Pirx erzählt

Utopische Bilder? Doch, die mag ich, aber nur schlechte. Das heißt, schlechte eigentlich nicht, eher unwahr. An Bord habe ich so etwas immer bei der Hand, um in freien Augenblicken zu lesen, auch wenn es nur ein paar Seiten mittendrin sind, und es dann beiseite zu legen. Mit den guten ist das eine ganz andere Sache, die lese ich ausschließlich auf der Erde. Weshalb? Ehrlich gesagt — ich weiß es selbst nicht. Ich habe nie darüber nachgedacht. Gute Bücher sind immer wahr, auch wenn sie Dinge beschreiben, die sich nie ereignet haben und die sich nie ereignen werden. Sie sind wahr in einem anderen Sinne: Wenn sie, sagen wir, von der Kosmonautik handeln, dann lernt man etwas von der Stille kennen, die so ganz, ganz anders ist als die irdische Stille, von dieser Ruhe, die von so vollkommener Unbeweglichkeit ist… Was immer sie auch schildern, sie sagen stets dasselbe, nämlich daß der Mensch dort nie zu Hause sein wird. Auf der Erde ist alles so zufällig, wie es gerade kommt, ein Baum, eine Wand, ein Garten, man kann das eine gegen das andere auswechseln, hinterm Horizont ist ein anderer Horizont, hinterm Berg- ein Tal. Dort aber ist es ganz anders. Auf der Erde kommt es den Menschen nie in den Sinn, wie schrecklich es ist, daß sich die Sterne nicht bewegen. Selbst wenn du ein Jahr lang mit vollem Schub fliegst, bemerkst du keine Veränderung. Wir fliegen und fahren über die Erde und glauben zu wissen, was das ist — der Raum. Man kann das einfach nicht ausdrücken. Ich erinnere mich noch gut: Als ich einmal von einem Patrouillenflug heimkehrte, lauschte ich irgendwo in der Gegend des Arbiter fernen Gesprächen, man stritt sich, wer zuerst landen dürfe, und ich erblickte zufällig eine andere heimkehrende Rakete.

Der gute Mann dachte, er sei allein. Er ließ seine Kiste tanzen wie in einem epileptischen Anfall. Jeder von Ihnen weiß, wie das ist:

Nach ein paar Tagen verspürt man eine irrsinnige Lust, etwas zu tun, ganz gleich was, volle Pulle zu geben, irgendwohin zu jagen und herumzukurven, daß einem die Zunge heraushängt… Früher dachte ich, das sei unanständig, der Mensch solle sich nicht so gehenlassen. Doch im Grunde ist das nur Verzweiflung, nur der Wunsch, dem Kosmos… die Zunge rauszustrecken. Denn er ist nicht austauschbar wie ein Baum, und deshalb ist es wohl so schwer, mit ihm fertig zu werden. Das ist es, wovon gute Bücher erzählen. Und wie ein Sterbender nicht gerade gern etwas über die Agonie liest, wollen auch wir, die wir doch alle ein bißchen die Sterne fürchten, nicht die Wahrheit über sie hören, wenn wir mitten unter ihnen sind. Wir finden dann alles gut, was uns ein bißchen ablenkt. Für mich jedoch sind jene anderen Sterngeschichten die besten, die Lesebuchgeschichten, denn in ihnen ist alles so bieder, den Kosmos eingeschlossen. Und da es sozusagen eine Biederkeit für Erwachsene ist, gibt es dort Katastrophen und Morde und andere Scheußlichkeiten, aber bieder und unschuldig sind sie trotzdem, denn sie sind von Anfang bis Ende erlogen: sie wollen einem Angst einjagen, aber man lächelt nur mitleidig.

Das, was ich erzählen will, ist so eine Geschichte. Sie ist mir wirklich passiert. Doch das ist unwichtig. Wir hatten gerade ein „Jahr der ruhigen Sonne“. Wie gewöhnlich in solchen Zeiten, fand rings um die Sonne ein großes Reinemachen statt, ein Aufräumen und Ausfegen riesiger Mengen alten Eisenkrams, der auf einer Umlaufbahn um den Merkur dahintrudelte; man hatte in den sechs Jahren, da in seinem Perihel eine große Station errichtet wurde, einen Haufen alter Wracks im All zurückgelassen, denn damals verfuhr man noch nach dem Le-Mans-System und verwendete die Raketenleichen als Gerüste, statt sie zu verschrotten. Le Mans war mehr Ökonom als Ingenieur. Die aus den Wracks gefertigte Station war zwar dreimal so billig, verursachte aber so viele Schwierigkeiten, daß von nun an kein Mensch mehr auf solche „Einsparungen“ erpicht war. Doch da kam Le Mans auf eine neue Idee — er wollte diesen Raketenfriedhof auf die Erde zurückschaffen. Wozu sollte er bis zum Jüngsten Gericht dort kreisen, wenn man ihn einschmelzen konnte?

Wenn sich das allerdings bezahlt machen sollte, mußten als Schlepper Raketen verwendet werden, die nicht viel besser waren als jene Leichname. Ich war damals Patrouillenpilot und hatte meine Stunden längst abgeflogen, das heißt, eigentlich war ich es nur noch an jedem Ersten, wenn ich mein Gehalt kassierte. Meine Lust zu fliegen war jedoch so groß, daß ich selbst mit einem eisernen Ofen einverstanden gewesen wäre, hätte sich sein bißchen Zug in Schub umsetzen lassen.

Kein Wunder also, daß ich mich in Le Mans’ brasilianischem Büro meldete, kaum daß ich seine Annonce gelesen hatte. Ich möchte hier nicht behaupten, daß die von Le Mans oder vielmehr von seinen Agenten angeheuerten Besatzungen eine Art Fremdenlegion gewesen wären oder eine Ansammlung von Strolchen, denn solche Leute fliegen überhaupt nicht. Aber heutzutage begibt man sich kaum noch in den Kosmos, um Abenteuer zu suchen. Dort gibt es keine Abenteuer mehr, wenigstens nicht im allgemeinen. Man entschließt sich also dazu wegen irgendeines Unglücks oder einfach so, aus purer Laune. Solche Leute sind das schlechteste Material, denn dieser Dienst verlangt mehr Standfestigkeit als die Seefahrt, und Leute, denen alles schnurz ist, haben an Bord nichts zu suchen. Ich will nicht den Psychologen spielen, ich möchte nur erklären, weshalb ich schon nach der ersten Reise die Hälfte der Besatzung verlor. Die Techniker mußte ich entlassen, weil sie sich unter dem Einfluß des Funkers, eines kleinen Mestizen, dem Trunk ergeben hatten. Die Tricks, mit denen es dieser Bursche verstand, Alkohol an Bord zu schmuggeln, kann man schon genial nennen. Er spielte mit mir Katz und Maus. Einmal versenkte er Plastschläuche in den Kanistern, aber das möchte ich nur nebenbei erwähnen. Wahrscheinlich würde er sogar im Reaktor Whisky verstecken, wenn das möglich wäre. Ich kann mir vorstellen, welche Entrüstung das bei den Pionieren der Astronautik hervorgerufen hätte. Mir ist unbegreiflich, wie sie daran glauben konnten, daß der bloße Aufstieg in eine Umlaufbahn den Menschen in einen Engel verwandele. Vielleicht spukte in ihren Köpfen, ohne daß sie es wußten, der paradiesisch blaue Himmel, der während des Starts so schnell verschwindet? Aber es ist wohl dumm von mir, solche Erwägungen anzustellen. Dieser Mexikaner, der eigentlich in Bolivien geboren wurde, verschaffte sich eine Nebeneinnahme, indem er Marihuana verkaufte. Außerdem machte es ihm Spaß, mich an der Nase herumzuführen. Aber ich kannte Schlimmere als ihn. Le Mans war ein großer Mann, er befaßte sich nicht mit Einzelheiten, er legte für seine Agenten nur das finanzielle Limit fest. Nicht genug also damit, daß ich außerstande war, meine Besatzung zu komplettieren, ich mußte auch noch um jeden Kilometer Schub bangen und mir jedes Manöver dreimal überlegen. Die Uranographen wurden nach jedem Flug wie Finanzbücher kontrolliert, ob nicht, Gott behüte, irgendwo zehn Dollar in der Gestalt von Neutronen davongeflogen waren.

