Albatros

Das Mittagessen bestand aus sechs Gängen — wenn man von den Beilagen absah. Die Wägelchen mit Wein rollten geräuschlos über die gläsernen Stege. Über jedem Tisch brannte eine Punktlampe: bei Schildkrötensuppe zitronengelb, bei Fisch fast weiß mit bläulicher Schattierung. Die Hähnchen waren mit rosa Licht übergössen, vermengt mit einem seidig-warmen Grauton. Glücklicherweise wurde es bei schwarzem Kaffee nicht finster — Pirx lieferte sich den trübsinnigsten Gedanken aus. Das Mittagessen hatte ihn erschöpft. Er schwor sich, von nun an im unteren Deck zu speisen, in der Bar. Hier oben wurde entschieden zuviel Wert auf Etikette gelegt. Er mußte dauernd an seine Ellenbogen denken. Und diese Toiletten!

Der Saal war vertieft, der Fußboden lag etwa ein halbes Stockwerk unter dem der anderen Räume. Er sah aus wie ein gigantischer cremefarbener Teller, belegt mit den buntesten Appetithappen der Welt. Hinter Pirx raschelten steife, halbdurchsichtige Gewänder. Man unterhielt sich glänzend. Die Musik spielte, die Kellner bedienten echte Kellner! Jeder einzelne wirkte wie der "Dirigent eines philharmonischen Orchesters. „Unsere TransgalakticLinie mutet Ihnen keine Bedienungsautomaten zu, sie garantiert Ihnen intime Atmosphäre, Diskretion, echte menschliche Wärme, eine komplette lebende Besatzung jeder einzelne ein Künstler seines Fachs…“ Pirx trank schwarzen Kaffee, rauchte, bemühte sich, im Saal irgendeinen Punkt zu finden, den er fixieren konnte, einen Rastplatz für seine Augen. Seine Nachbarin gefiel ihm. Ein flacher, rauher Stein hing in ihrem Dekollete. Ein Chrysopas war es nicht, ein Chalcedon auch nicht — nichts Irdisches, wohl etwas vom Mars.

Das Ding mußte ein Vermögen gekostet haben, dabei sah es aus wie ein Splitter von einem Pflasterstein. Frauen sollten nicht so viel Geld haben.

Entrüstet war er nicht. Auch nicht erstaunt. Er sah nur hin. Allmählich wuchs das Verlangen in ihm, sich die Beine zu vertreten. Ein Spaziergang an Deck? Er stand auf, deutete eine kleine Verbeugung an, ging hinaus. Als er zwischen den vieleckigen Säulen dahinschritt, die mit reflektierender Masse besetzt waren, erblickte er sein eigenes Spiegelbild — unter dem Knoten der Krawatte lugte ein Knopf hervor. Na ja, wer trägt heute noch solche Krawatten, dachte er. Im Gang brachte er den Kragen in Ordnung, setzte sich in den Fahrstuhl und fuhr zum Promenadendeck hinauf. Lautlos öffnete sich die Tür — keine Menschenseele zu sehen, nur Liegestühle in langen Reihen. Das freute ihn. Ein Drittel der gewölbten Decke glich einem gigantischen schwarzen Auge, das zu den Sternen blickte. Die Liegestühle waren leer, nur ganz hinten, in einem der letzten, lag eine bis zum Gesicht eingehüllte Gestalt — ein Greis, ein wunderlicher Mann, der immer eine Stunde später als die anderen zum Mittagessen kam und allein im leeren Saal speiste, wobei er sein Gesicht mit der Tischdecke bedeckte, sobald er spürte, daß ihn jemand ansah.

Pirx legte sich hin. Die unsichtbaren Rachen der Klimaanlagen bliesen einen böigen Luftzug in die Galerie des Decks, man hatte den Eindruck, als wehe ein Wind aus den dunklen Tiefen des Alls. Die bei der TransgalakticLinie beschäftigten Konstrukteure waren erfahrene Leute. Der Liegestuhl war bequem — bequemer wohl als der Pilotensitz, obwohl dessen Form wissenschaftlich durchdacht war. Pirx fröstelte. Dafür gab es Decken. Er hüllte sich darin ein wie in Daunen.

