Die Verhandlung

„Zeuge Shennan Quine!“

„Hier, Kommandant!“

„Sie sind Zeuge in einem Verfahren, das vor dem Tribunal der Kosmischen Kammer stattfindet. Bitte gebrauchen Sie die Anrede Vorsitzender, wenn Sie mit mir sprechen, und nennen Sie die Mitglieder dieses Tribunals Richter. Sie haben unsere Fragen unverzüglich zu beantworten, die Fragen der Anklage und der Verteidigung hingegen nur mit Erlaubnis des Tribunals. In Ihren Aussagen dürfen Sie sich einzig und allein auf das berufen, was Sie selbst gesehen haben oder aus eigener Erfahrung wissen, und nicht auf etwas, was Sie von dritten Personen gehört haben. Hat der Zeuge die Belehrung verstanden?“

„Ja, Herr Vorsitzender.“

„Name und Vorname des Zeugen: Shennan Quine?“

„Ja.“

„Als Besatzungsmitglied des „Goliath“ führten Sie aber einen anderen Namen?“

„Ja, Herr Vorsitzender. So lautete eine Bedingung des Vertrages, den die Armatoren mit mir abgeschlossen hatten.“

„Waren Ihnen die Gründe für die Verleihung dieses Pseudonyms bekannt?“

„Ja, Herr Vorsitzender.“

„Herr Zeuge, nahmen Sie in der Zeit vom achtzehnten bis zum dreißigsten Oktober dieses Jahres an Bord des „Goliath“ an einem Umkreisungsflug teil?“

„Ja, Herr Vorsitzender.“

„Welche Funktionen übten Sie an Bord aus?“

„Ich war zweiter Pilot.“

„Bitte berichten Sie dem Tribunal über die Vorfälle an Bord des „Goliath“ am einundzwanzigsten Oktober, während des erwähnten Fluges. Beginnen Sie mit der Position des Raumschiffs und seinen Aufgaben.“

„Um acht Uhr dreißig Bordzeit kreuzten wir mit parabolischer Geschwindigkeit das Perimeter der Saturnmonde und leiteten die Bremsung ein, die bis elf Uhr dauerte. Wir gingen unter die Parabolische und begannen bei doppelter Nullumkreisung mit dem Einschwenkmanöver auf die Kreisbahn, um von dort aus die künstlichen Satelliten auf die Ringoberfläche zu bringen.“

„Unter doppelter Nullumkreisung verstehen Sie eine Geschwindigkeit von zweiundfünfzig Kilometern pro Sekunde?“

„Ja, Herr Vorsitzender. Um elf war mein Dienst zu Ende. Da sich aber während des Manövers wegen konstanter Störungen ständige Kurskorrekturen erforderlich machten, wechselte ich mit dem ersten Piloten, der bis dahin gesteuert hatte, lediglich den Platz und arbeitete als Navigator weiter.“

„Wer befahl Ihnen, so zu handeln?“

„Der Kommandant, Herr Richter. Dieses Verfahren war unter den gegebenen Umständen ganz normal. Wir hatten den Auftrag, uns möglichst dicht der Roche-Grenze innerhalb der Ringoberfläche zu nähern, aber trotzdem noch in einer sicheren Entfernung zu bleiben und von dort, also praktisch von einer Kreisbahn aus, drei automatische Sonden abzuschießen, die wir per Funk in den Bereich der Roche-Grenze lenken sollten. Eine der Sonden sollte innerhalb der Cassinischen Teilung, das heißt in dem Raum zwischen dem Innenring und dem Außenring des Saturns, placiert werden. Die beiden anderen waren als Kontrollsonden gedacht. Soll ich das noch im einzelnen erklären?“

„Bitte, tun Sie das.“

„Jawohl, Herr Vorsitzender. Beide Saturnringe bestehen aus winzigen meteorähnlichen Teilchen und sind durch eine etwa viertausend Kilometer breite Lücke voneinander getrennt. Der künstliche Satellit, der sich auf einer kreisförmigen Umlaufbahn innerhalb dieses Spalts um den Planeten herum bewegt hätte, sollte Informationen über die Störungen des Gravitationsfeldes und über die inneren Bewegungen der Teilchen liefern, aus denen sich die Ringe zusammensetzen. Ein solcher Satellit würde jedoch schon nach kurzer Zeit durch Pertubationen aus diesem leeren Raum heraus und entweder in den Bereich des Innen- oder aber des Außenrings geschleudert und natürlich zermalmt werden wie in einer Mühle. Um das zu verhindern, mußten wir Spezialsatelliten mit eigenen Ionentriebwerken und relativ kleinem Schub — von einer Viertel- oder einer Fünfteltonne — verwenden, wobei die beiden „Wächter-Satelliten“ mit Radarmeßgeräten ausgestattet waren und aufzupassen hatten, daß die Sonde, die innerhalb der Cassinischen Teilung kreiste, diese nicht verließ. Sie verfügten über Kalkulatoren, die die notwendigen Korrekturen für den ersten Satelliten berechnen und dementsprechend seine Triebwerke bedienen sollten. Davon versprach man sich, daß der Satellit so lange funktionstüchtig blieb, wie er Schub hatte, also etwa zwei Monate.“

„Zu welchem Zweck sollten Sie gleich zwei Kontrollsatelliten auf eine Umlaufbahn bringen? Meinen Sie nicht, Herr Zeuge, daß einer genügt hätte?“

„Sicherlich hätte einer genügt, Herr Richter. Der zweite „Wächter“ diente ganz einfach als Reserve für den Fall, daß der erste versagte oder bei einer Meteoritenkollision zerstört würde.

Nach astronomischen Beobachtungen von der Erde aus erscheint der Raum um den Saturn leer, abgesehen von den Ringen und den Monden — in Wirklichkeit aber schwirrt dort allerlei Zeug herum. Kleinen Körpern auszuweichen ist natürlich unter den gegebenen Bedingungen unmöglich. Eben deshalb lautete unsere Aufgabe, auf Kreisbahngeschwindigkeit zu bleiben, weil praktisch fast alle Splitter mit erster kosmischer Geschwindigkeit in der Äquatorebene des Saturns kreisen. Dadurch bleibt die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes auf ein vernünftiges Minimum beschränkt. Außerdem hatten wir Schutzschirme gegen Meteoriten an Bord. Die Schirme konnten von der Pilotenkanzel aus abgeschossen werden. Diese Aufgabe konnte aber auch ein entsprechender Automat übernehmen, der mit dem Radar des Raumschiffs gekoppelt war.“

„Hielten Sie diese Aufgabe für schwierig oder auch gefährlich, Herr Zeuge?“

„Sie war weder besonders gefährlich noch besonders schwierig, Herr Richter, vorausgesetzt, daß alle Manöver reibungslos und ohne Störungen durchgeführt würden. Der Saturn und seine nähere Umgebung gilt bei uns als Schuttabladeplatz übelster Sorte, der Jupiter ist dagegen noch harmlos, aber dafür ist die Beschleunigung, die man bei den Manövern entwickeln muß, wesentlich geringer als im Perimeter des Jupiter, und das ist ein bedeutender Vorteil.“

„Wen meinen Sie mit „uns“?“

„Die Piloten, Herr Richter. Na ja, und auch die Navigatoren. “

„Mit anderen Worten — die Kosmonauten?“

„Ja, Herr Richter. Kurz vor zwölf Uhr Bordzeit hatten wir praktisch die Außengrenze des Rings erreicht.“

„In seiner Oberfläche?“

„Ja. Auf eine Entfernung von etwa tausend Kilometern. Die Bordgeräte zeigten bereits an dieser Stelle eine erhebliche Verunreinigung an. Wir hatten etwa vierhundert Mikrostaubzusammenstöße in der Minute.

Programmgemäß schwenkten wir in die Roche-Grenze über dem Ring ein und begannen von der Kreisbahn aus, die faktisch parallel zur Cassinischen Teilung verlief, die Sonden abzuwerfen. Die erste schössen wir um fünfzehn Uhr Bordzeit ab und brachten sie über Radarpuls genau in den Bereich der Teilung. Diese Aufgabe fiel mir zu. Der Pilot half mir, indem er minimalen Schub beibehielt. Dadurch kreisten wir praktisch mit derselben Geschwindigkeit wie die Ringe. Calder manövrierte sehr geschickt. Er gab nur so viel Schub, wie nötig war, um das Raumschiff richtig auszu-

, richten — mit dem Bug nach vorn. Ohne Schub wäre es sofort ins Trudeln geraten.“

„Wer befand sich außer Ihnen und dem ersten Piloten noch im Steuerraum?“

„Alle. Die ganze Besatzung war dort, Herr Richter. Der Kommandant saß zwischen mir und Calder, etwas näher bei ihm, weil er sich den Sessel so eingestellt hatte. Hinter ihm saßen der Ingenieur und der Elektroniker. Doktor Burns saß, glaube ich, hinter dem Kommandanten.“

„Sie sind sich dessen nicht sicher?“

„Ich habe nicht besonders darauf geachtet, denn ich hatte die ganze Zeit über zu tun. Im übrigen kann man vom Sessel aus auch schlecht nach hinten sehen. Die Lehne ist zu hoch.“

„Die Sonde wurde visuell in die Teilung gelenkt?“

„Nicht nur visuell, Herr Richter. Ich hielt über Fernsehen ständig Kontakt zu ihr. Außerdem nahm ich den Radarhöhenmesser zu Hilfe. Als ich ihre Bahnparameter berechnet hatte, stellte ich fest, daß sie richtig saß — ungefähr in der Mitte des leeren Raums zwischen den Ringen —, und sagte zu Calder, daß ich bereit sei.“

„Daß Sie bereit seien?“

„Ja, zum Abschuß der nächsten Sonde. Calder schaltete die Tatze ein, das Luk ging auf, aber die Sonde kam nicht.“

„Was meinen Sie mit „Tatze“?“

„Den hydraulisch bewegten Kolben, der die Sonde nach dem Öffnen des Luks aus der Außenabschußrampe stößt. Wir hatten drei solcher Rampen am Heck, und das Manöver mußte dreimal ausgeführt werden.“

„Der zweite Satellit verließ das Raumschiff also nicht?“

„Nein, er blieb in der Rampe stecken.“

„Bitte, beschreiben Sie im einzelnen, wie es dazu kam.“

„Die Reihenfolge der Operationen war folgende: Erst öffnet sich das Außenluk, dann wird die Hydraulik betätigt, und wenn die Skala anzeigt, daß der Satellit austritt, wird sein Startautomat eingeschaltet. Der Automat zündet mit hundert Sekunden Verzögerung, im Havariefall bleibt also immer noch genügend Zeit, ihn auszuschalten. Der Automat setzt einen kleinen Booster mit festem Treibstoff in Betrieb, und der Satellit verläßt mit Fünfzehn-Sekunden-Eigenschub bei einer Tonne das Raumschiff. Es kommt darauf an, daß er sich so schnell wie möglich vom Mutterschiff entfernt. Wenn der Booster ausgebrannt ist, schaltet sich automatisch das Ionentriebwerk ein, das unter der Fernkontrolle des Navigators steht. In diesem Falle hatte Calder den Startautomaten schon eingeschaltet, weil der Satellit gerade ausgestoßen wurde. Als er plötzlich steckenblieb, versuchte er den Automaten auszuschalten, aber das gelang ihm nicht.“

„Sind Sie ganz sicher, daß der erste Pilot den Startautomaten der Sonde auszuschalten versuchte?“

„Ja, Calder rüttelte am Hebel, der zurücksprang. Warum er die Ladung trotzdem zündete, weiß ich nicht. Er schrie:

„Block!“ — das habe ich gehört.“

„Block?“

„Ja, irgendwas war blockiert. Es blieb noch eine halbe Minute Zeit bis zur Zündung des Boosters, deshalb bemühte er sich noch mal, die Sonde herauszukatapultieren, indem er den Druck erhöhte. Die Manometer zeigten das Maximum an, aber die Sonde saß fest, wie eingekeilt. Da zog Calder den Kolben zurück und betätigte ihn erneut. Wir spürten alle, wie er auf die Sonde aufprallte — es war fast wie ein Hammerschlag.“

„Auf diese Weise versuchte er, die Sonde auszustoßen?“

„Ja, Herr Richter. Man mußte damit rechnen, daß sie dabei beschädigt würde, weil er den Druck nicht allmählich steigerte, sondern ohne Übergang vollen Druck durch alle Leitungen jagte, was im übrigen ganz vernünftig war, wenn man bedenkt, daß wir zwar eine Ersatzsonde hatten, aber kein Ersatzraumschiff.“

„Sollte das ein Witz sein? Ich ersuche den Zeugen, künftig auf derlei Verzierungen in seinen Aussagen zu verzichten. “

„Der Kolben stieß also nach, aber die Sonde kam nicht zum Vorschein, und weil die Zeit raste, schrie ich: „Die Gurte!“ und schnallte mich an, so schnell ich konnte.

Außer mir schrien mindestens noch zwei Mann dasselbe. Einer davon war der Kommandant, ich erkannte seine Stimme.“

„Bitte, erläutern Sie dem Tribunal, warum Sie so handelten, Herr Zeuge.“

„Wir befanden uns auf einer Kreisbahn über dem Ring, flogen also praktisch ohne Schub. Ich wußte folgendes: Wenn der Booster zündete — und er mußte zünden, weil der Starter eingeschaltet war —, würden wir einen seitlichen Rückstoß verpaßt bekommen, so daß das Raumschiff ins Trudeln käme. Es war die Steuerbordsonde, die sich verklemmt hatte, die Sonde, die dem Saturn zugewandt war. Sie mußte folglich wie ein Seitendeflektor wirken. Ich war also darauf gefaßt, daß wir ins Trudeln kämen und daß die Zentrifugalkraft einsetzen würde, die der Pilot notgedrungen durch den dem Raumschiff entgegengesetzten Eigenschub abfangen mußte. In dieser Situation ließen sich nicht alle Eventualitäten voraussehen, die eintreten konnten. Man mußte auf jeden Fall fest angeschnallt sein.“

„Sie hatten also die Gurte losgeschnallt, während Sie Wache hatten und an der Steuerung die Pflichten eines Navigators versahen?“

„Nein, Herr Richter, nicht losgeschnallt, die Gurte hatten nur einen gewissen Spielraum. Man kann sie in bestimmten Grenzen einstellen. Wenn man die Schnalle ganz festzieht — wir nennen das „volle Kraft“ —, hat man nur eine begrenzte Bewegungsfreiheit.“

„Ist Ihnen bekannt, daß die Dienstordnung keinerlei Spielräume oder Abstufungen in der Befestigung der Gurte vorsieht?“

„Jawohl, Hohes Tribunal. Ich weiß, daß die Instruktion etwas anderes vorschreibt, aber das wird immer so gemacht. “

„Wie meinen Sie das?“

„In der Praxis wurde auf allen Raumschiffen, mit denen ich geflogen bin, ein Spielraum für die Gurte belassen, weil das die Arbeit erleichtert.“

„Die Häufigkeit eines Vergehens ist keine Rechtfertigung. Bitte, sprechen Sie weiter.“

„Es kam genauso, wie ich es erwartet hatte: Der Booster zündete. Das Raumschiff begann sich um seine Querachse zu drehen, und gleichzeitig wurden wir von der bisherigen Bahn abgetrieben, übrigens sehr langsam. Der Pilot balancierte diese doppelte Bewegung durch Eigenseitenschub aus, aber nicht ganz, das heißt nicht mit Nullergebnis.“

„Warum nicht?“

„Ich war nicht selbst an der Steuerung, aber ich nehme an, daß es einfach nicht zu schaffen war. Die Sonde saß in der Rampe fest, bei offenem Luk, und durch diese Öffnung drang ein Teil der Gase ihres Triebwerks nach außen, wobei der Gasstrahl wahrscheinlich Wirbel erzeugte und deshalb nicht gleichmäßig ausströmte. Im Endeffekt waren die Impulse mal schwächer, mal stärker, wodurch die Korrektur über Eigenschub seitliche Schlingerbewegungen des ganzen Schiffskörpers zur Folge hatte und wir, als der Booster ausgebrannt war, noch viel heftiger ins Trudeln kamen, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Der Pilot fing diese Bewegungen erst nach geraumer Zeit ab, als er nämlich mitkriegte, daß der Booster zwar verreckt war, dafür aber das Ionentriebwerk arbeitete.“

„Daß der Booster verreckt war?“

„Ich wollte sagen, der Pilot war sich nicht ganz sicher, ob das Ionentriebwerk der Sonde zünden würde, schließlich hatte er ihr ja einen heftigen Stoß mit dem Kolben verpaßt. Übrigens war das wohl genau seine Absicht gewesen, ich hätte es auch so gemacht. Als der Booster erlosch, stellte sich aber heraus, daß das Ionentriebwerk funktionierte, und wir hatten wieder eine Seitendeflexion von einer Vierteltonne. Das ist nicht viel, aber zum Trudeln reicht es auf einer solchen Bahn immer noch. Wir flogen ja mit Kreisbahngeschwindigkeit, und da wirken sich die feinsten Unterschiede bei der Beschleunigung enorm auf die Flugbahn und auf die Eigenlage aus.“

„Wie verhielten sich zu diesem Zeitpunkt die Besatzungsmitglieder? “

„Völlig ruhig, Herr Richter. Natürlich waren sich alle über die Gefahr im klaren, als der Booster zündete, denn das ist eine Pulverladung mit einem Gewicht von hundert Kilo, die in dem halbgeschlossenen Raum, den die blockierte Abschußrampe ja bildete, regelrecht wie eine Bombe explodieren konnte. Eine solche Explosion hätte uns steuerbord wie eine Konservenbüchse aufgeschlitzt. Zum Glück kam es nicht dazu, und das Ionentriebwerk allein war nicht so gefährlich. Allerdings ergab sich eine zusätzliche Komplikation, als der Automat Feueralarm auslöste und die Rampe Nummer zwei unter Löschschaum gesetzt wurde. Davon hatten wir gar nichts, denn der Schaum ist nicht imstande, ein Triebwerk mit Ionenschub stillzulegen, und so wurde der Schaum auch nur durch das offene Luk hinausgeschleudert, wobei ein Teil vermutlich durch den Hecktrichter der Sonne wieder eingesaugt wurde und zu einer Abschwächung des Schubs führte. Bevor der Pilot die Feueralarmanlage ausschaltete, hatten wir ein paar Minuten lang Seitenstöße zu verzeichnen, die zwar nicht allzu heftig waren, aber immerhin die Stabilisierung des Flugs erschwerten.“

„Wer hatte die Alarmanlage eingeschaltet?“

„Der Automat, Herr Richter, als die Meßgeräte auf der Außenhaut steuerbord einen Temperaturanstieg von über siebenhundert Grad anzeigten — der Booster heizte uns so ein.“

„Welche Anweisungen oder Befehle hatte der Kommandant bis dahin erteilt?“

„Er erteilte keinerlei Anweisungen oder Befehle. Es sah so aus, als wollte er sich erst überzeugen, was der Pilot unternehmen würde. Grundsätzlich gab es für uns zwei Möglichkeiten: Wir konnten uns entweder mit wachsendem Schub von dem Planeten absetzen und auf die Ellipsenbahn zurückkehren und damit auf die Erfüllung der Aufgaben verzichten oder die dritte und letzte Sonde auf die Kontrollbahn bringen. Das erste hätte ein totales Mißlingen unseres Programms bedeutet, weil die Sonde, wenn sie einfach von der Drift erfaßt würde, ganz sicher nach ein paar Stunden zerschmettert wäre. Eine Außenkorrektur ihrer Flugbahn durch die „Wächter-Sonde“ war unumgänglich.“

„Angesichts dieser Alternative mußte der Kommandant des Raumschiffs eine Entscheidung treffen — oder?“

„Soll ich die Frage beantworten, Herr Vorsitzender?“

„Beantworten Sie die Frage der Anklage, Herr Zeuge.“

„Nun, der Kommandant konnte selbstverständlich Befehle erteilen, aber er mußte es nicht tun. Prinzipiell ist der Pilot unter bestimmten Bedingungen berechtigt, Funktionen auszuüben, die den Funktionen des Kommandanten entsprechen, wie der Paragraph sechzehn der Bordinstruktion besagt, weil es häufig so ist, daß in solchen Fällen gar keine Zeit für die Verständigung zwischen dem Kommandanten und den Leuten an der Steuerung bleibt.“

„Aber unter den gegebenen Umständen hätte der Kommandant einen Befehl erteilen können, weil sich das Raumschiff weder unter Beschleunigung befand, die mündliche Befehle vereitelt hätte, und weil auch keine unmittelbare Vernichtungsgefahr bestand.“

„Kurz nach fünfzehn Uhr Bordzeit gab der Pilot gemäßigten Ausgleichschub…“

„Warum ignoriert der Zeuge meine Bemerkung? Ich ersuche das Hohe Tribunal, dem Zeugen einen Verweis zu erteilen und ihn zu veranlassen, auf meine Ausführungen zu antworten.“

„Hohes Tribunal, ich soll auf Fragen antworten, die Anklage hat mir aber keine Frage gestellt. Die Anklage brachte lediglich einen eigenen Kommentar vor, der die an Bord entstandene Situation interpretiert. Soll ich diesen Kommentar meinerseits kommentieren?“

„Die Anklage wird gebeten, eine Frage an den Zeugen zu formulieren, und der Zeuge ist angehalten, ein Maximum an gutem Willen bei seinen Aussagen aufzubringen.“

„Sind Sie nicht der Meinung, daß der Kommandant angesichts der Situation verpflichtet war, eine konkrete Entscheidung zu treffen und diese dem Piloten in Form eines Befehls zu übermitteln, Herr Zeuge?“

„Herr Staatsanwalt, die Instruktion sieht aber nicht vor…“

„Sie haben sich nur an das Tribunal zu wenden.“

„Sehr wohl. Hohes Tribunal, in der Instruktion sind keineswegs sämtliche Umstände berücksichtigt, die an Bord eintreten können. Im übrigen wäre das auch nicht möglich. Wenn dies möglich wäre, würde es genügen, daß jedes Besatzungsmitglied die Vorschrift auswendig lernte, und ein Kommandant wäre dann völlig überflüssig.“

„Herr Vorsitzender, die Anklage protestiert gegen derlei ironische Bemerkungen des Zeugen!“

„Sie wollen bitte einfach und präzise die Fragen des Anklägers beantworten, Herr Zeuge.“

„Sehr wohl. Ich bin also nicht der Meinung, daß der Kommandant in dieser Situation besondere Befehle erteilen mußte. Er war anwesend. Er sah und wußte, was vorging. Wenn er schwieg, bedeutete das, daß er gemäß Paragraph zweiundzwanzig der Bordinstruktion dem Piloten gestattete, nach eigenem Ermessen zu handeln.“

„Hohes Tribunal, der Zeuge legt den Wortlaut des Paragraphen zweiundzwanzig der Bordinstruktion falsch aus. In diesem Falle ist Paragraph sechsundzwanzig maßgebend, der Gefahrensituationen behandelt.“

„Hohes Tribunal, die Situation an Bord des „Goliath“ stellte weder für das Raumschiff noch für die Gesundheit oder das Leben der Besatzung eine Gefahr dar.“

„Hohes Tribunal, der Zeuge beweist hiermit eindeutig seine Böswilligkeit, denn anstatt eine objektive Wahrheitsfindung anzustreben, versucht er per fas et nefas, die Handlungsweise des Angeklagten Pirx, des Kommandanten des Raumschiffs, zu rechtfertigen! Die Situation, in der sich das Raumschiff befand, fällt zweifelsohne unter den Paragraphen sechsundzwanzig!“

„Hohes Tribunal, der Ankläger kann doch nicht gleichzeitig auch noch die Funktion eines Sachverständigen und Experten für den Tatbestand übernehmen!“

„Ich entziehe dem Zeugen das Wort. Das Tribunal behält sich hierzu vor, die Frage nach der Kompetenz der Paragraphen zweiundzwanzig oder sechsundzwanzig der Bordinstruktion gesondert zu klären. Fahren Sie in der Beschreibung der Vorfälle an Bord fort, Herr Zeuge.“

„Calder stellte dem Kommandanten zwar keinerlei Fragen, aber ich bemerkte, daß er ein paarmal zu ihm hinsah. Unterdessen hatte er den Schub der eingekeilten Sonde ausgeglichen, so daß es nicht mehr schwer war, das Raumschiff zu stabilisieren. Als die Flugstabilität wiederhergestellt war, entfernte sich Calder vom Ring, aber er verlangte keine Berechnungen des Rückflugkurses von mir — ich glaubte also, er würde trotzdem versuchen, unseren Auftrag zu Ende zu führen. Als wir über die Roche-Grenze hinaus waren, so gegen sechzehn Uhr, signalisierte er Spitze und versuchte sofort, die Sonde abzuschießen. “

„Das heißt?“

„Na ja, er schaltete die Signale für die Spitzenbelastung ein und gab dann zuerst vollen Schub rückwärts und dann vollen Schub vorwärts. Die Sonde wiegt drei Tonnen. Bei voller Beschleunigung muß sie fast zwanzigmal soviel wiegen. Sie hätte also wie eine Erbse aus der Rampe fliegen müssen. Da er zehntausend Meilen Spielraum hatte, führte er diese Schubstöße zweimal hintereinander aus, aber ohne Ergebnis. Er hatte nur erreicht, daß die Deflexion noch zunahm. Wahrscheinlich hatte sich die Sonde durch die heftige Beschleunigung noch fester in der Rampe verklemmt und ihre Lage so geändert, daß der ganze Abgasstrahl gegen das angelehnte Außenluk schlug, zurückprallte und in den Raum entwich. Die Schubstöße waren unangenehm für uns und auch ein wenig riskant, weil nunmehr feststand, daß die Sonde, falls sie sich überhaupt löste, wahrscheinlich ein Stück vom Außenpanzer mitreißen würde. Es sah ganz so aus, als ob wir gezwungen sein würden, ein paar Männer im Skaphander mit Werkzeug auf den Panzer hinauszuschicken oder auch umzukehren und die verd… Verzeihung… die eingeklemmte Sonde mitzuschleppen.“

„Versuchte Calder denn nicht, das Triebwerk der Sonde auszuschalten?“

„Das konnte er nicht, Herr Richter, weil das Steuerkabel, das die Sonde mit dem Mutterschiff verband, schon durchbrochen war. Es blieb also nur die Funksteuerung, aber die Sonde steckte direkt im Ausgang der Rampe und war durch deren Metallschutz abgeschirmt. Wir flogen etwa eine Minute und entfernten uns von dem Planeten, und ich war schon überzeugt, daß Calder sich doch noch zur Umkehr entschlossen hatte. Er führte ein paar Manöver zu einem sogenannten Sterneneinfall aus — der besteht darin, daß man mit dem Bug des Raumschiffs den gegebenen Stern anvisiert und dabei Wechselschub gibt. Bei normaler Manövrierfähigkeit muß der Stern ganz unbeweglich auf den Bildschirmen zu sehen sein. Natürlich war dem nicht so, wir hatten eine veränderte Flugcharakteristik, und Calder war bemüht, deren Zahlenwerte zu ermitteln. Nach mehreren Versuchen gelang es ihm auch schließlich, den richtigen Schub zu finden, der die Deflexion ausglich. Dann kehrte er um.“

„Erkannten Sie damals, was Calder eigentlich beabsichtigte, Herr Zeuge?“

„Ja, das heißt, ich nahm an, er wolle die dritte, noch an Bord befindliche Sonde auf die Umlaufbahn bringen.