Was ich dort tat, hatte man mich nie gelehrt — möglich, daß ähnliche Dinge vor hundert Jahren auf alten Tramps vorkamen, die zwischen Glasgow und Indien kursierten. Nun, ich habe mich nie beklagt, und jetzt denke ich manchmal — fast schäme ich mich, es zu sagen — mit Wehmut daran. Diese „Perle der Nacht“ welch ein Name!

Das Raumschiff löste sich allmählich auf, das Fliegen bestand darin, alle möglichen undichten Stellen und Kurzschlüsse zu finden. Jeder Start und jede Landung fanden gegen alle Gesetze — nicht nur der Physik — statt.

Wahrscheinlich hatte Le Mans’ Agent gute Bekannte im Merkurhafen, sonst hätte jeder Kontrollingenieur sofort alles versiegelt, angefangen von der Steueranlage bis zum Reaktor. So flogen wir also zu den Jagdgebieten im Perihel und spürten mit den Radargeräten die Wracks auf. Dann wurden sie zusammengeholt und zu einem „Zug“ formiert. Ich hatte dort alles auf einmal: Krach mit den Technikern, Schnaps mußte ins All hinausgeworfen werden noch heute segelt dort London Dry Gin durch die Gegend —, und verzwickte mathematische Probleme; die Navigation beruhte nämlich darauf, Annäherungswerte zu finden für das Verhalten vieler Körper im Raum. Was es im Überfluß gab, war Leere. Leere in Raum und Zeit. Ich schloß mich in der Kajüte ein und las. An den Verfasser erinnere ich mich nicht, es war ein Amerikaner, und im Titel war wohl von Sternenstaub die Rede. Wie das Buch anfing, weiß ich ebenfalls nicht, denn ich begann irgendwo in der Mitte zu lesen. Der Held befand sich im Reaktorraum und telefonierte mit dem Piloten, als der Ruf ertönte: „Hinter uns Meteore!“ Bis zu diesem Augenblick hatte Schwerelosigkeit geherrscht, da gewahrte der Held plötzlich, daß die riesige Reaktorwand mit den leuchtendgelben Augen ihrer Instrumente bedrohlich auf ihn zukam: Die Triebwerke waren gezündet worden, und das Raumschiff schnellte vorwärts, er dagegen hatte, da er in der Luft schwebte, die vorherige Geschwindigkeit beibehalten. Zum Glück konnte er sich irgendwie mit den Füßen abstoßen, doch die Beschleunigung entriß ihm den Hörer. Einen Moment hing er an der Telefonschnur, dann kam er zu Fall und wurde platt gegen die Wand gedrückt. Der Hörer pendelte über ihm, und er unternahm verzweifelte Anstrengungen, ihn zu ergreifen. Aber er wog ja mindestens eine Tonne und konnte keinen Finger bewegen. Schließlich bekam er ihn mit den Zähnen zu fassen und gab das rettende Kommando durch. Diese Szene prägte sich mir ein, und noch besser gefiel mir die Beschreibung, wie sie durch einen Schwärm stießen.

Eine Staubwolke bedeckte, man höre und staune, ein Drittel des Himmels, nur die hellsten Sterne schimmerten hindurch, doch das ist noch gar nichts, denn plötzlich sah der Held, und zwar auf dem Radarschirm, daß sich aus diesem gelben Taifun ein blaß leuchtender Schweif mit schwarzem Kern näherte. Ich weiß nicht, was das sein sollte, aber ich lachte Tränen. Wie hübsch der Autor sich das alles ausgedacht hatte! Die Wolke, der Taifun, der Telefonhörer — ich sah den guten Mann förmlich vor mir, wie er an der Schnur baumelte; denn daß unterdessen in der Kajüte eine bildschöne Frau wartete, versteht sich wohl von selbst. Sie war Geheimagentin irgendeines kosmischen Tyrannen, vielleicht kämpfte sie auch gegen einen solchen, ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls war sie schön, wie es sich gehört.

Weshalb ich des langen und des breiten darüber rede? Weil diese Lektüre meine Rettung war. Meteore? Ich habe Wracks von zwanzig- bis dreißigtausend Tonnen wochenlang gesucht und nicht einmal die Hälfte auf dem Radarschirm gesehen. Da ist es einfacher, eine fliegende Revolverkugel zu erblicken. Einmal, wir hatten gerade keinen Schub, mußte ich meinen Mestizen beim Schlafittchen packen; das ist wohl schwieriger als die Sache mit dem Hörer, weil wir beide umherflogen, aber gewiß weniger effektvoll. Ich glaube beinahe, ich komme ins Schwatzen. Ich weiß, aber so hat sich die Geschichte nun einmal entwickelt. Die zweimonatige Jagd war beendet, ich hatte hundertzwanzig- oder hundertvierzigtausend Tonnen toten Metalls im Schlepp und bewegte mich auf einer ekliptischen Ebene in Richtung Erde.

