Terminus

I

Von der Haltestelle war es noch weit, vor allem, wenn man einen Koffer trug wie Pirx. Der Morgen graute über den gespenstisch weißen Feldern, Lastwagen, denen silbrige Dampf Schwaden vorauseilten, rollten vorbei. Ihre Reifen quietschten auf dem Asphalt, die Stopplichter flammten rot auf vor der Kurve. Pirx nahm den Koffer aus der einen Hand in die andere und blickte zum Himmel auf. Er konnte die Sterne sehen, der tief hängende Nebel war nicht dicht. Gleich muß die Kursrakete zum Mars…, dachte er gerade — da erzitterte auch schon die Dämmerung, und ein unnatürlicher grüner Feuerschein erhellte den Nebel. Pirx öffnete instinktiv den Mund, der Donner zog heran, ein Gluthauch folgte ihm, die Erde bebte. Im Nu war über der Ebene eine grüne Sonne aufgegangen. Der Schnee erglühte giftig bis zum Horizont, die Schatten der Pfähle am Wege eilten weiter, und alles, was nicht in grelles Grün getaucht war, wirkte schwarz, verkohlt. Pirx rieb sich die grün schimmernden Hände. Er beobachtete, wie eines der geisterhaft erhellten schlanken Minarette, die wie durch eine seltsame Laune des Erbauers mitten aus einem von Hügeln umgebenen Kessel aufragten, sich von der Erde losriß und auf einer Säule majestätisch aufzusteigen begann. Als der Donner materielle Gewalt angenommen hatte und den Raum ausfüllte, erblickte Pirx in der Ferne durch einen Fingerspalt Türme, Gebäude, Zisternen, die in einen brillantenen Schein getaucht waren. Die Scheiben des Kommandoturmes funkelten, als ob hinter ihnen ein Brand wütete. Alle Konturen begannen zu wogen, sich in der erhitzten Luft zu krümmen, während der Urheber dieses Schauspiels triumphierend brüllend in der Höhe verschwand und einen gewaltigen schwarzen Kreis rauchender Erde unter sich zurückließ. Nach einer Weile fiel warmer, großtropfiger Kondensationsregen vom sternklaren Himmel. Pirx nahm den Koffer auf und ging weiter. Die Rakete schien die Nacht durchbrochen zu haben — es wurde heller und heller, man konnte sehen, wie der tauende Schnee in den Gräben versackte und die ganze Ebene aus den Dampf wölken auftauchte.

Hinter den Drahtnetzen, die vor Nässe glitzerten, verliefen lange Schutzmauern für das Bodenpersonal.

Grasnarben bedeckten ihre Vorderseiten, glitschiges totes Gras aus dem Vorjahr, das sich mit Feuchtigkeit vollgesogen hatte und den Füßen keinen Halt bot. Pirx hatte es eilig, er nahm sich nicht die Zeit, nach einem der Übergänge zu suchen. Im Anlauf erklomm er das Hindernis — und da erblickte er sie.

Sie war größer als die anderen und stand ein wenig abseits, hoch wie ein Turm. Raketen dieser Art wurden seit Jahren nicht mehr gebaut. Der Betonboden war mit Pfützen übersät, Pirx wich ihnen sorgsam aus. Nach einigen Schritten wurden sie spärlicher — das Wasser war im Nu durch den thermischen Schlag verdampft. Pirx betrachtete das riesige Projektil; je näher er kam, desto höher mußte er den Kopf recken. Der Raketenpanzer sah aus, als sei er mit lehmgetränktem Stoff beklebt. Früher hatte man versucht, die Überzugmasse mit Karbidasbestfasern zu vermengen. Wenn sich ein solches älteres Raumschiff beim Bremsen in der Atmosphäre Brandstellen zuzog, dann glaubte man, einen Körper vor sich zu haben, dem die Haut in Fetzen herabhing. Es war sinnlos, sie abzureißen — sie bildeten sich immer wieder aufs neue, denn der Reibungswiderstand war ungeheuer groß. Uralt, dieses Schiff, sagte sich Pirx. Aussehen, Manövrierfähigkeit — die ganze Angelegenheit ist kriminell, sie gehörte eigentlich vors Kosmische Tribunal…

Der Koffer war schwer, aber Pirx hatte es nicht eilig, ihn loszuwerden. Er wollte sich das Schiff erst einmal genau von außen ansehen. Wie eine Jakobsleiter hob sich die durchbrochene Konstruktion des Aufstiegs gegen den Himmel ab. Alles war grau wie Sein — die Rakete selbst, die leeren Betonkisten, die Stahlflaschen, das rostige Eisengerümpel, die Glieder der Metallschläuche. Ein wüstes Durcheinander, das von der Hast zeugte, mit der man ans Verladen gegangen war. Zwanzig Schritt vom Aufstieg entfernt setzte Pirx den Koffer ab und sah sich um. Die Fracht schien bereits verstaut zu sein, denn die riesige, auf breiten Raupenketten ruhende Verladerampe war abgerückt, ihre Haken hingen in der Luft, zwei Meter vom Rumpf entfernt. Pirx machte einen Bogen um den stählernen Fuß, mit dem sich das gigantische Schiff auf den Boden stützte, und trat unter das Heck des himmelhoch aufragenden Kolosses, der im Schein des Morgenrots tiefschwarz wirkte. Der Stahlbeton war unter dem ungeheuren Gewicht eingesackt, rings um den Fuß verliefen strahlenförmige Risse nach allen Seiten. Auch dafür werden sie gehörig zahlen müssen, sagte sich Pirx und dachte an die Zulieferer. Er trat in den Schatten, den das Heck warf, blieb unter dem Trichter des ersten Katapults stehen und blickte in die Höhe. Der Reifenrand, der viel zu weit oben klaffte, als daß er ihn hätte erreichen können, war von einer dicken Rußschicht bedeckt. Pirx zog prüfend die Luft ein. Die Motoren schwiegen längst, aber noch immer war der charakteristische scharfe Ionisationsgeruch zu spüren.

„Komm doch mal“, sagte jemand hinter ihm. Er wandte sich um, konnte aber niemanden entdecken. Die Stimme ertönte ein zweites Mal, ganz dicht, höchstens drei Schritte entfernt.

„He, ist da jemand?“ rief Pirx. Die Worte hallten dumpf unter der schwarzen Heckkuppel, in die Dutzende von Ausstoßrohren mündeten. Stille… Pirx ging zur anderen Seite und erblickte mehrere Männer. Sie standen in einer Reihe, ungefähr fünfzehn Meter entfernt, und waren damit beschäftigt, einen schweren Treibstoffschlauch über den Boden zu zerren. Außer ihnen rührte sich nichts, alles war öd und leer. Pirx sah ihnen eine Weile zu.

Ihm war, als hörte er unklare, seltsam gestammelte Laute, diesmal schienen sie von oben an sein Ohr zu dringen.

Sicherlich ein Schalleffekt, den die Ausstoßrohre erzeugen, dachte er. Sie konzentrieren alle Geräusche, sie wirken wie Reflektoren…

Er wandte sich um, holte seinen Koffer, schleppte ihn zum Trap. In Gedanken vertieft, erklomm er die sechs Stockwerke hohe Leiter. Es war sonderbar, aber er hätte nicht sagen können, was ihm durch den Kopf ging. Als er oben stand, auf der Plattform mit dem Aluminiumgeländer, sah er sich nicht einmal Abschied nehmend um — so etwas kam ihm gar nicht in den Sinn. Bevor er die Klappe aufstieß, betastete er die Panzerung — sie fühlte sich an wie ein Reibeisen. Unwillkürlich mußte er an einen von Säure zerfressenen Felsen denken.