Jemand nahte. Auf der Treppe, nicht mit dem Fahrstuhl. Seine Nachbarin aus dem Speisesaal. Wie alt mochte sie sein? Sie hatte ein anderes Kleid an, vielleicht war das überhaupt eine andere Frau? Sie legte sich drei Liegestühle weiter hin, schlug ein Buch auf, die Seiten raschelten im Wind. Pirx blickte vor sich hin. Er konnte das Kreuz des Südens sehen. Durchs Fenster leuchtete das kleine Ende der Großen Wolke, ein Fleck auf schwarzem Hintergrund. Pirx rechnete mit einer Flugdauer von sieben Tagen. In sieben Tagen konnte allerhand geschehen… Er rekelte sich, in seiner Brusttasche knisterte das dicke, vierfach gefaltete Papier. Er fühlte sich wohl in dieser Welt — die Stelle eines Zweiten Steuermanns war ihm bereits sicher, er kannte den Weg genau, den er auf der Erde einzuschlagen hatte: von Nordland per Flugzeug nach Eurasien und von da weiter nach Indien. Das Fahrscheinheft war dick wie ein Buch, man konnte darin lesen. Jeder Schein hatte eine andere Farbe, Talons mit goldenen Rändern — alles, was die TransgalakticLinie den Passagieren zu bieten hatte, strotzte vor Silber oder Gold. Die Frau dort auf dem dritten Liegestuhl war schön. Er kannte sie. Schickte es sich, etwas zu sagen, oder nicht? Er hatte sich ihr ja schon vorgestellt. Dumm, so ein kurzer Name — ehe man ihn auszusprechen beginnt, ist er schon zu Ende. „Pirx“ klingt immer wie „ix“… Bei Telefongesprächen passieren die haarsträubendsten Dinge. Also los, irgend etwas sagen… Aber was?

Keine Ahnung… Auf dem Mars hatte er sich diese Rückreise ganz anders vorgestellt. Die Reeder auf der Erde hatten ihm die Überfahrt bezahlt — sie versprachen sich wohl Vorteile davon, eine bloße freundliche Geste war es jedenfalls nicht. Er hatte schon fast drei Milliarden Kilometer hinter sich und war noch nie mit einem Raumschiff wie dem „Titan“ geflogen. Frachtschiffe sehen ganz anders aus! Hundertachtzigtausend Tonnen Festmasse, vier Reaktoren im Hauptschub, Reisegeschwindigkeit fünfundsechzig pro Sekunde, zwölf hundert Passagiere in lauter Ein- und Zweimannkajüten mit Bad, gepflegte Appartements, garantiert stetige Gravitation, wenn man vom Start und von der Landung absieht, höchster Komfort, größte Sicherheit, zweiundvierzig Mann Besatzung und zweihundertsechzig Mann Bedienung. Keramit, Stahl, Gold, Palladium, Chrom, Nickel, Iridium, Plaste, car-rarischer Marmor, Eiche, Mahagoni, Silber, Kristall. Zwei Schwimmbassins, vier Kinos, achtzehn Kabinen mit Direktverbindung zur Erde — allein für die Passagiere! Ein Konzertsaal, sechs Haupt- und vier Promenadendecks, automatische Fahrstühle, Platzbestellungen vom Schiff für alle Raketen des Systems für ein Jahr im voraus. Ein Kaufhaus, Bars, Spielkasinos. Eine sogenannte Handwerkergasse — die getreue Nachbildung einer irdischen Altstadtgasse mit Weinkellern, Gaslaternen, Mond, einer blinden Mauer und sogar mit Katzen, die auf dieser Mauer entlangspazieren. Ein Palmenhain und — weiß der Teufel, was noch alles. Die Reise hätte einen Monat dauern müssen, wenn man all das wenigstens ein einziges Mal auskosten wollte. Die Frau las immer noch.

Müssen Frauen ihr Haar so färben? Ein normaler Mensch beginnt bei solchen Farben zu zweifeln… Aber ihr stand das ganz gut… Mit ’ner brennenden Zigarette in der Hand werden mir schon ein paar passende Worte einfallen, dachte Pirx. Er langte in die Tasche.

Das Etui — früher hatte er so etwas nie besessen, dieses hier war ein Geschenk von Boman, er bewahrte es aus Freundschaft auf —, dieses Etui also war schwerer als sonst. Nicht viel, aber immerhin… Wuchs die Beschleunigung? Er lauschte. In der Tat! Die Triebwerke hatten einen kräftigeren Schub als vorhin. Ein gewöhnlicher Passagier hätte das nicht herausgehört, zumal der Maschinenraum der „Titan“ durch vierfache Isolationswände von dem Wohnteil des Rumpfes abgeschirmt war.