Freilich, das war gegen die Vorschriften, aber ich hatte keinen Brennstoff für Manöver. Im übrigen sagte ich das ja schon. Mehr als zwei Monate lang mußte ich mich ohne Schub dahinschleppen. Und da trat die Katastrophe ein. Nein, nicht Meteore, schließlich handelte es sich nicht um einen Roman. Mumps, Ziegenpeter. Zuerst der Reaktortechniker, dann beide Piloten, schließlich alle übrigen. Die Visagen schwollen ihnen an, die Augen waren nur noch Spalte, hohes Fieber, von Wachdienst keine Rede. Das tollwütige Virus hatte Ngey an Bord geschleppt, der auf der „Perle der Nacht“ Koch, Steward, Hofmarschall und sonst noch allerlei war. Auch er war krank, gewiß, aber macht man den Ziegenpeter nicht auch in Südamerika schon als Kind durch? Ich weiß es nicht. Jedenfalls hatte ich ein Raumschiff ohne Besatzung. Geblieben waren mir nur der Funker und der zweite Ingenieur. Der Funker war immer schon am Morgen nach dem Frühstück betrunken. Doch eigentlich war er nicht betrunken — entweder vertrug er soviel, oder er trank immer nur Schlückchenweise, jedenfalls bewegte er sich nicht schlecht, vor allem wenn die Schwerkraft aufgehoben war — und die war die ganze Zeit aufgehoben, zählt man nicht die geringfügigen Kursberichtigungen. Aber er hatte Alkohol in den Augen, im Hirn. Jede Anweisung, jeder Befehl mußten genau kontrolliert werden — ich träumte davon, wie ich ihn nach der Landung verdreschen würde; dort konnte ich mir das nicht erlauben, und schließlich, wie konnte ich einen Betrunkenen schlagen? Ohne Alkohol war er wie eine Ratte, grau, unansehnlich, ungewaschen. Zudem hatte er die angenehme Gewohnheit, bei Tisch in der Messe alle möglichen Leute mit den ungeheuerlichsten Flüchen zu bedenken allerdings morste er. Ja, er klopfte mit dem Finger Morsezeichen auf den Tisch, einfach so vor sich hin, und ein paarmal wäre es deswegen fast zu Schlägereien gekommen, denn schließlich verstanden es alle, aber er, in die Enge getrieben, behauptete jedesmal, das sei eben so ein Tick von ihm. Nervensache. Das passiere ganz von selbst. Ich befahl ihm, die Ellenbogen an den Körper zu pressen, doch da morste er mit dem Fuß oder mit der Gabel — er war in gewissem Sinne ein Künstler.

Der einzige völlig gesunde und normale Mensch war der Ingenieur. Sein einziger Mangel war nur, daß er Tiefbauingenieur war. Wirklich. Er hatte den Vertrag erhalten, weil er mit dem halben Lohn zufrieden war. Dem Agenten hatte das nichts ausgemacht, und mir war es gar nicht in den Sinn gekommen, ihn zu prüfen, als er sich bei mir meldete. Der Agent fragte ihn nur, ob er sich mit Konstruktionen und Maschinen auskenne. Er sagte ja, denn er kannte sich ja aus: mit Straßenbaumaschinen! Ich setzte ihn zum Wachdienst ein. Er konnte nicht einmal Planeten von Sternen unterscheiden. Nun wissen Sie schon ungefähr, auf welche Weise Le Mans große Geschäfte machte. Genaugenommen hätte auch ich mich als Navigator von Unterseebooten entpuppen können, und wenn ich nicht so skrupulös wäre, hätte ich mich vielleicht sogar dafür ausgegeben. Ich hätte mich in meiner Kajüte eingeschlossen, aber das ging nicht.

Der Agent war selbstverständlich nicht dumm. Er verließ sich, wenn schon nicht auf meine Loyalität, so doch auf meinen Selbsterhaltungstrieb. Ich wollte heimkehren, und da diese hunderttausend Tonnen im All nichts wogen und ein Abkoppeln unsere Geschwindigkeit nicht um einen Millimeter pro Sekunde erhöht hätte, war ich nicht so boshaft, es dennoch zu tun. Denn auch solche Gedanken gingen mir durch den Kopf, wenn ich morgens von einem zum anderen mit Watte, Öl, Verbandstoff, Spiritus und Aspirin ging. Meine einzige Abwechslung war dieses Buch über die Liebe im All inmitten von Meteoritentaifunen. Manche Abschnitte las ich bis zu zehnmal. Es traten dort alle möglichen furchtbaren Ereignisse ein: Elektrische Gehirne revoltierten, die Agenten der Piraten hatten im Schädel montierte Sender, eine schöne Frau stammte von einem anderen Sonnensystem, aber von Ziegenpeter kein Wort. Um so besser für mich natürlich. Mir stand er ohnehin bis zum Halse.

Manchmal sogar die ganze Weltraumfahrt — so schien es mir wenigstens. In freien Augenblicken versuchte ich herauszufinden, wo der Funker seine Alkoholvorräte verbarg. Ich weiß nicht, vielleicht überschätze ich ihn, aber ich hatte den Eindruck, als verriete er manche Verstecke absichtlich, wenn der Schnaps darin zur Neige ging, einfach nur, damit ich standhaft blieb und seine Trunksucht nicht mit einem Achselzucken quittierte. Denn wo er seine Hauptquelle hatte, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht war er schon so sehr vom Alkohol durchtränkt, daß er den grundlegenden Vorrat in sich trug? Jedenfalls lief ich kreuz und quer durch das Raumschiff wie eine Fliege an der Decke, ich ruderte im Heck umher und im Mittelschiff, wie einem das manchmal in Träumen passiert, ich fühlte mich mutterseelenallein die Brüder lagen alle verschwollen in den Kajüten, der Ingenieur saß ungerührt im Steuerraum und lernte vom Linguaphon Französisch; es war still, als wäre an Bord die Pest ausgebrochen, nur manchmal drang Weinen oder Gesang durch die Ventilationskanäle. Von diesem bolivianischen Mexikaner. Immer gegen Abend packte es ihn, da überkam ihn der Weltschmerz. Mit den Sternen hatte ich wenig zu tun, berücksichtigt man nicht das Buch dieses Amerikaners. Manche Abschnitte kannte ich auswendig, zum Glück sind sie mir inzwischen entfallen. Ich wartete darauf, daß dieser Mumps zu Ende ging, denn das Robinsondasein blieb auf die Dauer auch bei mir nicht ohne Wirkung. Den Tiefbauingenieur mied ich, obwohl er auf seine Weise ein ganz anständiger Kerl war und mir hoch und heilig versicherte, daß er den Vertrag nie unterschrieben hätte, wenn seine Frau und sein Schwager ihn nicht in so ernste finanzielle Schwierigkeiten gebracht hätten. Er gehörte jedoch zu der Sorte von Menschen, die ich nicht ausstehen kann, zu den Leuten, die sich uneingeschränkt und hemmungslos anderen anvertrauen. Ich weiß nicht, ob er nur mir gegenüber ein so ungewöhnliches Vertrauen an den Tag legte — wahrscheinlich nicht, denn bestimmte Dinge kommen einem einfach nicht über die Lippen. Er aber sagte alles, mir drehte sich manchmal der Magen um. Zum Glück war die „Perle der Nacht“ groß: achtundzwanzigtausend Tonnen tote Masse, Platz genug, sich zu verstecken.