„Was hilft’s, ich hab’s ja so gewollt“, murmelte er. Die Klappe ließ sich schwer öffnen, ein Findling schien auf ihr zu lasten. Die Druckkammer mutete wie das Innere eines Fasses an. Pirx’ Finger glitten über die Rohre, wischten den Staub breit. Staub, Rost…

Als er sich durch die Luke zwängte, stellte er fest, daß die Isolierung geflickt war. Senkrechte Schächte, von Nachtlampen erhellt, verliefen in beiden Richtungen. An ihren Enden schienen sie zu einem bläulichen Streifen zusammenzulaufen. Irgendwo rauschten Ventilatoren, eine unsichtbare Pumpe schnaufte. Pirx reckte sich, beim Anblick des ihn umgebenden Massivs der Decke und Panzer war ihm, als sei sein Körper gewachsen, als sei er selbst zum Riesen geworden. Neunzehntausend Tonnen — alle Wetter! dachte er beeindruckt.

Auf dem Weg zum Steuerraum begegnete er niemandem. Im Korridor war es totenstill, Pirx kam es vor, als fliege das Schiff bereits im Vakuum. Die Wände waren fleckig, die Leinen — sie dienten im Zustand der Schwerelosigkeit als Halt — hingen verrottet herab, und die Muffen der Rohrleitungen, dutzendemal geschweißt, glichen angekohlten Knollen, wie man sie aus einem Aschenhaufen herausklaubt. Pirx durchquerte einen Gang, dann einen zweiten, abfallenden, und erreichte schließlich einen sechseckigen Raum mit seitlich abgerundeten Metalltüren, die nicht mit Pneumatics versehen waren, sondern mit schnurumwundenen kupfernen Klinken.

Die kleinen Fenster der Numeratoren zeigten gläserne Augäpfel. Pirx drückte auf den Taster des Informators — ein Knacken im Übermittler, ein Rascheln in der Metallbuchse, aber das kleine Schild blieb dunkel. Was tun?

überlegte er. Beim Überwachungsdienst beschweren?

Er öffnete eine Tür. Der Steuerraum glich einem Thronsaal. Pirx sah sein Spiegelbild auf den Bildschirmen. In seinem Übergangsmantel und mit dem Koffer in der Hand erinnerte er an einen Spießer, der sich verlaufen hat.

Sein Hut hatte im Regen völlig die Form verloren. Etwas erhöht standen die Pilotensitze, deren Ausmaße beeindruckend waren. Ihre Sitzflächen bewahrten noch den Abdruck menschlicher Körper.

Er setzte den Koffer ab, trat an den einen Sitz heran und erschrak vor seinem eigenen Schatten, als sei er dem Gespenst des letzten Steuermanns begegnet. Er schlug mit der Hand auf die Lehne. Staub wirbelte auf, stieg ihm in die Nase und zwang ihn zu niesen — einmal, zweimal. Er wurde wütend, mußte aber unvermittelt lachen. Der Pianobelag war schon morsch, und solche Kalkulatoren hatte er auch noch nicht gesehen. Ihr Projektant war wohl auf Orgeln spezialisiert, dachte er belustigt. An den Pulten gab es unzählige Meßuhren — hundert Augen hätte man haben müssen, um sie alle auf einmal zu überschauen. Pirx wandte sich ab, sein prüfender Blick glitt von Wand zu Wand. Er sah das Gewirr der geflickten Kabel, die korrodierten Isolationsplatten, das verblichene Rot der Löschleitungen und die ausgeleierten Eisenkurbeln zum Herunterlassen der hermetischen Sperrplatten.

Alles war alt an diesem Schiff, alt und verstaubt… Als er mit der Fußspitze gegen die Amortisatoren des Sitzes stieß, floß Öl aus der Hydraulik. Ach was! sagte er sich. Wenn andere geflogen sind, kann ich das auch… Er verließ den Steuerraum, öffnete die gegenüberliegende Tür, betrat einen Seitengang und schritt weiter. Kurz hinter dem Fahrstuhlschacht entdeckte er eine dunkle Einbuchtung in der Wand. Er legte die Hand darauf und fand seine Vermutung bestätigt: eine Plombe! Weitere Spuren von Lecks sah er nicht, man hatte offenbar die gesamte Sektion erneuert, denn Decke und Wände waren makellos glatt. Sein Blick fiel erneut auf die Plombe.

Der Zement war zu einem Klumpen erstarrt. Pirx glaubte den Abdruck von Händen zu erkennen, von Händen, die in fieberhafter Eile gearbeitet haben mußten… Er stieg in den Aufzug und fuhr zur Atomsäule hinunter. An der Türscheibe glitten Leuchtziffern vorbei, sie zeigten die einzelnen Decks an: siebentes, sechstes, fünftes…

Unten war es kühl. Der Korridor verlief im Bogen, vereinigte sich mit anderen zu einem langen, niedrigen Flur.

Pirx sah an seinem Ende die Tür zur Atomsäulekammer. Je weiter er kam, desto niedriger wurden die Temperaturen, sein Atem dampfte weiß im Licht der verstaubten Lampen. Woher die Kälte? fragte er sich kopfschüttelnd. Die Kühlaggregate? Sie müssen hier irgendwo sein… Er lauschte. Die Bleche der Verschalung vibrierten. Pirx ging weiter, er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, immer tiefer ins Erdinnere hinabzusteigen. Es hallte dumpf, wenn er die Füße aufsetzte, der Schall brach sich an der niedrigen Decke.

Endlich erreichte er die Tür, sie war hermetisch verschlossen, die Kurbel ließ sich nicht bewegen. Er versuchte es mit Gewalt, aber sie rührte sich nicht. Schon wollte er den Fuß dagegenstemmen, da fiel ihm ein, daß er erst das Sicherungsstäbchen herausziehen mußte.

Es folgte ein weiteres Hindernis, eine Art Flügeltür- stark wie die Wand eines Panzerschranks. In Augenhöhe waren die Reste von Buchstaben zu erkennen, der rote Lack war halb abgeblättert: LEB… G… HR Ein enger, finsterer Gang schloß sich an. Pirx setzte den Fuß auf die Schwelle — es klickte, grelles Licht blendete ihn, gleichzeitig flammte ein Warnschild auf mit einem drohenden Totenkopf. Die hatten aber Angst damals! dachte Pirx, als er die Stufen zur Kammer hinabstieg. Das Blech dröhnte dumpf unter seinen Absätzen. Unten war ihm, als stünde er auf dem Boden eines trockenen Burggrabens. Vor ihm erhob sich die graue Schutzwand des Reaktors, zwei Stockwerke hoch und gewölbt, wie die gezackte Wehr einer Festungsmauer. Die Schutzwand war mit gelben und grünlichen Flecken übersät, die wie Pockennarben anmuteten. Es waren Plomben — Spuren ehemaliger Strahlendurchschüsse. Er versuchte, sie zu zählen, aber als er die Plattform betrat und den Reaktor aus der Höhe betrachtete, gab er sein Vorhaben auf — vor lauter Plomben war stellenweise die Wand nicht mehr zu sehen.