Pirx suchte sich einen blassen Stern in der Ecke des Fensterrahmens aus und behielt ihn fest im Auge. Sollen sie ruhig beschleunigen, dachte er. Ich weiche nicht von der Stelle… Erst wenn der Stern dort zu zittern beginnt… Er zitterte und glitt langsam — unvorstellbar langsam — zur Seite.

Drehung in der Längsachse! sagte sich Pirx. Der „Titan“ flog im „kosmischen Tunnel“, in dem es nichts gab, weder Staub noch Meteoriten — gar nichts, nur das Vakuum. Neunzehnhundert Kilometer vor ihm raste der Lotse, der die Aufgabe hatte, darauf zu achten, daß der Weg für den Riesen frei war. Wozu? Für alle Fälle. Die Raketen hielten sich strikt an den Fahrplan. Ein Abkommen der Vereinigten Astronavigationsgesellschaften garantierte der TransgalakticLinie auf ihrem Parabelabschnitt einen störungsfreien Flug. Niemand durfte den Weg des Schiffes kreuzen. Die Meteoritenwarnungen wurden sechs Stunden vorher durchgegeben seit der Zeit, da unbemannte Sonden zu Tausenden die Transuransektoren patrouillierten, drohte den Raketen praktisch keine Gefahr mehr von außen. Der Gürtel — die Umlaufbahn einer Milliarde Meteoriten zwischen Erde und Mars — hatte einen eigenen Patrouillendienst, überdies verliefen die Raketenbahnen außerhalb der Ebene der Ekliptik, in der sich der rasselnde Gürtel um die Sonne bewegte. Ein ungeheurer Fortschritt gegenüber der Zeit, da Pirx Patrouillenflüge unternommen hatte. Für die „Titan“ bestand also nicht die geringste Veranlassung, zu lavieren — sie brauchte keinen Hindernissen auszuweichen, weil es keine gab. Und nun bog sie dennoch ab. Pirx hatte es nicht mehr nötig, zum Sternenhimmel aufzublicken, um das zu bemerken — er fühlte es mit jeder Faser seines Körpers. Er hätte ohne weiteres die Bogenkurve berechnen können, er kannte die Geschwindigkeit des Schiffes, seine Masse und das Tempo, in dem die Sterne vorüberglitten.

Etwas muß geschehen sein! dachte Pirx. Aber was? Den Passagieren war nichts mitgeteilt worden. Ob man ihnen etwas verheimlichte? Weshalb? Die Gewohnheiten auf Luxuspassagierschiffen waren ihm fremd, dagegen wußte er, was im Maschinenraum oder im Steuerraum passieren kann. Viel war das nicht. Bei einer Havarie würde das Schiff die Geschwindigkeit entweder aufrechterhalten oder herabsetzen. Aber die „Titan“… Es dauerte nun schon vier Minuten, dachte Pirx. Das bedeutet Wendung um fast fünfundvierzig Grad. Interessant…

Die Sterne standen plötzlich still. Das Schiff steuerte wieder geraden Kurs. Das Gewicht des Etuis, das Pirx noch immer in der Hand hielt, nahm zu. Sie hatten direkten Kurs und erhöhten die Geschwindigkeit. Pirx fiel es auf einmal wie Schuppen von den Augen. Eine Sekunde lang saß er starr da, dann stand er auf. Auch er wog nun mehr. Die Frau mit den grauen Augen sah ihn an. „Ist was los?“

„Nichts Besonderes, meine Dame.“

„Irgend etwas hat sich verändert. Fühlen Sie es nicht auch?“

„Das ist nichts weiter. Wir erhöhen nur ein wenig die Geschwindigkeit“, sagte er. Nun hätte er ein Gespräch beginnen können. Er sah sie an. Die Haarfarbe störte nicht. Die Frau war schön, sehr schön. Er schlenderte übers Deck, beschleunigte seine Schritte. Sicherlich hält sie mich für einen Verrückten, dachte er. Bis zum Ende des Promenadendecks waren farbige Fresken an den Wänden. Er ging durch die Tür mit der Aufschrift ENDE DES DECKS — ZUTRITT VERBOTEN und betrat einen langen, im Lampenschein metallisch leuchtenden Korridor.

Numerierte Türen. Er ging weiter, verließ sich auf sein Gehör. Über eine Treppe gelangte er in ein Zwischendeck und blieb vor einer Stahltür stehen.