Sie können sich wohl denken, daß dies mein erster und letzter Flug für Le Mans war. Seitdem habe ich mich nicht mehr so übertölpeln lassen, obwohl ich noch manchmal in der Klemme saß. Ich hätte über diese — immerhin recht peinliche — Episode nicht gesprochen, wenn nicht ein Zusammenhang mit jener anderen, nicht existierenden Seite der Kosmonautik bestünde. Sie erinnern sich vielleicht: Ich warnte Sie einleitend, daß dies beinahe eine ähnliche Geschichte sein würde wie die aus dem erwähnten Buch. Die Meteoritenwarnung erhielten wir auf der Höhe der Umlaufbahn der Venus, aber der Funker hatte geschlafen oder sie einfach nicht aufgenommen, jedenfalls vernahm ich die Neuigkeit erst am nächsten Morgen in den Nachrichten, die von der Kosmolotionsstation der Luna ausgestrahlt werden. Ehrlich gesagt, die Sache erschien mir im ersten Augenblick unwahrscheinlich. Die Zeit der Drakoniden war längst passe, der Raum sauber, schließlich ziehen die Schwärme regelmäßig, gewiß, der Jupiter erlaubt sich manchmal dumme Perturbationsscherze, doch diesmal konnte er kaum der Urheber sein, weil es ein ganz anderer Radiant war.

Außerdem handelte es sich nur um eine Warnung achten Grades, um eine Staubwarnung, die Wolkendichte war gering, der Prozentsatz größerer Splitter unwesentlich, die Breite der Stirnseite allerdings beträchtlich: Als ich auf die Karte schaute, wurde mir klar, daß wir bereits seit ein oder zwei Stunden in diesem sogenannten Schwärm steckten. Die Bildschirme waren leer. Ich empfand auch keine sonderliche Unruhe, etwas ungewöhnlich war erst die nächste Mitteilung in den Mittagsnachrichten: Fernsonden hatten herausgefunden, daß es sich um einen systemfremden Schwärm handelte! Das war der zweite Schwärm dieser Art seit Bestehen der Kosmolotion. Meteore sind Kometenteilchen und ziehen auf gestreckten Ellipsen dahin, durch die Gravitation an die Sonne gefesselt wie Spielzeug an einer Nylonschnur. Ein systemfremder Schwärm, das heißt ein Schwärm, der aus dem Raum der Großen Galaktik in unser System eindringt, ist eine Sensation, allerdings mehr für Astrophysiker als für Piloten. Gewiß, ein Unterschied besteht auch für uns, wenn er auch nicht groß ist, nämlich in der Geschwindigkeit. Die Schwärme unseres Systems können im erdnahen Raum keine großen Geschwindigkeiten haben. Sie können bestenfalls parabolisch oder elliptisch sein. Ein Schwärm dagegen, der von außerhalb unseres Systems kommt, kann hyperbolische Geschwindigkeit haben und hat sie auch in der Regel. Aber in der Praxis läuft das auf dasselbe hinaus; die Erregung packt also die Meteoritologen und die Astroballistiker, nicht uns. Die Nachricht, daß wir in einem Schwärm steckten, machte auf den Funker keinerlei Eindruck. Ich sprach darüber während des Mittagessens; wie gewöhnlich hatte ich die Antriebsaggregate auf kleinen Schub geschaltet. Wir gewannen dadurch eine Kurskorrektur, und gleichzeitig erleichterte uns eine Spur von Anziehungskraft das Leben. Wir brauchten nicht die Suppe durch einen Strohhalm zu saugen und uns zu Zahnpaste verarbeitetes Hammelfleisch aus einer Tube in den Mund zu pressen. Ich war schon immer ein Anhänger normaler, menschenwürdiger Mahlzeiten.

Der Ingenieur hingegen erschrak sehr. Daß ich über den Schwärm wie über einen leichten Sommerregen sprach, schien er als Zeichen von Verwirrung anzusehen. Sanft erklärte ich ihm, daß es sich erstens um einen Staubschwarm handele, um einen Schwarm von sehr geringer Dichte; die Wahrscheinlichkeit, von Gesteinssplittern getroffen zu werden, die das Raumschiff beschädigen könnten, sei also geringer als die Wahrscheinlichkeit, im Theater von einem herabstürzenden Kronleuchter erschlagen zu werden. Zweitens könne man ohnehin nichts machen, da die Perle unfähig sei, Umgehungsmanöver auszuführen, und drittens hätten wir zufällig einen fast parallelen Kurs zur Bahn des Schwarmes, so daß die Gefahr eines Zusammenpralls sich noch um einige hundertmal verringere. Er schien nicht sehr überzeugt, doch ich wollte von Psychotherapie nichts mehr wissen und zog es vor, mich mit dem Funker zu beschäftigen, das heißt, ihn wenigstens für ein paar Stunden von seiner Quelle abzuschneiden, denn mitten im Schwärm war dies schließlich notwendiger als außerhalb. Am meisten fürchtete ich eins — einen SOS-Ruf. Schiffe gab es in diesem Gebiet genug, wir hatten das Perimeter der Venus bereits überschritten, und es herrschte ziemlich reger Betrieb, nicht nur Güterverkehr. Ich saß am Sender, der Funker neben mir, bis sechs Uhr Bordzeit, mehr als vier Stunden also, bei passivem Abhören, zum Glück ohne irgendwelchen Alarm. Der Schwärm war so dünn, daß man buchstäblich stundenlang auf die Radarschirme schauen mußte, um mikroskopisch kleine, schwächste Pünktchen zu entdecken — andererseits hätte ich trotzdem nicht geschworen, daß diese grünen Erscheinungen nicht einfach auf Täuschung beruhten, zumal mein Blick durch das ständige reglose Fixieren übermüdet war. Unterdessen hatte man auf der Luna und auf der Erde nicht nur den Radianten berechnet, sondern die ganze Bahn jenes hyperbolischen Schwarms, der sogar schon einen Namen hatte („der Kanopische“ — nach den Sternen des Radianten), und man wußte, daß er die Umlaufbahn der Erde nicht erreichen, sondern, seitlich an ihr vorbeiziehend, das System fern der großen Planeten verlassen würde, die gerade in einer anderen Gegend waren. Schließlich würde er, so unvermittelt, wie er erschienen war, in den Abgründen der Galaktik verschwinden, um nie wieder zu uns zurückzukehren.