Die Plattform ruhte auf kleinen Metallsäulen, sie war von der übrigen Kammer durch große Glasscheiben getrennt und wirkte wie ein durchsichtiger Würfel. Bleiglas, konstatierte Pirx. Es soll vor Strahlen schützen, dieses Überbleibsel atomarer Architektur… Welch ein Unsinn… Unter einer kleinen Überdachung ragten Geigerzähler hervor, sie waren fächerartig angeordnet und auf den Bauch der Säule gerichtet. Pirx entdeckte in einer Nische mehrere Meßuhren. Die Zeiger standen auf null — mit einer Ausnahme. Die Atomsäule hatte Leerlauf. Pirx stieg hinab, kniete nieder, blickte in den kleinen Meßschacht und stellte fest, daß die Periskopspiegel bereits schwarze Altersflecke hatten. Wahrscheinlich zuviel radioaktive Schlacke, dachte er. Na wennschon, schließlich geht’s nicht zum Jupiter, sondern zum Mars — in zehn Tagen kann ich zurück sein… Der Brennstoff würde sogar für mehrere solche Fahrten reichen… Pirx betätigte die Kadmiumblenden, der Zeiger zitterte unwillig und schlug bis zum Ende der Skala aus. Die Verzögerung hielt sich in den Grenzen des Erträglichen, die Kontrolle würde schon ein Auge zudrücken. In der Ecke rührte sich etwas. Zwei kleine grüne Lichter glommen auf, starrten Pirx an, glitten zur Seite. Er trat zitternd näher — es war eine Katze, eine magere schwarze Katze. Sie miaute kläglich und drückte den Buckel an sein Bein. Er lächelte. Sein forschender Blick fiel auf ein eisernes Regal mit mehreren Käfigen, in denen sich etwas Weißes, Quirliges bewegte — weiße Mäuse. In den alten Raumschiffen war es üblich, sie mitzuführen als lebende Meßgeräte für radioaktive Strahlung. Er bückte sich, um die Katze zu streicheln, aber sie entwischte ihm. Plötzlich blieb sie regungslos stehen, starrte unverwandt in den dunkelsten, engsten Teil der Kammer. Pirx beugte sich vor, das eigenartige Gebaren des Tieres erregte seine Aufmerksamkeit. Er beobachtete, wie die Katze mit gekrümmtem Rücken und vorgestreckten Pfoten auf einen Betonpfeiler zuschlich. Dahinter war im Halbdunkel eine viereckige Öffnung zu erkennen — offenbar ein Durchgang — und außerdem eine schräge Wand mit einer halb geöffneten Tür. Pirx’ Neugier wuchs. Er sah, daß dort irgend etwas schimmerte — etwas, was er für die Glieder eines Metallschlauches hielt. Die Katze verharrte unmittelbar davor, mit gesträubtem Haar und zitternder Schwanzspitze.

„Na, na — da ist doch nichts… Da kann doch gar nichts sein“, murmelte Pirx vor sich hin. Er kauerte sich nieder, streckte den Kopf vor — und stutzte: Dort saß jemand. Deutlich war ein Rumpf zu erkennen, er schien in sich zusammengesackt zu sein. Die Katze erwachte aus der Erstarrung, leise maunzend, näherte sie sich der kleinen Tür. Pirx’ Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit, er sah spitz hervortretende Kniegelenke, metallene Beinschienen und segmentarische Arme. Nur der Kopf lag im Schatten. Die Katze miaute.

Der eine Arm bewegte sich knarrend, wurde vorgestreckt. Die eisernen Fingerspitzen berührten den Boden, so daß sich ein schräges Podest bildete. Blitzschnell huschte die Katze hinauf und ließ sich auf der Schulter der unheimlichen Gestalt nieder.

„He, du!“ sagte Pirx — er wußte selber nicht, ob er die Katze meinte oder das Geschöpf. Der Arm bewegte sich in die Ausgangsstellung zurück — langsam, als habe er einen gewaltigen Widerstand zu überwinden. „Wer dort?“

fragte der Automat. Die Stimme schien aus einem eisernen Rohr zu kommen. „Terminus spricht- wer dort?“

„Was tust du hier?“ fragte Pirx.

„Terminus spricht… Bin hier… Kalt… Sehe schlecht“, krächzte er heiser.

„Achtest du auf die Atomsäule?“ Pirx ließ die Hoffnung fahren, nähere Auskünfte zu bekommen, denn der Roboter war offensichtlich genauso alt und verkommen wie das ganze Raumschiff. Und dennoch, irgend etwas bewog ihn, weitere Fragen zu stellen. War es der sonderbare Ausdruck der grünen Pupillen, die ihn anstarrten?

„Terminus spricht… Die Säule… Ich… Die Säule… Die Säule…“, stammelte der Roboter dümmlich. „Steh auf!“ befahl Pirx, ihm fiel nichts anderes ein. Im Innern des Automaten rasselte es. Pirx wich zurück, als er zwei riesige Metallfüße mit gespreizten Zehen aus dem Dunkel auf sich zukommen sah. Sie drehten sich nach außen herum und krallten sich am Gesims fest. Der Rumpf, in dem es immer noch gedehnt rasselte, richtete sich knirschend und quietschend auf und zeigte sich im Licht. Öltropfen quollen aus den Gelenkverbindungen, sie verbanden sich mit dem Staub zu einem schwärzlichen Brei. Terminus schwankte hin und her, er glich eher einem Ritter in voller Rüstung als einem Automaten. „Ist das hier dein Platz?“ fragte Pirx. Die gläsernen Augen gingen auseinander, der Roboter schien sich zu orientieren, das abgeflachte Gesicht wirkte durch dieses Schielen noch ausdrucksloser als vorher, noch stumpfsinniger. „Die Plomben vor — bereitet… zwei, sechs, acht Pfund…

Sehe schlecht… Kalt…“ Die Stimme kam nicht aus dem Kopf, sondern aus einem breiten Brustschild. Die Katze lag zusammengerollt auf der Schulter des Metallriesen, sie blickte Pirx an.

„Plomben vorbereitet…“, krächzte Terminus weiter und unterstrich seine Worte mit Gebärden, die Pirx gut kannte. Er griff mit schaufelartig geformten Händen in die Luft und stieß die Arme abwechselnd vor. Pirx verstand — auf diese Art wurden undichte radioaktive Stellen plombiert. Der oxydierte Rumpf war durch die heftigen Bewegungen ins Taumeln geraten. Die Katze auf seiner Schulter fauchte wütend, zerkratzte das Blech, verlor das Gleichgewicht, sprang wie ein schwarzer Blitz auf den Boden und prallte gegen Pirx’ Beine. Der Automat schien das nicht bemerkt zu haben, er war verstummt. Die Hände zuckten noch eine Weile wie ein allmählich verhallendes Echo, aber schließlich erstarrten auch sie.

Pirx warf einen Blick auf die spröde, morsche Wand des Reaktors, die mit Sickerstellen und dunklen Flecken übersät war, den Spuren zahlloser Zementabdichtungen. Dann wandte er sich wieder Terminus zu. Er schien sehr alt zu sein, älter noch als das Raumschiff. Die rechte Schulter war offensichtlich einmal erneuert worden, Ölschmutz klebte an Hüften und Schenkeln, rings um die Nahtverbindungen hatte das geglühte Blech eine granitene Farbe angenommen.

„Terminus!“ Pirx rief es so laut, als ob er einen Tauben vor sich hätte. „Terminus, geh auf deinen Platz!“

„Ich gehe…“ Der Automat bewegte sich wie ein Krebs, er wich zurück und zwängte sich rasselnd in sein offenes Versteck. Pirx sah sich nach der Katze um, konnte sie aber nirgends entdecken. Er verließ die Kammer, schloß die Tür hinter sich und fuhr mit dem Aufzug in den vierten Stock zur Navigationskabine.