EINGANG NUR FÜR STERNENPERSONAL lautete die Aufschrift. Oho! sagte sich Pirx. Schöne Bezeichnungen haben sie sich ausgedacht! Eine Klinke gab es nicht, die Tür wurde mit einem besonderen Schlüssel geöffnet, den er nicht besaß. Er hob den Finger an die Nase, überlegte einen Augenblick — und klopfte. Tap — tap — taptatap — tap — tap… Eine Weile wartete er. Dann öffnete jemand. Ein finsteres, gerötetes Gesicht zeigte sich im Türspalt. „Sie wünschen?“

„Ich bin Pilot von der „Patrol“ “, sagte er. Die Tür öffnete sich etwas weiter. Er trat ein. Es war die Verstärkerkammer des Reservesteuerraums. An den Wänden entlang führte eine doppelte Reihe von Düsen für Wendemanöver. An der gegenüberliegenden Wand waren die Schirme der optischen Kontrolle angebracht, vor ihnen standen mehrere unbesetzte Sessel. Ein kleiner, gedrungener Automat verfolgte das Flimmern auf den Mattscheiben. Auf einem Tischchen hingen halbgeleerte Gläser in ringförmigen Haltern. Im Raum schwebte der Duft frischgebrühten Kaffees und der schwer zu identifizierende Geruch erwärmter Plaste, vermischt mit einer Spur von Ozon. Die zweite Tür war lediglich angelehnt. Man hörte das feine Summen des Transformators.

„SOS?“ fragte Pirx den stämmigen Mann, der ihn eingelassen hatte. Er sah aus, als ob er unter Zahnschmerzen litt, denn die eine Gesichtshälfte war geschwollen. Der Hörerbügel umspannte seinen Schädel. Der graue, mit Blitzen geschmückte Uniformrock der TransgalakticLinie war nicht zugeknöpft, das Hemd war ihm aus der Hose gerutscht.

„Ja“, antwortete er. Und nach kurzem Zögern: „Sind Sie von der „Patrol“?“

„Von der Basis. Ich bin zwei Jahre auf der „Transuran“ geflogen. Ich bin Navigator. Mein Name ist Pirx.“ Der andere reichte ihm die Hand. „Mindell. Nukleoniker.“ Wortlos gingen sie in den Nebenraum. Es war die Radiokabine für Direktverbindungen. Sie war groß. Etwa zehn Männer umringten den Hauptsender. Zwei Funker mit schweißüberströmten Gesichtern schrieben pausenlos, die Apparate tickten, der Strom summte leise, es quietschte unter dem Fußboden. An den Wänden brannten Kontrollampen. Es sah aus wie in einer großen Fernsprechzentrale. Die beiden Funker lagen fast auf ihren Pulten, sie waren nur in Hemd und Hose. Der eine war blaß vor Erregung, der andere, ein älterer Mann mit einer Narbe am Kopf, wirkte völlig ruhig. Der Hörerbügel zerteilte die Haare, die Narbe war deutlich zu sehen. Neben den Funkern, ein wenig abseits, saßen zwei Offiziere. Pirx erkannte in einem von ihnen den Chef. Er kannte ihn flüchtig. Der Kommandant der „Titan“ war ein kleiner schwarzhaariger Mann mit einem nichtssagenden Gesicht. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und schien seine Schuhspitzen zu betrachten. Pirx trat leise an die Gruppe heran, beugte sich vor und las über die Schulter des Narbigen:… sechs achtzehn Komma drei — Komme mit vollem Schub — Bin acht Uhr zwölf da — Ende.

Der Funker zog mit der linken Hand ein Formular heran und schrieb ununterbrochen weiter. Luna Hauptstation an Albatros vier Aresluna — Habt ihr Verseuchung an Deck! — Antwortet durch Morsen — Phonie kommt nicht an — Wie lange könnt ihr Notschub halten? — Angepeilte Drift null sechs Komma einundzwanzig — Empfang. Elan zwei Aresluna an Luna Hauptstation — Fliege mit vollem Schub zu Albatros Sektor 64 — Habe überhitzten Reaktor — Fliege trotzdem weiter — Bin sechs Milliparsek vom angepeilten Punkt entfernt — Ende.

Plötzlich stieß der zweite Funker, der blasse, einen unartikulierten Schrei aus. Die Umstehenden beugten sich über ihn. Der Nukleoniker Mindell, der Pirx hereingelassen hatte, reichte dem Ersten Navigator die vollgeschriebenen Formulare. Der Blasse schrieb: Albatros vier an alle — Liege in der Drift Ellipse T 341 Sektor 65 — Rumpf naht öffnet sich weiter — Heckspanten lassen nach — Havarie-Schub des Reaktors 0,3 — Reaktor gerät außer Kontrolle — Haupttrennwand an vielen Stellen beschädigt — Verseuchung dritten Grades wächst an Deck unter Einfluß des Notschubs — Lösung sickert ständig — Versuche zu zementieren — Führe Besatzung zur Spitze — Ende. Dem Funker zitterten die Hände beim Schreiben. Einer der Umstehenden packte ihn, zerrte ihn vom Stuhl, führte ihn hinaus. Nach einer Weile kam er allein zurück und setzte sich an seine Stelle.