Der Straßenbauingenieur, immer noch ängstlich, steckte den Kopf in den Funkraum, obwohl ich ihn dauernd hinausjagte und ihn anwies, auf die Steuerung zu achten; natürlich war das reine Fiktion, denn erstens hatten wir keinen Schub, und ohne Schub gibt es kein Steuern, und zweitens war er nicht einmal imstande, das elementarste Manöver durchzuführen, das ich ihm ohnehin niemals anvertraut hätte. Mir ging es lediglich darum, ihn irgendwie zu beschäftigen, um mich von den dauernden Belästigungen zu befreien. Er wollte nämlich wissen, ob ich schon einmal in Schwärme geraten sei und wie oft das passiert sei, ob ich dabei Katastrophen erlebt hätte und ob ernste, welche Rettungsaussichten bestünden, falls wir getroffen würden… Statt einer Antwort gab ich ihm Kraffts „Grundlagen der Kosmolotion und Kosmodromie“. Er nahm zwar das Buch, schlug es aber, wie ich glaube, nicht einmal auf, denn er war auf persönliche Erlebnisse begierig, nicht auf trockene Informationen. All das — ich erinnere daran — spielte sich in einem Raumschiff ab, das der Schwerkraft beraubt war, und unter solchen Bedingungen sind die Bewegungen von Personen, selbst von stocknüchternen, grotesk verändert — dauernd muß man an irgendeinen Gurt denken, ans Anschnallen, andernfalls genügt ein Aufdrücken des Bleistifts beim Schreiben, um bis an die Decke zu fliegen oder sich eine Beule zu schlagen. Mein Funker hatte ein anderes System in petto: Ständig trug er in der Tasche allerlei Kram mit sich herum — irgendwelche Gewichte, Laschen, Schlüssel, und wenn er sich in Schwierigkeiten befand, unbeweglich zwischen Decke, Fußboden und Wänden hängend, langte er einfach in die Hosentasche und schleuderte den erstbesten Gegenstand, den er fand, von sich, um sanft in der entgegengesetzten Richtung davonzuschweben. Diese Methode ist garantiert zuverlässig, sie bestätigte jedesmal aufs neue die Richtigkeit des Newtonschen Prinzips von Aktion und Reaktion, hatte allerdings nicht gerade angenehme Folgen, vor allem für die anderen Besatzungsmitglieder, denn das, was geworfen wird, prallt als Querschläger von den Wänden zurück, und manchmal dauert ein solcher Pendelflug von harten Gegenständen, die einen schmerzhaft treffen können, ziemlich lange. Ich erwähne das, um das Kolorit jener Reise um ein weiteres Mosaiksteinchen zu bereichern. Im Äther herrschte mittlerweile stärkeres Gedränge; viele Passagierschiffe änderten für alle Fälle und gemäß den Vorschriften ihre Trasse, Luna hatte allerhand Arbeit mit ihnen. Die automatischen Sender, die nach dem Morsesystem die in den großen stationären Kalkulatoren berechneten Orbital- und Kurskorrekturen senden, jagten unablässig ganze Garben von Signalen hinaus, allzu schnell, um sie akustisch aufzunehmen. Außerdem war auch der Sprechfunk voller Stimmen — die Passagiere teilten ihren besorgten Angehörigen für schweres Geld mit, daß sie sich wohl befänden und ihnen nichts drohe.

Die astrophysikalische Station der Luna übermittelte die laufenden Berichte über dichtere Schwarmzonen, über die Spektralanalysen ihrer Zusammensetzung — mit einem Wort: Das Programm war abwechslungsreich, und man langweilte sich nicht allzusehr am Lautsprecher.

Meine Kosmonauten mit dem Ziegenpeter, die selbstverständlich schon von der hyperbolischen Wolke wußten, riefen in einem fort die Funkstation an, bis ich ihre Apparate abschaltete und ihnen erklärte, daß sie eine gefährliche Situation — vor allem ein Leck — leicht am Luftmangel erkennen würden.

Gegen elf ging ich in die Messe, um etwas zu essen; der Funker schien nur darauf gewartet zu haben, er verschwand, als hätte er sich in Luft aufgelöst, und ich war viel zu müde, um auch nur an ihn zu denken, geschweige denn ihn zu suchen. Der Ingenieur hatte seine Wache beendet, er war ein wenig ruhiger und sorgte sich schon wieder vor allem um seinen Schwager. Während er seiner Kabine zustrebte (er gähnte wie ein Walfisch), sagte er mir, der linke Radarschirm sei wohl kaputt, denn an einer Stelle funkelte etwas grün. Mit diesen Worten ging er, während ich das kalte Rindfleisch aus der Büchse zu Ende aß — bis ich plötzlich, die Gabel in das unappetitlich erkaltete Fett gespießt, erstarrte.

Der Ingenieur kannte sich in Radarbildern aus wie ich in Asphaltproblemen. Dieser „kaputte“ Radarschirm…

Im nächsten Augenblick raste ich zum Steuer. Das sagt sich so dahin, in Wirklichkeit bewegte ich mich nur so schnell, wie dies möglich ist, wenn man seine ganze Beschleunigung dadurch gewinnt, daß man mit beiden Händen weiterhangelt und sich mit den Beinen von Wandvorsprüngen oder von der Decke abstößt. Der Steuerraum war, als ich ihn endlich erreichte, wie ausgekühlt, die Lämpchen der Schalttafeln erloschen. Die Reaktorkontrollen schimmerten nur sehr schwach, sie glichen Glühwürmchen im Traum, und nur die Radarschirme pulsierten im unaufhörlichen Kreisen der Leitstrahlen. Schon von der Tür her fixierte ich den linken Schirm. Im rechten unteren Quadrat leuchtete ein unbeweglicher Punkt oder eigentlich — ich sah es, als ich ganz dicht herantrat — ein Fleckchen von der Größe einer Münze, spindelförmig platt, vollkommen regelmäßig, grünlich phosphoreszierend, wie ein winziges, nur scheinbar regloses Fischlein im leeren Ozean. Hätte ein normaler Wachtposten diese Erscheinung entdeckt — aber nicht jetzt, eine halbe Stunde früher —, dann hätte er unverzüglich auf Automatik geschaltet, den Kommandanten benachrichtigt und von jenem Raumschiff die Daten über Kurs und Bestimmung gefordert. Aber ich hatte eben keine normalen Wachleute, es war eine halbe Stunde zu spät, und ich war allein, also mußte ich, weiß der Himmel, alles auf einmal machen — die Aufforderung zur Identifikation, Positionsangaben, den Sender, das Anheizen des Reaktors, damit er jederzeit Schub geben könne (er war kalt wie ein alter, aber schon ganz alter Leichnam) —, denn die Minuten verrannen. Ich schaffte es sogar, den halbautomatischen Hilfskalkulator in Betrieb zu nehmen, und es stellte sich heraus, daß jenes Raumschiff auf fast parallelem Kurs mit uns lag. Die Differenz betrug den Bruchteil einer Minute, die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes, im All ohnehin unvorstellbar gering, war fast Null. Nur daß es schwieg! Ich setzte mich in einen anderen Sessel und begann, es aus dem Bordlasergerät anzumorsen. Es war hinter uns, in einer Entfernung von etwa neunhundert Kilometern, also unerhört nahe, und ich sah mich, offen gesagt, bereits vor dem Kosmischen Tribunal (natürlich nicht wegen „Verursachung einer Katastrophe“, sondern einfach wegen „Verstoßes gegen Paragraph acht des Kosmolotionskodexes durch GA“ — Gefährliche Annäherung). Ich sagte mir, daß sogar Blinde meine Lichtsignale gesehen hätten. Dieses Raumschiff saß mir überhaupt nur deshalb hartnäckig im Radar und wollte nicht von der „Perle“ lassen, ja, es kam sogar immer näher, weil es einen ähnlichen Kurs hatte. Die Bahnen waren fast parallel, und der andere bewegte sich schon fast am Rande des Quadranten, weil er schneller war.