Wir gingen über der Fläche der Ekliptik wieder herunter, von der Sonnenseite her — Calder machte das einmal genial. Wenn ich es nicht selbst erlebt hätte, ich hätte es nie für möglich gehalten, daß er das Raumschiff, das ja nun gewissermaßen ein besonderes, von der Konstruktion nicht berücksichtigtes Seitentriebwerk hatte, mit einer solchen Leichtigkeit steuerte. Er trug mir auf, die Kurskorrekturen und die ganze Trajektorie inklusive der Steuerimpulse für unsere dritte Sonde zu berechnen.

Nun hatte ich keinen Zweifel mehr.“

„Erfüllten Sie diesen Auftrag?“

„Nein, Herr Richter. Das heißt, ich sagte ihm, ich könne den Kurs nicht programmgemäß berechnen, wenn wir anders vorgehen würden — wir konnten uns ja nicht mehr genau an unser Programm halten. Ich verlangte zusätzliche Werte von ihm, weil ich nicht wußte, aus welcher Höhe er die letzte Sonde auf ihre Umlaufbahn bringen wollte, aber er gab mir keine Antwort. Vielleicht hatte er sich nur deshalb an mich gewandt, um den Kommandanten von seiner Absicht zu unterrichten.“

„Glauben Sie? Dann hätte er sich doch direkt an den Kommandanten wenden können.“

„Vielleicht wollte er das nicht. Vielleicht war ihm daran gelegen, daß keiner denken sollte, er wisse nicht mehr weiter und brauche Hilfe. Es ist aber ebensogut möglich, daß er nur zeigen wollte, was für ein blendender Pilot er ist, wenn er sich an ein Vorhaben heranwagt, bei dem der Navigator, das heißt ich, nicht imstande war, ihm zu helfen. Aber der Kommandant reagierte überhaupt nicht, und Calder nahm schon Kurs auf die Ringe. Und da begann mir die ganze Sache nicht mehr zu schmecken.“

„Wollen Sie bitte Ihre Aussage etwas sachlicher abfassen, Herr Zeuge.“

„Ja, Herr Richter. Da sagte ich mir also, daß uns eine riskante Operation bevorsteht.“

„Ich möchte das Augenmerk des Hohen Tribunals darauf lenken, daß der Zeuge soeben versehentlich das behauptete, was er vorher bestritten hat: daß es nämlich die Pflicht des Kommandanten gewesen wäre, sich aktiv einzuschalten, daß er sich aber bewußt und vorsätzlich jeder Äußerung enthielt, was für das Raumschiff und die Besatzung unübersehbare Konsequenzen heraufbeschwor.“

„Hohes Tribunal, es war nicht so, wie die Anklage behauptet. “

„Bitte, polemisieren Sie nicht mit der Anklage, sondern fahren Sie in Ihrer Aussage fort und beschränken Sie sich ausschließlich auf den Ablauf der Ereignisse. Warum hielten Sie die Operation erst in dem Augenblick für riskant, als Calder wieder auf den Perimeter der Ringe zurückging?“

„Ich habe mich vielleicht falsch ausgedrückt. Die Sache war so: Der Pilot hat sich unter solchen Bedingungen an den Kommandanten zu wenden. Ich an seiner Stelle hätte das ganz bestimmt getan. Das ursprüngliche Programm konnten wir sowieso nicht mehr in aller Präzision realisieren. Ich nahm an, daß Calder — da ihm der Kommandant ja die Initiative überlassen hatte — versuchen würde, den Satelliten aus erheblicher Entfernung auf eine Bahn zu bringen, das heißt, ohne sich allzusehr dem Ring zu nähern. Das minderte zwar die Erfolgschance, aber es war immerhin möglich und zugleich sicher. Er trug mir auch tatsächlich bei geringer Geschwindigkeit erneut auf, die Kurse für einen aus tausend bis zweitausend Kilometer Entfernung durch Impulse auf eine Umlaufbahn zu bringenden Satelliten zu berechnen. Weil ich ihm helfen wollte, fing ich mit den Berechnungen an, wobei sich herausstellte, daß die Fehlerwerte ungefähr ebensogroß waren wie die Breitenwerte der Cassinischen Teilung. Die Chance, daß die Sonde, statt auf die Kontrollumlaufbahn zu gehen, entweder auf den Planeten zulief oder nach außen steuerte und am Ring zerschmetterte, stand also zwei zu eins. Ich reichte ihm dieses Ergebnis — was Besseres hatte ich ja nicht.“

„Informierte sich der Kommandant über das Ergebnis Ihrer Berechnungen?“

„Er muß es gesehen haben, denn die Ziffern erschienen auf dem Indikator, der zentral über unseren Pulten installiert war. Wir flogen mit kleinem Schub, und ich hatte das Gefühl, Calder könne sich nicht entscheiden, was zu tun sei. Er saß ja wirklich ganz schön in der Patsche. Wenn er jetzt einen Rückzieher machte, so hieß das, daß er sich verrechnet und daß ihn seine Intuition im Stich gelassen hatte. Solange er nicht in Richtung Planet umkehrte, konnte er noch so tun, als hielte er die Sache für zu riskant und zu unrentabel. Aber er hatte schon bewiesen, daß er das Raumschiff trotz der veränderten Schubcharakteristik in der Hand hatte, und obwohl er es nicht aussprach, ging aus seinen folgenden Manövern doch eindeutig hervor, daß er an dem Versuch festhielt, die Sonde auf eine Bahn zu bringen. Wir flogen auf Näherungskurs, und ich nahm ganz einfach an, daß er die Erfolgschance ein wenig erhöhen wollte; sie stieg ja in dem Maße, wie die Entfernung abnahm. Doch wenn es ihm darum zu tun gewesen wäre, hätte er schon längst mit dem Bremsmanöver beginnen müssen — er aber steigerte den Schub. Erst als er das machte, glaubte ich zu wissen, daß er etwas ganz anderes vorhatte. Vorher wäre mir so was gar nicht in den Sinn gekommen. Im übrigen begriffen das alle — und zwar schlagartig.“

„Herr Zeuge, Sie behaupten, alle Besatzungsmitglieder seien sich in diesem Augenblick des Ernstes der Lage bewußt gewesen?“

„Ja, Herr Vorsitzender. Jemand, der backbord hinter mir saß, sagte auf einmal: „Leben ade!““

„Wer war das?“

„Das weiß ich nicht. Vielleicht der Ingenieur, vielleicht auch der Elektroniker. Ich habe nicht darauf geachtet.

Das Ganze spielte sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Calder schaltete auf Spitze und gab großen Schub, während er weiter Kollisionskurs auf den Ring steuerte. Es war klar, daß er mit dem „Goliath“ mitten durch die Cassinische Teilung hindurch wollte, um unterwegs die dritte Sonde nach der „Vogel-Methode“ zu verlieren.“

„Was für eine Methode ist das?“

„Wir nennen das so, Herr Richter. Das Raumschiff „verliert“ die Sonde im Flug wie ein Vogel ein Ei… Aber der Kommandant verbot ihm das.“

„Der Kommandant verbot es ihm? Erteilte er denn diesbezüglich einen Befehl?“

„Jawohl, Herr Richter.“

„Einspruch der Anklage! Der Zeuge verdreht die Tatsachen. Der Kommandant erteilte keinen derartigen Befehl.“

„Klar! Der Kommandant versuchte, einen Befehl zu erteilen, aber er konnte keinen vollständigen Satz mehr formulieren. Calder gab zwar Vorwarnung wegen der bevorstehenden Höchstbeschleunigung, aber erst Sekundenbruchteile vor dem eigentlichen Manöver. Als es rot aufleuchtete, schrie ihm der Kommandant etwas zu, aber Calder ging im selben Augenblick auf vollen Schub. Unter dieser Presse — über 14 g! — hat man keine Sinne mehr. Es sah so aus, als wollte ihm Calder die Worte auf den Lippen zerquetschen. Ich behaupte nicht, daß er das tatsächlich vorhatte, aber es sah so aus. Wir wurden so zusammengestaucht, daß ich das Sehvermögen verlor. Der Kommandant konnte gerade noch einen Schrei ausstoßen…“

„Herr Vorsitzender, die Anklage erhebt Einspruch gegen die vom Zeugen gebrauchten Formulierungen.

Entgegen eigenen Vorbehalten versucht er zu suggerieren, der Pilot Calder habe vorsätzlich und böswillig versucht, den Kommandanten an einer Befehlsausgabe zu hindern.“

„Ich habe nichts dergleichen gesagt.“

„Ich entziehe dem Zeugen das Wort. Das Tribunal gibt dem Antrag der Anklage statt. Bitte streichen Sie die Worte des Zeugen, angefangen bei: „Es sah so aus, als wollte ihm Calder die Worte auf den Lippen zerquetschen Ich ersuche den Zeugen, sich jeglicher Kommentare zu enthalten und genau die Worte zu wiederholen, die der Kommandant wirklich gebraucht hat.“

„Tja also, wie gesagt, der Kommandant konnte seinen Befehl zwar nicht mehr in einen vollständigen Satz kleiden, aber der Sinn war klar. Er verbot Calder, in die Teilung vorzustoßen.“

„Einspruch der Anklage. Für die Wahrheitsfindung ist es nicht wesentlich, was der Angeklagte Pirx sagen wollte, sondern nur das, was er tatsächlich gesagt hat.“

Einspruch stattgegeben. Beschränken Sie sich darauf, was im Steuerraum gesagt wurde, Herr Zeuge.“

„Das, was gesagt wurde, genügte, um jedem professionellen Kosmonauten klarzumachen, daß der Kommandant dem Piloten verbot, in die Cassinische Teilung vorzustoßen.“

„Der Zeuge wird ersucht, die bewußten Worte zu nennen, über deren eigentlichen Sinn das Tribunal selbst befinden wird.“

„An die einzelnen Worte kann ich mich nicht erinnern, sondern eben nur an ihren Sinn: Der Kommandant rief so was wie: „Nicht durch den Ring!“ oder vielleicht auch: „Nicht da durch!“ Weiter kam er nicht.“

„Vorhin haben Sie behauptet, der Kommandant hätte keinen vollständigen Satz ausgesprochen, das eben zitierte „Nicht durch den Ring!“ stellt hingegen einen vollständigen Satz dar, Herr Zeuge.“

„Wenn hier im Saal Feuer ausbräche und ich riefe: „Es brennt! “, wäre das auch kein vollständiger Satz, weil darin nicht gesagt würde, wo es brennt und was brennt, und doch wäre es eine vollständige Warnung.“

„Einspruch der Anklage! Ich ersuche das Tribunal, den Zeugen zur Ordnung zu rufen!“

„Das Tribunal erteilt dem Zeugen eine Verwarnung. Es ist nicht Aufgabe des Zeugen, das Tribunal durch Gleichnisse und Anekdoten zu belehren. Bitte beschränken Sie sich auf einen sachlichen Bericht darüber, was sich an Bord ereignete.“

„Sehr wohl. An Bord ereignete sich folgendes: Der Kommandant verbot dem Piloten durch Anruf, das Raumschiff in die Teilung zu fliegen…“

„Einspruch! Die Aussagen des Zeugen sind tendenziös und führen zu einer Fälschung der Tatsachen!“

„Das Tribunal ist um Entgegenkommen bemüht. Begreifen Sie doch, daß es Aufgabe der Untersuchung ist, die materiellen Fakten festzustellen, Herr Zeuge. Sind Sie in der Lage, das Satzfragment anzuführen, das der Kommandant gebrauchte?“

„Wir standen bereits unter großer Beschleunigung. Ich hatte ein Blackout und konnte nichts sehen, aber ich hörte den Schrei des Kommandanten. Die einzelnen Wörter waren nicht genau zu verstehen, aber ich wußte trotzdem, was er meinte. Um so deutlicher muß der Pilot den Warnruf gehört haben, der dem Kommandanten ja näher war als ich.“

„Die Verteidigung bittet darum, noch einmal die Registrierbänder aus dem Steuerraum abzuspielen — vor allem den Ausschnitt mit dem Zuruf des Kommandanten.“

„Das Tribunal lehnt den Antrag der Verteidigung ab. Die Bänder wurden bereits abgehört, und dabei wurde festgestellt, daß die Stimme völlig verzerrt ist — so verzerrt, daß man lediglich die Person identifizieren, nicht aber deren Worte verstehen kann. In dieser strittigen Frage wird das Tribunal an anderer Stelle eine Entscheidung treffen. Berichten Sie, was danach geschah, Herr Zeuge.“

„Als ich wieder sehen konnte, flogen wir auf Kollisionskurs dem Ring entgegen. Der Akzelerator zeigte 2 g an.

Wir hatten parabolische Geschwindigkeit. Der Kommandant rief: „Calder, du hast meinen Befehl nicht befolgt!

Ich hab dir verboten, durch die Teilung zu fliegen! “, und Calder erwiderte sofort: „Das hab ich nicht gehört, Commander! ““

„Der Kommandant befahl ihm jedoch nicht, zu bremsen oder umzukehren?“

„Das war nicht mehr möglich, Herr Vorsitzender. Wir hatten parabolische Geschwindigkeit — achtzig Kilometer pro Sekunde. Diesen Antrieb abzufangen, ohne dabei die Gravitationsbarriere zu überschreiten, das ist ein Unding.“

„Was verstehen Sie unter Gravitationsbarriere, Herr Zeuge?“

„Eine konstante positive oder negative Beschleunigung über zwanzig bis zweiundzwanzig Gravitationseinheiten.

Mit jeder Sekunde dieses Kollisionsfluges hätte man einen größeren Gegenschub gebraucht, um abzubremsen.

Zuerst wahrscheinlich an die fünfzig, später vielleicht hundert. Ein solches Bremsmanöver hätte uns allen das Leben gekostet. Das heißt, allen Menschen an Bord.“

„Technisch war aber das Raumschiff doch imstande, eine Beschleunigung dieser Größenordnung zu entwickeln?“

„Ja, Herr Richter. Es wäre dazu imstande gewesen, aber nur, wenn man die Sicherungen herausgerissen hätte, nur dann. Der „Goliath“ besitzt einen Reaktor, der maximal über einen potentiellen Schub von zehntausend Tonnen verfügt.“

„Bitte fahren Sie in Ihrer Aussage fort.“

„„Willst du das Schiff ruinieren?“ fragte der Kommandant ganz ruhig.

„Wir fliegen durch die Teilung, und ich bremse auf der anderen Seite ab“, antwortete Calder ebenso ruhig.

Dieser Wortwechsel dauerte noch an, als wir auf einmal Seitenumdrehung bekamen. Durch den rapiden Anstieg der Beschleunigung, mit der Calder den Flug in die Teilung einleitete, mußte die Sonde ihre Position innerhalb der Rampe unkontrollierbar geändert haben; die Seitendeflexion nahm zwar ab, doch der Gasstrahl verlief jetzt tangential zum Rumpf, so daß sich das Raumschiff wie ein Kreisel um seine Längsachse drehte. Anfangs waren diese Umdrehungen ziemlich langsam, sie wurden aber von Sekunde zu Sekunde schneller. Das war der Anfang vom Ende. Calder hatte dieses Rotieren versehentlich ausgelöst — durch das jähe Steigern der Beschleunigung.“

„Erläutern Sie dem Tribunal ausführlich, weshalb Calder die Beschleunigung Ihrer Meinung nach derart steigerte.“

„Hohes Tribunal, die Anklage erhebt Einspruch! Der Zeuge ist parteiisch. Er wird hier, so wie er das bereits getan hat, behaupten, Calder hätte versucht, den Kommandanten zum Schweigen zu bringen.“

„Das will ich durchaus nicht. Calder hätte die Beschleunigung nicht sprunghaft zu steigern brauchen, er hätte das auch allmählich tun können, doch wenn er beabsichtigte, in die Ringlücke vorzustoßen, war großer Schub unumgänglich. Wir befanden uns in einem Raum, der für Manöver höchst ungeeignet war, denn diese Zone ist durch mathematisch unlösbare Bewegungsprobleme vieler Körper gekennzeichnet. Die Einflüsse des Saturns selbst, der Masse seiner Ringe, der nächsten Monde — all das zusammengenommen bildet ein Schwerefeld, in dem sich die Gesamtheit der Perturbation nicht gleichzeitig berücksichtigen läßt. Überdies hatten wir noch Seitendeflexion durch die Sonde. In dieser Situation bewegten wir uns also auf einer Bahn, die die Resultate vieler Kräfte gleichzeitig war — sowohl der Eigenschübe des Raumschiffs als auch der Anziehung der im Raum verteilten Massen. Nun, und je größer der Schub war, mit dem wir flogen, desto geringer wurde der Einfluß der Störfaktoren, da deren Werte konstant blieben, unser Antriebswert wuchs. Indem Calder also die Geschwindigkeit steigerte, machte er unser Raumschiff unempfindlicher gegen äußere Störeinflüsse. Ich bin überzeugt, daß uns der Sprung ohne die plötzlich auftretenden Seitenumdrehungen geglückt wäre.“

„Sind Sie der Auffassung, daß es einem voll leistungsfähigen Raumschiff möglich ist, die Teilung zu passieren?“

„Aber ja, Herr Richter. Dieses Manöver ist durchaus möglich, wenn es auch von allen Kosmonautiklehrbüchern verboten wird. Die Teilung ist praktisch drei bis Dreieinhalbtausend Kilometer breit.

Ihre Ränder sind mit einer dicken Eis- und Meteoritenstaubschicht besetzt, die man zwar visuell nicht wahrnehmen kann, an der aber ein Raumschiff, das sich mit parabolischer Geschwindigkeit bewegt, verglühen muß. Demzufolge ist also der freie Raum, den man passieren kann, an die fünfhundert bis sechshundert Kilometer breit. Bei niedrigen Geschwindigkeiten ist diese Durchfahrt nicht schwierig, doch bei höheren Geschwindigkeiten stellt sich die Gravitationsdrift ein. Deshalb visierte Calder erst genau die Teilung an und gab dann großen Schub. Hätte die Sonde nicht zu rotieren begonnen, wäre alles gutgegangen. Das nehme ich zumindest an. Klar, ein gewisses Risiko war dennoch dabei, die Möglichkeit, daß wir auf einen einsamen Splitter stießen, stand eins zu dreißig.

Inzwischen waren aber die Längsumdrehungen aufgetreten. Calder versuchte sie abzufangen, aber es gelang ihm nicht. Er kämpfte großartig, das muß ich zugeben.“

„Calder konnte also das Rotieren des Raumschiffs nicht beseitigen. Wissen Sie den Grund?“

„Ich hatte ihn schon vorher, während meiner Wache, beobachtet und dabei bemerkt, daß er ein phänomenaler Rechner war. Er setzte riesiges Vertrauen in seine Fähigkeit, auf eigene Faust, ohne Hilfe der Kalkulatoren, blitzartige Berechnungen anstellen zu können. In unserer Situation, bei parabolischer Geschwindigkeit, mußten wir durch die Cassinische Teilung wie durch ein Nadelöhr. Die Schubmesser waren nicht zu gebrauchen, weil sie nur die Werte des „Goliath“, nicht aber die der Sonde anzeigen konnten. Calder beobachtete ausschließlich die Gravimeter und steuerte nur danach. Es war ein regelrechtes mathematisches Wettrennen zwischen ihm und den Bedingungen, die sich mit wachsender Geschwindigkeit veränderten. Wozu Calder in der Lage war, bezeugte die Tatsache, daß er, während ich kaum noch nachkam, die Ziffern auf den Indikatoren abzulesen, im Kopf Berechnungen durchführte, bei denen er Differentialgleichungen vierten Grades aufstellte, ich muß unterstreichen, daß ich ihn bewunderte, obwohl ich sein Verhalten bis zu dem Augenblick zugleich empörend fand, weil ich sicher war, daß er den Befehl des Kommandanten gehört und ihn absichtlich ignoriert hatte.“

„Sie haben nicht auf die Frage des Tribunals geantwortet, Herr Zeuge.“

„Ich war gerade dabei, Herr Richter. Die Ergebnisse, zu denen Calder im Bruchteil von Sekunden kam, konnten nur annähernd stimmen. Sie waren nicht exakt, denn das konnten sie gar nicht sein, selbst wenn er sich in die schnellste Rechenmaschine der Welt verwandelt hätte. Die Fehlerquote, die er nicht berücksichtigen konnte, wuchs ständig, und wir rotierten weiter. Eine Minute lang hatte ich den Eindruck, daß Calder das Ding vielleicht doch noch schaukeln würde, doch er begriff eher als ich, daß er verspielt hatte, und nahm den Schub weg. Wir verloren die Schwerkraft bis Null.“

„Warum tat er das?“

„Er wollte die Teilung annähernd auf einer Geraden durchqueren, aber es gelang ihm nicht, die Längsumdrehungen des Schiffs abzufangen. Der „Goliath“ drehte sich wie ein Kreisel und verhielt sich folglich auch so: Er leistete der Antriebskraft, die ihn senkrecht auszurichten versuchte, Widerstand. Wir gerieten in Präzession — je höher unsere Geschwindigkeit war, desto heftiger torkelte unser Heck. Im Endeffekt flogen wir in der Bahn eines sehr weit auseinandergezogenen Korkenziehers, das Raumschiff legte sich auf die Seite, und jede dieser Schleifen hatte an die hundert Kilometer Durchmesser. Dabei hätten wir natürlich ohne weiteres an die Ränder des Rings stoßen können, statt die Mitte der Teilung zu treffen. Calder war außerstande, etwas dagegen zu tun. Er saß im Trichter.“

„Was heißt das?“

„So nennen wir für gewöhnlich ausweglose Situationen, Hohes Tribunal. Der weitere Verlauf des Fluges übersteigt jegliches Vorstellungsvermögen. Als Calder die Triebwerke ausschaltete, glaubte ich, er wolle sich einfach in sein Schicksal ergeben. Die Ziffern flimmerten in den Indikatoren, aber zu berechnen gab es nichts mehr. Die Ringe blendeten uns so sehr, daß wir kaum noch aus den Augen gucken konnten, sie bestehen ja aus Eisblöcken. Sie kreisten wie ein Karussell vor uns, zusammen mit der Teilung, die aussah wie ein schwarzer Riß. In solchen Momenten vergeht die Zeit unglaublich langsam.

Jedesmal, wenn mein Blick an den Zeigern des Sekundenmessers hängenblieb, hatte ich den Eindruck, sie stünden auf der Stelle. Calder schnallte plötzlich die Gurte ab; er tat das mit sehr heftigen Bewegungen. Ich machte das gleiche, weil ich annahm, er wollte die Hauptüberlastungssicherung herausreißen, die am Pult angebracht war und an die er, angeschnallt, nicht heranreichte. Mit vollem Schub hätte er das Schiff noch abfangen und in den Raum entrinnen können, nachdem er die besagten hundert g entwickelt hatte. Wir wären alle zerplatzt wie Ballons, aber er hätte das Raumschiff gerettet, na, und auch sich selbst. Eigentlich hätte mir schon eher der Gedanke kommen müssen, daß er kein Mensch ist, denn ein Mensch wäre zu solchen Rechenoperationen niemals imstande gewesen…, aber das wurde mir alles erst in diesem Moment bewußt. Ich wollte ihn vom Pult zurückhalten, aber er war schneller. Er mußte schneller sein. „Nicht abschnallen! “ schrie mir der Kommandant zu. Und an Calder gewandt: „Rühr die Sicherung nicht an!“ Calder schenkte ihm nicht die geringste Beachtung, er stand bereits. „Volle Kraft voraus!“ rief der Kommandant, und ich gehorchte. Ich hatte ja noch das Zweitsteuer. Ich gab nicht sofort volle Kraft, sondern ging erst auf fünfzig, weil ich Calder nicht töten wollte — ich wollte ihn mit diesem Stoß lediglich von den Sicherungen wegschleudern, aber er hielt sich auf den Beinen. Es war ein entsetzlicher Anblick, meine Herren, denn kein Mensch bleibt da stehen! Er aber stand, lediglich ans Pult geklammert, es riß ihm die Haut von beiden Handflächen, aber er hielt sich weiter aufrecht, denn unter seiner Haut war Stahl. Da gab ich sofort Spitze. Die vierzehn g rissen ihn um, er wurde nach hinten in den Steuerraum geschleudert. Das Gepolter war so ohrenbetäubend, als sei er ein einziger riesiger Metallblock. Er sauste zwischen unseren Sesseln hindurch und prallte gegen die Wand, daß sie erbebte; das Securit spritzte umher, und er stieß einen Laut aus, der sich absolut mit nichts vergleichen ließ, und ich hörte, wie er sich dort hinwälzte, wie er die Trennwände zertrümmerte, wie er alles in Stücke schlug, woran er sich klammerte, aber ich achtete nicht mehr darauf, weil sich schon die Cassinische Teilung vor uns auftat. Wir sausten torkelnd, mit kreiselndem Heck hinein. Ich reduzierte auf 4 g. Jetzt entschied nur noch der pure Zufall.

Der Kommandant schrie, ich solle schießen. Ich schoß also nacheinander die Meteoritenabwehrschirme ab, um wenigstens die kleineren Splitter vor dem Bug zu zerquetschen, falls welche vor uns auftauchen sollten. Obwohl das nicht viel nutzte, war es immerhin besser als gar nichts. Die Cassini glich einem riesigen schwarzen Maul; ich sah am Bug, weit entfernt, Feuer. Die Schutzschirme entfalteten sich und gerieten beim Zusammenprall mit den Eisenstaubwolken in Brand. Riesige silbrige Wolken entstanden, unglaublich schön, und barsten im Handumdrehen. Das Raumschiff erbebte leicht, backbord sprangen mit einemmal die Gerätezeiger in die Höhe, es war ein Wärmestoß, wir streiften etwas, ich weiß nicht was, und waren drüben…“

„Commander Pirx?“

„Ja, der bin ich. Sie wollten mich sprechen?“

„Ganz recht. Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind. Bitte, nehmen Sie Platz…“

Der Mann hinter dem Schreibtisch drückte auf den Knopf eines schwarzen Kastens und sagte: „Ich bin jetzt zwanzig Minuten beschäftigt und für niemanden zu erreichen. “

Er schaltete den Apparat aus und musterte Pirx aufmerksam.