„Er hat da einen Bruder“, sagte er erläuternd, wie zu sich selbst. Pirx beugte sich nun über den Narbigen. Luna Hauptstation an Albatros vier Aresluna — Zu euch kommen Elan Sektor 64, Titan aus dem Sektor 67, der Ballistische acht aus dem Sektor 44, Kobold sieben null zwei aus dem Sektor 94 — Zementiert die durchlässigen Stellen in der Wand in Skaphandern hinter Schildern bei Überdruck — Augenblickliche Havarie-Drift ansagen. — Ende.

Der Mann, der den jungen Funker vertrat, sagte laut: „Albatros!“ Alle bemühten sich, ihm über die Schulter zu sehen. Er schrieb: Albatros vier an alle — Havarie-Drift nicht unter Kontrolle, Rumpfquerwände durchlässig — Verliere Luft — Besatzung in Skaphandern — Maschinenraum unter Lösung — Schilder durchgeschlagen — Temperatur im Steuerraum 63 — Erster Durchbruch im Steuerraum zementiert — Lösung siedet Überschwemmt den Hauptsender — Seit dem nur Verbindung durch Phonie — Erwarten euch — Ende. Fast alle rauchten. Der Rauch stieg in blauen Schwaden nach oben, man sah, wie er von den Ventilatoren aufgesogen wurde. Auch Pirx verlangte es nach einer Zigarette, er fingerte in allen Taschen herum, konnte aber nichts finden. Irgend jemand — Pirx hätte nicht sagen können, wer es war — drückte ihm eine angerissene Schachtel in die Hand. Er bediente sich.

„Mindell, voller Schub!“ sagte der Kommandant. Er biß sich auf die Unterlippe.

Mindell war sichtlich überrascht, aber er schwieg. „Warnung?“ fragte der Mann, der neben dem Chef saß. „Ja.

Mach ich selbst. Her damit!“

Er zog das Mikrofon am Dreharm zu sich heran und begann zu sprechen: Titan Aresterra an Albatros vier — Kommen in voller Fahrt — Befinden uns an der Grenze zu eurem Sektor — Sind in einer Stunde da — Versucht, durch Notausgang zu entkommen — Sind in einer Stunde bei euch — Wir kommen — Durchhalten — Durchhalten — Ende.

Er stieß das Mikrofon beiseite und erhob sich. Mindell sprach ins Interkom: „Jungs, in fünf Minuten vollen Schub!“ — „Ja, ja“, antwortete der Mann am anderen Ende der Leitung. Der Kommandant ging hinaus. Man hörte seine Stimme im Nebenraum Achtung! Achtung! Passagiere! Achtung! Achtung! Passagiere! Wir geben eine wichtige Meldung durch. In vier Minuten erhöht unser Schiff die Geschwindigkeit. Wir erhielten einen SOS-Ruf und müssen uns beeilen… Jemand schloß die Tür. Mindell berührte Pirx’ Schulter. „Halten Sie sich irgendwo fest. Wir werden mehr als zwei haben.“ Pirx nickte. 2g- das machte ihm nichts aus, aber es schien ihm nicht der rechte Augenblick zu sein, sich mit der eigenen Standfestigkeit zu brüsten. Gehorsam umklammerte er die Lehne des Sessels, auf dem der ältere Funker saß. Über dessen Schulter las er: Albatros vier an Titan — Kann mich nicht mehr eine Stunde an Deck halten — Havarie-Eingang durch berstende Trennwände verklemmt — Temperatur im Steuerraum einundachtzig — Dampf füllt Steuerraum aus — Versuche, die Spitzenpanzerung zu durchschneiden und hinauszukommen — Ende.

Der Mann im aufgeknöpften Uniformrock, der den jüngeren Funker vertrat, sprang plötzlich auf und sah den Chef an, der zu ihm trat. Er nahm die Kopfhörer ab und reichte sie dem Vorgesetzten. Während der Kommandant die Hörer aufsetzte, regulierte der Funker den heiser schnarrenden Lautsprecher.