Es war ein breiter, niedriger Raum mit geschwärzter Eichenverkleidung und einem Balkengewölbe, er ähnelte mit seinen Bullaugen, die von kupfernen Ringfassungen umgeben waren, einer Schiffskajüte. Vor vierzig Jahren galt das als modern, sogar die Plastikbeschläge waren so gefertigt, daß sie wie eine Holztäfelung wirkten. Pirx öffnete eines der runden Fenster und hätte sich um ein Haar den Kopf gestoßen — verborgene Glühlampen schufen die Illusion von Tageslicht. Er schlug die gläserne Klappe zu und wandte sich um. Von der Decke hingen große, bis auf den Fußboden reichende Himmelskarten herab, blaßblau wie die Meere im Atlas, in den Ecken lag Pauspapier herum, über und über mit bunten Kursdiagrammen bemalt. Das Reißbrett unter dem kleinen Punktscheinwerfer war von Zirkelstichen durchlöchert. In einem Winkel des Raumes stand ein Schreibtisch, davor ein schwerer Eichensessel, der am Fußboden festgeschraubt war. Der Sessel hatte ein Kugelgelenk, er ließ sich nach jeder beliebigen Seite neigen. In die Wände waren breite, geräumige Bücherregale eingelassen. Eine wahre Arche Noah, dachte Pirx. Wie hatte sich der Agent doch gleich ausgedrückt? „Sie bekommen ein historisches Schiff“, hatte er gesagt, als er den Vertrag unterzeichnete… Aber „alt“ bedeutet doch noch lange nicht „historisch“…

Er zog die Schreibtischschubladen heraus, eine nach der anderen. Endlich fand er, was er suchte — das Logbuch, ein dicker Wälzer in Ledereinband mit fleckigen Beschlägen. Er schlug es im Stehen auf, er schien sich nicht entschließen zu können, in dem großen, ausgebeulten Sessel Platz zu nehmen. Auf der ersten Seite war das Datum des Versuchsfluges eingetragen, darunter klebte eine Fotokopie des technischen Übergabedokuments der Werft. Pirx blinzelte, damals hatte er noch nicht gelebt. Er suchte nach der letzten Eintragung, sie war für ihn am wichtigsten. Als er sie fand, stellte er fest, daß sie mit dem übereinstimmte, was er von dem Agenten erfahren hatte — das Schiff lud seit einer Woche Maschinen und Kleingut für den Mars. Der Start, ursprünglich für den Achtundzwanzigsten angesetzt, war verschoben worden, seit drei Tagen wurde also Standzeit berechnet. Aha, deshalb beeilen sie sich so…, dachte Pirx. Na ja, die Standzeiten in einem irdischen Hafen können wirklich einen Millionär ruinieren…

Er blätterte in dem Buch, unterzog sich aber nicht der Mühe, die verblaßte Schrift zu lesen. Hin und wieder fielen ihm einzelne stereotype Wendungen ins Auge — Kurszahlen, Resultate von Berechnungen —, es war nicht das, was er suchte. Bei einer Eintragung verweilte er länger.

Schiff in die Werft Ampers-Hartgegeben — Überholung I. Kategorie.

Der Vermerk war drei Jahre alt — Pirx entnahm es dem Datum. Mal sehen, was sie ausgebessert haben, dachte er.

Nicht daß er neugierig war, er wollte sich nur informieren. Als er die Aufstellung der Reparaturen durchsah, fiel er von einem Erstaunen ins andere. Von Spitzenpanzerungen war da die Rede, von sechzehn Decksektionen, von Spanten für den Mantel des Reaktors, von hermetischen Verbänden…

Neue Verbände? Neue Spanten? Richtig! Der Agent hatte doch etwas von einer Havarie erzählt… Havarie? Das muß wohl eher eine Katastrophe gewesen sein… Er blätterte zurück, um etwas aus den Eintragungen vor der Überholung zu erfahren… Bestimmungshafen: Mars, las er. Ladung: Kleingut — Besatzung: Ingenieur Pratt, Erster Offizier — Wayne, Zweiter Offizier — Potter und Nolan, Piloten — Simon, Mechaniker… Und der Kommandant?

Er schlug eine weitere Seite um und zuckte zusammen: Die Schiffsübernahme war vor neunzehn Jahren!

Unterschrift: Momssen, Erster Navigator… Momssen!

Momssen? Das kann doch nicht der Momssen sein… Das war doch damals ein ganz anderes Schiff! Aber das Datum stimmte — es war genau neunzehn Jahre her. Moment mal, sagte sich Pirx. Ruhig, nur ruhig… Er griff ein zweites Mal nach dem Logbuch. Eine schwungvolle, deutliche Schrift, die Tinte war verblichen. Da der erste Reisetag. Der zweite, der dritte.

Kleines Leck im Reaktor —0,4 Röntgen pro Stunde — Plombiert — Kursberechnungen — Sternfix.

Weiter, weiter! Pirx las nicht mehr, seine Augen hüpften über die Zeilen.

Da! Das Datum, das er sich in der Schule eingeprägt hatte, und darunter stand: 16.40 Uhr — Dejmos warnt vor einer aus der Jupiterturbation der Leoniden stammenden Wolke, die mit Kollisionskurs bei einer Geschwindigkeit von 40 km/sec durch eigenen Sektor fliegt — Der MW-Empfang bestätigt — Für Besatzung PM-Alarm erklärt — Trotz des Lecks im Reaktor von 0,42 Röntgen pro Stunden Ausweichmanöver mit voller Kraft und approximativem Kurs auf Oriondelta. Darunter neue Zeile: Um 16.51 auf… Der Rest der Seite war unbeschrieben.

Keine Vermerke mehr, keine Kritzeleien, keine Flecke — nichts. Der letzte Buchstabe widersprach den Regeln der Schönschrift, er ging in einen langen, jäh abfallenden Strich über.

Dieser zittrige Strich, mit dem die Eintragungen endeten, sagte alles. Pirx glaubte das Prasseln der Einschläge zu vernehmen, das Heulen der entweichenden Luft, die Schreie der Menschen, denen Augäpfel und Kehlen barsten…

Aber das Raumschiff hatte doch einen Namen… Wie hieß es bloß?

Es war unerklärlich — er konnte sich nicht erinnern, und dabei war er ihm so geläufig gewesen, er war ihm in Fleisch und Blut übergegangen wie der Name des Schiffes von Christoph Kolumbus. Herrgott, wie hieß es doch gleich… Es war das letzte, das Momssen kommandiert hatte…

Er eilte in die Bibliothek, griff nach einem dicken Band, dem Lloydregister. Mit „K“ fing es an, überlegte er.

„Kosmonaut?“ Nein. „Kondor?“ Nein. Länger… Nach einem Drama… Irgendein Held, ein Ritter… Er warf den Band auf den Schreibtisch und fixierte die Wände. Zwischen den Bücherregalen und dem Schrank mit den Landkarten hingen Apparate — ein Hygrometer, ein Geigerzähler, ein Gerät zum Messen von Wasserstoffdioxyd… Er nahm sie der Reihe nach in die Hand, fand aber keine Aufschriften. Sie schienen übrigens neu zu sein.

Dort, in der Ecke!

An einer Eichenplatte leuchtete das Zifferblatt eines Radiographen. Es war ein altes Gerät mit Messingverzierungen — solche Modelle wurden nicht mehr hergestellt. Er löste rasch die Schrauben, zog vorsichtig mit den Fingerspitzen an der Einfassung und drehte den Metallbehälter um. Da stand es geschrieben, eingraviert in den golden schimmernden Messingboden: KORIOLAN. Das war das Schiff!