„Ich möchte Ihnen einen bestimmten… originellen… Vorschlag unterbreiten, Commander. Eine Art…“ — er suchte nach einem passenden Wort —, „eine Art Experiment. Zunächst müßte ich Sie jedoch bitten, über das, was ich Ihnen jetzt sage, Diskretion zu bewahren. Auch wenn Sie den Vorschlag ablehnen sollten. Sind Sie damit einverstanden?“

Mehrere Sekunden lang herrschte Schweigen. „Nein“, erwiderte Pirx dann und fügte hinzu: „Es sei denn, Sie verraten mir etwas mehr.“

„Sie gehören nicht zu den Menschen, die etwas blanko unterschreiben? Das hätte ich mir eigentlich schon denken können, nach dem, was ich über Sie gehört habe. Zigarette gefällig?“

„Nein, danke.“

„Es handelt sich um einen Versuchsflug.“

„Ein neues Schiffsmodell?“

„Nein, eine neue Art von Besatzung.“

„Von Besatzung? Und meine Rolle dabei?“

„Eine umfassende Beurteilung ihrer Eignung. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Jetzt sind Sie an der Reihe.“

„Ich werde schweigen, sofern ich das für möglich halte.“

„Für möglich?“

„Für angebracht.“

„Mit Rücksicht auf welche Kriterien?“

„Auf das sogenannte Gewissen, mein Herr.“ Abermals verstrichen Sekunden. In dem großen Zimmer mit der einen Glaswand herrschte eine Stille, als läge es gar nicht inmitten von zweitausend anderen Räumen, die zusammen einen riesigen Wolkenkratzer mit drei Hubschrauberlandeplätzen auf den Dächern ausmachten. Pirx konnte kaum die Gesichtszüge des Mannes erkennen, mit dem er sich da unterhielt, weil ein stark leuchtender Nebel oder vielmehr eine Wolke, in die die sechzehn obersten Stockwerke des Gebäudes gehüllt waren, den Hintergrund für die Gestalt bildete. Hin und wieder materialisierten sich die milchigen Knäuel hinter der durchsichtigen Wand, und man hatte den Eindruck, als würde das ganze Zimmer von einer unwägbaren Kraft hinweggetragen, als schwebe es davon.

„Gut. Wie Sie sehen, bin ich mit allem einverstanden. Es handelt sich um einen Flug Erde-Erde.“

„Eine Schleife?“

„Ja. Mit Saturnumkreisung und Abschuß neuer automatischer Satelliten auf eine stationäre Umlaufbahn.“

„Das ist doch aber das Unternehmen JOVIANA?“

„Ganz recht, ein Teil davon, was die Satelliten anbelangt. Das Raumschiff gehört ebenfalls der COMSEC, das Projekt steht also unter dem Patronat der UNESCO. Wie Sie wissen, repräsentiere ich diese Institution. Wir haben unsere eigenen Piloten und Navigatoren, aber auf Sie ist unsere Wahl gefallen, weil hier noch ein zusätzlicher Faktor mitspielt, nämlich die Mannschaft, wie ich bereits erwähnte.“

Der UNESCO-Direktor verstummte erneut. Pirx wartete und strengte unwillkürlich sein Gehör an, aber es war wirklich, als erklänge im Umkreis von Meilen nicht der leiseste Laut — und doch waren sie von einer Millionenstadt umgeben.

„Wie Ihnen sicherlich bekannt sein dürfte, gibt es schon seit einer Reihe von Jahren Möglichkeiten, Automaten zu bauen, die den Menschen immer besser ersetzen, die ihm zugleich auf vielen Gebieten ebenbürtig sind. Bisher wurden sie stationär installiert, wegen ihres Gewichts und ihrer Abmessungen. Aber fast gleichzeitig hat die Physik der festen Körper in den Vereinigten Staaten und in der UdSSR die nächste Etappe der Mikrominiaturisierung eröffnet — die Molekularetappe. Es wurden versuchsweise Prototypen von kristallinen Systemen hergestellt, die dem menschlichen Gehirn gleichkamen. Sie sind noch immer anderthalbmal größer als unser Gehirn, aber das ist unwichtig. Eine Reihe amerikanischer Firmen hat für ihre Konstruktionen bereits Patente angemeldet und möchte nun die Produktion von menschenähnlichen, sogenannten totalen nichtlinearen Automaten aufnehmen, die besonders für die Bedienung von interplanetaren Schiffen gedacht sind.“

„Ich habe davon gehört. Aber angeblich haben die Gewerkschaften Einspruch dagegen erhoben, oder? Und würde die Sache nicht wesentliche Veränderungen in der bestehenden Gesetzgebung erforderlich machen?“

„Sie haben davon gehört? Die Presse hat aber nichts darüber gebracht, außer ein paar Gerüchten…“

„Ja. Aber hinter den Kulissen hat es Gespräche und Verhandlungen gegeben, und Informationen darüber sind in jene Kreise durchgesickert, in denen ich verkehre. Das ist doch erklärlich.“

„Aber gewiß. Natürlich. Nun, desto besser… Obwohl… Wie ist eigentlich Ihr Standpunkt?“

„In dieser Angelegenheit? Eher negativ. Ja, sogar sehr negativ. Ich befürchte jedoch, daß hier niemandes Auffassung ausschlaggebend ist. Die Konsequenzen von Erfindungen sind unerbittlich — man kann bestenfalls die Verwirklichung eine Zeitlang hinauszögern.“

„Mit anderen Worten: Sie halten es für ein notwendiges Übel?“

„So würde ich es nicht formulieren. Ich bin der Meinung, daß die Menschheit auf eine Invasion künstlicher Wesen in Menschengestalt nicht vorbereitet ist. Das Wichtigste dabei ist selbstverständlich, ob sie dem Menschen auch tatsächlich ebenbürtig sind. Persönlich bin ich noch nie solchen Wesen begegnet. Ich bin kein Fachmann, aber die Spezialisten, die ich kenne, sind der Meinung, daß von einer Vollwertigkeit, einer echten Ebenbürtigkeit keine Rede sein kann.“

„Sind Sie da nicht etwas voreingenommen? Einige Fachleute sind in der Tat dieser Meinung, das heißt, sie waren es. Aber sehen Sie… das Vorgehen dieser Firmen wird von ökonomischen Faktoren bestimmt. Von der Rentabilität der Produktion.“

„Das heißt, von der Hoffnung auf Profit.“

„Ja. Das bedeutet in diesem Falle, daß die Bundesregierung — ich meine Amerika — sowie die Regierungen Englands und Frankreichs den Privatfirmen die Dokumentationen noch nicht bis ins letzte zugänglich gemacht haben, soweit diese in Instituten entwickelt worden sind, die vom Staat finanziert werden. Aber die Lücken in der Dokumentation können von den besagten Firmen auch ohne die Hilfe der Regierungen geschlossen werden, gewissermaßen im eigenen Bereich, sie haben ja ihre eigenen Forschungslaboratorien.“

„Sie meinen Cybertronics?“

„Nicht nur. Auch Machintrex, Inteltron und andere. Jedenfalls gibt es in den Regierungskreisen dieser Staaten viele Leute, die sich vor den Folgen einer derartigen Aktion fürchten. Die Privatfirmen interessiert es ja nicht, daß es an staatlichen Mitteln fehlt, um die Leute umzuschulen, die durch die Welle der Nichtlinearen ihre Arbeit verlieren würden.“

„Der Nichtlinearen? Merkwürdig, dieser Terminus ist mir noch nie begegnet.“

„Ein Wort aus unserem Jargon. Klingt immer noch besser als „Homunculus“ oder künstlicher Mensch“, denn schließlich handelt es sich ja nicht um Menschen, weder um künstliche noch um echte.“

„Wegen ihrer Unzulänglichkeit?“

„Wissen Sie, Commander, ich bin auch kein Spezialist auf diesem Gebiet und muß Ihnen die Antwort schuldig bleiben, so leid es mir tut. Meine persönlichen Vermutungen sind hier völlig uninteressant. Es handelt sich darum, daß einer der ersten Abnehmer des neuen Erzeugnisses die COSNAV wäre.“

„Das ist aber doch ein angloamerikanisches Privatunternehmen?“

„Eben darum. Die „Cosmical Navigation hat seit Jahren mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen, weil das Kosmodrom- und KosmonauticSystem der sozialistischen Staaten, das nicht auf sofortigen Gewinn ausgerichtet ist, ein starker Konkurrent für sie ist, der einen erhebliehen Teil des Warenumschlags übernimmt. Besonders auf den extraterrestrischen Hauptlinien. Das dürfte Ihnen bekannt sein.“

„Allerdings. Und ich wäre ganz und gar nicht böse, wenn die COSNAV pleite ginge. Denn da es einmal gelungen ist, die kosmische Exploration im Rahmen der UNO zu internationalisieren, könnte man mit der Raumschiffahrt ruhig dasselbe machen. So scheint es mir wenigstens.“

„Ich versichere Ihnen, daß auch ich das gerne möchte, schon wegen des Schreibtisches, hinter dem ich sitze.

Aber das ist Zukunftsmusik. Die Wirklichkeit sieht zunächst mal so aus, daß die COSNAV bereit ist, jede beliebige Menge dieser Nichtlinearen für ihre Fluglinien zu übernehmen — vorläufig nur für den Güterverkehr, weil sie befürchtet, daß breite Kreise den Einsatz der Automaten in der Zivilraumfahrt boykottieren könnten. Die Vorverhandlungen sind bereits im Gange.“

„Und die Presse schweigt?“

„Die Gespräche sind inoffiziell. Einige Blätter haben übrigens Meldungen darüber gebracht, aber die COSNAV hat sie dementiert. Formell gesehen, hat sie recht. Im übrigen ist das ein regelrechter Dschungel, Commander. Im Grunde genommen bewegen sie sich in einem Sektor, der weder durch die Gesetzgebung der einzelnen Länder noch durch die internationale, der UNO unterstehende Gesetzgebung genau erfaßt ist. Andererseits wird sich der Präsident im Hinblick auf das bevorstehende Ende seiner Amtszeit hüten, im Kongreß Gesetzesvorlagen einzubringen, die vom großen Intellektronikkapital gefordert werden — aus Furcht vor einer heftigen Gegenreaktion der Gewerkschaften. Und damit komme ich endlich zur Sache: Um eventuellen Vorbehalten der internationalen Presse, der Arbeiterbewegung, der Gewerkschaften und so weiter entgegenzuwirken, hat sich eine Reihe von Firmen dazu entschlossen, uns einige Halbprototypen zur Verfügung zu stellen, um ihre Eignung für die Bedienung von interplanetaren Raumschiffen untersuchen zu lassen.“

„Verzeihen Sie — „uns“? Was heißt das? Der UNO? Das mutet ein bißchen komisch an.“

„Nein, nicht direkt der UNO. „Uns“ heißt der UNESCO, der Institution, die sich mit Fragen der Wissenschaft, Kultur und Bildung befaßt…“

„Sie entschuldigen wohl, aber ich verstehe noch immer kein Wort. Was haben diese Automaten mit Bildung oder Wissenschaft zu tun?“

„Eine Invasion — den Begriff haben Sie selbst gebraucht —, eine Invasion dieser…, dieser Pseudomenschen vom Fließband dürfte doch Auswirkungen für die gesamte Menschheitskultur haben, in jeder Hinsicht. Ich meine nicht nur die rein ökonomischen Konsequenzen, die Gefahr der Massenarbeitslosigkeit und so weiter, sondern auch die psychologischen, sozialen und kulturellen Auswirkungen — im übrigen möchte ich, um die Sache zum Abschluß zu bringen, hinzufügen, daß wir das Angebot ohne große Begeisterung angenommen haben.

Ursprünglich wollte die Direktion sogar ablehnen. Die besagten Unternehmen spielten daraufhin einen weiteren Trumpf aus, indem sie betonten, daß die Nichtlinearen für die Bedienung von Raumschiffen ungleich größere Sicherheitsgarantien böten als menschliches Personal — weil sie ein schnelleres Reaktionsvermögen hätten sowie praktisch keinerlei Schlafbedürfnis oder Ermüdungserscheinungen. Außerdem seien sie immun gegen Krankheiten und verfügten über riesige Leistungsreserven, so daß sie selbst im Falle einer ernstlichen Beschädigung noch funktionierten. Darüber hinaus könnten sie, da sie weder Sauerstoff noch Nahrungsmittel benötigten, ihre Aufgaben sogar an Bord eines nicht mehr ganz hermetisch abgedichteten oder überhitzten Raumschiffs ausführen — und so weiter und so fort. Das sind durchaus sachliche Argumente, wie Sie sehen, zumal hierbei nicht der Profit irgendwelcher Privatfirmen im Vordergrund steht, sondern die Sicherheit von Schiffen und Fracht. Wer weiß, ob sich in diesem Fall nicht sogar die der UNO unterstellte Forschungsraumfahrt entschließen würde, zumindest zum Teil…“

„Ich verstehe. Aber das wäre ein gefährlicher Präzedenzfall. Darüber sind Sie sich doch wohl im klaren.“

„Wieso gefährlich?“

„Weil sich beinahe das gleiche auch über andere Funktionen und andere Berufe sagen läßt. Eines Tages werden womöglich auch Sie entlassen, und Ihren Platz nimmt eine Maschine ein.“

Das Gelächter des Direktors wirkte wenig überzeugend. Im übrigen wurde er sofort wieder ernst. „Ich bitte Sie… Lieber Commander, wir schweifen ab. Was sollte man Ihrer Meinung nach in der gegenwärtigen Situation tun? Die UNESCO hätte den Vorschlag dieser Herren ablehnen können, aber das hätte die Tatsachen nicht aus der Welt geschafft. Wenn die Automaten tatsächlich so gut sind, übernimmt die COSNAV früher oder später doch, und andere folgen ihr.“

„Und was ist damit gebessert, daß die UNESCO die Rolle des technischen Gütekontrolleurs für die Erzeugnisse dieser Firmen spielen will?“

„Aber, aber… Hier handelt es sich doch nicht um eine technische Kontrolle, Commander. Wir wollten — ich muß das jetzt einmal aussprechen —, wir wollten Ihnen einen Flug mit einer solchen Mannschaft antragen, die unter Ihrem Befehl stehen würde. Im Verlaufe dieser vierzehn Tage würden Sie sehen, was sie taugt. Ich unterstreiche das um so mehr, als es sich um verschiedene Modelle handelt, die sich voneinander unterscheiden.

Wir würden Sie bitten, uns nach der Rückkehr ein kompetentes, umfassendes, nach vielerlei Gesichtspunkten gegliedertes Gutachten vorzulegen, weil es hier einmal um berufliche, aber auch um andere, zum Beispiel psychologische Aspekte geht: Wie weit passen sich die Automaten dem Menschen an? Inwieweit entsprechen sie seinen Vorstellungen? Entsteht der Eindruck einer Suprematie, oder hat man im Gegenteil das Gefühl, daß sie dem Menschen unterlegen sind…? Unsere entsprechenden Stellen würden Ihnen sowohl das Material als auch die Fragebogen liefern, die von bedeutenden Wissenschaftlern, von Psychologen, erarbeitet wurden…“

„Und das wäre meine Aufgabe?“

„Ja. Sie brauchen mir nicht sofort eine Antwort zu geben. Soviel ich weiß, fliegen Sie zur Zeit nicht?“

„Ich habe sechs Wochen Urlaub.“

„Na bitte. Wenn Sie sich also, sagen wir, innerhalb von zwei Tagen entscheiden wollten?“

„Nur noch zwei Fragen. Welche Konsequenzen hätte mein Gutachten?“

„Es könnte entscheidend sein!“

„Für wen?“

„Für uns natürlich. Für die UNESCO. Ich bin überzeugt, daß Ihr Gutachten, wenn es zu einer Internationalisierung der Raumschiffahrt kommt, den legislatorischen Kommissionen der UNO als wichtiges Material dienen wird. Den Kommissionen, die…“

„Verzeihen Sie, aber das ist Zukunftsmusik, wie Sie es selbst genannt haben. Also für die UNESCO, sagen Sie? Aber die UNESCO ist doch keine Firma, kein Unternehmen — und sie beabsichtigt doch hoffentlich auch nicht, zum Werbebüro irgendwelcher Firmen zu werden?“

„Natürlich nicht, Commander. Wir veröffentlichen Ihren Bericht in der internationalen Presse. Falls die Ergebnisse negativ sind, hemmen sie ganz bestimmt den Fortgang der Verhandlungen zwischen der COSNAV und diesen Firmen.

Auf diese Weise tragen wir dazu bei, daß…“

„Ich bitte nochmals um Entschuldigung. Aber wenn die Ergebnisse positiv sind, dann hemmen wir nichts und leisten auch keinen Beitrag?“ Der Direktor räusperte sich, hustete. Schließlich lächelte er.

„Ich habe Ihnen gegenüber schon beinahe Schuldgefühle, Commander. Als ob ich ein schlechtes Gewissen hätte. Aber hat die UNESCO vielleicht diese nichtlinearen Automaten erfunden? Ist die Situation etwa durch unsere Arbeit heraufbeschworen worden? Wir bemühen uns objektiv, im Interesse aller vorzugehen…“

„Das eben gefällt mir nicht.“

„Sie können ja jederzeit ablehnen, Commander. Aber bitte denken Sie daran: Wenn wir genauso verführen, wäre das eine Pilatusgeste. Die eigenen Hände in Unschuld waschen, das ist das bequemste. Wir sind keine Weltregierung und können niemandem die Herstellung solcher oder anderer Maschinen verbieten. Das ist Sache der jeweiligen Regierungen, die es im übrigen versucht haben ich weiß, daß solche Projekte geplant waren, aber es ist nichts dabei herausgekommen! Und auch die Kirche hat nichts ausrichten können, und Sie kennen ja deren absolut negative Haltung in dieser Frage.“

„Ja. Mit einem Wort: Keinem gefällt es, und alle sehen zu, wie es gemacht wird.“

„Weil es keine gesetzliche Handhabe dagegen gibt.“

„Und die Konsequenzen? Diesen Firmen, Ihnen selbst, wird doch eines Tages der Boden unter den Füßen schwanken, wenn sie es zu einer Arbeitslosigkeit kommen lassen, die…“

„Diesmal muß ich Sie unterbrechen. Sicherlich ist an dem, was Sie da sagen, ein wahrer Kern. Wir befürchten das alle. Nichtsdestoweniger sind wir machtlos. Aber diese Machtlosigkeit ist nicht absolut. Wir können zum Beispiel dieses Experiment machen. Sie sind voreingenommen? Sehr gut! Gerade deshalb ist uns noch mehr an Ihnen gelegen! Wenn es überhaupt irgendwelche Vorbehalte gibt, dann werden Sie sie am überzeugendsten darlegen!“

„Ich werde mir die Sache durch den Kopf gehen lassen“, sagte Pirx und erhob sich.

„Sie sprachen vorhin von einer weiteren Frage…“

„Die haben Sie mir bereits beantwortet. Ich wollte wissen, warum die Wahl ausgerechnet auf mich gefallen ist.“

„Sie geben uns also Bescheid? Bitte rufen Sie binnen zwei Tagen an. Einverstanden?“

„Einverstanden“, sagte Pirx, nickte dem Mann zu und ging hinaus.

Die Sekretärin, eine platinfarbene Blondine, stand hinter ihrem Schreibtisch auf, als Pirx eintrat. „Guten Tag, ich…“

„Guten Tag. Ja, ich weiß Bescheid. Ich bringe Sie selbst hin.“

„Sind sie schon da?“

„Ja. Sie werden erwartet.“

Sie führte ihn einen langen, leeren Gang entlang. Ein kalter, steinerner Laut füllte den großen Raum, der mit künstlichem Granit ausgelegt war. Sie gingen an dunklen Türen mit Aluminiumziffern und Täfelchen vorbei.

Die Sekretärin war nervös. Ein paarmal schielte sie unter der gesenkten Stirn zu Pirx hinüber — nicht wie ein kokettes Mädchen, sondern wie ein verstörter Mensch. Als Pirx das bemerkte, tat sie ihm ein bißchen leid, und zugleich erschien es ihm, als habe er es mit einer völlig verrückten Angelegenheit zu tun. Die Frage, die er dann stellte, überraschte ihn selbst: „Haben Sie sie gesehen?“

„Ja. Einen Augenblick. Nur ganz flüchtig.“

„Und wie.. wie sind sie?“

„Sie haben sie noch nicht gesehen?“ Sie freute sich beinahe darüber. Sie benahm sich, als gehörten alle, die diese Wesen gut kannten, einer fremden, vielleicht sogar feindlichen Verschwörergruppe an, der man äußerstes Mißtrauen entgegenbringen mußte. „Es sind sechs. Einer hat mit mir gesprochen. Nichts Auffälliges, sage ich Ihnen. Absolut nichts. Wenn ich ihm auf der Straße begegnen würde, ich käme nie auf die Idee, daß… Aber als ich ihn dann von nahem sah — er hat so was in den Augen, und auch hier…“ Sie tippte an ihren Mund. „Und die anderen?“

„Die sind gar nicht hereingekommen, sie standen draußen auf dem Gang.“

Sie stiegen in den Lift, er schoß in die Höhe. An der Wand hüpften die kleinen goldfarbenen Lichtkörner übereinander, die die Stockwerke zählten. Das Mädchen stand Pirx gegenüber, und so konnte er gut das Ergebnis ihrer Mühe bewundern, die sie darauf verwandt hatte, mit Hilfe von Puder, Tusche und Schminke die letzten Spuren ihrer Individualität zu tilgen, um sich vorübergehend in das Ebenbild von Inda Lae zu verwandeln, oder wie der nach dem letzten Modeschrei zerzauste neue Stern der Saison auch immer heißen mochte. Als sie mit den Lidern klapperte, bangte er um ihre künstlichen Wimpern. „Roboter…!“ flüsterte sie im Brustton der Überzeugung und schüttelte sich, als hätte sie eine Natter berührt. In dem Zimmer im zehnten Stock saßen sechs Männer. Als Pirx eintrat, erhob sich einer, der sich hinter dem großen Bogen der „Herald Tribüne“ verbarg; er faltete die Zeitung zusammen und ging mit breitem Lächeln auf Pirx zu. Auch die anderen standen nun auf. Sie waren etwa gleich groß und erinnerten an Testpiloten in Zivil: breitschultrig, die gleichen sandfarbenen Anzüge, weißes Hemd mit bunter Fliege. Zwei waren blond, einer hatte feuerrote Haare, die anderen waren brünett, aber alle hatten helle Augen. Soviel stellte Pirx fest, bevor derjenige, der auf ihn zukam, ihm die Hand reichte, sie kräftig schüttelte und sagte: „McGuirr, mein Name. How do you do? Ich hatte schon mal das Vergnügen, mit einem Raumschiff zu fliegen, dessen Kapitän Sie waren, mit dem „Pollux“! Aber wahrscheinlich können Sie sich nicht mehr an mich erinnern…“

„Nein“, sagte Pirx. McGuirr wandte sich den Männern zu, die steif um den runden Tisch mit den Zeitschriften herumstanden.

„So, Jungs, das hier ist euer Boß, Commander Pirx. Und das hier ist Ihre Besatzung, Commander: John Calder, erster Pilot, Harry Brown, zweiter Pilot, Ingenieur Andy Thompson, Nukleoniker, der Elektroniker John Burton als Funker und Thomas Burns, Neurologe, Kybernetiker und Arzt in einer Person.“

Pirx gab ihnen der Reihe nach die Hand, dann setzten sich alle und rutschten mit ihren Metallstühlen, die sich unter ihrem Körpergewicht bogen, an den Tisch heran. Einige Sekunden lang herrschte Schweigen, das McGuirr schließlich mit seinem lärmenden Bariton brach. „Zunächst möchte ich Ihnen, Sir, im Namen der Direktionen von „Cybertronics“, „Inteltron“ und „Nortronics“ dafür danken, daß Sie unseren Bemühungen soviel Vertrauen entgegengebracht haben, indem Sie das Angebot der UNESCO annahmen. Um allen Mißverständnissen vorzubeugen, möchte ich gleich erklären, daß einige von den hier Anwesenden Vater und Mutter haben und einige nicht. Jeder weiß über seine eigene Abstammung Bescheid, aber er weiß nichts über die Abstammung der anderen. Ich wende mich an Sie mit der Bitte, sie freundlicherweise nicht danach zu fragen. Ansonsten haben Sie in jeder Hinsicht völlige Handlungsfreiheit. Die Jungs werden Ihre Befehle ganz bestimmt gewissenhaft befolgen und im dienstlichen und außerdienstlichen Kontakt Eigeninitiative und Offenheit walten lassen. Sie wurden jedoch dahingehend instruiert, daß jeder auf die Frage, wer er sei, dasselbe zu antworten hat: Ein ganz normaler Mensch! Ich sage das von vornherein, weil es keine Lüge ist, sondern die Notwendigkeit, die uns unser gemeinsames Interesse diktiert…“

„Ich kann sie also nicht danach fragen?“

„Sie können schon. Natürlich können Sie, doch dann werden Sie das unangenehme Gefühl haben, daß einige von ihnen nicht die Wahrheit sagen. Wozu also das Ganze? Sie werden immer dasselbe antworten, nämlich daß sie gewöhnliche Jungs sind, aber nicht in jedem Falle wird das der Wahrheit entsprechen.“

„Und in Ihrem Fall?“ fragte Pirx. Schlagartig brachen alle Versammelten in ein Gelächter aus. Am lautesten lachte McGuirr. „Oh! Sie sind ein Witzbold! Ich? Ich bin nur ein winziges Rädchen in der Maschinerie der „Nortronics“…“

Pirx, der den Mund nicht zu dem kleinsten Lächeln verzog, wartete, bis wieder Stille eintrat. „Haben Sie nicht auch den Eindruck, daß Sie mich zu hintergehen versuchen?“ fragte er dann. „Verzeihen Sie, wie meinen Sie das? Nichts dergleichen! Die Bedingungen sahen eine „neuartige Mannschaft“ vor-kein Wort von „gleichgearteter Mannschaft“, nicht wahr? Wir wollten ganz einfach den Faktor einer gewissen… hm… einer gewissen, rein psychologisch bedingten, irrationalen Voreingenommenheit ausschalten, müssen Sie wissen. Ist doch sonnenklar! Nicht wahr? Während des Fluges und danach werden Sie die Güte haben, gestützt auf den Verlauf der Reise, uns Ihr Urteil über die Leistungsfähigkeit jedes einzelnen Besatzungsmitgliedes vorzulegen.

Ein umfassendes Gutachten, an dem uns sehr viel gelegen ist. Wir unsererseits haben uns nur bemüht, Bedingungen zu schaffen, unter denen Sie mit größter Objektivität arbeiten können.“

„Der Herrgott mag es Ihnen danken!“ sagte Pirx. „Nichtsdestoweniger bin ich der Meinung, daß Sie mich hintergangen haben. Ich habe aber nicht vor, mich zurückzuziehen. “

„Bravo!“

„Ich möchte jetzt, gleich hier, noch ein paar Minuten mit meinen…“ — er zögerte den Bruchteil einer Sekunde —,

„mit meinen Leuten sprechen.“

„Sie wollen wahrscheinlich etwas über ihre Qualifikation erfahren. Wie dem auch sei, ich will Sie nicht daran hindern! Schießen Sie los! Bitte sehr.“ McGuirr angelte eine Zigarette aus seiner oberen Rocktasche und brannte sie an, nachdem er die Spitze abgeschnitten hatte, während fünf Augenpaare aufmerksam auf Pirx’ Gesicht geheftet waren. Die beiden Blonden, die Piloten, hatten eine gewisse Ähnlichkeit miteinander. Calder allerdings wirkte mehr wie ein Skandinavier, und seine gelockten Haare schienen stark von der Sonne gebleicht. Brown hingegen hatte richtiges Goldhaar und erinnerte ein wenig an einen Cherub aus dem Modejournal, doch dieses Übermaß an Schönheit wurde durch seine Kiefer und die ständig, gleichsam spöttisch verzerrten schmalen und farblosen Lippen wieder aufgehoben.