Über den Daumen schätzte ich, daß seine Geschwindigkeit hyperbolisch war. Und wirklich, zwei Messungen im Abstand von zehn Sekunden ergaben, daß er neunzig Kilometer in der Sekunde machte. Wir machten kaum fünf und vierzig! Er antwortete nicht und kam näher; stattlich sah er aus, allzu stattlich sogar — eine grünlich flimmernde Linse, von der Seite gesehen, eine scharfe Spindel… Ich blickte auf den Radar-Entfernungsmesser, denn er war mir ein bißchen zu groß geworden: vierhundert Kilometer. Ich rieb mir die Augen. Aus dieser Entfernung sieht jedes Schiff wie ein Komma aus. Ach, du „Perle der Nacht“, dachte ich mir, hier ist aber auch nichts so, wie es sein sollte. Ich schaltete das Bild auf den kleinen Hilfsradar mit Richtungsantenne um. Der gleiche Effekt. Ich war baff. Nun wußte ich überhaupt nichts mehr. Vielleicht ist das — ging es mir plötzlich durch den Sinn — auch so ein „Le-Mans-Zug“ wie der, den ich fuhr? So an die vierzig Wracks, eins hinter dem anderen, deshalb diese Ausmaße… Aber weshalb war er dann so spindelförmig? Die Radaroskope arbeiteten, der selbsttätige Entfernungsmesser tickte und tickte: dreihundert Kilometer. Zweihundertsechzig. Zweihundert…

Auf dem Harrelsberger berechnete ich noch einmal den Kurs, denn die ganze Geschichte roch danach, daß wir allzu nahe aneinander vorbeiziehen würden. Man weiß es ja zur Genüge: Seit auf den Weltmeeren Radar angewendet wird, fühlen sich zwar alle sicherer, aber die Schiffe sinken weiter. Ich bekam wiederum heraus, daß der andere in einer Entfernung von dreißig, vierzig Kilometern an meinem Bug vorbeiziehen würde. Ich überprüfte beide Sendegeräte, den Funkautomaten und das Lasergerät. Sie arbeiteten. Der Unbekannte aber schwieg. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch immer ein schlechtes Gewissen: war ich doch eine Zeitlang blind geflogen, als der Ingenieur mir von seinem Schwager erzählte und mir eine gute Nacht wünschte, während ich mich mit dem Rindfleisch beschäftigte, weil ich keine Leute hatte und alles selber machen mußte — doch nun fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Von heiliger Empörung erfüllt, sah ich nun den wirklichen Übeltäter vor mir: Jenes taubstumme Raumschiff, das mit hyperbolischer Geschwindigkeit durch den Sektor jagte und es nicht für nötig hielt, direkte Dringlichkeitssignale zu beantworten. Ich schaltete den Sprechfunk ein, begann den anderen zu rufen und verlangte verschiedene Dinge von ihm: Positionslichter einschalten, Leuchtkugeln abschießen, Identität angeben, Namen, Bestimmungsort, Reeder — alles natürlich durch vereinbarte Zeichen. Er jedoch flog weiter, seelenruhig, still und änderte nicht um einen Deut Geschwindigkeit oder Kurs. Nun war er schon auf achtzig Kilometer heran.

Bisher hatte er sich ein wenig backbord gehalten, aber nun begann er mich ganz offensichtlich zu überholen, machte er doch in der Sekunde doppelt soviel wie ich. Ich wußte der Kalkulator berücksichtigte nämlich nicht die ganze Winkelkorrektur —, daß er um einige Kilometer näher an mir vorbeiziehen würde als berechnet.

Weniger als dreißig konnten es sein, wenn nicht gar zwanzig. Ich hätte bremsen müssen, denn zu solchen Annäherungen darf man es nicht kommen lassen, aber ich konnte nicht: Hinter mir hatte ich diese mehr als hunderttausend Tonnen Raketenfriedhof; ich hätte zuvor all das Gerumpel abhängen müssen, und allein hätte ich dies nicht geschafft, denn die Besatzung widmete sich ganz ihrem Ziegenpeter. Von Bremsen konnte also keine Rede sein. Da waren schon eher Kenntnisse aus der Philosophie am Platze und nicht aus der Kosmodromie: Stoizismus, Fatalismus, eventuell sogar, für den Fall, daß der Fehler des Kalkulators unwahrscheinlich groß sein sollte, etwas aus der Eschatologie. Bei zweiundzwanzig Kilometer Entfernung begann das fremde Schiff, die „Perle“ deutlich zu distanzieren. Ich wußte, daß sich die Entfernung von nun an vergrößern würde, so daß nun alles scheinbar in Butter war. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich auf den Entfernungsmesser geschaut, weil das am wichtigsten war; erst jetzt blickte ich wieder auf das Radaroskop. Das war kein Raumschiff, sondern eine fliegende Insel ich weiß einfach nicht, wie ich es beschreiben soll. Aus zwanzig Kilometer Entfernung war das Gebilde so groß wie meine zwei Finger! Die ideal regelmäßige Spindel hatte sich in einen Diskus verwandelt, nein — in einen Ring!

Wahrscheinlich denken Sie sich schon seit langem, es habe sich um ein Raumschiff „der anderen“ gehandelt.

Nun ja, bei einer Länge von zehn Meilen… Leicht dahingesagt, aber wer glaubt schon an Raumschiffe „der anderen“? Mein erster Impuls war, es zu verfolgen. Wirklich! Ich packte den Hebel für den Hauptschub — bewegte ihn jedoch nicht. Im Schlepp hatte ich Wracks; das hatte keinen Sinn. Ich sprang aus dem Sessel und gelangte durch einen schmalen Schacht zu der kleinen über dem Kommandoraum in den Außenpanzer eingebauten astronomischen Kajüte. Dort war sogar alles vorhanden, was ich benötigte: ein Fernrohr und Leuchtkugeln. So rasch ich konnte, schoß ich drei davon ab, eine nach der anderen, in der Richtung, in der ich das Schiff vermutete, und als die erste aufleuchtete, begann ich es zu suchen. Es war so groß wie eine Insel, aber ich entdeckte es nicht sofort. Sekundenlang blendete mich der Schein der Leuchtkugel, die in mein Blickfeld sprang, ich mußte also geduldig warten, bis sich meine Augen daran gewöhnten. Die zweite Leuchtkugel platzte zu weit seitlich, sie nützte mir nichts, die dritte lag darüber, ein wenig höher. In ihrem reglosen, sehr weißen Licht erblickte ich das geheimnisvolle Etwas. Ich sah es nicht länger als fünf, höchstens sechs Sekunden, denn die Leuchtkugel flackerte plötzlich heftig auf, wie das häufig vorkommt, und erlosch dann. Doch in diesen wenigen Sekunden erblickte ich durch die Achtzigmahl vergrößernden Nachtgläser den aus der Entfernung ziemlich schwach, gespenstisch, aber deutlich erhellten dunklen Umriß des Metallkörpers; ich betrachtete ihn wie aus wenigen hundert Meter Entfernung. Das Gebilde paßte kaum in meinen Gesichtskreis. Genau in der Mitte glommen deutlich ein paar Sterne, als wäre diese Stelle durchsichtig — wie ein aus dunklem Stahl gegossener, im Raum dahinjagender, in der Mitte hohler Tunnel wirkte es; doch beim letzten Aufleuchten der Leuchtkugel gewahrte ich deutlich, daß es so etwas war wie ein zusammengepreßter Zylinder, geformt wie ein Autoreifen, denn ich konnte durch das leere Zentrum hindurchsehen, obwohl es nicht auf meiner Blickachse lag. Der Koloß hatte einen bestimmten Neigungswinkel zu meiner Blicklinie, wie ein Glas, das man leicht ankippt, um langsam eine Flüssigkeit auszugießen.