Die Männer in der Kabine erstarrten. Sie alle flogen schon seit Jahren, aber so etwas hatte noch keiner erlebt. Ein Rauschen drang aus dem Lautsprecher und eine Stimme, die aus prasselnden Flammen zu kommen schien.

„Albatros an alle — Unfall im Steuerraum… Hitze… Unerträglich… Besatzung bis zum Ende… Lebt wohl… Die Leitungen… Die Stimme brach ab, nur noch das Rauschen war zu hören. Das Stehen bereitete Mühe, aber keiner setzte sich. Die Männer lehnten sich an die Metallwände. Ballistischer acht an Luna Hauptstation, tönte es aus dem Lautsprecher. Ich gehe zu Albatros vier — Öffnet mir den Weg durch Sektor 67 — Fliege mit vollem Schub — Bin außerstande, Überholmanöver durchzuführen — Empfang. Sekundenlanges Schweigen.

Luna Hauptstation an alle in den Sektoren 66, 67, 68, 46, 47, 48 und 96 — Erkläre Sektoren für geschlossen — Alle Raumschiffe, die nicht mit vollem Schub zu Albatros vier fliegen, haben sofort zu stoppen und die Reaktoren auf Leerlauf zu stellen sowie die Positionslichter einzuschalten — Achtung, Elan! Achtung, Titan Aresterra! Achtung, Ballistischer acht!

Achtung, Kobold sieben null zwei! Hier spricht Luna Hauptstation — Offne euch den Weg zu Albatros vier — Der gesamte Verkehr in den Sektoren des Leitstrahls des SOS-Punktes wird gestoppt — Beginnt mit dem Bremsen auf dem Milliparsek vor dem Punkt SOS — Darauf achten, daß die Bremsen im optischen Bereich des Albatros gelöscht werden, die Besatzung kann das Deck bereits verlassen haben — Wünsche Erfolg — Ende.

„Elan“ meldete sich, er morste. Pirx lauschte dem Zirpen der Signale.

Elan Aresterra an alle, die sich an Rettungsaktion Albatros vier beteiligen — Bin auf der Optischen des Albatros — Albatros driftet annähernd auf Ellipse T 348 — Heck glüht kirschrot — Signallichter fehlen — Albatros antwortet nicht auf Anrufe — Stoppe und beginne mit Rettungsaktion — Ende. Nebenan meldeten sich die Summer. Mindell ging hinüber, ein zweiter schloß sich ihm an. Pirx’ Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Gott, wie gern hätte er mitgeholfen!

Mindell kehrte zurück. „Was ist?“ fragte der Chef.

„Die Passagiere lassen fragen, wann sie mit dem Tanz beginnen können“, antwortete Mindell. Pirx hatte nicht zugehört. Er starrte den Lautsprecher an. „Bald, bald! Schaltet mir die Optische ein. Wir nähern uns ihnen. In wenigen Minuten werden wir sie sehen. Mindell, geben Sie die zweite Warnung durch, wir bremsen auf Overdrive.“

„Jawohl“, sagte Mindell und ging hinaus. Im Lautsprecher brummte es. Eine Stimme ertönte: Luna Hauptstation an Titan Aresterra und Kobold sieben null zwei — Achtung! Achtung! Achtung! Der Ballistische acht hat im Zentrum von Sektor 65 einen Blitz mit der Helligkeit minus vier beobachtet — Elan und Albatros antworten nicht auf Anrufe — Es besteht die Möglichkeit einer Explosion des Reaktors auf Albatros — Mit Rücksicht auf die Sicherheit der Passagiere wird Titan Aresterra aufgefordert, zu stoppen und sich sofort zu melden — Ballistischer acht und Kobold sieben null zwei handeln weiter nach eigenem Ermessen — Ich wiederhole: Titan Aresterra wird aufgefordert…

Alle sahen den Kommandanten an. „Herr Mindell“, sagte er. „Stoppen wir auf dem Milliparsek?“

Mindell warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Nein, Herr Navigator, dazu wären 6 g erforderlich. Wir kommen auf die Optische.“

„Und wenn wir den Kurs ändern?“

„Auch dann werden wir mindestens drei haben“, sagte Mindell.

