hatte Waloka in den Stab bestellt, und Waloka lief bedrückt zum Unterstand, obgleich er wußte, daß der Bataillonsstab in Breslau in einer luxuriösen Villa mit Balkon untergebracht war. Im Unterstand fand Waloka jedoch zu seiner Verwunderung nicht Poprenko, sondern Hauptmann Woranau vor. «Na, du deutscher Spion», empfing er Waloka, packte ihn bei den Schultern und riß ihm die Achselklappen herunter. Dann richtete er die Pistole auf die runden Medaillen an Walokas Brust. «Hast einen Deutschen versteckt? Dem Feind Tabak angeboten? Warum hast du ihn nicht getötet?»

Waloka wollte erklären, wie es ihm im Keller ergangen war, konnte jedoch auf einmal nicht sprechen. Er fühlte, daß er sogleich sterben würde. Und Woranau schoß tatsächlich, doch Waloka spürte keinen Schmerz. Da erriet er, daß die Kugel von einer der Medaillen abgeprallt war. Die Medaillen hatten ihm das Leben gerettet. Aber da hatte Woranau statt der Pistole plötzlich eine schwere Pak-Granate in der Hand — das war das sichere Ende.

«Verräter! Hast die Heimat verraucht? Dafür hast du die höchste Strafe verdient!» drang es schrecklich an Walokas Ohr, und er sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Und auf einmal war hinter ihm ebenes Feld, Woranau war verschwunden, und er, Waloka, saß wie in der guten alten Vorkriegszeit an einem Frühlingstag am Rande einer Furche, die bloßen Füße im feuchten, weichen Lehm. Neben ihm saßen Kolchosbauern aus seinem Dorf, die Pferde ruhten sich aus, und über das frischgepflügte Land stelzten Saatkrähen und pickten große weiße Würmer auf. Alle lachten und scherzten, frühstückten und tranken bernsteingelben gegorenen Birkensaft. Waloka hatte ebenfalls Durst, aber ihm hatte niemand Frühstück gebracht, da sein Haus zu weit entfernt lag. Er war der einzige Uniformierte unter ihnen, er trug Reithosen und eine Feldbluse, allerdings ohne Schulterklappen, und in einiger Entfernung lagen auf dem umgepflügten Acker seine MPi und seine Mantelrolle. Auf dieser saß reglos eine große schwarze Krähe. Alle lachten und rauchten, Waloka aber wußte, daß er kein Frühstück mehr bekommen würde, denn er war zum Tode verurteilt, und das, worauf die Krähe saß, war bereits dem Unterfeldwebel übergeben worden, der ihn von der Versorgungsliste gestrichen hatte.

Dann verschwanden Menschen, Pferde und Krähen, nur die eine, die reglose, saß immer noch da und krächzte. Wie sich dann herausstellte, war es ein Rabe. Dieser eigensinnige, geheimnisvolle Vogel flößte Waloka Furcht ein; er versuchte aufzuspringen, zuckte krampfhaft und erwachte.

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