Sie werden begreifen, daß ich über dieses Schauspiel keine langen Betrachtungen anstellte. Ich schoß die nächsten Leuchtkugeln ab; zwei zündeten nicht, die dritte lag zu kurz, doch die vierte und fünfte zeigte ihn mir — zum letztenmal. Jetzt nämlich, da er die Bahn der „Perle“ gekreuzt hatte, entfernte er sich schneller. Schon war er hundert, zweihundert, dreihundert Kilometer entfernt — eine visuelle Beobachtung war nicht mehr möglich. Ich kehrte sofort in den Kommandoraum zurück, um die Elemente seiner Bewegung exakt zu fixieren. Danach wollte ich in allen Bereichen Alarm auslösen, einen Alarm, wie ihn die Kosmolotion noch nicht erlebt hatte. Ich stellte mir bereits vor, wie auf der von mir gezeichneten Bahn ganze Rudel von Raketen losziehen würden, um diesen Gast aus den Tiefen zu stellen.

Ich war mir ziemlich sicher, daß er nichts anderes sein konnte als der Bestandteil eines hyperbolischen Schwarms. Das Auge ähnelt unter gewissen Umständen einer Kamera; man kann sich ein hell angestrahltes Bild, auch wenn es nur für den Bruchteil einer Sekunde aufleuchtet, noch geraume Zeit nach dessen Verschwinden nicht nur vorstellen, sondern sogar ziemlich detailliert analysieren, fast so, als habe man es weiterhin leibhaftig vor sich. Ich hatte in diesem agonalen Aufblitzen der Leuchtkugel die Oberfläche eines Riesen erblickt; seine meilengroßen Seitenwände waren nicht glatt gewesen, sondern zerfurcht, fast wie die Mondoberfläche. Das Licht war auf den Unebenheiten zerflossen, auf den kraterförmigen Vertiefungen — Millionen von Jahren mußte er schon so dahinfliegen, dunkel und leblos, vom Staubnebel verschluckt, er tauchte nach Jahrhunderten daraus hervor, und der Meteoritenstaub zerfraß ihn, nagte an ihm mit der kosmischen Erosion in Zehntausenden von Kollisionen. Ich weiß nicht zu sagen, woher ich diese Gewißheit nahm, aber ich wußte, daß dieses Gebilde nichts Lebendiges in sich barg, daß es ein Wrack war, Jahrmilliardenalt, und daß vielleicht nicht einmal mehr die Zivilisation existierte, die es hervorgebracht hatte.

Und während ich all dies überdachte, berechnete ich gleichzeitig zum vierten-, fünften-, ja sechsten Mal die Elemente seiner Bewegung — der absoluten Genauigkeit halber und auch sonst für alle Fälle, und sandte jedes Ergebnis per Tastendruck in die Tiefe des Registriersystems, denn mir war es um jede Sekunde zu tun. Immerhin war er inzwischen nur noch ein grünlich phosphoreszierendes Komma auf den Radarschirmen und glühte wie ein ruhiger Leuchtkäfer im Randsektor des rechten — zweitausend, dreitausend, sechstausend Kilometer entfernt. Als ich fertig war, verschwand er. Doch was machte das schon? Er war leblos, unfähig eines Manövers, also konnte er nicht entfliehen, sich nirgends verbergen: Er schoß zwar mit hyperbolischer Geschwindigkeit dahin, aber jedes Raumschiff mit einem Hochleistungsreaktor konnte ihn mit Leichtigkeit einholen, und da ich ja über die so präzis berechneten Bewegungselemente verfügte… Ich öffnete die Kassette des Registrierapparates, um das Papierband herauszunehmen und damit zur Funkstation zu gehen — und erstarrte wie vom Donner gerührt. Ich war benommen, vernichtet…

Die Metalltrommel war leer; der Streifen war längst zu Ende, seit Stunden schon, vielleicht seit Tagen, keiner hatte einen neuen eingelegt. Ich hatte also alle Berechnungsergebnisse in die Luft geschickt, sie waren verloren, allesamt; es gab weder ein Raumschiff noch eine Spur von ihm. Nichts…

Ich stürzte an die Radarschirme, dann wollte ich ernstlich diesen verwünschten Ballast abhängen, Le Mans’ Güter im Stich lassen und losstürmen… Wohin? Ich wußte es selber nicht genau. Gewiß, die Richtung…

Ungefähr Wassermann, aber was war das schon für ein Ziel! Oder doch? Wenn ich durch Funk den Sektor bekanntgab, annähernd, sowie die Geschwindigkeit…

Das mußte ich tun. Das war meine Pflicht, das zuallererst, wenn ich überhaupt noch Pflichten hatte… Mit dem Lift fuhr ich zum Mittelschiff, zur Funkstation, und legte bereits die Reihenfolge fest: ein Rufsignal an Hauptluna mit der Forderung, mir für alle meine Kommunikate Vorrang einzuräumen, da es sich um Informationen von größter Bedeutung handele; die würde übrigens kein Automat entgegennehmen, sondern wahrscheinlich der Dienstkoordinator von Luna. Ich erstatte Meldung: Fremdes Raumschiff gesichtet — meine Bahn gekreuzt — hyperbolische Geschwindigkeit — offenbar Teil eines galaktischen Schwarms. Luna würde natürlich sofort dessen Bewegungselemente verlangen. Ich mußte ihm dann sagen, daß ich sie zwar berechnet, aber nicht mehr zur Verfügung hätte, da das Bandmagazin des Geräts infolge Nachlässigkeit leer sei. Darauf würde er das „Fix“ des Piloten fordern, der das Raumschiff als erster gesichtet hatte. Aber auch ein solches „Fix“ gab es nicht, denn den Wachdienst hatte ja ein Straßenbauingenieur übernommen und kein Kosmonaut.