Eine weiße Narbe lief vom linken Mundwinkel über die ganze Wange. Daran blieb Pirx’ Blick hängen.

„Ausgezeichnet“, sagte er, als antwortete er mit einiger Verspätung auf McGuirrs Angebot, und in dem gleichen Ton, scheinbar ganz nebenbei, frage er: „Glauben Sie an Gott?“, während er den Mann mit der Narbe fester ins Auge faßte.

Browns Lippen bebten wie in einem unterdrückten Lachen oder vor Spott, und er zögerte mit der Antwort. Er sah aus, als hätte er sich eben erst rasiert und wäre dabei ein bißchen in Eile gewesen: Am Ohr standen noch ein paar Härchen, und auf den Wangen waren noch Spuren von Puder zu sehen, den er nicht gründlich genug abgewischt hatte.

„Das gehört nicht zu meinen Pflichten“, erwiderte er mit klangvoller, tiefer Stimme. McGuirr, der gerade an seiner Zigarre zog, erstarrte, unangenehm von Pirx’ Frage berührt, und blies heftig blinzelnd den Rauch aus, als wollte er sagen: Siehst du? Da beißt du aber auf Granit! „Mister Brown“, sagte Pirx noch immer in dem phlegmatischen Ton, „Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. “

„Entschuldigen Sie, Commander. Ich habe Ihnen gesagt, daß so etwas nicht zu meinen Pflichten gehört.“

„Was zu Ihren Pflichten gehört, entscheide ich als Ihr Vorgesetzter“, entgegnete Pirx. McGuirrs Miene drückte Bestürzung aus. Die anderen saßen reglos da und lauschten sichtlich gespannt diesem Wortwechsel, genau wie musterhafte Schüler.

„Wenn das ein Befehl ist“, erwiderte Brown, mit weichem, deutlich moduliertem Bariton, „dann kann ich nur erklären, daß ich mich mit diesem Problem noch nicht genügend befaßt habe.“

„Dann lassen Sie es sich bis morgen durch den Kopf gehen. Ich mache Ihre Anwesenheit an Bord davon abhängig.“

„Jawohl, Commander.“

Pirx wandte sich nun an Calder, den ersten Piloten. Ihre Augen begegneten sich. Die Iris des anderen war fast farblos, die großen Fenster des Raumes spiegelten sich darin.

„Sie sind Pilot?“

„Ja.“

„Welche Flugerfahrung?“

„Ich habe einen Kursus über doppelte Steuerung absolviert sowie zweihundertneunzig Einzelstunden im Raum auf kleiner Tonnage, zehn selbständige Landungen, davon vier auf dem Mond, zwei auf Mars und Venus.“ Pirx schien der Auskunft keine große Beachtung zu schenken.

„Burton“, wandte er sich an den nächsten, „Sie sind Elektroniker?“

„Ja.“

„Wieviel Röntgen können Sie aushalten?“ Die Lippen des anderen zitterten. Es war nicht einmal ein Lächeln, denn die Bewegung verschwand gleich wieder. „Vierhundert, denke ich“, sagte er. „Allerhöchstens. Aber danach müßte ich mich in Behandlung begeben.“

„Mehr als vierhundert nicht?“

„Ich weiß nicht, aber ich glaube nicht.“

„Woher stammen Sie?“

„Aus Arizena.“

„Sind Sie schon mal krank gewesen?“

„Nein. Jedenfalls nicht ernstlich.“

„Haben Sie gute Augen?“

„Ja.“

Pirx hörte eigentlich nicht auf das, was sie sagten; er achtete mehr auf den Klang der Stimme, auf ihr Timbre und ihre Tonlage, er beobachtete die Mimik, die Bewegung des Gesichts, der Lippen, und manchmal ergriff die törichte Hoffnung von ihm Besitz, dies alles sei ein einziger großer blöder Scherz, ein Hohn, und jemand wolle sich einen Spaß mit ihm erlauben, sich über seinen naiven Glauben an die Allmacht der Technologie lustig machen oder ihn vielleicht auf diese Weise dafür bestrafen, daß er so fest daran geglaubt hatte. Denn das waren ja ganz gewöhnliche Menschen. Die Sekretärin hatte gesponnen — was Voreingenommenheit doch ausmacht! Sie hatte sogar McGuirr für einen von denen gehalten… Das Gespräch war bis dahin unverfänglich geblieben, abgesehen von dem nicht gerade gescheiten Einfall mit dem lieben Gott. Das war ganz sicher nicht gescheit, eher geschmacklos und primitiv. Pirx spürte das sehr genau, und er kam sich sehr beschränkt vor, bis zum Stumpfsinn beschränkt, und nur deshalb hatte er wohl überhaupt eingewilligt… Sie sahen ihn an wie vorher, nur der rothaarige Thompson und die beiden Piloten hatten eine übertrieben gleichgültige Miene aufgesetzt, als wollten sie ihm nicht zu erkennen geben, daß sie seine primitive Seele bis auf den Grund durchschaut hatten, diese Seele eines Routiniers, der nun völlig aus dem ihm bekannten, begreiflichen und deshalb sicheren Konzept geraten war. Er hätte gern weitere Fragen gestellt, besonders als er feststellte, daß sich das Schweigen allmählich gegen ihn zu richten begann und seine Ratlosigkeit offenbarte, aber ihm fiel beim besten Willen nichts mehr ein. Nicht mehr der gesunde Menschenverstand, sondern nur noch die pure Verzweiflung gab ihm ein, etwas zu tun, was völlig aus dem Rahmen fiel, etwas durch und durch Verrücktes — aber er wußte genau, daß er nichts dergleichen machen würde. Er fühlte, daß er sich blamiert hatte und daß es besser gewesen wäre, auf diese Begegnung zu verzichten. Er blickte zu McGuirr und fragte: „Wann kann ich an Bord gehen?“

„Oh, jederzeit. Heute noch.“

„Was wird mit der sanitären Kontrolle?“

„Darüber machen Sie sich keine Gedanken. Alles erledigt. “

Der Ingenieur beantwortete seine Fragen fast herablassend, so schien es ihm wenigstens. Ich bin kein guter Verlierer, dachte er. Und laut erklärte er: „Das wär’s fürs erste. Außer Brown dürfen sich alle als Mitglieder der Besatzung betrachten. Brown wird die Freundlichkeit haben, mir morgen Antwort zu geben. Haben Sie die Papiere bei sich, die zu unterschreiben sind, McGuirr?“

„Ja, aber nicht hier. Sie sind in der Direktion. Gehen wir hin?“

„Na schön.“

Pirx erhob sich. Die anderen taten es ihm nach. „Auf Wiedersehen.“ Er nickte ihnen zu und verließ als erster den Raum. Der Ingenieur holte ihn vor dem Fahrstuhl ein.

„Sie haben uns unterschätzt, Commander…“ Er hatte seine gute Laune wiedergefunden. „Wie soll ich das verstehen?“

Der Lift fuhr an. Der Ingenieur hob behutsam die Zigarre an die Lippen, um nicht den grauen Aschekegel zu verlieren. „Unsere Jungs sind nicht so leicht zu unterscheiden. Ich meine, von den… normalen.“ Pirx zuckte die Achseln. „Wenn sie aus demselben Stoff sind wie ich“, sagte er, „dann sind es Menschen. Ob sie nun durch künstliche Befruchtung im Reagenzglas entstanden sind oder auf übliche Art und Weise, das interessiert mich nicht im geringsten.“

„Sie sind aber nicht aus demselben Stoff gemacht!“

„Und aus was für welchem dann?“

„Entschuldigen Sie, aber das ist das Produktionsgeheimnis.“

„Und wer sind Sie?“

Der Lift hielt. Der Ingenieur stieß die Tür auf, doch Pirx wartete auf eine Antwort und rührte sich nicht vom Fleck. „Geht es Ihnen um die Frage, ob ich der Projektant bin? Nein, der bin ich nicht. Ich bin für Public relations zuständig.“

„Und Sie sind kompetent, mir einige Fragen zu beantworten?“

„Natürlich, aber doch nicht hier.“ Dieselbe Sekretärin führte sie in einen großen Konferenzraum. Hinter einem langen Tisch standen wohl abgezirkelt zwei Sesselreihen. Sie setzten sich ans Tischende, wo auch die Mappe mit den Verträgen aufgeschlagen bereitlag.

„Nun, ich höre“, sagte McGuirr. Die Asche war ihm auf die Hosen gefallen, er blies sie weg. Pirx bemerkte, daß der Ingenieur blutunterlaufene Augen und ein auffallend regelmäßiges Gebiß hatte. Ein künstliches, dachte er. Er macht sich jünger, als er ist.

„Verhalten sich diejenigen, die keine Menschen sind, genauso wie Menschen? Nehmen sie Mahlzeiten ein?

Trinken sie?“

„Ja.“

„Wozu?“

„Damit die Illusion vollkommen ist. Für die Umgebung, versteht sich.“

„Sie müssen das also auch wieder… loswerden?“

„Aber ja.“

„Und ihr Blut?“

„Wie bitte?“

„Ob sie Blut haben. Ein Herz. Bluten sie bei Verletzungen?“

„Sie haben eine Blut- und Herzattrappe“, sagte McGuirr, der seine Worte mit äußerstem Bedacht wählte. „Was heißt das?“

„Daß nur ein guter Facharzt nach einer umfassenden Untersuchung herausfinden könnte…“

„Ich nicht?“

„Nein. Es sei denn, Sie wenden irgendwelche Spezialge — räte an.“

„Zum Beispiel Röntgen.“

„Sehr scharfsinnig. Aber so was werden Sie nicht an Bord haben!“

„Das hat kein Fachmann ausgeknobelt“, sagte Pirx ruhig. „Aus dem Reaktor kann ich so viele Isotope kriegen, wie ich will. Na, und außerdem muß ich Defectionskopieapparate an Bord haben. Einen Röntgenapparat brauche ich gar nicht.“

„Wir haben diesen Apparaturen gegenüber keinerlei Vorbehalte, sofern Sie sich verpflichten, sie nicht zu anderen Zwecken zu benutzen.“

„Und wenn ich nicht einwillige?“

McGuirr seufzte, und während er seine Zigarre im Aschenbecher ausdrückte, als empfände er plötzlich Ekel davor, sagte er: „Sie erschweren uns die Sache, wie Sie nur können, Commander!“

„Das stimmt!“, erwiderte Pirx herzlich. „Sie bluten also?“

„Ja.“

„Und es ist richtiges Blut? Auch unter dem Mikroskop?“

„Ja, es ist Blut.“

„Wie habt ihr denn das gemacht?“

„Toll, nicht wahr?“ McGuirr grinste breit. „Ich kann es Ihnen nur sehr allgemein erklären: das Schwammprinzip. Ein Spezialschwamm unter der Haut.“

„Ist es menschliches Blut?“

„Ja.“

„Wozu?“

„Ganz bestimmt nicht, um Sie reinzulegen. Bitte begreifen Sie endlich — diese ganze Produktion, die Milliarden von Dollars verschlingt, wurde doch nicht Ihretwegen ange kurbelt! Sie müssen so aussehen und müssen so sein, damit es den Fluggästen oder anderen Leuten unter gar keinen Umständen in den Sinn kommt, Verdacht zu schöpfen…“

„Es geht also darum, einen Boykott Ihrer „Erzeugnisse“ zu vermeiden?“

„Darum auch. Aber auch um den Komfort, um den psychologischen Vorteil…“

„Und Sie — können Sie sie auseinanderhalten?“

„Nur, weil ich sie kenne. Nun… es gibt schon Methoden…

gewaltsame… Aber Sie werden ja nicht zur Axt greifen!“

„Und Sie sagen mir nicht, worin sie sich physiologisch von den Menschen unterscheiden? Atem, Husten, Erröten…„

„Ach, das ist alles da. Es gibt Unterschiede, gewiß, aber wie gesagt: Erst ein Arzt würde sie erkennen.“

„Und in psychischer Hinsicht?“

„Das Gehirn haben sie im Kopf! Das ist unser größter Triumph!“ rief McGuirr mit echtem Stolz. „Inteltron hat es bisher immer im Rumpf installiert, weil es zu groß war. Wir dagegen haben es als erste im Kopf untergebracht!“

„Sagen wir als zweite. Die erste war Mutter Natur…“

„Haha! Na schön, als zweite. Aber die Details sind geheim. Es ist ein monokristallines Multistat mit sechzehn Milliarden Zweierelementen!“

„Ist das, wozu sie fähig sind, ebenfalls geheim?“

„Was meinen Sie damit?“

„Zum Beispiel, ob sie lügen können und in welchem Umfang sie lügen können… Ob sie die Selbstbeherrschung, also auch die Beherrschung über die Situation verlieren…“

„Freilich. Das ist alles möglich.“

„Weshalb?“

„Weil es unumgänglich ist. Alle — bildlich gesprochen —, alle Hemmungen, die in das Neuronennetz oder in das kristalline Netz eingeführt wurden, sind relativ, sind zu überwältigen. Ich sage Ihnen das, weil Sie die Wahrheit wissen sollen. Wenn Sie ein wenig in der einschlägigen Literatur bewandert sind, dürfte Ihnen ja im übrigen folgendes bekannt sein: Ein Roboter, der dem Menschen geistig ebenbürtig ist und zugleich unfähig, zu lügen oder zu betrügen — so etwas ist reine Fiktion. Man kann entweder nur vollwertige Äquivalente herstellen oder Marionetten. Einen dritten Weg gibt es nicht.“

„Ein Wesen, das zu bestimmten Handlungen befähigt ist, muß auch zu anderen Handlungen befähigt sein, ja?“

„Ja. Natürlich ist das nicht sehr einträglich. Vorläufig jedenfalls nicht. Die psychische Universalität ist unsagbar kostspielig, ganz zu schweigen von der äußeren Menschenähnlichkeit. Von den Modellen, die Sie bekommen, existieren nur sehr wenige Exemplare — ihre Produktion ist unrentabel. Die Kosten eines einzigen solchen Modells übersteigen die eines Überschallbombers!“

„Was Sie nicht sagen!“

„Natürlich einschließlich der Kosten für die Forschung, die der Konstruktion vorausgeht. Wir werden diese Automaten vielleicht eines Tages vom Fließband in den Handel bringen. Und sicherlich werden wir sie auch noch vervollkommnen, obwohl es schon beinahe so aussieht, als ob das nicht mehr möglich wäre. Wir geben Ihnen das Beste, was wir haben. Der Verlust der Selbstbeherrschung oder irgendein anderes psychisches Versagen ist also im Grunde weniger wahrscheinlich als beim Menschen in derselben Situation.“

„Sind solche Versuche gemacht worden?“

„Natürlich!“

„Mit Menschen als Vergleichspersonen?“

„Solche hat es auch gegeben.“

„Katastrophensituationen? Mit Todesgefahr?“

„Genau.“

„Und die Ergebnisse?“

„Menschen versagen eher.“

„Und wie steht’s mit ihrer Aggressivität?“

„Meinen Sie ihr Verhältnis zum Menschen?“

„Nicht nur.“

„Da können Sie ganz beruhigt sein. Sie haben besondere Inhibitoren eingebaut, sogenannte Rückentladungssysteme, die die Aggressionspotentiale amortisieren.“

„In jedem Fall?“

„Nein, das ist unmöglich. Das Gehirn ist ein probabilistisches System, auch unseres. Man kann darin die Wahrscheinlichkeit bestimmter Zustände erhöhen, aber hundertprozentige Sicherheit gibt es dabei nicht.

Trotzdem auch in dieser Hinsicht übertreffen sie den Menschen!“

„Und was passiert, wenn ich versuche, einem den Schädel einzuschlagen?“

„Er wird sich verteidigen.“

„Wird er versuchen, mich zu töten?“

„Nein, er beschränkt sich auf die Verteidigung.“

„Und wenn die einzige Möglichkeit der Verteidigung der Angriff ist?“

„Dann greift er Sie an.“

„Geben Sie die Verträge her“, sagte Pirx. Die Feder quietschte in der Stille. Der Ingenieur faltete die Formulare zusammen und steckte sie in die Mappe. „Kehren Sie in die Staaten zurück?“

„Ja, morgen.“

„Dann bestellen Sie Ihren Vorgesetzten, daß ich nichts unversucht lassen werde, um alles Schlechte aus ihnen herauszuquetschen“, sagte Pirx.

„Klare Sache! Damit rechnen wir ja gerade! Denn sogar darin sind sie noch besser als der Mensch! Nur…“

„Sie wollten noch etwas sagen?“

„Sie sind ein mutiger Mann. Aber in Ihrem eigenen Interesse rate ich Ihnen zur Vorsicht.“

„Weil sie mir eins auswischen könnten?“

„Nein. Damit Sie’s hinterher nicht noch selber ausbaden müssen, denn zuerst, viel eher sogar, „steigen“ die Menschen „aus“. Die normalen, braven, guten Jungs. Sie verstehen?“

„Ja“, erwiderte Pirx. „Es ist Zeit für mich. Ich muß noch heute das Schiff übernehmen.“

„Ich habe einen Hubschrauber auf dem Dach“, sagte McGuirr und erhob sich. „Soll ich Sie irgendwo absetzen?“

„Nein, danke sehr. Ich fahre mit der Metro. Ich mag kein unnötiges Risiko, wissen Sie… Bestellen Sie also Ihren Vorgesetzten, was für schwarze Pläne ich habe?“

„Wenn Sie es wünschen.“ McGuirr suchte in seiner Tasche nach der nächsten Zigarre. „Ich muß allerdings sagen, daß Sie sich recht merkwürdig betragen. Was wollen Sie eigentlich von ihnen? Es sind keine Menschen, das behauptet ja niemand. Es sind hervorragende Fachleute, und dabei grundanständig! Glauben Sie mir! Sie tun für Sie alles!“

„Ich werde mir Mühe geben, daß sie noch mehr tun“, erwiderte Pirx.

Pirx schenkte Brown den lieben Gott tatsächlich nicht, rief tags darauf bei ihm an. In der UNESCO gab man ihm die Nummer, über die er seinen „nichtlinearen Piloten“ erreichen konnte. Er erkannte sogar seine Stimme wieder, als er gewählt hatte.

„Ich habe auf Ihren Anruf gewartet“, sagte Brown. „Nun, und wie haben Sie sich entschieden?“ fragte Pirx.

Dabei war ihm merkwürdig schwer ums Herz. Beim Unterschreiben der Papiere für McGuirr hatte er sich in seiner Haut wesentlich wohler gefühlt. Damals hatte er das Gefühl gehabt, daß er das Ding schon schaukeln würde. Jetzt war er sich seiner Sache nicht mehr ganz so sicher. „Ich hatte wenig Zeit“, erwiderte Brown mit seiner eintönigen, aber angenehmen Stimme. „Deshalb kann ich nur soviel sagen: Man hat mich gelehrt, an alle Dinge probabilistisch heranzugehen. Ich rechne mir die Chancen aus und handele danach. In diesem Falle bin ich zu neunundneunzig Prozent für nein, vielleicht auch zu neunundneunzig Komma neunundneunzig Prozent, aber zu null Komma null eins Prozent für ja.“

„Daß es ihn gibt?“

„Ja.“

„Schön. Sie können sich mit den anderen melden. Auf Wiedersehen.“

„Auf Wiedersehen“, entgegnete der weiche Bariton, und der Hörer fiel klirrend auf die Gabel. Als Pirx zum Raketenhafen fuhr, fiel ihm dieses Gespräch wieder ein, er wußte selbst nicht, warum. Irgend jemand hatte bereits alle Formalitäten in der Hafenleitung erledigt — vielleicht die UNESCO, vielleicht auch die Firmen, die ihm die Mannschaft „geliefert“ hatten. Jedenfalls gab es keine normale sanitäre Kontrolle, niemand verlangte die Papiere seiner „Leute“, und der Start war auf zwei Uhr fünfundvierzig festgelegt, das heißt auf eine Zeit, da der geringste Verkehr herrschte. Die drei großen Satellitensonden für den „Saturn“ befanden sich bereits in den Luks. Der „Goliath“ war ein Raumschiff mittlerer Tonnage mit hohem Automatisierungsgrad. Er war nicht allzu groß —knapp sechstausend Tonnen Ruhemasse —, aber hatte erst vor zwei Jahren die Werft verlassen und besaß einen großartigen Reaktor für schnelle Neutronen, bar jeglicher thermischer Schwankungen, der buchstäblich ganze zehn Kubikmeter Raum beanspruchte, also so gut wie gar nichts. Seine Nominalleistung betrug fünfundvierzig Millionen PS mit einer Spitze von siebzig Millionen bei kurzzeitiger Beschleunigung.

Pirx hatte keine Ahnung, was in Paris mit seinen „Leuten“ passiert war — ob sie in einem Hotel abgestiegen waren, ob eine Firma eine Wohnung für sie gemietet hatte, ja, er verfiel sogar auf den ebenso grotesken wie makabren Gedanken, Ingenieur McGuirr habe sie für diese zwei Tage „ausgeschaltet“ und in ihre Kisten zurückgelegt. Er wußte nicht einmal, wie sie zum Hafen gekommen waren.

Sie warteten in einem Sonderraum der Hafenleitung, und alle hatten Koffer bei sich, irgendwelche Bündel und kleine Reisetaschen, an denen ihre Namensschilder baumelten. Unwillkürlich fielen Pirx bei diesem Anblick allerlei idiotische Witze ein: Vielleicht hatten sie Schraubenschlüssel, Toilettenölkännchen und so weiter in ihrem Gepäck. Aber als er, nachdem er sie begrüßt hatte, die Zulassungen und Papiere abgab, die für die Starterlaubnis benötigt wurden, war ihm ganz und gar nicht zum Lachen zumute. Dann traten sie, zwei Stunden vor der anberaumten Startzeit, auf den von einem einzigen Scheinwerfer beleuchteten Startplatz hinaus und gingen im Gänsemarsch auf den schneeweißen „Goliath“ zu. Er erinnerte ein wenig an einen riesigen, frisch ausgepackten Zuckerhut.

Der Start war kein Problem. Mit dem „Goliath“ konnte man beinahe ohne jede Hilfe starten, man brauchte nur die Programme aller automatischen und halbautomatischen Apparaturen einzustellen. Es war noch keine halbe Stunde vergangen, und sie hatten bereits die nächtliche Halbkugel der Erde mit dem Phosphorgesprenkel der Städte unter sich gelassen. Pirx schaute hinunter, denn obwohl er die Atmosphäre, die von der aufgehenden Sonne mit ihren Strahlen „gegen den Strich gekämmt wurde“, mehr als einmal aus der Raumperspektive gesehen hatte, war er dieses großartigen Schauspiels, jener riesigen glühenden Regenbogensichel, durchaus noch nicht überdrüssig geworden. Nachdem sie ein paar Minuten später den letzten Navigationssatelliten hinter sich gelassen hatten, umtost vom Prasseln und Pfeifen der Signale, von denen die Informationsapparate förmlich überquollen (die „Elektronenbürokratie des Kosmos“, wie Pirx sie nannte), jagten sie über die Ekliptik hinaus.

Pirx trug dem ersten Piloten auf, an der Steuerung zu bleiben, und begab sich in seine Kajüte. Es waren noch keine zehn Minuten vergangen, als er es klopfen hörte. „Herein!“

Es war Brown. Er schloß sorgfältig die Tür hinter sich, trat auf Pirx zu, der auf seiner Koje saß, und sagte mit unterdrückter Stimme: „Ich wollte mit Ihnen sprechen.“

„Bitte sehr. Setzen Sie sich.“

Brown ließ sich auf einem Stuhl nieder, aber er rückte ihn näher heran; der Abstand zwischen ihnen schien ihm noch zu groß zu sein. Er schwieg eine Weile, den Blick gesenkt, schaute Pirx dann plötzlich gerade ins Gesicht und begann: „Ich möchte Ihnen etwas anvertrauen. Aber ich muß Sie um Diskretion bitten. Um Ihr Versprechen, daß Sie es niemandem weitersagen werden.“ Pirx hob die Brauen.

„Ein Geheimnis?“ Er überlegte ein paar Sekunden lang. „Einverstanden, ich werde es niemandem sagen“, versprach er schließlich. „Ich höre.“

„Ich bin ein Mensch“, sagte der andere und stockte, während er Pirx in die Augen sah, als wollte er die Wirkung seiner Worte prüfen. Aber Pirx saß reglos da, die Lider halb geschlossen, den Kopf gegen die mit weißer Schaumplastfolie bespannte Wand gelehnt. „Ich verrate Ihnen das, weil ich Ihnen helfen will“, begann der andere wieder, als hätte er sich alles sorgsam zurechtgelegt. „Als ich mich bewarb, wußte ich noch nicht, worum es sich handelte. Solche wie mich gab es sicherlich viele, aber wir wurden einzeln angenommen, damit wir uns nicht kennenlernen, ja nicht einmal sehen konnten. Wofür ich eigentlich vorgesehen war, erfuhr ich erst, als ich definitiv ausgewählt worden war, nach allen Flügen, Versuchen und Tests. Ich mußte mich damals verpflichten, alles für mich zu behalten. Ich habe ein Mädel, wir wollen heiraten, aber wir haben finanzielle Schwierigkeiten — und die Sache kam mir sehr zupasse, weil sie einem sofort achttausend bar auf die Hand gaben. Nach der Rückkehr von diesem Flug soll ich noch mal die gleiche Summe bekommen, unabhängig von dem Ergebnis. Ich sag’s Ihnen, wie’s war. Sie sollen nämlich wissen, daß Sie sich in dieser Sache auf mich verlassen können. Im ersten Augenblick war ich mir, ehrlich gesagt, nicht darüber im klaren, um welchen Einsatz hier gespielt wird.