Er schaute sich in der Kabine um. Hier also, in diesem Sessel, hatte seinerzeit der berühmte Momssen gesessen — bis zum letzten Augenblick!

Er klappte das Lloydregister auf und suchte unter „K“. KRONE DES SÜDENS, KORSAR, KORIOLAN: Ein Schiff der Compagnie… 19000 Tonnen ruhende Masse… vom Stapel gelaufen im Jahre… Uran-Wasserstoff-Reaktor, System… Kühlung.. Zugkraft… maximale Reichweite… eingeführt auf der Linie Terra-Mars, verlorengegangen infolge Kollision mit dem Strom der Leoniden… nach sechzehn Jahren von einem Patrouillenschiff im Aphel der Umlaufbahn… wiedergefunden, nach Überholung I. Kategorie bei Ampers-Hart durch die Compagnie des Südens auf der Linie Terra-Mars eingesetzt… Kleinguttransport…

Versicherungstarif… Nein, das nicht… aber hier:… unter dem Namen „Blauer Stern“. Pirx schloß die Augen.

Wie still es ist… Sie haben also den Namen geändert… Sie wollten bei der Anheuerung einer neuen Besatzung keine Schwierigkeiten haben… Deshalb hatte der Agent…

Ihm fiel ein, was man sich in der Basis über den Fall erzählte. Es war ja ihr Patrouillenschiff gewesen, das das Wrack entdeckt hatte… Die Meteoritenwarnungen ka-

men damals immer viel zu spät. Das Protokoll der Katastrophenkommission war lakonisch abgefaßt: „Höhere Gewalt… Keine Schuldigen.“ Und die Besatzung? Man fand Spuren, die darauf hindeuteten, daß nicht alle sogleich umgekommen waren. Zu denen, die am Leben blieben, gehörte der Kommandant. Die Männer waren durch die Trümmer der zerstörten Decks voneinander getrennt worden, aber Momssen brachte es zuwege, daß keiner seelisch zusammenbrach, obwohl ihnen keine Hoffnung auf Rettung blieb. Sie lebten bis zur letzten Sauerstoffflasche, bis zum bitteren Ende. Und dann gab es noch etwas Eigenartiges, eine makabre Einzelheit, die wochenlang durch die Presse geisterte, bis eine neue Sensation alles in Vergessenheit geraten ließ — was war es nur.’’Pirx sah sich im Geiste wieder in dem modernen Hörsaal… Sein Kamerad Smiga, über und über mit Kreide beschmiert, stand an der Tafel und quälte sich mit Modellzeichnungen herum, und er, Pirx, las heimlich die Zeitung, die er auf dem Boden des Schubfaches ausgebreitet hatte: „Wer ist imstande, den Tod zu überleben?

Nur ein Toter!“ Ja, natürlich — das wär’s! Ein einziger war bei der Katastrophe unversehrt geblieben, einer, der weder Sauerstoff noch Lebensmittel brauchte — der Roboter! Sechzehn Jahre lang hatte er unter Trümmern gelegen!

Pirx erhob sich. Terminus! dachte er. Bestimmt, ganz bestimmt… Er hatte ihn an Bord. Er könnte es wagen, ihn zu fragen…

Unsinn! Ein mechanischer Schwachkopf, eine Maschine zum Abdichten von Lecks, blind und taub vor Alter!

Lediglich die Presse, in ihrem ewigen Bemühen, aus jedem Ereignis ein Maximum an Sensation herauszuziehen, hatte ihn mit marktschreierischen Schlagzeilen zum geheimnisvollen Zeugen der Tragödie erklärt und behauptet, er sei von einer Kommission hinter verschlossenen Türen vernommen worden. Pirx dachte an das stumpfsinnige Krächzen des Automaten. Unsinn, ganz offensichtlicher Unsinn!

Er klappte das Logbuch zu, warf es in die Schublade und sah auf die Uhr.

Punkt acht, höchste Zeit! Alles war zum Start bereit — Luken geschlossen, Hafenkontrolle und sanitäre Überprüfung beendet, Zollerklärungen avisiert. Pirx suchte die Frachtpapiere zusammen, er überflog das Warenzertifikat und wunderte sich, daß ihm keine genaue Liste vorlag. Maschinen? Schön und gut, aber was für welche? Und welches Taragewicht? Weshalb fehlt das Diagramm der Ladung mit dargestelltem Schweremittel?

Nichts nur das Bruttogewicht und das Schema der Verteilung auf die Laderäume. Im Heck sind kaum dreihundert Tonnen verstaut — wieso? Soll das Schiff mit verminderter Last fliegen? Warum erfahre ich das zufällig und im letzten Augenblick?

Er durchwühlte in fieberhafter Hast die Fächer, warf die Papiere durcheinander, ohne zu finden, was er suchte — und er vergaß darüber völlig die Tragödie, die ihn eben noch beschäftigt hatte. Als er den Radiographen erblickte, den er aus der Kassette herausgenommen hatte, fiel ihm die ganze Geschichte wieder ein, und er zuckte zusammen. Kurz darauf geriet ihm ein Zettel in die Finger. Ihm entnahm er, daß im letzten Laderaum, dessen Boden an die Atomsäule grenzte, achtundvierzig Kisten mit Lebensmitteln lagerten. „Leicht verderbliche Lebensmittel“ stand da geschrieben. Weshalb haben sie das Zeug ausgerechnet dort untergebracht, wo die Temperaturen bei laufenden Motoren am höchsten sind und wo es kaum Frischluft gibt? fragte er sich. Ist das Absicht? Soll es verderben? Es klopfte.

„Bitte!“ sagte er, eiligst bemüht, die Papiere zu ordnen und wegzuschließen. Zwei Männer traten ein, blieben auf der Schwelle stehen. „Boman, Nukleoniker.“

„Sims, Elektriker.“

Pirx stand auf. Sims war jung, hager, die emsig hin und her huschenden Äuglein erinnerten an ein Eichkätzchen.

Er hustete. In Boman erkannte Pirx auf den ersten Blick den Veteranen. Sein Teint war braun — braun mit einem charakteristischen Stich ins Orangefarbene. Es waren die Spuren kosmischer Strahlen — kleiner Mengen, die sich im Laufe der Jahre summiert hatten. Boman reichte Pirx kaum bis zu den Schultern. Damals, als er zu fliegen begann, zählte noch jedes Kilo Gewicht an Bord. Obwohl er mager war, wirkte sein Gesicht gedunsen. Dunkle Säcke lagen unter seinen Augen — stumme Zeugen der Belastungen, denen der Organismus ausgesetzt gewesen war. Die Unterlippe verdeckte die Zähne nicht. So werde ich auch mal aussehen, dachte Pirx, während er mit ausgestreckter Hand auf ihn zuging.