„Also nichts zu machen.“

Der Chef stand auf und trat ans Mikrofon. Titan Aresterra an Luna Hauptstation — Kann nicht stoppen, habe zu hohe Geschwindigkeit Ändere Kurs durch Überholmanöver mit halber Zugkraft und gehe über Sektor 65 mit Kurs zweihundertzwei in Sektor 66 — Bitte den Weg freigeben — Empfang. „Die Bestätigung nehmen Sie entgegen“, sagte er zu dem Mann, der vorher neben ihm gesessen hatte. Die Sendegeräte summten ununterbrochen. An den Wandtafeln flimmerten die Lichter. Plötzlich schien es dunkler zu werden — das Blut strömte aus den Augen zurück. Pirx stellte sich breitbeinig hin. Der Flug wurde gebremst, sie gingen in die Kurve. Der „Titan“ vibrierte schwach, man hörte das schrille Heulen der Triebwerke. „Hinsetzen!“ rief der Kommandant. „Helden brauche ich hier nicht! Wir haben 3 g!“

Alle folgten der Aufforderung, das heißt, sie ließen sich fallen, wo sie gerade standen. Der Fußboden war mit einer dicken, geräuschdämpfenden Plastschicht belegt. „Schätze, daß es allerhand Kleinholz geben wird“, brummte jemand neben Pirx. Der Navigator hatte es gehört. „Das bezahlt die Versicherung“, antwortete er von seinem Sessel aus.

Sie hatten nicht 3 g, sie hatten mehr — Pirx fiel es schwer, die Hand zum Gesicht zu heben. Die Passagiere werden sicherlich samt und sonders in den Kajüten liegen, sagte er sich. Aber in den Küchen und in den Speiseräumen — da wird was los sein! Zerschlagenes Porzellan, waggonweise! Ein schöner Anblick… Und erst der Palmenhain! Kein Baum wird das aushalten… Der Lautsprecher meldete sich.

Ballistischer acht an alle — Bin auf der Optischen des Albatros Steckt in einer Wolke — Heck glüht — Beende Bremsmanöver und schicke Mannschaften zum Auffinden der Albatrosbesatzung in den Raum — Elan antwortet nicht auf Anrufe — Ende. Die Beschleunigung nahm ab, man durfte wieder aufstehen. Jemand zeigte sich in der Türöffnung, er rief etwas, und alle stürzten in den Hauptsteuerraum. Pirx betrat ihn als letzter. Er erblickte einen acht mal sechzehn Meter großen, gewölbten Bildschirm, der die gesamte Stirnwand einnahm wie in einem riesigen Filmtheater. Alle Lichter waren gelöscht. Auf dem schwarzen, mit Sternen übersäten Schirm unterhalb der Hauptachse des „Titan“, im linken Quadranten, glomm ein dünner Strich, dessen Ende kirschrot glühte wie ein Kohlestückchen — das Ganze erinnerte an eine brennende Zigarette. Die „Zigarette“ bildete den Kern einer blassen, leicht abgeflachten Blase mit sich verjüngenden, nach allen Seiten auseinanderstrebenden dornenförmigen Ausläufern.

Die stachelige Wolke verblaßte mehr und mehr, schon sah man die ersten stärkeren Sterne. Plötzlich blitzte ganz unten ein grellweißes Pünktchen auf in der rechten unteren Ecke des Bildschirms zwischen den glimmenden Fixsternen. Das Pünktchen begann zu zucken, zu flattern — die Männer stürzten vor, als wollten sie gegen die Mattscheibe springen. Der „Elan“!..im Reaktor des Albatros unkontrollierte Kettenreaktion — habe Verluste — Verbrennungen — erbitte ärzte — sender beschädigt — reaktor durchlässig — beabsichtige, Reaktor wegzuwerfen, wenn ich die durchlässigen stellen nicht unter kontrolle bekomme… las Pirx vom regelmäßig aufblitzenden Punkt ab. „Albatros“ war nicht mehr zu sehen. Zwischen den Sternen hing ein aufgeblähtes, zottiges, bernsteingelbbraunes Knäuel. Es sank immer tiefer, rutschte in die untere linke Ecke des Schirms.

Der „Titan“ verließ mit neuem Kurs den Sektor der Katastrophe.

Ein langer Lichtstreifen fiel in den dunklen Steuerraum, jemand hatte die Tür zur Funkkabine geöffnet. Man hörte eine Stimme.

Ballistischer acht an Luna Hauptstation — Habe im zentralen Teil des Sektors 65 gestoppt — Elan auf dem Milliparsek unter mir — Er signalisiert optisch Verluste an Menschen sowie Durchlässigkeit des Reaktors — Ist bereit, Reaktor wegzuwerfen — Erbittet ärztliche Hilfe — Ich leiste sie ihm — Suche nach Albatros-Besatzung durch Verseuchung erschwert — Radioaktive Wolke mit Oberflächentemperatur von über eintausendzweihundert — Bin auf der Optischen des Titan Aresterra, der mich mit voller Zugkraft überholt und in den Sektor 66 ausweicht — Erwarte Ankunft des Kobold sieben null zwei zwecks Aufnahme gemeinsamer Rettungsaktionen — Ende.