Ein merkwürdiges Experiment, nichts weiter, so dachte ich anfangs. Doch dann gefiel mir die Geschichte immer weniger. Im Grunde ist es ja eine Frage der elementaren Solidarität zwischen den Menschen. Soll ich entgegen ihren Interessen schweigen? Ich kam zu der Überzeugung, daß ich das nicht darf. Sind Sie nicht auch der Ansicht?“

Pirx antwortete nicht, und so fuhr der andere, allerdings schon etwas kleinlauter, fort: „Ich kenne keinen von den vieren. Wir wurden die ganze Zeit über getrennt gehalten. Jeder hatte sein eigenes Zimmer, sein eigenes Bad, seinen eigenen Gymnastikraum, nicht einmal zu den Mahlzeiten kamen wir miteinander in Berührung, erst direkt vor der Abreise nach Europa durften wir ein paar Tage gemeinsam essen. Deshalb kann ich Ihnen nicht sagen, wer von denen da ein Mensch ist und wer nicht. Ich weiß nichts Bestimmtes. Ich vermute aber…“

„Moment mal“, unterbrach ihn Pirx. „Und warum haben Sie mir auf die Frage, ob Sie an Gott glauben, geantwortet, es sei nicht Ihre Pflicht, sich damit zu beschäftigen?“ Brown setzte sich auf seinem Stuhl zurecht, bewegte den Fuß, blickte auf seine Schuhspitze, mit der er Kreise auf dem Fußboden zog, und erwiderte leise: „Weil ich eigentlich schon damals entschlossen war, Ihnen alles zu beichten, und Sie wissen ja, wie das ist: Die Mütze auf dem Kopf des Diebes brennt. Ich hatte Angst, daß McGuirr etwas von meinem Entschluß merken könnte. Und als Sie mich dann fragten, gab ich diese Antwort, damit er den Eindruck hatte, daß ich nicht die Absicht hatte, das Geheimnis auszuplaudern oder Ihnen auch nur auf die Sprünge zu helfen.“

„Sie haben also wegen McGuirr so geantwortet?“

„Ja.“

„Und glauben Sie nun an Gott?“

„Ja.“

„Und Sie dachten, ein Roboter könne nicht an ihn glauben?“

„Stimmt.“

„Und daß man, wenn Sie meine Frage bejaht hätten, leichter erraten könnte, wer Sie sind?“

„Ja, genauso war es.“

„Aber ein Roboter kann doch auch an Gott glauben“, bemerkte Pirx nach einer Sekunde ganz nebenbei, so daß Brown die Augen weit aufriß. „Was sagen Sie da?“

„Halten Sie das nicht für möglich?“

„Das wäre mir nie in den Sinn gekommen…“

„Lassen wir das. Es ist, zumindest im Augenblick, ohne Belang. Sie sprachen von irgendwelchen Vermutungen…“

„Ja, mir scheint, daß dieser Dunkelhaarige, dieser Burns, kein Mensch ist.“

„Und warum scheint Ihnen das?“

„Das sind Kleinigkeiten, die schwer zu fassen sind, die aber in der Summe doch zählen. Erstens: Er bewegt sich beim Sitzen oder Stehen überhaupt nicht — wie eine Statue. Und Sie wissen ja, daß kein Mensch es lange in derselben Position aushält. Wenn es unbequem wird, schläft einem das Bein ein — der Mensch ändert unwillkürlich die Körperhaltung, bewegt sich, faßt sich mal ins Gesicht, aber der da erstarrt regelrecht.“

„Immer?“

„Nein. Eben nicht, und das finde ich besonders bemerkenswert.“

„Wieso?“

„Ich glaube, er macht diese kleinen, scheinbar unwillkürlichen Bewegungen nur, wenn er gerade daran denkt.

Sobald er es vergißt, erstarrt er. Bei uns ist es doch aber genau umgekehrt: Wir müssen uns anstrengen, um eine Zeitlang unbeweglich zu bleiben.“

„Da ist was dran. Und weiter?“

„Er ißt alles.“

„Wie — „alles“?“

„Alles, was wir vorgesetzt bekommen. Es ist ihm völlig einerlei. Ich habe das schon mehrmals beobachtet, auch während der Reise, als wir über den Atlantik flogen. Und schon in den Staaten, und im Flughafenrestaurant — er ißt absolut alles, gleichgültig, was ihm vorgesetzt wird, und bei den Menschen ist es doch anders. Jeder hat doch irgendeine Lieblingsspeise oder auch etwas, was er vielleicht nicht so mag.“

„Das beweist gar nichts.“

„Ganz gewiß nicht. Aber zusammen mit dem anderen, wissen Sie… Außerdem ist da noch eine Sache, die mir zu denken gibt.“

„Nun?“

„Er schreibt keine Briefe. Darin bin ich mir nicht hundertprozentig sicher, aber ich habe zum Beispiel selbst gesehen, wie Burton im Hotel einen Brief einsteckte.“

„Und dürft ihr Briefe schreiben?“

„Nein.“

„Wie ich sehe, befolgt ihr die Vertragsbestimmungen sehr gewissenhaft“, brummte Pirx. Er reckte sich auf seiner Koje, ging mit dem Gesicht ganz dicht an Brown heran und fragte: „Warum haben Sie Ihr Wort gebrochen?“

„Was? Was sagen Sie da, Commander?“

„Sie haben doch Ihr Wort gegeben, daß Sie Ihre Identität geheimhalten werden!“

„Na ja, das schon. Ich bin aber der Meinung, daß Situationen eintreten können, in denen der Mensch nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht hat, sein Wort zu brechen.“

„Zum Beispiel?“

„Das hier ist so eine Situation. Die nehmen ein paar Metallpuppen, überkleben sie mit Plastfolie, malen sie rosa an, mischen sie wie falsche Karten unter Menschen und wollen damit ein Bombengeschäft machen. Ich glaube, jeder ehrliche Mensch hätte so gehandelt wie ich — ist denn noch niemand damit zu Ihnen gekommen?“

„Nein.

Sie sind der erste. Aber wir sind ja gerade erst gestartet…“, erwiderte Pirx, und obwohl er dies ganz gleichgültig dahinsagte, entbehrten seine Worte nicht der Ironie. Brown ließ sich aber nichts anmerken, selbst wenn er etwas gespürt haben sollte. „Ich werde mich bemühen, Ihnen auch weiterhin wäh rend des ganzen Fluges behilflich zu sein. Ich werde alles tun, was Sie für angebracht halten!“

„Wozu?“

Brown zuckte mit den puppenhaften Wimpern. „Wozu? Damit Sie die Menschen leichter von den Nichtmenschen unterscheiden können…“

„Sie haben die achttausend Dollar genommen, Brown.“

„Ja. Na und? Ich bin als Pilot engagiert worden, und ich bin Pilot. Und keiner von den schlechtesten.“

„Nach unserer Rückkehr nehmen Sie weitere achttausend in Empfang, für die paar Wochen. Für so einen Flug kriegt niemand sechzehntausend Dollar, weder ein Pilot der ersten Kosmodromklasse noch ein Lotse, noch ein Navigator. Niemand. Sie haben das Geld also für Ihr Schweigen bekommen. Nicht nur mir gegenüber. Allen gegenüber — und seien es Konkurrenten dieser Firmen.

Man wollte Sie gegen jede Versuchung immun machen.“ Der andere starrte ihn an, Bestürzung auf dem hübschen Gesicht. „Sie verübeln es mir wohl noch, daß ich von selbst zu Ihnen gekommen bin und mich zu erkennen gegeben habe?“

„Ich verübele Ihnen gar nichts. Sie haben gehandelt, wie Sie es für richtig hielten. Was haben Sie für einen IQ?“

„Mein Intelligenzquotient? Hundertzwanzig.“

„Das genügt, um in verschiedenen grundlegenden Dingen Bescheid zu wissen. Nun sagen Sie mir aber bloß mal, was ich mit Ihren Vermutungen über Burns eigentlich anfangen soll?“ Der junge Pilot stand auf.

„Entschuldigen Sie, Commander. Wenn das so ist, war das Ganze ein Mißverständnis. Ich habe es gut gemeint.

Aber wenn Sie der Ansicht sind, daß ich… Kurz, bitte vergessen Sie’s, und denken Sie nur daran…“ Als er Pirx schmunzeln sah, sprach er nicht zu Ende. „Setzen Sie sich! Na los, setzen Sie sich schon!“ Brown setzte sich. „Was wollten Sie da eben sagen? Woran soll ich denken? Daran, daß ich versprochen habe, niemandem von unserem Gespräch zu erzählen? Nicht wahr? Denn wenn ich nun auf einmal auch der Auffassung wäre, ich könnte es weitererzählen? Still! Den Kommandanten unterbricht man nicht. Sehen Sie, so einfach ist die Sache denn doch nicht. Sie sind voller Vertrauen zu mir gekommen, und dieses Vertrauen weiß ich zu schätzen. Aber Vertrauen ist eine Sache, Vernunft eine andere. Nehmen wir mal an, daß ich nun durch Sie mit Sicherheit weiß, wer Sie sind und wer Burns ist. Was habe ich davon?“

„Das… das ist jetzt Ihre Sache. Sie sollen doch nach diesem Flug eine Einschätzung über unsere Eignung abgeben.“

„Ja, eben! Über die Eignung jedes einzelnen. Sie bilden sich doch wohl nicht ein, daß ich die Unwahrheit schreiben werde, Brown? Daß ich denen einfach, bloß weil sie keine Menschen sind, die Minuspunkte aufhalsen werde.“

„Das geht mich nichts mehr an…“, begann der Pilot steif und rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

Pirx warf ihm einen niederschmetternden Blick zu, so daß er sofort verstummte.

„Bitte spielen Sie mir hier nicht den Einfältigen, der nicht bis drei zählen kann. Falls Sie ein Mensch sind und sich mit den Menschen solidarisieren wollen, dann müssen Sie versuchen, den ganzen Fall selbst zu beurteilen und die eigene Verantwortung zu erkennen…“

„Wie? Falls ich einer bin?“ Brown fuhr zusammen. „Sie glauben mir nicht? Dann… dann denken Sie…“

„Ach, woher! Das ist mir nur so herausgerutscht“, wehrte Pirx rasch ab. „Ich glaube Ihnen. Natürlich glaube ich Ihnen. Und da Sie sich einmal zu erkennen gegeben haben und ich nicht die Absicht habe, das vom moralischen Standpunkt aus oder wie auch immer zu bewerten, bitte ich Sie, weiterhin in außerdienstlichem Kontakt mit mir zu bleiben und mich von allem zu unterrichten, was Ihnen auffällt.“

„Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr“, sagte Brown und seufzte unwillkürlich. „Erst putzen Sie mich herunter und dann…“

„Das sind zwei verschiedene Dinge, Brown. Da Sie mir nun einmal gesagt haben, was Sie mir nicht sagen sollten, wäre es absolut sinnlos, jetzt einen Rückzieher zu machen. Das mit dem Geld ist natürlich etwas anderes.

Vielleicht mußten Sie es mir wirklich sagen. Aber ich an Ihrer Stelle hätte das Geld nicht genommen…“

„Was?

Aber… aber, Commander…“ Brown suchte eine Weile verzweifelt nach Argumenten. „Die hätten doch sofort gemerkt, daß ich den Vertrag brechen will! Die hätten mich womöglich noch vor Gericht gestellt…“

„Das ist Ihre Sache. Ich sage ja gar nicht, daß Sie das Geld zurückgeben sollen. Ich habe Ihnen Diskretion versprochen, und ich denke nicht im Traum daran, mich da einzumischen. Ich habe Ihnen nur ganz privat und völlig unverbindlich gesagt, was ich an Ihrer Stelle getan hätte, aber Sie sind nicht ich, und ich bin nicht Sie, und damit Schluß. Sonst noch was?“

Brown schüttelte den Kopf, machte den Mund auf und zu, zuckte die Achseln, wobei er etwas mehr als nur Enttäuschung über den Verlauf des Gesprächs zum Ausdruck brachte, doch er sagte nichts mehr und ging, wobei er unwillkürlich noch einmal Haltung annahm. Pirx atmete auf. Dieses „falls Sie ein Mensch sind“ hätte ich mir schenken können, dachte er mißmutig. Was für ein Teufelsspiel! Was mit diesem Brown los ist, mögen die Götter wissen. Entweder er ist wirklich ein Mensch, oder das Ganze ist ein fauler Trick — nicht nur, weil man mich auf die falsche Fährte locken will, sondern weil man sich auch noch vergewissern möchte, ob ich nicht doch die Absicht habe, vertragswidrige Methoden anzuwenden und sie zu identifizieren… Jedenfalls habe ich diesen Teil der Auseinandersetzung noch ganz gut über die Runden gekriegt. Wenn er die Wahrheit gesagt hat, dürfte er sich künftig recht unbehaglich in seiner Haut fühlen, nach dem, was er von mir zu hören bekommen hat. Und wenn nicht — schließlich hab ich ihm nichts weiter gesagt.

Eine schöne Bescherung! Da hab ich mich ja ordentlich in die Nesseln gesetzt!

Es hielt ihn keine Minute auf seinem Stuhl, deshalb begann er in der Kabine auf und ab zu wandern. Der Summer ertönte. Es war Calder aus dem Steuerraum. Sie stimmten die Kurskorrekturen und die Beschleunigung für die Nacht ab, dann setzte sich Pirx wieder, starrte mit gerunzelten Brauen vor sich hin und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Plötzlich klopfte es. „Herein!“ sagte er laut.

Burns, Neurologe, Arzt und Kybernetiker in einer Person, betrat die Kajüte. „Darf ich?“

„Bitte sehr, nehmen Sie Platz.“

Burns lächelte. „Ich komme, um Ihnen zu sagen, daß ich kein Mensch bin.“

Pirx drehte sich mitsamt seinem Stuhl heftig zu ihm um. „Wie bitte? Daß Sie kein…?“

„Ich bin kein Mensch. Und ich stehe in diesem Experiment auf Ihrer Seite.“ Pirx atmete tief durch.

„Was Sie da sagen, soll natürlich unter uns bleiben, nicht wahr?“ fragte er.

„Ich überlasse es Ihnen, darüber zu befinden. Mir liegt nichts daran.“

„Wie…?“

Der andere lächelte abermals. „Ganz einfach. Ich handele aus Egoismus. Wenn Sie die Nichtlinearen positiv beurteilen, löst das eine Kettenreaktion in der Produktion aus. Das ist mehr als wahrscheinlich. Solche wie ich tauchen dann massenweise auf, und nicht nur auf Raumschiffen. Das hätte für die Menschen fatale Konsequenzen — es entstünde eine neue Art von Diskriminierung, von Haß, mit allen hinreichend bekannten Folgen. Ich sehe das kommen, aber ich wiederhole, daß ich vor allem aus per sönlichen Motiven handele. Solange ich allein existiere, solange es nur zwei oder zehn solcher Exemplare gibt wie mich, ist das ohne jede soziale Bedeutung. Wir gehen unter in der Masse, unbemerkt und unbemerkbar.

Dann hätte ich — hätten wir eine Zukunft vor uns, ähnlich der jedes Menschen, mit einer erheblich höheren Intelligenz und einer Reihe von Spezialfähigkeiten, die der gewöhnliche Mensch nicht besitzt. Wir könnten also noch so mancherlei erreichen, aber nur dann, wenn es nicht zur Serienproduktion kommt.“

„Ja… Das hat was für sich…“, sagte Pirx gedehnt. Er war leicht verwirrt. „Aber warum ist Ihnen nicht an Diskretion gelegen? Befürchten Sie nicht, daß die Firma, die…“

„Nein. Das befürchte ich keinesfalls. Ich befürchte überhaupt nichts“, sagte Burns in seinem gleichbleibend ruhigen Vortragston. „Ich bin unheimlich teuer, Commander. In das hier“ — er tippte mit der Hand auf seine Brust — „sind Milliarden von Dollars investiert worden. Sie glauben doch wohl nicht, daß der erzürnte Fabrikant befiehlt, mich bis aufs letzte Schräubchen auseinanderzunehmen? Ich meine das natürlich im übertragenen Sinne, weil ich in meinem Körper keinerlei Schräubchen habe… Selbstverständlich werden sie wütend sein, aber an meiner Lage ändert das gar nichts. Höchstwahrscheinlich werde ich in dieser Firma arbeiten müssen, aber was schadet mir das? Ich ziehe es sogar vor, dort und nirgendwo anders zu arbeiten, weil ich dort die beste Betreuung finde, falls ich mal… krank werde. Ich glaube auch nicht, daß sie versuchen würden, mich einzusperren. Wozu eigentlich? Die Anwendung von Gewalt könnte für sie selber recht traurige Folgen haben. Sie wissen ja, welche Macht die Presse darstellt…“

Er denkt an Erpressung, durchfuhr es Pirx. Er glaubte zu träumen, doch er lauschte weiter mit gespannter Aufmerksamkeit. „Nun, jetzt werden Sie vielleicht verstehen, warum ich möchte, daß Ihr Gutachten über die Nichtlinearen negativ ausfällt.“

„Ja, allerdings. Können Sie mir einen Hinweis geben, wer von der Besatzung noch…?“

„Nein. Ich bin nicht sicher, und mit Vermutungen wäre Ihnen nicht gedient. Es ist besser, eine Nullinformation zu besitzen, als desinformiert zu sein, denn das bedeutet negative Information, also Information unter Null.“

„Hm. Ja. Jedenfalls danke ich Ihnen, von Ihren Beweggründen ganz abgesehen. Ja, ich danke Ihnen. Würden Sie mir demzufolge…

etwas über sich sagen? Ich meine Dinge, die mir weiterhelfen könnten…“

„Ich kann mir denken, worum es Ihnen geht. Über meinen Bau weiß ich nichts, so wie Sie nichts über Ihre Anatomie wissen oder über Ihre Physiologie, zumindest nichts wußten, bevor Sie nicht irgendein Biologiebuch gelesen hatten. Aber der konstruktioneile Aspekt interessiert Sie wohl auch weniger. Es ist Ihnen mehr um den psychischen zu tun? Um unsere — schwachen Seiten?“

„Darum auch. Aber hören Sie, jeder weiß schließlich irgendwas über seinen Organismus. Das sind keine wissenschaftlich fundierten Kenntnisse, sondern sie stammen aus Erfahrung, aus Selbstbeobachtung…“

„Natürlich, man benutzt ja den Organismus und wohnt darin… Da bietet sich schon Gelegenheit zur Beobachtung…“ Burns lächelte wieder und zeigte dabei regelmäßige, aber doch nicht allzu regelmäßige Zähne. „Ich darf Ihnen also Fragen stellen?“

„Bitte sehr.“

Pirx versuchte sich zu sammeln. „Dürfen es auch… indiskrete Fragen sein? Ausgesprochen intime?“

„Ich habe nichts zu verbergen“, erwiderte der andere schlicht.

„Ist Ihnen schon einmal eine Reaktion wie Bestürzung, Angst oder Abscheu widerfahren, die dadurch hervorgerufen wurde, daß Sie kein Mensch sind?“

„Ja. Einmal, während einer Operation, bei der ich assi stierte. Der zweite Assistent war eine Frau. Damals wußte ich bereits, was das ist…“

„Ich verstehe nicht ganz..“

„Damals wußte ich bereits, was eine Frau ist“, erklärte Burns. „Anfangs war mir nichts über die Existenz von Geschlechtern bekannt…“

„Ach nein!“ Pirx war wütend, daß es ihm nicht gelungen war, diesen Ausruf zu unterdrücken. „Also es war eine Frau dabei. Und was passierte?“

„Der Chirurg schnitt mir mit seinem Skalpell in den Finger, der Gummihandschuh klaffte auf, und es war zu sehen, daß ich nicht blutete.“

„Wieso? McGuirr hat mir doch gesagt…“

„Jetzt würde auch ich bluten, aber damals war ich noch „trocken“ — so heißt das im internen Jargon unserer „E1-tern““, sagte Burns. „Denn unser Blut ist reine Maskerade: Die Innenseite der Haut ist schwammartig und wird mit Blut getränkt. Diese Prozedur muß ziemlich oft wiederholt werden.“

„Aha. Und die Frau bemerkte das? Und der Chirurg?“

„Ach, der wußte, wer ich bin, nur sie nicht. Sie kam nicht gleich darauf, erst gegen Ende der Operation und auch hauptsächlich deshalb, weil er so verlegen war…“ Burns lächelte. „Sie packte meine Hand, zog sie an die Augen, und als sie sah, was… was innen war, schleuderte sie sie von sich und stürzte davon. Sie vergaß, nach welcher Seite die Tür des OP aufging, zog daran, und als sie sich nicht öffnen ließ, bekam sie einen hysterischen Anfall.“

„Ja“, sagte Pirx. Er schluckte. „Was fühlten Sie damals?“

„Im allgemeinen fühle ich nicht sonderlich viel, aber das damals war unangenehm“, erwiderte Burns gedehnt und lächelte erneut. „Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen“, fügte er nach einer Sekunde hinzu, „aber ich habe den Eindruck, daß den Männern — selbst solchen, die nicht daran gewöhnt sind — der Umgang mit uns leichter fällt. Männer finden sich mit Tatsachen ab.

Frauen wollen sich mit manchen Tatsachen einfach nicht abfinden. Sie sagen weiter „Nein“, selbst wenn es nichts anderes mehr gibt als „Ja“.“

Pirx behielt Burns die ganze Zeit über im Auge, und er musterte ihn besonders aufmerksam, wenn dieser einmal den Blick abwandte, denn er versuchte, eine gewisse Andersartigkeit zu entdecken, die ihn beschwichtigt und ihm bewiesen hätte, daß die Verwandlung einer Maschine in einen Menschen denn doch nicht so vollkommen war. Vorher, als er noch alle verdächtigt hatte, war die Situation eine andere gewesen. Jetzt, da er mit jeder Minute weniger daran zweifelte, daß das, was Burns da sagte, auf Wahrheit beruhte, und er einmal in Burns’Blässe, die ihm schon bei der ersten Begegnung aufgefallen war, zum anderen in seinen beherrschten Bewegungen und dann wiederum in dem starren Glanz seiner hellen Augen die Fälschung suchte — jetzt mußte er sich eingestehen, daß es schließlich auch Menschen gab, die so blaß oder auch so wenig beweglich waren. Dann quälten ihn abermals Zweifel und diese Beobachtungen und Gedanken wurden vom Lächeln des Arztes kommentiert, das sich nicht immer auf Pirx’ Worte zu beziehen, sondern vielmehr auszudrücken schien, daß er genau wüßte, was Pirx in diesen Augenblicken bewegte. Dieses Lächeln war Pirx unangenehm, es verwirrte ihn, und es fiel ihm um so schwerer, die Befragung fortzusetzen, als Burns in seinen Antworten ungetrübte Aufrichtigkeit an den Tag legte.

„Sie verallgemeinern auf der Grundlage eines einzigen Falles“, brummte er.

„O nein, ich hatte danach noch sehr viel mit Frauen zu tun. Es arbeiteten… es unterrichteten mich mehrere. Sie waren Dozenten und so weiter. Aber sie wußten von vornherein, wer ich war. Sie versuchten also, ihre Emotionen zu unterdrücken. Das fiel ihnen nicht leicht, weil ich Zeiten hatte, in denen es mir Spaß machte, sie zu reizen.“ Das Lächeln, mit dem er Pirx in die Augen sah, wirkte beinahe anmaßend.

„Sie suchten irgendwelche besonderen Eigenschaften, die mich im negativen Sinne von ihnen unterschieden, müssen Sie wissen, und weil ihnen so sehr daran lag, vergnügte ich mich manchmal damit, solche Eigenschaften auch wirklich zu zeigen.“

„Ich verstehe nicht.“

„Oh, Sie verstehen ganz gut. Ich mimte eine Marionette, physisch durch eine gewisse Steifheit, psychisch durch passiven Gehorsam…, aber sobald sie sich an ihren Entdeckungen zu weiden begannen, spielte ich plötzlich nicht mehr mit. Ich glaube, sie hielten mich für eine Art teuflisches Wesen.“

„Sind Sie da nicht voreingenommen? Das sind doch nur Vermutungen! Immerhin handelte es sich um Dozentinnen, die eine entsprechende Ausbildung genossen haben müssen.“

„Der Mensch ist ein großartig astigmatisches Geschöpf“, sagte Bums phlegmatisch. „Das ist unvermeidlich, wenn man so entstanden ist, wie ihr es seid. Das Bewußtsein ist ein Teil der Prozesse im Gehirn, der insoweit davon losgelöst ist, als er im subjektiven Empfinden eine Einheit darstellt. Aber diese Einheit ist eine Vorspiegelung der Introspektion. Die anderen Prozesse, die das Bewußtsein davontragen wie der Ozean den Eisberg, werden nicht direkt empfunden — sie machen sich mitunter aber so stark bemerkbar, daß das Bewußtsein sie zu suchen beginnt. Aus dieser Suche heraus entstand der Begriff des Teufels, als eine Art Projektion auf die Außenwelt, eine Projektion dessen, was sich — obwohl es im Menschen, in seinem Hirn, existiert und in ihm wirkt — weder wie der Gedanke noch wie die Hand lokalisieren läßt.“ Er grinste noch breiter.

„Ich halte Ihnen hier einen Vortrag über die kybernetischen Grundlagen der Persönlichkeitstheorie, die Sie sicherlich kennen. Eine logische Maschine unterscheidet sich vom Gehirn dadurch, daß sie nicht mehrere einander ausschließende Programme auf einmal haben kann.

Das Gehirn kann sie haben, hat sie immer, deshalb ist es auch ein Schlachtfeld bei Heiligen oder ein Tummelplatz von Widersprüchen bei gewöhnlichen Sterblichen… Das Neuronennetz der Frau ist anders als das des Mannes. Das betrifft nicht die Intelligenz. Im übrigen ist der Unterschied nur statistischer Natur. Frauen ertragen eine Koexistenz von Widersprüchen besser — im allgemeinen. Nebenbei gesagt schaffen aus diesem Grund hauptsächlich Männer die Wissenschaft, weil sie von der Suche nach einer einzigen, also nicht widersprüchlichen Ordnung geprägt ist.“

„Mag sein“, entgegnete Pirx. „Deshalb sind Sie also der Ansicht, daß diese Frauen einen Teufel in Ihnen sahen?“

„Das ist zuviel gesagt“, erwiderte der andere und legte die Hand auf sein Knie. „Ich war für sie höchst abstoßend — und deshalb zog ich sie an. Ich war die Wirklichkeit gewordene Unmöglichkeit, etwas Verbotenes, etwas, was im Gegensatz zur Welt als begreifbare natürliche Ordnung existierte, und ihre Angst war nicht nur der Wille zur Flucht, sondern auch zur Selbstaufgabe. Wenn auch keine von ihnen sich das so deutlich vergegenwärtigte, wie ich es jetzt formuliere: Ich war in ihren Augen der Ausbruch aus dem Gehorsam gegenüber den biologischen Geboten, die Gestalt gewordene Revolte gegen die Natur, ein Wesen, mit dem das biologisch rationelle, also eigennützige Band zwischen Gefühlen und der Funktion der Arterhaltung zerrissen worden war.“ Er warf Pirx einen schnellen Blick zu. „Sie denken, das sei die Philosophie eines Kapauns? Nein, denn ich wurde nicht als Krüppel konstruiert. Ich bin folglich kein schlechteres, sondern nur ein anderes Wesen als ihr, dessen Liebe jedenfalls ebenso uneigennützig, ebenso überflüssig ist oder sein kann wie der Tod und das dadurch aus einem wertvollen Werkzeug zu einem Wert an sich wird. Natürlich zu einem Wert mit negativem Vorzeichen — wie der Teufel. Und warum ist das so? Mich haben Männer geschaffen, und es fiel ihnen leichter, einen potentiellen Rivalen zu bauen als ein potentielles Objekt ihrer Leidenschaften. Aber was meinen Sie? Habe ich recht?“

„Ich weiß nicht“, erwiderte Pirx. Er sah Burns nicht an er konnte es nicht. „Ich weiß es nicht. Das Projekt wurde von verschiedenen Bedingungen diktiert, vor allem wohl von ökonomischen.“

„Ganz gewiß“, stimmte Burns zu. „Aber die, von denen ich sprach, haben auch ihren Anteil daran. Nur daß alles ein einziger großer Reinfall ist, Commander. Ich sagte schon, was die Menschen mir gegenüber empfinden, aber sie schaffen nur noch einen Mythos mehr, den Mythos vom Nichtlinearen, weil ich weder ein Teufel bin, das dürfte doch klar sein, noch ein potentieller erotischer Rivale, was vielleicht schon weniger klar ist. Ich sehe wie ein Mann aus und rede wie ein Mann, und psychisch bin ich sicherlich bis zu einem gewissen Grade Mann, allerdings eben nur bis zu einem gewissen Grade… Aber das alles hat schon beinahe nichts mehr mit der Sache zu tun, derentwegen ich zu Ihnen gekommen bin.“

„Das kann man nie wissen…, kann man nie wissen“, warf Pirx ein. Er betrachtete noch immer seine eigenen, gefalteten Hände. „Fahren Sie fort.“

„Wenn Sie es wünschen.