Die Hölle begann um neun. Auf dem Startplatz herrschte das übliche Treiben. Die Raumschiffe standen in langen Reihen bereit, alle sechs Minuten belferten die Lautsprecher, Warnraketen wurden abgeschossen, Triebwerke dröhnten, brüllten, donnerten im Probelauf. Ein Schiff startete nach dem anderen, jedesmal regnete es Staubkaskaden vom Himmel. Kaum hatte sich der Schmutz gesetzt, da kam von dem kleinen Turm schon das Signal „Freie Bahn!“ für den nächsten Piloten. Alle hatten es eilig, jeder wollte ein paar Minuten gewinnen — so war es in den Spitzenzeiten auf allen Güterumschlaghäfen. Fast jedes Schiff flog zum Mars, die Menschen dort baten verzweifelt um Maschinen und Grünzeug, sie bekamen oft monatelang kein Frischgemüse zu sehen, denn die hydroponischen Solarien waren erst im Bau. Kräne wurden verladen, Betonmischmaschinen, Elemente von Gitterkonstruktionen, Glaswatte in großen Ballen, Medikamente, Behälter mit Zement und Rohöl. Jedesmal, wenn ein Warnzeichen ertönte, gingen die Arbeiter in Deckung. Sie sprangen in die Strahlungsschutzgräben, in gepanzerte Zugmaschinen — und kaum war alles vorbei, da nahmen sie ihre Tätigkeit wieder auf, auch wenn der Betonboden noch nicht abgekühlt war. Um zehn, als sich die Sonne über dem Horizont zeigte, rot, rauchverhangen und eigenartig gedunsen, waren die Betonschutzwälle zwischen den Startrampen rissig, rußbedeckt und vom Feuer zerfressen. Die Schäden wurden rasch mit schnelltrocknendem Zement ausgebessert, der wie Schlammfontänen aus den Schläuchen quoll. Die Männer der Strahlungsbekämpfung sprangen in ihren Skaphandern aus den Spezialfahrzeugen und rieben den Boden mit Sandstrahlgebläsen ab, Sirenengeheul ertönte, schwarz-rote Kontrollwägelchen, schachbrettartig bemalt, rasten in alle Winde auseinander. Im Kommandoturm schrie sich jemand heiser, oben kreisten wie große Bumerangs die Radargeräte — kurz, alles war so wie immer.

Pirx war überall. Er nahm Frischfleisch in Empfang, das im letzten Augenblick angeliefert wurde, tankte Trinkwasser und überprüfte die Kühlaggregate — die Mindesttemperatur betrug minus fünf Grad, der Kontrolleur wackelte bedenklich mit dem Kopf, aber er ließ sich erweichen und unterschrieb. Bei der Probe begannen die Kompressoren an den Ventilen zu schwitzen, Pirx’ Stimme tönte wie die Posaunen von Jericho. Zu allem Überfluß stellte sich heraus, daß die Wasserlast schlecht verteilt war, irgendein Schwachkopf hatte das Ventil herumgeworfen, bevor sich die Bodenbassins gefüllt hatten. Pirx unterzeichnete Papiere, man drückte ihm gleich fünf auf einmal in die Hand, er wußte gar nicht mehr, was er da unterschrieb.

Um elf, eine Stunde vor dem Start, geschah es. Die Flughafenbehörde erlaubte den Start nicht — das Düsensystem sei zu alt, der radioaktive Niederschlag zu gefährlich, überdies habe das Raumschiff keinen Borwasserstoffhilfsantrieb wie der „Gigant“, der um sechs gestartet war; Pirx, schon heiser vom vielen Schreien, reagierte ganz ruhig. Ob sich der Flugdienstleiter darüber im klaren sei, was er da sage? Ob er den „Blauen Stern“ erst jetzt bemerkt habe? Daraus könnten sich große, sehr große Unannehmlichkeiten ergeben. Zusätzlicher Schutz? Welcher Art? Sandsäcke — wie viele? Dreitausend Stück, Bagatelle! Bitte sehr, er würde auch unter diesen Umständen pünktlich starten. Die Kosten zu Lasten der Compagnie? Mochten sie?

Er schwitzte. Alles schien sich verschworen zu haben, einzig und allein, um das Chaos noch zu vergrößern. Der Elektriker machte dem Mechaniker Vorwürfe und behauptete, er habe die Notleitung nicht überprüft, der zweite Pilot war „für fünf Minuten“ irgendwohin verschwunden, es hieß, er nehme Abschied von seiner Braut, auch der Sanitäter war fort. Vierzig gepanzerte Mammute umringten das Schiff, Männer in schwarzen Monteuranzügen stapelten hastig Sandsäcke — das hektische Lichtsignal am Turm trieb sie zur Eile —, ein Funkspruch war gekommen, aber anstelle des Piloten hatte ihn der Elektriker entgegengenommen und versäumt, ihn einzutragen:

„Das ist nicht meine Sache!“

Pirx brummte der Schädel. Er täuschte nur noch vor, über den Dingen zu stehen. Zwanzig Minuten vor dem Start faßte er einen riskanten Entschluß — er ließ das gesamte Wasser von der Spitze ins Heck umpumpen. Mag geschehen, was will, dachte er. Schlimmstenfalls wird es sieden… Hauptsache, die Standfestigkeit erhöht sich!

Elf Uhr vierzig — Motorenprobe. Nun gab es kein Zurück mehr. Pirx’ Vermutung, daß die Männer nichts taugten, erwies sich als übereilt. An Boman fand er sogar Gefallen. Man sah und hörte ihn nicht, dennoch lief alles wie am Schnürchen. Düsengebläse, kleiner Schub, voller Schub — sechs Minuten vor Null, als die Flughafenbehörde „Zum Start“ kommandierte, war alles bereit. Die Männer lagen auf den heruntergeklappten Sesseln. Mulat, der zweite Pilot, war recht niedergeschlagen von seiner Braut zurückgekehrt, und auch der Sanitäter hatte sich eingefunden. Der Lautsprecher krächzte, blökte, der Zeiger kroch auf Null — Start.

Pirx war sich darüber im klaren, daß ein Neunzehntausendtonnenschiff etwas anderes war als ein kleines Patrouillenboot, in das man gerade so hineinpaßte. Ein Raumschiff ist kein Floh, es springt nicht, der nötige Schub will erst einmal herausgeholt werden. Pirx wußte das, aber was nun folgte, übertraf seine Befürchtungen.

Die Zeiger standen schon auf halber Kraft, der Rumpf bebte von den Heckdüsen bis zur Spitze, als wollte er bersten — und dabei hatte sich der „Blaue Stern“ noch nicht einmal vom Boden erhoben! Vielleicht liegen wir irgendwie fest, dachte Pirx. So etwas soll ja alle hundert Jahre einmal vorkommen. Plötzlich zuckte der Zeiger vor — sie „standen“ auf der Feuersäule, der Rumpf zitterte, die Nadel des Schweremessers tanzte wie toll. Pirx lehnte sich zurück, entspannte die Muskeln. Von nun an konnte er nichts mehr tun, selbst wenn er gewollt hätte.

Der „Blaue Stern“ schoß hoch. Pirx handelte sich eine Funkwarnung ein. Starts mit vollem Schub waren verboten wegen zu hoher Radioaktivität. Die Gesellschaft wird Strafe zahlen müssen, sagte er sich. Sehr gut, soll sie doch, hol sie der Teufel… Er schnitt eine Grimasse. Ich könnte mich mit der Hafenbehörde auseinandersetzen, könnte darauf hinweisen, daß ich nur mit halber Kraft gestartet bin — aber wozu? Soll ich vielleicht landen, eine Kommission einberufen und eine protokollarische Abschrift der Notierungen in den Uranographen verlangen? Pirx hatte andere Sorgen, ihn beschäftigte das Durchstoßen der Atmosphäre. Er hatte noch nie in seinem Leben in einem Raumschiff gesessen, das so zitterte. Etwas Ähnliches mochten wohl nur die Menschen im Kopfteil eines mittelalterlichen Sturmbocks empfunden haben, wenn sie Mauern zum Einsturz brachten. Alles hüpfte auf und nieder, die Männer wurden in den Gurten hin und her gerissen — die Seele drohte ihnen aus dem Leib zu springen. Der Schweremesser schien sich nicht entscheiden zu können, mal zeigte er 3,8 an, mal 4,9, dann kroch er schamlos bis 5, und schließlich fiel er erschrocken auf 3 zurück. Es war, als hätten sie Klöße in den Düsen!