Daraufhin — falls ihm die bisherigen Angaben nicht schon verdächtig vorkamen — würde er fragen, weshalb ich während der Messungen nicht den Funker beauftragt hätte, die Daten laufend durchzugeben. Ich könnte in diesem Fall nicht umhin zu erklären, daß der Funker keinen Dienst versehen hätte, weil er betrunken gewesen sei. Wenn er sich auch dann noch dazu herablassen würde, mit mir über diese Dinge zu reden — über eine Entfernung von dreihundertachtundsechzig Millionen Kilometern, die uns trennten —, würde er wissen wollen, weshalb nicht einer der Piloten in Vertretung des Funkers Dienst getan habe; worauf ich antworten müßte, die ganze Besatzung habe Ziegenpeter und liege mit Fieber danieder. Und falls er bis dahin noch irgendwelche Zweifel hegte, so wäre er nun endgültig überzeugt, daß der Mann, der ihm da mitten in der Nacht Nachrichten über ein Raumschiff „der anderen“ auftischte, entweder nicht bei Sinnen war oder stockbetrunken.

Er würde fragen, ob ich das Abbild des Schiffes irgendwie festgehalten hätte — durch Fotos im Lichte der Leuchtkugeln, durch das Festhalten der Radardaten auf dem Ferroband oder wenigstens durch das Notieren der einzelnen Anrufe, mit denen ich mich über Funk an ihn gewandt hatte. Aber ich konnte nichts dergleichen vorweisen, nichts, da ich viel zu überhastet gehandelt hatte. Es war mir gar nicht in den Sinn gekommen, daß irgendwelche Fotografien nötig wären, da ja die Erdraumschiffe das ungewöhnliche Ziel binnen kurzem eingeholt haben würden und da ohnehin alle Aufzeichnungsgeräte ausgeschaltet waren.

Der andere würde dann tun, was ich an seiner Stelle auch tun würde — er würde mir befehlen, aus der Leitung zu gehen, und danach alle Schiffe meines Sektors nach verdächtigen Beobachtungen befragen. Aber kein Raumschiff hatte den galaktischen Gast sehen können, dessen war ich sicher. Ich war ihm nur deshalb begegnet, weil ich in der Ebene der Ekliptik flog, obwohl das strengstens verboten ist; denn dort kreisen ständig Staubschwaden und Reste der von der Zeit zermahlenden Meteore und Kometen. Ich hatte dieses Verbot ignoriert, weil andernfalls mein Treibstoff für das Manövrieren nicht gereicht hätte, das Le Mans um hundertvierzigtausend Tonnen Raketenschrott bereichern sollte. Ich wäre also gezwungen, dem Koordinator auf Luna von vornherein zu beichten, daß die Begegnung in der verbotenen Zone erfolgt war, was eine unangenehme Unterhaltung vor der Disziplinarkommission beim Tribunal für Raumfahrt nach sich ziehen würde. Gewiß, die Entdeckung dieses Raumkörpers wog schwerer als eine Ermahnung der Kommission, vielleicht sogar schwerer als eine Strafe, aber nur dann, wenn man das Gebilde auch wirklich einholte. Das jedoch schien mir hoffnungslos. Ich hätte nämlich verlangen müssen, in ein doppelt gefährdetes Gebiet — in die Zone der Ekliptik, die auch noch von einem hyperbolischen Schwärm heimgesucht wurde — eine ganze Flottille von Schiffen zur Suche zu entsenden. Der Koordinator auf Luna hatte gar nicht das Recht, dies zu veranlassen, selbst wenn er wollte. Und wenn ich mich auf den Kopf gestellt hätte und bis zum Morgen die COS-NAV der Erde, die Internationale Kommission für Fragen der Raumforschung und weiß der Teufel wen sonst noch angerufen hätte — bestenfalls würden dann Beratungen und Sitzungen beginnen, und schließlich fiele, wenn es blitzschnell ginge, schon nach etwa drei Wochen eine Entscheidung.

Aber inzwischen befände — ich überschlug das noch im Lift, in dieser Nacht dachte ich wirklich sehr schnell —, inzwischen befände sich jenes Raumschiff in einer Entfernung von hundertneunzig Millionen Kilometern vom Begegnungsort, also jenseits der Sonne, an der es genügend dicht vorbeifliegen würde, daß sie seine Trajektorie ablenken würde; folglich würde der Raum, in dem man es suchen müßte, mehr als zehn Milliarden Kubikkilometer umfassen. Vielleicht sogar zwanzig. So stellten sich mir die Dinge dar, als ich die Funkstation erreichte. Ich setzte mich und versuchte noch abzuschätzen, wie groß die Chance war, das Raumschiff mit Hilfe des Radioteleskops der Luna auszumachen, der gewaltigsten radioastronomischen Einheit des ganzen Systems.

Doch Erde und Mond befanden sich gerade auf der entgegengesetzten Seite der Umlaufbahn, das heißt von mir aus und damit auch von diesem Raumschiff aus gesehen. Das Radioteleskop war gewaltig, aber wiederum nicht so gewaltig, daß man aus einer Entfernung von vierhundert Millionen Kilometern einen Körper dieser Größe beobachten könnte.

Und das war das bedauerliche Ende dieser ganzen Geschichte. Ich zerriß die Zettel mit den Berechnungen, stand auf und ging still in die Kajüte mit dem Gefühl, ein Verbrechen begangen zu haben. Wir hatten einen Gast aus dem Kosmos, einen Besuch, der sich — was weiß ich einmal in Millionen, nein, in Hunderten von Millionen Jahren ereignet, und wegen des Ziegenpeters, wegen Le Mans, wegen dessen Wracks, wegen des betrunkenen Mestizen, des Ingenieurs und seines Schwagers und wegen meiner Nachlässigkeit war es uns durch die Finger geglitten, um sich im unendlichen Raum aufzulösen wie ein Geist. Seit dieser Nacht lebte ich zwölf Wochen lang in einer seltsamen Anspannung — danach mußte das leblose Raumschiff in das Gebiet der großen Planeten eindringen und war damit ein für allemal für uns verloren. Ich verließ, soweit ich das einrichten konnte, nicht mehr den Funkraum und allmählich schwand die Hoffnung, daß ihn doch noch jemand entdecken würde, jemand, der geistesgegenwärtiger war als ich oder der einfach mehr Glück hatte. Doch nichts dergleichen geschah. Selbstverständlich sagte ich niemandem etwas davon. Die Menschheit hat nicht oft solche Gelegenheiten. Ich fühle mich schuldig nicht nur ihr gegenüber, sondern auch gegenüber jenen anderen; und mich erwartet nicht einmal Herostratos-Ruhm, denn jetzt, nach so vielen Jahren, würde mir zum Glück niemand mehr glauben. Im übrigen kommen mir selber auch manchmal Zweifel: vielleicht war mir nur das kalte, schwerverdauliche Büchsenrindfleisch auf den Magen geschlagen.

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