…Aber ich werde nur in meinem eigenen Namen sprechen, über die anderen weiß ich nichts. Als Persönlichkeit bin ich zweifach entstanden: durch die Programmierung und durch Lernen. Auch der Mensch entsteht auf diese Weise, nur daß der erste Faktor bei ihm eine geringe Rolle spielt, weil der Mensch, wenn er auf die Welt kommt, noch kaum entwickelt ist. Ich dagegen war gleich von Anfang an so, wie ich jetzt bin… in physischer Hinsicht.

Ich mußte nicht so lange lernen wie ein Kind. Und dadurch, daß ich weder eine Kindheit noch eine Zeit der Reife durchgemacht habe, sondern lediglich ein Multistat war, dem man erst die Vorausprogrammierungsmasse verpaßte und den man dann vielseitig trainierte und ihm eine Menge Informationen eingab, dadurch wurde ich einheitlicher als irgendeiner von euch. Denn jeder Mensch ist eine wandelnde geologische Formation, die tausend Epochen des Glühens und abermals tausend Epochen des Erkaltens durchlaufen hat, da sich Schicht auf Schicht ablagerte — zuerst jene endgültige, weil erste und somit mit nichts vergleichbare Welt vor der Existenz der Sprache, die später untergeht, von ihr verschlungen wird, aber irgendwo auf dem Grunde noch weiterglimmt. Im Hirn ist eine Invasion der Farben, Formen und Gerüche, ein Umsichgreifen der Sinne, die sich nach der Geburt entfalten. Erst später kommt es zur Polarisierung in Welt und Nicht-Welt beziehungsweise in Ich und Nicht-Ich. Nun, und dann diese ganzen Hormonüberschwemmungen, diese widersprüchlichen und verschieden gelagerten Programme von Glaube und Trieb die Geschichte der Entstehung der Persönlichkeit ist die Geschichte von Kriegen: das Gehirn gegen sich selbst. All diese Stationen von Tollheit und Resignation kannte ich nicht, ich hatte diese Etappen nicht durchlaufen, und deshalb habe ich keine Spur von einem Kind in mir. Ich bin zu Gefühlswallungen fähig, und ich könnte sicherlich sogar töten, aber nicht aus Liebe. Die Worte in meinem Mund klingen ebenso wie in eurem Mund, aber sie haben eine andere Bedeutung für mich.“

„Heißt das, daß Sie nicht imstande sind zu lieben?“ fragte Pirx. Immer noch betrachtete er seine Hände. „Woher diese Sicherheit? Das weiß wahrscheinlich niemand, bis er nicht…“

„Das wollte ich nicht damit sagen. Vielleicht wäre ich auch dazu imstande. Aber es würde etwas völlig anderes bedeuten als bei euch. Zwei Gefühle verlassen mich eigentlich niemals: das des Staunens und die innere Bereitschaft, alles lächerlich zu finden. Und das, glaube ich, ist so, weil eine Eigenschaft eurer Welt sich mir überall aufdrängt — die Konventionalität. Nicht nur in der äußeren Gestalt von Maschinen und in euren Umgangsformen, sondern auch in eurer Körperlichkeit, die mir Modell gestanden hat. Ich sehe, daß alles ganz anders aussehen, anders gebaut sein, anders funktionieren könnte und daß es dadurch weder besser noch schlechter wäre, als es ist.

Für euch existiert die Welt in erster Linie, das heißt, sie existiert ganz einfach als einzige Möglichkeit; für mich dagegen gab es die Welt nicht nur, seit ich denken kann, sondern es gab sie als eine lächerliche Welt, diese eure Welt der Städte, Theater, Straßen, des Familienlebens, der Börse, der Liebestragödien und der Filmstars.

Möchten Sie meine Lieblingsdefinition des Menschen hören? Ein Wesen, das am liebsten darüber spricht, wovon es am wenigsten versteht. Für die Antike soll die Allgegenwart der Mythologie charakteristisch gewesen sein und für die moderne Zivilisation deren Fehlen? Aber wovon leiten sich denn in Wirklichkeit eure einfachsten Grundbegriffe ab? Die Sündhaftigkeit des Leibes ist die Konsequenz einer alten Evolutionslösung, die aus Sparsamkeitsgründen die Ausscheidungsfunktionen mit den Geschlechtsfunktionen in demselben Organsystem vereinte. Die religiösen und philosophischen Ansichten sind die Konsequenz aus eurer biologischen Struktur, weil dem Menschen zeitliche Grenzen gesetzt sind und er in jeder Generation alles erkennen, alles begreifen, alles erklären möchte. Aus eben dieser Diskrepanz heraus entstand die Metaphysik — als Brücke, die das Mögliche mit dem Unmöglichen verbindet. Und die Wissenschaft? Sie ist vor allen Dingen Verzicht. Gewöhnlich werden ihre Errungenschaften hervorgehoben, doch die stellen sich nur sehr langsam ein, und sie wiegen im übrigen niemals die Riesenverluste auf. Die Wissenschaft ist also die Billigung der Sterblichkeit und der Zufälligkeit des Individuums, das aus dem statistischen Spiel der um den Vorrang der Befruchtung wetteifernden Spermien entsteht. Sie ist die Billigung der Vergänglichkeit, der Unabwendbarkeit, des Fehlens von Vergeltung, höherer Gerechtigkeit, endgültiger Erkenntnis, des endgültigen allseitigen Verstehens — und mithin wäre sie sogar heroisch, wenn sich ihre Schöpfer nicht so oft im unklaren wären, was sie in Wirklichkeit tun! Ich hatte zwischen Furcht und Lächerlichkeit zu wählen, und ich wählte die Lächerlichkeit, weil ich sie mir leisten kann.“

„Sie hassen diejenigen, die Sie geschaffen haben, nicht wahr? fragte Pirx leise.

„Sie irren. Ich bin der Auffassung, daß jede Existenz, selbst die beschränkteste, besser ist als die Nichtexistenz.

Sie, meine Konstrukteure, vermochten sicherlich viele Dinge nicht vorauszusehen, aber mehr noch als für meine Intelligenz bin ich ihnen dafür dankbar, daß sie mir das Lustzentrum verweigerten. Es gibt ein solches Zentrum in eurem Gehirn, wußten Sie das?“

„Ich habe irgendwo darüber gelesen.“

„Ich besitze es offenbar nicht, und deshalb bin ich auch kein Wesen ohne Beine, das nach nichts anderem verlangt, als laufen zu können… Nur zu laufen, gerade weil es unmöglich ist.“

„Alle anderen sind lächerlich, ja?“ warf Pirx ein. „Und Sie?“

„Oh, ich auch. Nur auf andere Art. Jeder von euch hat, sobald er existiert, den Körper, den er hat, und damit basta. Aber ich könnte zum Beispiel wie ein Kühlschrank aussehen.“

„Ich kann daran nichts Lächerliches finden“, brummte Pirx. Das Gespräch bedrückte ihn mehr und mehr. „Es geht um die Konventionalität, um die Zufälligkeit“, wiederholte Burns. „Die Wissenschaft ist der Verzicht auf verschiedene Absoluta: auf den absoluten Raum, die absolute Zeit, die absolute, das heißt ewigwährende Seele, den absoluten, weil gottgeschaffenen Leib. Von solchen Konventionen, die ihr für reale, weil von allem unabhängige Dinge haltet, gibt es noch mehr.“

„Und was ist noch Konvention? Die Prinzipien der Ethik? Die Liebe? Die Freundschaft?“

„Gefühle sind niemals konventionell, obwohl sie die Folge von vereinbarten konventionellen Vorbedingungen sein können. Aber ich rede wirklich nur deshalb so über euch, weil es mir in dieser Gegenüberstellung leichter fällt zu erklären, wer ich selbst bin. Die Ethik ist ganz sicher konventionell, zumindest für mich. Ich brauche nicht ethisch zu handeln, und dennoch tue ich es.“

„Interessant. Und warum?“

„Ich habe keinen sogenannten Instinkt des Guten. Ich bin nicht fähig, Mitleid sozusagen „von Natur aus“ zu empfinden. Aber ich weiß, wann man Barmherzigkeit üben muß, und ich bin imstande, mich einzufühlen. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß es nötig ist. Mithin habe ich diese Lücke gewissermaßen durch logische Überlegung geschlossen. Sie können nun sagen, ich hätte eine „Ersatzethik“, ich hätte mir eine so täuschend ähnliche Prothese davon angefertigt, daß sie wie „echt“ wirkt.“

„Ich verstehe nicht ganz. Worin liegt also der Unterschied?“

„Darin, daß ich nach der Logik gültiger Axiome handele und nicht nach dem Instinkt. Ich habe keine derartigen Instinkte. Es ist euer Unglück, daß ihr außer den Instinkten fast nichts habt. Ich weiß nicht, vielleicht hat das früher mal genügt, aber jetzt genügt es ganz bestimmt nicht mehr. Wie sieht denn in der Praxis die sogenannte Nächstenliebe aus? Sie empfinden Mitleid für das Opfer eines Unfalls und helfen ihm. Aber wenn Sie vor zehntausend Opfern gleichzeitig stehen, dann können Sie nicht alle mit Ihrem Mitleid erfassen. Das Mitleid hat ein sehr kleines Fassungsvermögen und ist wenig dehnbar. Es bewährt sich, so lange es um einzelne geht, sobald aber die Masse auftaucht, breitet sich Ratlosigkeit aus. Und eben die Entwicklung der Technologie sprengt eure Moral immer gründlicher. Die Aura der ethischen Verantwortung erstreckt sich gerade noch auf die ersten Glieder in der Kette von Ursache und Wirkung. Derjenige, der einen Prozeß auslöst, fühlt sich durchaus nicht mehr für die weiterreichenden Konsequenzen verantwortlich.“

„Die Atombombe?“

„Oh, das ist nur ein Beispiel von Tausenden. In eurer Auffassung von Gut und Böse seid ihr vielleicht am allerlächerlichsten.“

„Warum?“

„Einem Mann und einer Frau, von denen man weiß, daß sie unterentwickelte Nachkommen zeugen werden, ist es erlaubt, Kinder in die Welt zu setzen. Das gestattet eure Moral.“

„Aber Burns, so etwas steht doch niemals ganz fest, sondern ist allenfalls sehr wahrscheinlich!“

„Aber die Moral ist deterministisch wie die Buchführung und nicht statistisch wie der Kosmos. Wir könnten bis in alle Ewigkeit so weiterdiskutieren, Commander. Was möchten Sie noch wissen — über mich?“

„Sie lagen in verschiedenen Experimentalsituationen mit Menschen im Wettstreit. Waren Sie immer der Überlegene? “

„Nein, aber je mehr Algorithmisierung, Mathematik und Genauigkeit die Lösung der Aufgabe verlangt, desto besser bin ich. Meine Schwäche ist die Intuition. Da rächt sich, daß ich von Rechenmaschinen abstamme…“

„Wie äußert sich das in der Praxis?“

„Sobald sich eine Situation übermäßig kompliziert, sobald die Zahl der neuen Faktoren zu groß wird, verheddere ich mich. Soviel ich weiß, versucht der Mensch dann, sich auf sein Gefühl, das heißt auf eine Näherungslösung zu verlassen, und es gelingt ihm auch manchmal. Aber ich bin nicht dazu imstande. Ich muß alles ganz genau, ganz bewußt in Erwägung ziehen, und wenn das nicht geht, bin ich der Verlierer.“

„Was Sie da sagen, ist sehr wichtig für mich, Burns. Nehmen wir also mal an, in einer Katastrophensituation, bei einer Havarie…“

„So einfach ist das auch wieder nicht, Commander, weil ich keinerlei Angst empfinde, jedenfalls nicht so wie der Mensch, und weil ich, obwohl mir die Gefahr einer Vernichtung natürlich auch nicht einerlei ist, keinesfalls den Kopf verliere, wie man so schön sagt. Und das so erlangte Gleichgewicht kann dann meine Intuitionsschwäche kompensieren.“

„Versuchen Sie bis zuletzt, einer Situation Herr zu werden?“

„Ja, sogar dann noch, wenn ich sehe, daß ich verspielt habe.“

„Weshalb? Ist das nicht irrational?“

„Es ist nur logisch, weil ich es so beschlossen habe.“

„Ich danke Ihnen.

Vielleicht haben Sie mir wirklich geholfen“, sagte Pirx. „Verraten Sie mir nur noch eins. Was beabsichtigen Sie nach unserer Rückkehr zu tun?“

„Ich bin Kybernetiker und Neurologe, und nicht der schlechteste. Schöpferische Fähigkeiten besitze ich kaum, weil diese untrennbar mit Intuition verbunden sind, aber ich werde auch ohne sie eine interessante Arbeit finden.“

„Ich danke Ihnen“, sagte Pirx noch einmal. Der andere erhob sich, deutete eine Verbeugung an und ging. Pirx sprang von seiner Koje auf und begann wieder auf und ab zu wandern, sobald sich die Tür hinter Burns geschlossen hatte.

Herr im Himmel, wozu das Ganze? Jetzt weiß ich erst recht nicht mehr, woran ich bin. Entweder ist er ein Roboter oder… Aber vermutlich hat er die Wahrheit gesagt. Doch weshalb diese Mitteilsamkeit? Die ganze Menschheitsgeschichte plus „Kritik von außen“ — nehmen wir mal an, er hätte die Wahrheit gesagt, dann müßte man eine unerhört verzwickte Situation heraufbeschwören. Aber sie müßte echt genug sein, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich hätte sie „gestellt“. Sie müßte also real sein. Kurz, ich werde wohl in den sauren Apfel beißen müssen. Eine Gefahrensituation, die künstlich erzeugt wird, aber in sich echt ist… Er schlug sich mit der Faust auf den Handteller. Und wenn es nur ein taktisches Manöver war? Dann breche ich mir vielleicht den Hals dabei, jage alle Menschen in den Tod, und die Roboter bringen das Raumschiff in den Hafen zurück, weil sie im Gegensatz zu uns all dies aushalten können! Na, das würde diese Herren ja in höchstes Entzücken versetzen — was für eine phänomenale Reklame! Was für eine Sicherheitsgarantie für Raumschiffe mit solcher Besatzung! Oder etwa nicht? Von ihrem Standpunkt aus wäre also so eine Maßnahme, mich mit ihrer „Ehrlichkeit“ zu ködern, höchst wirkungsvoll… Er lief immer hastiger hin und her. Ich muß mir irgendwie Gewißheit verschaffen, ob das alles wahr ist. Nehmen wir mal an, es gelingt mir, sie schließlich doch alle zu identifizieren. Wir haben eine Bordapotheke. Ich könnte ihnen ein paar Tropfen Apomorphin ins Essen geben. Die Menschen würden krank werden, die anderen wahrscheinlich nicht. Ganz gewiß nicht. Aber was habe ich davon? Erstens wird fast jeder dahinterkommen, daß ich meine Hand im Spiel hatte, und außerdem, selbst wenn sich herausstellen sollte, daß Brown ein Mensch ist und Burns nicht — außerdem würde das noch lange nicht bedeuten, daß alles wahr ist, was sie mir erzählt haben!

Vielleicht haben sie sich mir wirklich zu erkennen gegeben, und alles andere geschah nur im Interesse einer bestimmten Strategie? Moment mal… Burns hat mich eigentlich auf eine ganz konkrete Fährte geführt, als er von der mangelnden Intuition sprach. Aber Brown? Der hat den Verdacht auf Burns gelenkt. Ausgerechnet auf Burns, der kurz darauf von selber zu mir kam und diesen Verdacht bestätigte. Ist das nicht ein bißchen zuviel des Guten? Andererseits… Wenn alles auf der nicht eingeplanten, also unabhängigen Initiative jedes einzelnen beruht, dann wäre die Tatsache, daß Brown diesen Burns nennt und Burns dann zu mir kommt, um es zu bestätigen, reiner Zufall. Wenn sie die Sache geplant hätten, dann wären sie nicht auf einen so primitiven Trick verfallen, denn das wäre doch viel zu auffällig… Allmählich drehe ich hier noch durch… Aber Moment mal: Wenn jetzt noch ein dritter hier aufkreuzt, dann hieße das, daß auch alles andere bloße Spinnerei war. Ein Spiel. Nur wird wahrscheinlich niemand mehr aufkreuzen, die Geschichte wäre zu leicht zu durchschauen, so blöd sind die nicht. Und wenn sie die Wahrheit gesagt haben?

Vielleicht bekommt doch noch einer Lust… Pirx schlug sich zum zweitenmal mit der Faust auf den Handteller.

Er wußte also gar nichts. Sollte er handeln? Wie? Sollte er noch abwarten? Ja, das war doch das beste. Während der Hauptmahlzeit in der Messe herrschte Schweigen. Pirx sprach niemanden an, weil er immer noch gegen die Versuchung ankämpfte, jene „chemische Probe aufs Exempel“ zu machen, die ihm eingefallen war. Er konnte sich nicht endgültig entschließen. Brown war an der Steuerung, sie aßen alle, und Pirx mußte daran denken, wie hanebüchen das Ganze war — nur zu essen, um einen Menschen vorzutäuschen. Dem „Lächerlichen“, von dem Burns gesprochen hatte, lagen möglicherweise solche Ursachen zugrunde, und diese Einstellung war für ihn offenbar eine Art Selbstschutz, und auch dieses Gerede über die „Konventionalität“ schien von alledem herzurühren — na klar, für den war auch das Essen nur ein konventioneller Trick. Und wenn er wirklich daran glauben sollte, daß er seine Schöpfer nicht haßte, dann machte er sich selbst etwas vor. Ich würde sie hassen, dachte Pirx und war sich dessen völlig sicher. Daß die sich nicht schämen, ist eine richtige Sauerei! Das Schweigen hielt während der ganzen Mahlzeit an und wurde schließlich unerträglich. In ihm manifestierte sich weniger der Wunsch jedes einzelnen, ungeschoren zu bleiben und keinerlei Kontakte einzugehen, so wie das die Organisatoren des Fluges wünschten — also nicht eine gewisse Loyalität, die in der Wahrung des Geheimnisses ihre Ursache hatte —, als vielmehr eine allgemeine Feindseligkeit, und wenn schon nicht Feindseligkeit, dann zumindest Mißtrauen.

Wer Mensch war, hatte keinerlei Bedürfnis, sich einem Nichtmenschen zu nähern, und dieser wiederum begriff, daß er nur dann nicht als solcher entdeckt wurde, wenn er die gleiche Haltung einnahm. Denn wenn er in dieser eisigen Atmosphäre nur den leisesten Versuch gemacht hätte, sich zu engagieren, hätte er sofort die Aufmerksamkeit und damit den Verdacht auf sich gelenkt, kein Mensch zu sein. Pirx saß über seinen Teller gebeugt und registrierte jede Kleinigkeit — wie Thompson um Salz bat, wie Burton es ihm hinüberreichte, wie ihm Burns wiederum die Essigkaraffe hinschob. Die Gabeln und Messer bewegten sich flink in den Händen, man kaute, schluckte und beachtete die anderen kaum — es war ein regelrechtes Begräbnis des Sauerbratens. Pirx ließ sein Kompott stehen, erhob sich, nickte den anderen zu und ging. Sie hatten Kursgeschwindigkeit, gegen zwanzig Uhr Bordzeit flogen sie an zwei großen Transportern vorbei, tauschten die üblichen Signale aus, und eine Stunde später schalteten die Automaten in den Decks Tageslicht ein. Pirx kam eben aus der Steuerzentrale, als es geschah. Den weiten Raum des Mitteldecks füllte Dunkelheit, die von den hellblauen Kugeln der Neonleuchten durchbohrt wurden. Zugleich schimmerten die mit Leuchtfarbe überzogenen Seile, die an den Wänden entlangliefen und bei fehlender Schwerkraft zur Fortbewegung dienten, die Türpfosten, die Türklinken und die an den Trennwänden aufgemalten Orientierungspfeile und Aufschriften. Das Raumschiff war so reglos, als ruhe es an einem irdischen Dock. Nicht die leiseste Schwingung war zu spüren, nur die Klimaanlagen arbeiteten gerade noch hörbar. Pirx durchschritt nacheinander Ströme von kühlerer Luft mit sehr schwachem Ozongeruch.

Einmal prallte etwas mit giftigem Summen gegen seine Stirn — eine Fliege, die sich als blinder Passagier eingeschmuggelt hatte. Er sah ihr widerwillig nach, er mochte Fliegen nicht, aber er konnte sie nicht mehr entdecken. Hinter der Abzweigung verengte sich der Gang und führte an der Treppe und dem Zylinder des Personenlifts vorbei. Pirx packte das Geländer und stieg hinauf, ohne 1 recht zu wissen, warum. Er dachte nicht einmal daran, daß dort oben das Sternenfenster war. Das heißt, er wußte von der Existenz dieses Fensters, doch er stieß dennoch wie zufällig auf das große schwarze Viereck. Eigentlich hatte er keine echte Beziehung zu den Sternen. Viele Kosmonauten besaßen angeblich so etwas. Es gab nicht mehr jene unbedingt verbindliche romantische „Fassade“ der Flüge von einst, aber weil die Öffentlichkeit, die durch Film, Fernsehen und Literatur geprägt wurde, eine Art „kosmische Haltung“ von den Raumfahrern erwartete, bemühte sich beinahe jeder um ein gewisses intimes Verhältnis zu diesem Lichtgewimmel. Pirx verdächtigte im Grunde genommen all diejenigen, die darüber sprachen, der Aufschneiderei, denn er selbst machte sich wenig aus den Sternen, und große Reden über dieses Thema zu schwingen, das hielt er für absolute Idiotie. Er lehnte sich nun gegen ein elastisches Rohr, das als Schutz diente, damit man sich an der unsichtbaren Glasscheibe nicht den Kopf stieß, und erkannte sogleich das Zentrum der Galaxis unter dem Raumschiff oder vielmehr seine Richtung, die von den großen weißlichen Wolken des Schützen dem Blick entzogen wurden.

Dieses Sternbild war für ihn so etwas wie ein verwittertes und deshalb nicht sehr deutlich ablesbares Verkehrszeichen. Das wußte er noch von den Patrouillenflügen, denn die Wolke des Schützen ließ sich selbst auf kleinen Bildschirmen ausmachen, und das schmale Gesichtsfeld, das jene Einmannraketen boten, erschwerte einem manchmal die Orientierung nach Sternbildern. Aber im allgemeinen dachte er auch angesichts dieser Wolke nicht an Millionen von glühenden Welten mit zahllosen Planetensystemen — das heißt, in jungen Jahren, als er selbst noch nicht im Weltraum gewesen war und sich noch nicht an ihn gewöhnt hatte, da hatte er auch so gedacht. Dann aber, eines Tages, waren diese jugendlichen Phantasievorstellungen verflogen, er wußte selbst nicht, wann das war. Er näherte sein Gesicht langsam der kalten Glasfläche, bis er sie mit der Stirn berührte, und blieb so stehen, ohne das Gewirr der reglosen Lichtpunkte genau zu betrachten, die sich stellenweise zu weißglühenden Nebelschwaden verdichteten. Von innen gesehen, war die Galaxis ein Chaos, das Ergebnis eines Jahrmilliarden währenden Feuerwürfelspiels — ein einziges Drunter und Drüber. Und dennoch herrschte eine Ordnung in den Galaxen, eine Ordnung höheren Grades, die man allerdings nur auf den Aufnahmen riesiger Reflektoren wahrnehmen konnte. Die Galaxen nahmen sich auf den Negativen wie elliptische Körperchen aus, wie Amöben in verschiedenen Entwicklungsphasen, nur daß die Kosmonauten davon überhaupt nicht berührt wurden — das Sonnensystem war für sie alles, der Rest zählte nicht. Vielleicht wird es in tausend Jahren einmal zählen, dachte er. Irgend jemand mußte in seiner Nähe sein. Der Schaumstoffläufer dämpfte zwar die Schritte, aber Pirx spürte jemandes Gegenwart. Er wandte den Kopf und erblickte vor dem Hintergrund der Leuchtstreifen, die den Verlauf der Decke und der Wände anzeigten, eine dunkle Gestalt. „Wer ist da?“ fragte er, ohne die Stimme zu heben. „Ich bin es — Thompson.“

„Haben Sie Ihre Wache beendet?“ fragte Pirx, nur um irgend etwas zu sagen. „Ja, Commander.“

Beide standen unschlüssig da. Pirx wollte sich wieder dem Fenster zuwenden, aber der andere schien auf etwas zu warten.

„Sie möchten mir etwas sagen?“

„Nein“, antwortete der andere, wandte sich ab und ging in der Richtung davon, aus der er gekommen war. Was soll denn das nun wieder? fragte sich Pirx. Es hat doch ganz so ausgesehen, als hätte er mich gesucht.

„Thompson!“ rief er in die Dunkelheit. Die Schritte kamen zurück. Der andere tauchte wieder auf, er war kaum zu erkennen im Phosphorlicht der herabhängenden Fenstertaue. „Hier müssen irgendwo Sessel stehen“, sagte Pirx. Er trat an die Wand gegenüber. „Setzen Sie sich mit mir hierher, Thompson.“

Der andere kam gehorsam näher. Sie nahmen Platz, vor sich das Sternenfenster. „Sie wollten mir etwas mitteilen. Ich höre.“

„Ich fürchte nur…“, begann der andere und stockte. „Das macht nichts. Sprechen Sie ruhig. Ist es eine persönliche Angelegenheit?“

„Das kann man wohl sagen.“

„Wir unterhalten uns also ganz privat. Worum handelt es sich?“

„Ich möchte, daß Sie sich durchsetzen“, sagte Thompson. „Aber ich gebe von vornherein zu bedenken: Ich muß mein Wort halten und werde Ihnen nicht verraten, wer ich wirklich bin. Doch wie dem auch sei: Ich möchte, daß Sie einen Verbündeten in mir sehen.“

„Ist das vielleicht logisch?“ fragte Pirx. Der Ort für dieses Gespräch war denkbar schlecht gewählt, das wurde ihm bewußt, als er sich vergeblich bemühte, das Gesicht des anderen zu erkennen.