Nun hatten sie vollen Schub. Pirx preßte beide Hände um die Haube — anders konnte er die Stimme des Piloten nicht hören. Der „Blaue Stern“ brüllte, aber es war beileibe kein ballistisches Triumphgebrüll, sondern ein Verzweiflungsschrei, ein Kampf mit der irdischen Schwerkraft auf Leben und Tod. Minutenlang schien das Schiff unbeweglich im Raum zu stehen und den Planeten mit Urgewalt zurückzustoßen — so fühlbar waren die qualvollen Bemühungen des „Sterns“! Die Konturen der Bleche und Fugen verschwammen in dem stetigen Vibrieren, Pirx glaubte schon das Bersten der Nähte zu vernehmen, aber es war eine Sinnestäuschung — in dieser Hölle hätte er nicht einmal die Trompeten des Jüngsten Gerichts gehört.

Die Temperatur der Spitzenpanzerung war der einzige Wert, der nicht schwankte, er ging nicht zurück, sprang nicht hoch, sondern kletterte langsam und gleichmäßig, als sei auf der Skala noch ein Meter Platz.

Zweitausendfünfhundert, zweitausendachthundert — kaum ein paar Striche waren übrig. Dabei hatten sie noch nicht einmal die erste kosmische Geschwindigkeit! Alles, was sie herauszuholen vermochten, waren 6,6 km/sec, und das in der vierzehnten Flugminute! Pirx kam ein entsetzlicher Gedanke, ein Alptraum, wie er manchmal Piloten heimsucht: die Vorstellung, das Raumschiff habe sich überhaupt nicht von der Erde gelöst… Vielleicht sind das gar nicht vorüberhuschende Wolken dort auf dem Bildschirm — vielleicht ist es Dampf aus geplatzten Kühlrohren! Aber so war es nicht: Sie flogen. Der Sanitäter lag kreidebleich da, er schien krank zu sein. Von ihm werden wir nicht viel Fürsorge erwarten können, dachte Pirx. Die Ingenieure hielten sich gut, Boman schwitzte nicht einmal — er war grau im Gesicht, hielt die Augen geschlossen, still und friedlich wie ein kleiner Junge. Unter den Sitzen spritzte Flüssigkeit aus den Amortisatoren, daß es nur so eine Art hatte — die Kolben stießen fast ganz durch. Bin neugierig, was geschieht, wenn sie wirklich durchstoßen, dachte Pirx.

Die altmodische Anordnung der Meßuhren war ihm ungewohnt, er wandte den Kopf stets nach der verkehrten Seite, wenn er Schub, Kühlung, Geschwindigkeit oder den Zustand der Panzerung kontrollieren wollte. Der Pilot schrie — anders war es ihm nicht möglich, sich mit Pirx über Interkom zu verständigen. Er schien ein wenig die Übersicht verloren zu haben, denn der „Stern“ wich vom Kurs ab. Es waren zwar nur geringe, ja winzige Abweichungen, aber beim Durchstoßen der Atmosphäre genügten sie, um die eine Flanke des Schiffes stärker zu erhitzen als die andere. So etwas führt zu ungeheuren thermischen Spannungen in der Panzerung und kann unter Umständen fatale Folgen haben. Pirx blieb nichts weiter übrig, als zu hoffen. Wenn die zottige Schale Hunderte solcher Starts ausgehalten hat, dann wird sie auch diesen überstehen, dachte er.

Der Thermodampfzeiger war inzwischen bis zum Skalenende vorgerückt — dreitausendfünfhundert Grad. Noch zehn Minuten diese Temperatur, und die Panzerung geht aus den Fugen, sagte sich Pirx. Selbst Karbide sind nicht unzerstörbar… Wie dick mag der Panzer sein? Keine Angaben… Jedenfalls ist er ordentlich angesengt.. Ihm wurde heiß, aber das war wohl mehr auf seine rege Phantasie zurückzuführen, denn innen zeigte das Thermometer siebenundzwanzig Grad an, wie beim Start. Sie hatten den sechzigsten Kilometer erreicht, die Atmosphäre lag praktisch unter ihnen, die Geschwindigkeit betrug 7,4 km/sec. Sie flogen etwas gleichmäßiger, aber immer noch unter dreifacher Belastung. Der „Stern“ bewegte sich wie ein bleierner Klotz, es gab kein Mittel, ihn in Schwung zu bringen — nicht einmal im Vakuum. Pirx wußte nicht, woran es lag.

Eine halbe Stunde später nahmen sie bereits Kurs auf den Arbiter — erst hinter ihm, dem letzten der Satelliten, sollten sie auf die elliptische Bahn Erde-Mars einbiegen. Alle hatten sich aufgesetzt, Boman massierte sich das Gesicht. Pirx fühlte, daß auch seine Mundpartie geschwollen war, vor allem die Unterlippe. Die Männer hatten blutunterlaufene, trübe Augen, Heiserkeit plagte sie und trockener Husten. Aber das waren normale Symptome, gewöhnlich verschwanden sie nach einer Stunde. Die Atomsäule arbeitete zufriedenstellend. Der Schub war nicht schwächer geworden, stärker allerdings auch nicht. Im Vakuum hätte er eigentlich zunehmen müssen, aber er tat es nicht — der „Stern“ schien sich nicht einmal nach den elementarsten Gesetzen der Physik zu richten. Sie hatten nun elf Kilometer pro Sekunde, und es galt, normale Kuriergeschwindigkeit zu erreichen, weil sie sonst monatelang zum Mars hätten bummeln müssen. Vorerst jedoch visierten sie den Satelliten Arbiter an. Pirx ging es wie allen Navigatoren, vom Arbiter erwartete er nichts als Unannehmlichkeiten — entweder Vorhaltungen wegen des unvorschriftsmäßig großen Triebstrahls oder die Behauptung, man dränge sich ihm auf, obwohl er, Arbiter, zuerst ein wichtigeres Raumfahrzeug durchlassen müsse, oder eine Rüge, weil die ionisierenden Entladungen in den Düsen den Funkempfang störten — aber diesmal geschah nichts dergleichen. Arbiter ließ sie anstandslos passieren. Das einzige, was sie von ihm hörten, war eine Meldung über „hohes Vakuum“. Pirx beantwortete den Funkspruch, und damit war der Austausch kosmischer Höflichkeiten beendet.

Sie steuerten nun direkten Kurs. Man konnte sich schon bewegen, konnte aufstehen und sich ein wenig die Beine vertreten. Der Funkmechaniker, der gleichzeitig als „Smutje“ fungierte, ging zur Kombüse.

Alle waren hungrig, vor allem Pirx, der noch gar nichts im Magen hatte. Im Steuerraum begann die Temperatur zu steigen, die Glut der erhitzten Panzerung drang mit gewisser Verspätung ins Innere. Ein penetranter Geruch breitete sich aus — das Öl war aus der Hydraulik geflossen und bildete rings um die Sitze große Lachen.