„Alle auf die Plätze!“ rief jemand laut, und im gleichen Augenblick flammten die hinteren Lichter des Steuerraums auf. Bewegung herrschte, die Männer gingen in drei Richtungen auseinander, Mindell, der am Verteilerpult stand, erteilte Befehle, und mehrere Sendegeräte funkten auf einmal. Außer dem Kommandanten, dem Nukleoniker Mindell und Pirx blieb nur der junge Funker, der noch immer auf den Schirm starrte und die Wolke beobachtete, die sich allmählich in der Schwärze des Alls auflöste.

„Ach, Sie sind das!“ sagte der Chef, als habe er Pirx erst jetzt erkannt. Er reichte ihm die Hand. „Meldet sich „Kobold“?“ fragte er jemanden in der Funkkabine über Pirx’ Kopf hinweg. „Jawohl, Chef, er fliegt im Rückwärtsgang.“

„In Ordnung.“

Eine Weile verharrten sie noch vor dem Schirm. Der letzte Fetzen der schmutzigen Wolke war verschwunden.

Sterne, nichts als funkelnde Sterne… „Ob jemand herausgekommen ist?“ fragte Pirx, als ob der Kommandant mehr wissen konnte als er. Aber er war ja der Chef, und Chefs sollten eigentlich alles wissen.

„Die Blenden müssen geklemmt haben…“, erwiderte der Kommandant. Er war um einen Kopf kleiner als Pirx.

Haare hatte er wie aus Blei. Waren sie vorhin auch schon so grau? fragte sich Pirx. „Mindell!“ rief der Chef, als er den Nukleoniker vorbeigehen sah. „Seien Sie so freundlich und geben Sie „Entwarnung“. Die Passagiere können wieder tanzen.“

„Kannten Sie den „Albatros“?“ fragte er Pirx. „Nein.“

„Westliche Gesellschaft. Dreiundzwanzig Tonnen. Was ist?“ Der Funktechniker trat näher und reichte ihm einen Zettel. Ballistischer an…, las Pirx, dann zog er sich zurück. Als er merkte, daß er den Leuten im Wege stand, die alle Augenblicke durch den Steuerraum eilten, stellte er sich in die Ecke. Mindell stürzte herein. „Was ist mit dem „Elan“?“ fragte ihn Pirx. Der Nukleoniker schwitzte, er wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch. Pirx kam es vor, als kenne er ihn seit Jahren.

„Na ja, es geht noch“, schnaufte Mindell. „Sie haben den Explosionsstoß abbekommen. Die Kühlung des Reaktors ging durch die Erschütterung drauf — die geht immer zuerst in die Binsen. Verbrennungen ersten und zweiten Grades. Ärzte sind schon da.“

„Vom Ballistischen?“

„Ja.“

„Chef! Luna Hauptstation!“ rief jemand aus der Funkkabine. Der Chef ging. Pirx stand Mindell gegenüber, der sich mechanisch über die geschwollene Wange fuhr und das Taschentuch wegsteckte.

Pirx wollte Mindell noch mehr fragen — aber er unterließ es. Er nickte nur und ging in die Funkkabine hinüber.

Aus dem Lautsprecher tönten zehn Stimmen auf einmal, Schiffe aus fünf Sektoren erkundigten sich nach „Albatros“ und nach „Elan“. Luna Hauptstation hieß sie schließlich schweigen, um das Verbindungsknäuel zu entwirren, das nach der Blockierung des Raumes um den Sektor 65 entstanden war. Der Kommandant saß neben dem Funktechniker und schrieb etwas nieder. Plötzlich nahm der Funker die Hörer ab. Er legte sie beiseite — als seien sie nun nicht mehr nötig. Pirx wenigstens schien es so. Er trat von hinten an ihn heran. Er wollte sich nach den Insassen des „Albatros“ erkundigen, wollte wissen, ob es ihnen gelungen war, herauszukommen. Der Funker fühlte Pirx’ Nähe, er hob den Kopf und sah ihm ins Gesicht. Pirx fragte nicht. Er ging hinaus und schloß die Tür hinter sich, die Tür mit der Aufschrift: NUR FÜR STERNENPERSONAL!

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