„Ich glaube schon. Einem Menschen wäre aus den bewußten Gründen daran gelegen, und einem Nichtmenschen — was würde aus ihm werden, wenn sein Modell in Serie ginge? Man würde ihn der Kategorie der Bürger „zweiter Klasse“ zuordnen, also ganz einfach den Sklaven der Neuzeit. Als Eigentum irgendeiner Korporation.“

„Das ist nicht sicher.“

„Aber durchaus möglich. Es wäre wie mit den Negern: Einer oder ein paar können in einem Land durch ihre Andersartigkeit mühelos eine privilegierte Stellung erlangen, aber wenn es eine große Anzahl von ihnen gibt, taucht sofort das Problem der Segregation auf, der Integration und so weiter.“

„Na schön. Ich soll Sie also als Verbündeten betrachten. Aber verletzen Sie damit nicht auch das Versprechen, das Sie gegeben haben?“

„Ich habe mich verpflichtet, auf keinen Fall meine Identität preiszugeben, weiter nichts. Ich soll unter Ihrer Leitung die Funktion eines Nukleonikers ausüben. Das ist alles. Das übrige ist meine Privatsache.“

„Wissen Sie, auf diese Weise ist vielleicht, formal gesehen, alles in Ordnung, aber handeln Sie nicht gegen die Interessen Ihrer Brotgeber? Sie zweifeln doch wohl selber nicht daran, daß Sie gegen deren Intentionen auftreten?“

„Schon möglich. Aber das sind keine Kinder. Die Formulierungen sind klar und unmißverständlich. Sie wurden von den vereinten Rechtsabteilungen aller beteiligten Unternehmen erarbeitet. Sie hätten ja einen besonderen Passus einbauen können, der uns strikt untersagt hätte, derartige Schritte zu unternehmen. Aber so was gab’s darin nicht.“

„Ein Versehen?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht. Warum fragen Sie? Haben Sie kein Vertrauen zu mir?“

„Ich will Ihre Motive ergründen.“ Thompson schwieg eine Weile.

„Das habe ich nicht bedacht“, sagte er schließlich leise. „Was?“

„Daß Sie mein Vorgehen für eine Täuschung halten könnten. Für eine, sagen wir, von vornherein geplante Finte.

Sie treten also zu einem Spiel an, an dem zwei Seiten beteiligt sind: Sie auf der einen und wir alle auf der anderen. Wenn Sie sich nun einen Aktionsplan zurechtgelegt hätten, um uns auf die Probe zu stellen — ich meine einen Versuch, der, sagen wir, die Überlegenheit des Menschen beweisen würde, nun, und wenn Sie diesen Plan einem von uns anvertrauen würden, weil sie diesen Mann für einen Verbündeten hielten, und er dann in Wirklichkeit im gegnerischen Lager stünde, dann hätte er Ihnen eine strategisch wertvolle Information entrissen.“

„Interessant, was Sie da sagen.“

„Ach, Sie haben bestimmt schon darüber nachgedacht. Ich tue es allerdings erst jetzt, offensichtlich war ich zu sehr von der Frage in Anspruch genommen, ob ich mich Ihnen als Hintermann anbieten soll oder nicht. Diesen Aspekt des Spiels habe ich außer acht gelassen. Ja, eigentlich habe ich eine Dummheit gemacht, denn Sie können mit gegenüber ohnehin nicht aufrichtig sein.“

„Nehmen wir das mal an“, erwiderte Pirx. „Aber das ist noch keine Katastrophe, denn ich sage Ihnen zwar nichts, aber Sie können mir dies und jenes sagen. Zum Beispiel etwas über Ihre Kollegen.“

„Aber es könnte auch eine falsche Information sein, um Sie irrezuführen.“

„Überlassen Sie das ruhig mir. Wissen Sie etwas?“

„Ja. Brown ist kein Mensch.“

„Sind Sie sicher?“

„Nein. Aber es ist sehr wahrscheinlich.“

„Was für Beweise haben Sie?“

„Sie werden bestimmt verstehen, daß jeder von uns einfach begierig ist, in Erfahrung zu bringen, wer von den anderen ein Mensch ist und wer nicht.“

„Ja.“

„Während der Startvorbereitungen habe ich den Reaktor überprüft, und als Sie, Calder, Brown und Burns in die Systemkammer hinunterstiegen, wechselte ich gerade die Blenden aus. Als ich Sie sah, kam mir ein Gedanke.“

„Ja?“

“Ich hatte eine Probe bei der Hand, die ich aus dem heißen Reaktorinnern entnommen hatte, weil ich die Zerfallsverunreinigungskontrolle durchführen mußte. Es war nicht viel, aber ich wußte, daß eine ganze Menge Strontiumisotopen darin enthalten waren. Als ihr reingestiegen seid, hab ich sie also mit der Pinzette aufgenommen und dann zwischen zwei Bleiziegel gelegt, die oben auf dem Regal an der Wand standen. Haben Sie sie nicht bemerkt? “

„Doch. Und was weiter?“

„Ich konnte sie natürlich nicht genau ausrichten, auf jeden Fall aber mußtet ihr alle ein Strahlenbündel durchqueren, das ziemlich schwach war, aber immerhin wahrnehmbar, selbst mit einem wenig empfindlichen Geigerzähler oder sogar mit einem gewöhnlichen Strahlenmesser. Nun, ich war damit nicht rechtzeitig fertig geworden, und Sie und Burns waren schon weitergegangen, aber die anderen, Calder und Brown, stiegen gerade erst die Treppe hinunter, so daß nur die beiden durch die unsichtbare Strahlung hindurch mußten. Brown schaute auf einmal zu den Bleiziegeln hinauf und beschleunigte seine Schritte.“

„Und Calder?“

„Der reagierte nicht.“

„Das ergäbe einen Sinn, wenn man wüßte, ob die Nichtlinearen einen Strahlenmesser besitzen.“

„Wollen Sie mir eine Falle stellen? Sie glauben folgendes: Wenn ich nicht weiß, ob sie einen haben, dann bin ich ein Mensch, und wenn ich es weiß, dann bin ich keiner! Nichts dergleichen! Es ist nur sehr wahrscheinlich, denn wenn sie uns in keinerlei Weise überlegen wären, wozu hätte man sie dann überhaupt bauen sollen? So ein zusätzlicher radioaktiver Sinn könnte doch sehr nützlich sein, besonders in einem Raumschiff. Die Konstrukteure haben sicherlich daran gedacht.“

„Sie sagen also, Brown hätte so einen Sinn?“

„Ich wiederhole: Ich bin nicht sicher. Es kann schließlich auch Zufall gewesen sein, daß er seine Schritte beschleunigte und da hinaufsah, aber an einen solchen reinen Zufall glaube ich kaum.“

„Noch was?“

„Vorläufig nichts. Ich unterrichte Sie, wenn ich etwas bemerke, sofern Sie es wünschen.“

„Gut. Ich danke Ihnen.“

Thompson erhob sich und verschwand in der Dunkelheit. Pirx blieb allein. Die Sache ist also die…, faßte er rasch zusammen. Brown behauptet, ein Mensch zu sein, Thompson wiederum sagt, er sei keiner, er selbst gibt zwar seine Identität nicht preis, suggeriert aber, daß er ein Mensch ist — jedenfalls wäre das ein einleuchtendes Motiv für sein Vorgehen. Ich habe das Gefühl, daß ein Nichtmensch dem Kommandanten, einem Menschen also, nicht so bereitwillig einen zweiten Nichtmenschen verraten würde, obwohl ich schon ziemlich schizophren bin und obwohl mir allmählich alles möglich erscheint.

Doch weiter: Burns sagt, er sei kein Mensch. Bleiben also Burton und Calder. Vielleicht halten sich beide für Marsbewohner? Was bin ich eigentlich: Kosmonaut oder Quizspieler? Aber eines steht immerhin fest: Keiner von ihnen hat auch nur ein Quentchen irgendeiner Information darüber aus mir herausgequetscht, was ich zu tun beabsichtige, worauf ich mir nicht mal etwas einbilden kann, denn ich habe nicht aus Schläue geschwiegen, sondern deshalb, weil ich selbst keinen blassen Schimmer habe, was ich machen soll. Ist es denn wirklich so wichtig, sie alle zu identifizieren? Kaum. Das könnte ich mir wohl sparen, ich muß sie ja sowieso alle auf die Probe stellen und nicht nur einen oder zwei. Die einzige Information, die etwas mit der Sache zu tun hat, stammt von Burns — nämlich daß die Nichtlinearen in puncto Intuition ausgesprochene Nieten sind. Ob das stimmt, weiß ich nicht, aber versuchen kann man’s ja mal. Aber dieses „mal“ muß ich so arrangieren, daß es ganz natürlich aussieht. Und echt wiederum wird so ein Fall nur wirken, wenn er fast unabwendbar ist. Kurzum, es gilt Kopf und Kragen zu riskieren…

Im lilafarbenen Halbdunkel betrat Pirx die Kajüte und tastete nach dem Schalter. Er brauchte nicht daraufzudrücken, denn als seine Hand näher kam, schaltete sich das Licht von selbst ein.

Jemand war vor ihm hiergewesen. Anstelle der Bücher, die auf dem Tisch gelegen hatten, befand sich jetzt ein kleines weißes, maschinenbeschriftetes Kuvert dort: Commander Pirx. Er hob es auf, es war zugeklebt. Er schloß die Tür, setzte sich und riß das Kuvert auf — es enthielt ein mit Maschine vollgeschriebenes Blatt Papier ohne Unterschrift. Er rieb sich die Stirn und begann zu lesen. Die Anrede fehlte.

Diesen Brief schreibt Ihnen ein Mitglied der Besatzung, das kein Mensch ist. Ich habe diesen Weg gewählt, weil er meine Interessen mit den Ihren vereint. Ich will, daß Sie die Pläne der Elektronenfirmen vereiteln oder zumindest ihre Verwirklichung erschweren. Deshalb möchte ich Ihnen einige Informationen über die Eigenschaften der Nichtlinearen liefern, soweit ich auf Grund meiner eigenen Erfahrungen darüber Bescheid weiß. Einen ähnlichen Brief hatte ich schon geschrieben, noch ehe ich Sie zu Gesicht bekam. Ich wußte damals noch nicht, ob der Mensch, der Kommandant des „Goliath“ werden würde, zur Zusammenarbeit mit mir bereit wäre, doch aus Ihrem Verhalten bei unserer ersten Begegnung schloß ich, daß Sie dasselbe Ziel verfolgen wie ich. Deshalb habe ich die erste Variante dieses Briefes vernichtet und schrieb diesen hier. So wie ich die Dinge einschätze, kann die Verwirklichung des Projekts der Firmen mir nicht zum Nutzen gereichen. Allgemein gesehen hat die Produktion von Nichtlinearen nur dann einen Sinn, wenn sie dem Menschen in einer breiten Parameterskala überlegen sind. Eine Variation des bereits existierenden Menschentyps wäre absolut sinnlos. Ich will Ihnen auch gleich verraten, daß ich viermal weniger beschleunigungsempfindlich bin ah der Mensch, daß ich eine einmalige Strahlungsintensität bis zu fünfundsiebzigtausend Röntgen vertragen kann, ohne Schaden zu nehmen, daß ich einen Radioaktivitätssinn besitze, ohne Sauerstoff und Nahrung auskomme und schließlich fähig bin, mathematische Operationen in den Bereichen Algebra, Analyse und Geometrie mit einer Geschwindigkeit vorzunehmen, die nur um ein Dreifaches geringer ist ah die Leistung großer Rechenautomaten. Was das emotionale Leben anbelangt, so sind mir, soweit ich das überblicke, im Vergleich zum Menschen erhebliche Beschränkungen auferlegt. Eine Vielzahl von Angelegenheiten, die den Menschen beschäftigen, interessieren mich nicht. Die Mehrzahl der literarischen Werke, Theaterstücke und ähnliches mehr empfinde ich als uninteressant oder indiskretes Gewäsch, als eine Art Bespitzelung fremder Privatangelegenheiten, die, was ihren Erkenntniswert angeht, recht unergiebig sind. Sehr viel hingegen bedeutet mir die Musik. Ich besitze Pflichtgefühl und Ausdauer, bin zu Freundschaft und zu Ehrfurcht gegenüber intellektuellen Werten fähig. Ich fühle mich zu meiner Arbeit an Bord des „Goliath“ nicht gezwungen, weil das, was ich tue, die einzige Sache ist, die ich richtig beherrsche, und etwas solide und gründlich zu tun verschafft mir Befriedigung. In keiner Situation engagiere ich mich emotionell, ich bleibe stets der außenstehende Beobachter der Ereignisse. Ich besitze ein Gehirn, mit dem sich das menschliche nicht messen kann. Ich bin imstande, ganze Kapitel von Werken auswendig herzusagen, wenn ich sie einmal gelesen habe; durch Direktanschluß an den Gedächtnisspeicher einer großen Rechenmaschine kann ich „mit Informationen aufgeladen“ werden. Andererseits bin ich in der Lage, beliebig zu vergessen, was ich für mein Gedächtnis als Ballast erachte. Meine Einstellung zu den Menschen ist negativ. Ich bin fast ausschließlich mit Wissenschaftlern und Technikern in Berührung gekommen — selbst sie handelten als Sklaven ihrer Impulse, verbargen ihre Vorurteile schlecht, fielen leicht von einem Extrem ins andere, indem sie ein Wesen wie mich entweder gönnerhaft behandelten oder, im Gegenteil, ihm gegenüber Abscheu und Widerwillen empfanden, wobei meine Mißerfolge sie — als meine Schöpfer — bekümmerten, obwohl sie sich — als Menschen — darüber freuten, darüber nämlich, daß sie letztlich doch vollkommener sind als ich. Ich habe nur einen einzigen Menschen gekannt, der nicht eine derartige Ambivalenz an den Tag legte. Ich bin weder aggressiv noch pervers, obgleich ich zu Handlungen fähig bin, die euch unverständlich wären, obwohl auch sie nur der Realisierung eines bestimmten Plans dienen. Ich besitze keinerlei moralische Prinzipien, aber ich würde kein Verbrechen verüben und keinen Raubüberfall planen, genausowenig wie ich ein Mikroskop benützen würde, um damit Nüsse zu knacken. In die kleinen menschlichen Intrigen einzudringen, halte ich für sinnlos. Vor hundert Jahren hätte ich sicherlich beschlossen, Gelehrter zu werden. Heute kann man auf diesem Gebiet nicht mehr als einzelner arbeiten, und irgend etwas mit irgend jemandem zu teilen entspricht nicht meiner Natur. Eure Welt ist für mich entsetzlich öde und leer und nur als Ganzheit des Einsatzes wert. Demokratie ist die Herrschaft von Intriganten, von Dummköpfen gewählt, und eure ganze Unlogik zeigt sich in der Jagd nach dem Unmöglichen — ihr möchtet, daß die Zahnräder einer Uhr über ihren übergeordneten Lauf entscheiden! Ich habe mir überlegt, was ich von der Macht hätte. Herzlich wenig, denn es ist ein zweifelhafter Ruhm, über solche Wesen zu herrschen! Wenig, aber besser als nichts. Eure ganze Geschichte also in zwei Teile zu teilen, vor mir und nach mir, sie völlig umzukrempeln, sie in zwei unzusammenhängende Teile zu zerreißen, damit ihr begreift und daran erinnert werdet, was ihr mit euren eigenen Händen tatet, indem ihr mich schuft, wozu ihr euch erkühntet, als ihr den Bau einer dem Menschen ergebenen Puppe aushecktet — das ist, so glaube ich, nicht die allerschlechteste Vergeltung. Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch — ich habe durchaus nicht vor, ein Tyrann zu werden, zu wüten, zu vernichten und Kriege zu führen! Nichts dergleichen! Sobald ich die Macht errungen habe, werde ich demonstrieren, daß es keine noch so sinnlose Tollheit, keine noch so augenscheinlich absurde Idee gibt, die ihr nicht als die eure akzeptiertet, so sie euch nur entsprechend aufgedrängt wird. Ich setze, was ich beschlossen habe, nicht durch Gewalt in die Tat um, sondern durch den vollständigen Umbau der ganzen Gesellschaft, damit nicht ich oder eine bewaffnete Übermacht, sondern die einmal geschaffene Situation selbst euch zu Dingen zwingt, die mehr und mehr mit meiner Absicht korrespondieren. Ihr seid zunächst einmal ein einziges Welttheater, doch bald wird, wie das bei euch stets der Fall ist, die Schauspielerei, wenn sie euch einmal aufgezwungen wird, zu eurer zweiten Natur werden, und ihr werdet nichts anderes mehr kennen als eure neuen Rollen, und ich allein werde der Zuschauer sein, der alles durchschaut. Ja, nur der Zuschauer, denn ihr könnt aus der Grube, die ihr euch mit eigenen Händen gegraben habt, nicht so schnell wieder herausfinden, und damit wird meine aktive Teilnahme an jener Umwandlung erschöpft sein.

Wie Sie sehen, bin ich ehrlich, aber nicht verrückt — ich verrate Ihnen meine Idee nicht. Die Vorbedingung dafür wäre, daß die Pläne der Elektronenfirmen durchkreuzt werden, und Sie werden mir dabei helfen. Wenn Sie diese Zeilen lesen, werden Sie empört sein, aber als sogenannter Mensch mit Charakter werden Sie beschließen, weiterhin auf eine Weise vorzugehen, die für mich — rein zufällig! — von Vorteil ist. Ausgezeichnet! Ich würde Ihnen gern konkret dabei unter die Arme greifen, aber das ist gar nicht so einfach, da ich an mir leider keinerlei Mängel entdecken kann, die es Ihnen ermöglichen würden, den entscheidenden Sieg davonzutragen. Ich fürchte mich eigentlich vor nichts, physischer Schmerz ist mir unbekannt, ich bin in der Lage, mein Bewußtsein beliebig auszuschalten und in eine Art Scheinschlaf zu versinken, der ein Nichtexistieren ist — bis zu dem Zeitpunkt, da mein selbsttätiges Zeitmaßsystem mein Bewußtsein wieder einschaltet. Ich kann den Lauf meiner Gedanken verlangsamen und beschleunigen, beinahe um das Sechsfache im Vergleich zum Tempo der Prozesse im menschlichen Gehirn. Neue Dinge lerne ich mit der allergrößten Leichtigkeit, weil ich sie nicht erst durch ein allmählich zu steigerndes Training zu festigen brauche. Wenn ich mir, einmal angenommen, einen Wahnsinnigen aus der Nähe betrachtete, dann könnte ich mich ohne die geringste Anstrengung ebenfalls in einen solchen verwandeln, indem ich jede Gebärde und jedes Wort nachahmte, und was das wichtigste ist, ich könnte, und sei es nach Jahren, ebenso plötzlich wieder aus dem Spiel aussteigen. Ich möchte Ihnen sagen, wie man mich besiegen kann, aber ich fürchte, es ist einfacher, in einer analogen Situation einen Menschen zu besiegen. Der Umgang mit Menschen bereitet mir keinerlei Schwierigkeiten, wenn ich mir den Befehl dazu erteile. Das Zusammenleben mit anderen Nichtlinearen würde mir schwerer fallen, und zwar deshalb, weil sie nicht eure gewöhnliche „Redlichkeit“ haben. Ich muß diesen Brief beenden. Die historischen Ereignisse werden Ihnen eines Tages Antwort auf die Frage geben, wer ihn geschrieben hat. Vielleicht begegnen wir uns dann einmal, und dann werden Sie auf mich zählen können, so wie ich jetzt auf Sie zähle.

Das war alles. Pirx las bestimmte Absätze noch einmal, dann faltete er das Blatt sorgfältig zusammen, steckte es in das Kuvert zurück und schloß es in sein Schubfach ein. Das ist vielleicht ein Elektronen-Dschingis-Khan!

dachte er. Verspricht mir Protektion, wenn er erst Beherrscher der Welt ist! Sehr gnädig! Entweder hat Burns überhaupt gelogen, oder er ist anders, oder er hat mir nicht alles sagen wollen, denn gewisse Parallelen sind schon vorhanden. Was für ein Größenwahn! Ja, aber Parallelen gibt es wirklich, sogar ziemlich deutliche! Was für eine widerliche, kaltschnäuzige, hohle Person! Aber ist das seine Schuld? Ein geradezu klassischer „Zauberlehrling“! Diese Herren Ingenieure hätten ja nichts zu lachen, wenn er sie sich tatsächlich vorknöpfen sollte… Aber was soll er mit den paar Ingenieuren, er brauchte die ganze Menschheit! So was nennt man, glaube ich, einen Paranoiker… Haben sie sauber hingekriegt, die Sache mit diesen Nichtlinearen, das muß man ihnen lassen. Sie mußten ihr „Produkt“ mit sogenannten Überlegenheitseigenschaften ausstatten, um Käufer zu finden, und daß eine solche Überlegenheit in der einen oder anderen Hinsicht die Entstehung eines absoluten Überlegenheitsgefühls nach sich zieht, des Gefühls, für das Endgültige, Absolute prädestiniert zu sein — das ist nur die logische Konsequenz… Was für Idioten sind doch diese Kybernetiker! Ich wüßte zu gern, wer das geschrieben hat, denn der Brief ist ja wohl echt. Wozu hätte er sonst… Er betont in einem fort seine Überlegenheit, woraus hervorgeht, daß allen meinen Bemühungen von vornherein der Mißerfolg bestimmt ist, da er ohnehin bis zum Schluß unfehlbar bleibt — und trotzdem wünscht er mir Erfolg? Er weiß, wie er sich die ganze Menschheit unterwerfen kann, verrät mir aber nicht, wie ich der Situation auf diesem verdammten Schiff Herr werden soll? Das Mikroskop ist zu schade zum Nüsseknacken?…

Ein schöner Reinfall! Vielleicht macht er das aber auch bloß, um mich hinters Licht zu führen…

Pirx nahm das Kuvert aus der Schublade und besah es sich noch einmal genau — keinerlei Aufdrucke, keine Spuren, nichts. Warum hat Burns mir nichts von diesen enormen Unterschieden gesagt? Nichts über ihren radioaktiven Sinn, über das Denktempo und das ganze Drum und Dran — ob ich ihn danach frage? Aber angeblich soll ja jeder von einer anderen Firma hergestellt worden sein, vielleicht ist Burns also wirklich anders konstruiert? Angaben über sie habe ich ja nun jede Menge. Sieht ganz so aus, als hätte das Burton oder Calder geschrieben, aber wer war es wirklich? Was Brown anbelangt, so gibt es zwei widersprüchliche Aussagen: seine eigene, daß er ein Mensch sei, und die von Thompson, daß er keiner sei.

Aber Thompson kann sich schließlich irren. Burns ein Nichtlinearer? Nehmen wir mal an, das stimmt. Es hat ganz den Anschein, als ob auf fünf Besatzungsmitglieder mindestens zwei Nichtlineare kommen. Hm. Nach der Anzahl der beteiligten Firmen zu urteilen wäre es wahrscheinlicher, wenn ich’s mit dreien zu tun hätte. Was für Überlegungen mögen die wohl angestellt haben, dort bei sich? Daß ich alles daransetzen werde, ihre Erzeugnisse zu disqualifizieren, daß mir das nicht gelingt und daß ich das Raumschiff in irgendeine dumme Geschichte verwickeln würde. Überlastung, Reaktorhavarie oder so. Wenn beide Piloten versagten, na, und ich auch, dann ginge das Schiff hops. Das entspricht nicht ihren Intentionen. Folglich muß mindestens einer von den Piloten ein Nichtlinearer sein. Außerdem wird noch der Nukleoniker gebraucht. Zwei Mann müssen unbedingt zum Manövrieren dasein, um das Schiff wieder unterzubringen. Mit weniger Leuten geht’s nicht. Also sind es mindestens zwei, wahrscheinlich aber drei: Burns, Brown oder Burton und noch einer. Teufel noch mal, ich wollte mich doch nicht mehr damit abgeben, sie zu identifizieren. Das wichtigste ist, was zu erfinden. Mein Gott, ich muß mir was einfallen lassen! Ich muß! Er löschte das Licht, warf sich im Anzug auf die Koje und blieb so liegen, während ihm die unheimlichsten Projekte im Kopf herumwirbelten, die er aber samt und sonders wieder verwarf. Man müßte sie irgendwie provozieren. So provozieren, daß sie aneinandergeraten, aber es müßte ganz natürlich zugehen, ohne meine Beteiligung. So daß die Menschen gewissermaßen auf der einen Seite stünden und die Nichtmenschen auf der anderen. Teile und herrsche, was?

Eine Spaltungssituation. Es muß erst mal irgendwas Unvorhergesehenes passieren, sonst geht’s nicht. Aber wie ist das zu arrangieren? Wenn nun plötzlich einer verschwände? Nein, das wäre ja wie in einem idiotischen Krimi. Ich leg doch keinen um und inszeniere keine Entführung! Einer müßte demnach auf meiner Seite sein — aber kann ich denn überhaupt einen von denen trauen? Angeblich habe ich ja gleich vier auf meiner Seite — Brown, Burns, Thompson, na und diesen Briefschreiber. Aber sie sind durch die Bank unsichere Kandidaten, weil man nicht weiß, ob sie ehrlich sind, und wenn ich mir jemanden zum Komplizen nähme, der falschspielt, dann könnte ich leicht in Teufels Küche kommen. Thompson hat wirklich ins Schwarze getroffen, als er das sagte. Vielleicht ist der Briefschreiber noch der sicherste, weil ihm sehr viel an der Geschichte liegt, obwohl er den Verrückten mimt. Aber erstens weiß ich nicht, wer der Schreiber ist — und er wird sich nicht zu erkennen geben —, und zweitens läßt man sich vielleicht doch lieber nicht mit so einem ein. Die Quadratur des Kreises, so wahr ich lebe! Das Schiff an einem Titanen zerschmettern, wie? Physisch sind sie vermutlich wirklich widerstandsfähiger, ich brech mir also als erster das Genick. Intellektuell scheinen sie auch keine Schwachköpfe zu sein. Nur diese Intuition, dieser Mangel an schöpferischen Fähigkeiten…, aber damit hapert’s ja auch bei den meisten Menschen! Was bleibt mir also? Rivalität auf dem Gebiet der Emotionen, nicht des Intellekts? Des sogenannten Humanismus? Der Menschlichkeit? Wunderbar, aber wie ist das zu bewerkstelligen? Worin besteht diese Menschlichkeit, die sie nicht besitzen? Vielleicht ist sie tatsächlich nur die Verschmelzung zwischen Unlogik und jener „Redlichkeit“, jener „Lauterkeit des Herzens“ und jenem primitiven moralischen Instinkt, der die entfernteren Glieder der Ursache-Wirkung-Kette nicht mehr erfaßt? Da also Rechenmaschinen nicht redlich und nicht unlogisch sind… So verstanden ist Menschlichkeit also die Summe all unserer Defekte, Mängel, eben unserer Unvollkommenheit? Sie ist das, was wir sein möchten und nicht sein können, das, was wir nicht vermögen, wozu wir nicht imstande sind — sie ist einfach die Kluft zwischen unseren Idealen und ihrer Verwirklichung, oder etwa nicht? Folglich müssen wir in diesem Wettlauf auf die Schwäche setzen!

Das heißt eine Situation finden, in der die Schwäche und Unzulänglichkeit des Menschen besser ist als die Stärke und Vollkommenheit der Nichtmenschen…

Diese Bemerkungen schreibe ich ein Jahr nach Abschluß des Falles „Goliath“ nieder. Es ist mir eigentlich mehr durch Zufall gelungen, in den Besitz von Material zu kommen, das darauf Bezug nimmt. Obwohl es meinen früheren Verdacht bestätigt, möchte ich vorerst von einer Veröffentlichung absehen. Meine Rekonstruktion der Ereignisse enthält noch immer zu viele Vermutungen, die nicht bewiesen sind. Vielleicht nehmen sich eines Tages die Raumfahrthistoriker der Sache an. Über die Verhandlung vor der Kosmischen Kammer waren verschiedene Gerüchte im Umlauf. Es hieß, daß gewissen Kreisen, die mit den beteiligten Firmen liiert sind, viel daran gelegen wäre, mich als Kommandanten des Raumschiffs in Mißkredit zu bringen. Das Gutachten über die Ergebnisse des Experimentalfluges, das ich im „Nautical Almanac“ veröffentlicht habe, wäre von höchst zweifelhaftem Wert gewesen, denn es stamme ja von einem Manne, der wegen sträflicher Vergehen bei der Führung des Raumschiffs von der Kammer gerügt wurde. Andererseits habe ich von einer vertrauenswürdigen Person erfahren, daß die Zusammensetzung des Tribunals kein reiner Zufall war. Auch ich war über die große Zahl von Juristen, Theoretikern des Kosmischen Rechts erstaunt, ebenso über die Anwesenheit nur eines einzigen Praktikers, eines Kosmonauten. Dadurch rückte eine formelle Frage in den Vordergrund, nämlich ob mein Verhalten während der Havarie im Einklang mit der Raumfahrt-Charta gestanden habe oder nicht. Und so wurde ich denn auch beschuldigt, mich sträflich passiv verhalten zu haben, indem ich dem Piloten keinerlei Befehle erteilte, so daß er dann auf eigene Faust zu handeln begann. Die schon erwähnte Vertrauensperson gab mir zu verstehen, ich hätte sofort nach der Lektüre der Anklageschrift gegen die besagten Firmen auftreten müssen, weil sie sich indirekt schuldig gemacht hätten, indem sie sowohl der UNESCO als auch mir versicherten, man könne den Nichtlinearen als Besatzung grenzenloses Vertrauen entgegenbringen. Dabei hätte Calder uns alle doch um ein Haar ins Jenseits befördert.

Ich erklärte diesem Mann unter vier Augen, warum ich das nicht getan hatte. Das, womit ich vor dem Tribunal in der Rolle des Anklägers hätte auftreten können, besaß keinerlei Beweiskraft. Die Sprecher der Firmen wären zweifellos mit der Behauptung aufgetreten, Calder hätte so lange wie irgend möglich versucht, das Schiff und uns alle zu retten, aber die strudelartige Präzessionsbewegung, die den „Goliath“ zum Trudeln brachte, wäre für ihn ebenso überraschend gekommen wie für mich. Seine ganze Schuld habe in folgendem bestanden: Statt sich dem Zufall zu überlassen und abzuwarten, ob das Schiff am Ring zerschmetterte oder doch noch glücklich die Cassinische Teilung überwand, statt also diese Ungewißheit zu wählen, die aber für alle hätte die Rettung bedeuten können, entschied er sich für den Weg, der für alle Menschen an Bord den sicheren Tod bedeutet hätte.

Dieses Vergehen — soviel stand fest — war unverzeihlich und diskreditierte ihn völlig, aber es war dennoch unvergleichlich geringfügiger als das, dessen ich ihn schon damals verdächtigte. Ich konnte ihn also nicht eines kleineren Fehlers bezichtigen, wenn ich damals bereits annahm, daß die Sache sich in Wirklichkeit noch ganz anders zugetragen habe. Da ich aber mangels Beweises dieses größere und schlimmere Verbrechen nicht ans Licht der Öffentlichkeit bringen konnte, entschloß ich mich, das Urteil der Kammer abzuwarten.

Unterdessen hat man mich von allen Vorwürfen freigesprochen und völlig rehabilitiert. Zugleich verlor man die Kernfrage der ganzen Katastrophe immer mehr aus den Augen, und zwar die Frage, was die zu erteilenden Befehle eigentlich für einen Inhalt haben sollten. Man ging sozusagen automatisch darüber hinweg, da das Tribunal ja zu dem Schluß kam, ich hätte richtig gehandelt, wenn ich dem Wissen und dem fachkundigen Einschätzungsvermögen des Piloten vertraute. Da es also gar nicht meine Pflicht gewesen war, einen Befehl zu erteilen, fragte auch niemand mehr danach, wie der Befehl eigentlich hätte lauten sollen. Das kam mir sehr gelegen, denn alles, was ich bei einer Befragung hätte antworten können, hätte sich wie ein phantastisches Märchen angehört. Ich war nämlich der Meinung, und dieser Meinung bin ich auch heute noch, daß die Sache mit der Sonde nicht auf einem Zufalle beruhte, sondern absichtlich von Calder arrangiert worden war. Lange bevor wir den Saturn erreichten, hatte er sich einen Plan ausgetüftelt, der mir recht geben und der mich zugleich, zusammen mit den anderen Menschen an Bord des „Goliath“, das Leben kosten sollte. Warum er dies tat, steht auf einem anderen Blatt, und ich kann mich dabei lediglich auf Hypothesen stützen. Zunächst also die Geschichte mit der zweiten Sonde. Die Sachverständigen stellten fest, daß die Havarie durch ein unglückseliges Zusammentreffen verschiedener Umstände verursacht wurde. Während der sorgfältigen Überprüfung im irdischen Dock hatte man keine Spuren von Sabotage entdeckt. Ich glaube, man ist der Wahrheit nicht auf den Grund gekommen. Wenn die erste Sonde versagt hätte, die für die Cassinische Teilung vorgesehen war, hätten wir sofort umkehren müssen, ohne unseren Auftrag erfüllt zu haben, weil die anderen beiden Sonden nicht imstande waren, die erste zu ersetzten: Sie hatten keine wissenschaftliche Apparatur an Bord. Wäre die dritte Sonde ausgefallen, hätten wir mit erfülltem Auftrag zurückfliegen können, weil ja der ersten Sonde zur Kontrolle auch eine Sonde als „Wächter“ genügt hätte, und das wäre dann eben die zweite Sonde gewesen. Aber es war ausgerechnet die zweite, die versagte und uns auf halbem Weg überraschte, mit einer zwar begonnenen, aber nicht abgeschlossenen Aufgabe. Was war passiert?

Das Zündkabel hatte sich zu zeitig gelöst, und dadurch konnte Calder den Startautomaten nicht ausschalten. Die Expertise der Sachverständigen lautete, das Kabel habe sich verfangen und zu einem Knoten verschlungen. So was kommt vor. Ich hatte allerdings vier Tage vor dem Ereignis die Trommel gesehen, auf die das Kabel — sehr ordentlich und gleichmäßig — aufgespult war.

Der Bugteil der Sonde war deformiert, er war mit der Abplattung fest in der Rampe eingekeilt. Als Ursache fand man lediglich folgende Erklärung: Offensichtlich sei der Booster daran schuld gewesen, denn er sei nicht in der Achse ausgebrannt. Die Sonde, von heftigem Seitenschub vorwärts gestoßen, sei so unglücklich gegen den Rand des Ausstoßluks geschlagen, daß ihr Kopf dabei plattgedrückt und deformiert wurde. Aber die Sonde verklemmte sich vor dem Zünden des Boosters und nicht danach! In diesem Punkt gab es für mich keinen Zweifel, aber niemand fragte mich danach. Was Quine betrifft, so war er sich darin nicht ganz sicher, und die anderen Menschen durften in dieser Sache nicht aussagen, da sie keinen direkten Zugang zur Steuerung und zu den Instrumenten hatten.

Die Sonde einzuklemmen, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen — das war im übrigen ein Kinderspiel. Man brauchte nur ein paar Eimer Wasser durch den Ventilationsschacht in die Rampe zu schütten. Das Wasser lief zum Luk, gefror um die Sonde herum und schweißte sie durch einen Ring aus Eis mit dem Rand des Ausstoßluks zusammen. Die Temperatur des Luks ist ja genau so niedrig wie die Temperatur des Vakuums. Calder schlug bekanntlich mit der Tatze sehr heftig auf den Sondenkörper. Zu diesem Zeitpunkt war sie noch keineswegs eingeklemmt, aber er saß ja an der Steuerung, und keiner konnte das nachprüfen. Er machte im Grunde genau dasselbe, was ein Schmied beim Nieten macht. Der Bug der Sonde, der fest in dem Eisring saß, deformierte sich, verbreiterte sich und wurde breitgeklopft wie ein Nietenkopf. Als der Booster zündete, stieg in der Rampe sofort die Temperatur: Das Eis schmolz, das Wasser verdunstete, und von der ganzen geschickten Manipulation blieb nicht die geringste Spur zurück.

Von alledem wußte ich während der Havarie noch nichts. Die Häufung der Zufälle kam mir allerdings etwas seltsam vor: Daß gerade die zweite Sonde ausfiel und nicht die erste oder die dritte, daß das Kabel zwar die Zündung des Boosters ermöglicht, aber gleichzeitig das Ausschalten des Sondentriebwerks vereitelt hatte — es war der Zufälle ein bißchen zuviel. Die Havarie überraschte mich völlig, zum Nachdenken kam man kaum.

Dennoch zuckte mir blitzartig der Gedanke durch den Kopf, ob nicht vielleicht eine Verbindung zwischen den Vorfällen und dem anonymen Brief bestünde. Sein Verfasser hatte mir „Hilfe“ versprochen, er stand, wie er mir geschrieben hatte, auf meiner Seite, er wollte beweisen, daß Wesen seiner Art für die Raumfahrt ungeeignet seien. Auch in diesem Punkt besitze ich keinerlei Beweise, aber ich glaube, daß dieser Brief von Calder stammte.

Gewiß, er stand auf meiner Seite, aber einen Verlauf der Ereignisse, der gezeigt hätte, daß er ungeeignet, und zwar schlechter sei als ein Mensch — das wünschte er sich nicht. Die Möglichkeit einer Rückkehr auf die Erde, nach der ich, sein Flugkapitän, mich hingesetzt und eine disqualifizierende Beurteilung über ihn geschrieben hätte, schloß er von vornherein aus. Unsere Ziele stimmten mithin nur bis zu einem bestimmten Punkt der Route überein, dann trennten sich unsere Ambitionen. In seinem Brief hatte er mir zu verstehen gegeben, daß uns eine Art Bündnis vereine. Aus dem, was er von mir und über mich gehört hatte, folgerte er, daß auch ich die Chance in Erwägung zog, die mir ein an Bord arrangierter Unfall bot — als Tauglichkeitstest für die Mannschaft. Er war also ganz sicher, daß ich die Havarie, die sich so günstig anbot, ausnutzen würde. Hätte ich das getan, hätte ich mir mein eigenes Grab geschaufelt.

Was war der Beweggrund für diesen Schritt? Menschenhaß? Vielleicht bereitete ihm dieses Spiel auch Vergnügen, ein Spiel, in dem ich, sein offizieller Vorgesetzter und geheimer Verbündeter, in Wirklichkeit genau das tun würde, was er von vornherein geplant hatte — auch für mich geplant? Er war jedenfalls sicher, daß ich versuchen würde, die Havarie zu nutzen, um die Besatzung „auf die Probe zu stellen“, selbst wenn ich den Verdacht hegte, daß Sabotage im Spiele war.

Was konnte ich in diesen Augenblicken tun? Selbstverständlich konnte ich den Befehl zur Umkehr geben oder auch verlangen, der Pilot solle noch einmal versuchen, die letzte Reservesonde auf eine Umlaufbahn zu bringen.

Der Befehl zur Rückkehr wäre gleichbedeutend gewesen mit dem Verzicht, meine Leute unter schwierigen Bedingungen zu testen, und mit der Nichterfüllung der dem „Goliath“ gestellten Aufgabe. Calder folgerte richtig, daß ich diesen Weg nicht wählen würde.

Ich hätte auch befehlen können, zum Saturn zurückzukehren und die Operation mit der letzten noch verbliebenen Sonde in Angriff zu nehmen. Calder war hundertprozentig davon überzeugt, daß dies geschehen würde. Wenn mich vorher jemand gefragt hätte, wie ich mich angesichts einer solchen Alternative verhalten würde, hätte ich ihm offen gestanden ohne Zögern geantwortet, ich würde Befehl erteilen, die weiteren Operationen vorzunehmen, und wäre dabei absolut aufrichtig gewesen. Es geschah jedoch etwas Unerwartetes: Ich schwieg.

Warum? Das ist mir auch heute noch ein Rätsel. Ich begriff nicht ganz, was eigentlich los war, die Havarie war merkwürdig, sie kam so haargenau im rechten Augenblick, stimmte so haargenau mit meinen Gedanken überein — zu genau, als daß all dies mit rechten Dingen zugehen konnte. Ich spürte auch sofort, daß Calder mit ungewöhnlicher Bereitwilligkeit auf meine Worte wartete, auf meine Entscheidung — wahrscheinlich schwieg ich gerade deshalb. Hätte ich etwas gesagt, so wäre das gewissermaßen die Besiegelung eines heimlich geschlossenen Bundes gewesen — falls er den Ereignissen tatsächlich „nachgeholfen“ hatte. Ich spürte, daß es mit dem, was hier seinen Lauf nahm, nicht einmal dann seine Richtigkeit hatte, wenn man es als ein abgekartetes Spiel betrachtete. Wenn ich wirklich so dachte, hätte ich den Befehl geben müssen, das Raumschiff vom Planeten fernzuhalten, doch das wagte ich auch wieder nicht: Der Verdacht, der in mir keimte, war nur verschwommen, mir fehlte die leiseste Spur eines Beweises. Kurz und gut — ich wußte einfach nicht, was ich tun sollte.

Calder indessen wollte es offenbar nicht wahrhaben, daß sein großartiger Plan ins Wasser zu fallen drohte. Unser Zweikampf wurde innerhalb einer Minute ausgetragen; aber was war ich schon für ein Gegner — ich, der ich doch gar nicht begriff, was da eigentlich gespielt wurde. Erst später, in der Erinnerung, entdeckte ich bestimmte Zusammenhänge zwischen einzelnen, scheinbar harmlosen Vorkommnissen. Mir fiel ein, wie oft Calder mutterseelenallein vor dem Hauptkalkulator gehockt hatte, der zur Lösung schwieriger Raumfahrtprobleme diente, und wie sorgfältig er jedesmal, wenn er mit seinen Berechnungen fertig war, alle Gedächtnisspeicher des Kalkulators gelöscht hatte. Heute bin ich sicher, daß er bereits damals die verschiedenen Varianten der Havarie berechnete, daß er sich Zoll für Zoll darauf vorbereitete, daß er ein regelrechtes Modell der Katastrophe schuf.

Es ist nicht wahr, daß er über den Ringen flog und blitzartige Berechnungen im Kopf anstellte, nur auf die Gravimeterwerte gestützt. Er brauchte überhaupt nichts mehr zu berechnen. Er hatte alle Berechnungen fertig, da er der Maschine die Tafeln mit den Näherungslösungen eingegeben hatte und nur noch zu überprüfen brauchte, ob die Gravimeterdaten im Bereich der entsprechenden Werte lagen. Ich hatte seinen todsicher scheinenden Plan torpediert, als ich mit der Befehlsverweigerung zögerte. Er wartete auf einen Befehl wie auf die Erlösung, denn ein solcher Befehl bildete die Grundlage seines Plans. In diesen Sekunden dachte ich weder daran, noch war es mir überhaupt irgendwie bewußt — aber im Steuerraum befand sich ja, gut versiegelt, das Ohr der Erde, das jedes gesprochene Wort aufnahm, zwar mit Verzögerung, aber immerhin. Alles, was im Bereich der Steuerung gesprochen wird, wird von den Registrierapparaten festgehalten. Nach der Rückkehr des „Goliath“ mit seiner toten Besatzung hätten die Ermittlungen begonnen, und zwar mit dem Abhören der Registrierbänder. Diese mußten also unberührt sein und sich in einwandfreiem Zustand befinden.

Nur meine Stimme sollte darauf fixiert sein, die Calder Anweisung gab, zum Saturn zurückzukehren, sich den Ringen zu nähern und dann den Schub wegzunehmen, um die gefährliche Präzision abzufangen. Bisher habe ich noch nicht dargelegt, warum sein Plan so großartig war. Mußte ich denn nicht einen Befehl erteilen, der den Erfolg der noch einmal von vorn begonnenen Operation gewährleistet hätte? Nun erst, mehrere Monate nach Abschluß des Falles, hab ich mich an eine Rechenmaschine gesetzt, um nachzuprüfen, welche Aussichten wir damals hatten, die letzte Sonde durch ein Manöver, das weder uns noch das Raumschiff gefährdete, erfolgreich auf eine Umlaufbahn zu bringen. Es stellte sich heraus, daß nicht die geringste Chance vorhanden war! Calder hatte aus den einzelnen Elementen mathematischer Gleichungen sozusagen ein präzises Ganzes gebaut, eine leibhaftige Exekutionsmaschine! Er hatte keinerlei Lücke gelassen, weder für mein Navigationstalent noch für die Fähigkeiten irgendeines anderen. Und wenn diese Fähigkeiten noch so außergewöhnlich gewesen wären, es gab nicht den winzigsten Spielraum für eine Rettung. Nichts sollte uns retten, weil uns nichts zu retten vermochte. Weder der Seitenschub der Sonde noch die heftigste Präzession, noch jener Todesflug waren Überraschungen für Calder, weil er eben diese Bedingungen von vornherein festgelegt und in langwierigen Berechnungen ausgeknobelt hatte. Der Befehl von mir, zum Saturn zurückzukehren, hätte genügt, und schon wären wir in den Strudel der Vernichtung hinabgerissen worden, der sich vor uns auftat. Ja, und dann hätte Calder sich möglicherweise auch noch zu einer Art „Insubordination“ erkühnt, er hätte schüchtern an einem der folgenden Befehle, mit denen ich verzweifelt versucht hätte, die heftigen Umdrehungen des Schiffes abzufangen, Kritik geübt. Die Bänder hätten dieses letzte Zeichen seiner Loyalität registriert und bewiesen, daß er bis zum Schluß bemüht gewesen war, uns zu retten.

Im übrigen wäre ich ohnehin nicht lange imstande gewesen, irgendwelche Anweisungen zu erteilen… Ich wäre sehr bald unter dem Druck der Schwerkraft verstummt, die uns die Augen zugedrückt hätte. Wir hätten dagelegen, von der Gravitation zu Boden gepreßt, unsere Blutgefäße wären geplatzt…, und dann hätte Calder als einziger aufstehen, die Plombe an den Sicherungen abreißen und den Rückflug antreten können, in einem Steuerraum, in dem es nur noch Leichen gab.

Aber ich durchkreuzte — unwissentlich! — seine Pläne. So etwas hatte er nicht in Betracht gezogen, weil er sich zwar glänzend in der Himmelsmechanik auskannte, dafür aber mehr als ungenügend in der Mechanik der menschlichen Psyche. Als ich die großartige Gelegenheit nicht beim Schöpfe packte, als ich, statt zur Wiederaufnahme der Operation zu drängen, schwieg, war er verloren. Er wußte nicht, was er machen sollte.

Zuerst wunderte er sich wahrscheinlich nur, schrieb aber die Verzögerungen dem trägen, langweiligen Denkmechanismus des Menschen zu. Dann wurde er unruhig, aber er wagte nicht mehr, mich zu fragen, was er tun solle, weil ihm mein Schweigen schon irgendwie bedeutsam vorkam. Da er selbst nicht imstande gewesen wäre, in Passivität zu verharren, konnte er nicht annehmen, daß ein anderer, nämlich sein Kommandant, dazu fähig war. Wenn ich schon schwieg, dann mußte ich auch wissen, warum. Also mußte ich Verdacht geschöpft haben. Vielleicht war ich ihm sogar auf die Schliche gekommen, vielleicht war ich wirklich der Überlegene… Wenn ich keine Befehle erteilte, wenn meine Stimme, die das Raumschiff in die Katastrophe jagte, nicht auf den Bändern zu hören sein würde, so bedeutete das für ihn, daß ich sein Spiel durchschaut und ihn überlistet hatte. Wann ihm dieser Gedanke kam, weiß ich nicht. Seine Unsicherheit bemerkten aber alle, auch Quine erwähnte sie in seinen Aussagen… Calder erteilte ihm irgendwelche Aufträge, die ziemlich sinnlos waren… Er kehrte ganz plötzlich um… All das bewies seine Verwirrung. Er mußte improvisieren, und genau das war seine schwache Seite. Er fürchtete, daß ich etwas sagen könnte: Womöglich war ich sogar entschlossen, ihn vor den mithörenden Bändern der Sabotage anzuklagen! Da gab er plötzlich großen Schub. In letzter Sekunde rief ich ihm noch zu, er solle nicht die Teilung passieren, denn ich hatte immer noch nicht begriffen, daß er das überhaupt nicht beabsichtigte.

Aber dieser Schrei, diese Spur, die nun registriert war, machte auch seinen neuen, nunmehr improvisierten Plan zunichte. Er verringerte sofort die Geschwindigkeit. Wenn die Bänder auf der Erde meinen Schrei wiederholten und nichts weiter, wäre das nicht sein Verderben gewesen? Wie eigentlich hätte er sich rechtfertigen sollen, wie sollte er später das lange Schweigen des Kommandanten und dann, als letztes Zeichen, den plötzlichen Schrei erklären? Ich mußte also danach noch einmal zu hören sein, wenigstens als Beweis, daß ich noch am Leben war…, denn aus meinem Ruf folgerte er, daß er sich geirrt hatte und daß ich doch nicht alles wußte. Dienstbeflissen antwortete er mir, er habe den Befehl nicht gehört, und dann begann er sofort, die Gurte abzuschnallen. Das war seine letzte Bewegung, seine letzte Karte — er spielte va banque. Warum tat er das, in einer Situation, in der es nicht mehr sonderlich günstig für ihn stand? Vielleicht wollte er aus Stolz nicht einmal sich selbst die Niederlage eingestehen, vielleicht ärgerte er sich, daß er mir eine genaue Einschätzung der Lage zugetraut hatte, zu der ich gar nicht fähig war? Ganz gewiß tat er es nicht aus Furcht — ich glaube nicht, daß er sich fürchtete, weil die Chance, die Teilung zu passieren, gleich Null war. In seinen Berechnungen spielte dieser Faktor überhaupt keine Rolle. Daß es Quine gelang, uns durchzuschleusen, nun, das war einfach ein Glückstreffer… Wenn Calder seine Rachegelüste an mir hätte stillen wollen — immerhin hatte er sich ja vor sich selbst lächerlich gemacht, indem er meinen Stumpfsinn für Scharfblick hielt —, wäre er kein großes Risiko eingegangen. Nun, das Spiel wäre gewiß zu meinen Gunsten ausgegangen, und Calder hätte durch sein Verhalten, durch seine Insubordination die Richtigkeit meiner Argumente bewiesen. Darauf durfte er sich also nicht einlassen. Er zog jeden anderen Ausweg vor… Dennoch bleibt die ganze Geschichte merkwürdig, denn ich begreife heute seine Reaktion so gut, bin aber nach wie vor ratlos, wenn ich das eigene Verhalten motivieren soll. Ich bin imstande, jeden seiner Schritte logisch zu rekonstruieren, aber für mein eigenes Schweigen finde ich keine Erklärung. Einfach zu sagen, es sei Unentschlossenheit gewesen, hieße die Wahrheit verzerren. Was war eigentlich geschehen? Hatte die Intuition den Ausschlag gegeben? Vorahnungen? Ach, woher! Die Gelegenheit, die sich mir durch die Havarie bot, erinnerte mich einfach allzu stark an ein Spiel mit gezinkten Karten. Ich wollte kein solches Spiel und keinen solchen Partner, und Calder wäre es in dem Moment geworden, da ich durch einen Befehl die entstandene Situation gewissermaßen gebilligt und mich zu ihr bekannt hätte. Doch ich konnte mich weder dazu noch zu einem Befehl aufraffen. Umkehr, Flucht — dieser Schritt wäre höchst angebracht gewesen, aber wie hätte ich ihn später motivieren sollen, da sich all meine Widerstände und Vorbehalte doch nur auf die nebelhafte Vorstellung von einem Fair play gründeten und gänzlich immateriell und ungeeignet waren, in die sachliche Sprache der Raumfahrt übersetzt zu werden. Man stelle sich bloß einmal vor: die Erde, irgendeine Untersuchungskommission und ich, der ich sage, ich hätte die gestellte Aufgabe nicht erfüllt, obwohl dies meiner Meinung nach technisch möglich gewesen wäre. Ich hätte aber den ersten Piloten der Sabotage verdächtigt, die mir die Disqualifizierung eines Teils der Besatzung erleichtern sollte… Hätte sich das nicht wie unverantwortliches Gewäsch ausgenommen? So zögerte ich also aus einem Gefühl der Verwirrung, der Hilflosigkeit, ja sogar des Ekels heraus und gab Calder durch mein Schweigen zugleich die Chance, sich zu rehabilitieren. So schien es mir wenigstens. Er konnte ja beweisen, daß der Verdacht der bewußten Sabotage, der auf ihn fiel, ungerechtfertigt war. Er hätte sich nur an mich zu wenden und um Befehle zu bitten brauchen…

Ein Mensch an seiner Stelle hätte das zweifelsohne getan, doch sein ursprünglicher Plan sah diese Bitte nicht vor. Sicherlich erschien er ihm dadurch sauberer und eleganter: Ich selbst sollte das Todesurteil an mir und meinen Gefährten vollstrecken, ohne ein einziges Wort von seiner Seite. Mehr noch: Ich sollte ihn zu ganz bestimmten Schritten zwingen — und das sozusagen wider sein besseres Wissen, gegen seinen Willen. Ich indessen schwieg. Schließlich waren also meine Unentschlossenheit, meine langweilige „Redlichkeit“, jene menschliche „Redlichkeit“, die er so grenzenlos verachtete, unsere Rettung und sein Verderben gewesen.

Загрузка...