Der Kernphysiker fuhr zur Säule hinunter, um nachzusehen, ob es Neutronenlecks gab. Pirx plauderte unterdessen mit dem Elektriker, es stellte sich heraus, daß sie gemeinsame Bekannte hatten. Er begann sich allmählich wohl zu fühlen, zum erstenmal, seit er an Bord war, regte sich in ihm so etwas wie Zufriedenheit. Wie der „Stern“ auch immer beschaffen sein mag — neunzehntausend Tonnen, das will schon was heißen…, sagte er sich. Es gehört schon etwas dazu, anstelle eines einfachen Frachters solch ein Riesenwrack zu steuern… Erstens ist die Ehre größer, und zweitens… Man kann nie genug Erfahrungen sammeln…

Anderthalb Millionen Kilometer hinter dem Arbiter erlebten sie die erste Enttäuschung: Das Mittagessen war ungenießbar. Der Funkmechaniker fluchte in allen Tonarten, am meisten aber ereiferte sich der Sanitäter, der, wie sich herausstellte, magenkrank war. Kurz vor dem Start war es ihm gelungen, ein paar Hühner zu erstehen. Eines davon hatte er den Kochkünsten des Funkmechanikers anvertraut — das Ergebnis war eine Brühe voller Federn. Um die Beefsteaks für die anderen Besatzungsmitglieder war es nicht besser bestellt — man hätte sich zeitlebens mit ihnen befassen müssen.

„Gehärtet, wie?“ fragte der zweite Pilot und bohrte die Gabel in seine Portion, daß das Fleisch vom Teller sprang.

Der Funkmechaniker war gegen Sticheleien unempfindlich, er riet dem Sanitäter, sich die Brühe durchzuseihen. Pirx besann sich auf seine Pflichten als Vorgesetzter. Er wollte Frieden stiften, wußte aber nicht, wie er das anstellen sollte. Es gelang ihm nur mit Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. Nach dem Mittagessen aus der Konservendose kehrte er in den Steuerraum zurück. Er befahl dem Piloten, einen Kontroll-Sternfix zu machen, und trug die Werte, die der Schweremesser zeigte, ins Logbuch ein. Als sein Blick auf die Zeiger der Atomsäule fiel, pfiff er vor Überraschung vor sich hin — das war keine Säule, sondern ein Vulkan. Achthundert Grad in der Ummantelung — und das nach erst vier Flugstunden! Die Kühlung kreiste unter einem maximalen Druck von zwanzig Atmosphären. Pirx überlegte. Das Schlimmste schienen sie überwunden zu haben. Die Landung auf dem Mars war kein Problem — die Schwerkraft war um die Hälfte geringer, die Atmosphäre dünner. Irgendwie zurückkommen würden sie schon. Aber die Säule, die Säule — es mußte etwas geschehen… Er trat an den Kalkulator, stellte Berechnungen an, wollte wissen, wie lange sie noch mit diesem Schub fliegen müßten, um auf die Kurierlinie zu kommen. Bei einer Geschwindigkeit unter achtzig Kilometer pro Sekunde würden sie sich sehr verspäten.

„Noch achtundsiebzig Stunden“, antwortete der Kalkulator.

Achtundsiebzig Stunden? Das müßte die Säule sprengen! Wie ein Ei würde sie auseinanderfliegen — daran war nicht zu zweifeln. Pirx beschloß, die erforderliche Geschwindigkeit nicht auf einmal, sondern nach und nach zu entwickeln. Der Kurs würde sich dadurch ein wenig komplizieren, und man mußte auch Abschnitte ohne Schub fliegen, ohne Schwerkraft also, was nicht gerade zu den angenehmsten Dingen gehörte. Aber wie dem auch war, es gab keinen anderen Ausweg. Er schärfte dem Piloten ein, den Sternkompaß nicht aus den Augen zu lassen, und fuhr mit dem Fahrstuhl zum Reaktor hinunter. Als er den dunklen Korridor durchquerte, der von Laderäumen flankiert war, vernahm er ein dumpfes Dröhnen — es hörte sich an, als galoppiere eine Schar gepanzerter Reiter über Eisenplatten. Pirx beschleunigte seinen Schritt, ein schwarzes Knäuel geriet ihm zwischen die Füße — die Katze. Sie jagte wie ein Blitz davon, gleichzeitig fiel irgendwo in der Nähe eine Tür ins Schloß, daß es krachte. Dann wurde es still. Pirx eilte weiter. Vor ihm öffnete sich wie ein Schlund der Hauptgang, der von schmutzigtrüben Lampen erhellt war, aber außer kahlen, geschwärzten Wänden war nichts zu sehen. Im Hintergrund brannte eine Glühbirne, das Kabel pendelte hin und her — irgend jemand hatte es in Schwingungen versetzt.

„Terminus!“ rief Pirx aufs Geratewohl, aber nur das Echo antwortete ihm. Er wandte sich um, eilte in den Vorraum der Atomsäule, traf aber Boman, der vor ihm heruntergefahren war, nicht mehr an. Die Luft, trocken wie Sand, brannte in den Augen. Heißer Wind rauschte in den Trichtern der Ventilatoren, es herrschte ein Getöse wie in der Nähe eines Dampfkessels. Die Säule selbst arbeitete geräuschlos wie jede andere — der Lärm wurde von den Kühlaggregaten verursacht, die bis zum äußersten strapaziert waren. Die von einer Betonschicht umgebenen, kilometerlangen Rohrleitungen, durch die eiskalte Flüssigkeit strömte, gaben eigenartig klagende, stammelnde Laute von sich. Die Zeiger der Pumpen hinter den linsenartigen Gläsern waren ausnahmslos nach rechts gerichtet. Die wichtigste der Uhren — sie gab die Dichte des Neutronenstroms an — leuchtete wie ein Mond.

Ihr Zeiger berührte fast die rote Grenze — ein Anblick, der jeden Kontrollinspekteur an den Rand eines Herzinfarkts gebracht hätte. Die felsenähnliche Beton wand, narbig und rauh von den vielen Zementflicken, strahlte tödliche Hitze aus. Die Bleche der Plattform vibrierten — es war ein unangenehmes, nervöses Beben, das sich dem ganzen Körper mitteilte. Das Lampenlicht spiegelte sich ölig in den blitzenden Scheiben der Ventilatoren, ein weißes Signallämpchen begann zu flackern und verlosch, statt dessen flammte ein rotes Warnlicht auf. Pirx trat unter die Plattform, um nach den Leitungsschaltern zu sehen, aber Boman war ihm zuvorgekommen, er hatte den Automaten bereits auf Unterbrechung der Kettenreaktion in vier Stunden geschaltet. Die Geigerzähler tickten ruhig, der Signalisator zeigte ein kleines Leck an — 0,3 Röntgen pro Stunde. Pirx warf noch einen Blick in die dunkle Ecke der Kammer. Sie war leer. „Terminus!“ rief er. „He, Terminus!“ Keine Antwort. Die Mäuse in ihren Käfigen huschten wie weiße Flecke hin und her — sie fühlten sich offenbar nicht sonderlich wohl in der subtropischen Hitze. Pirx verließ die Kammer und verriegelte hinter sich die Tür. Draußen, im kühlen Gang, befiel ihn ein Zittern, sein Hemd war schweißnaß. Ziellos und ohne zwingenden Grund wagte er sich in die immer enger werdenden Gänge des Hecks vor, in denen Halbdunkel herrschte, bis ihm eine blinde Wand den Weg versperrte.

Er berührte sie. Sie war warm. Seufzend kehrte er um, fuhr zum vierten Deck hinauf, in den Navigationsraum, und ging daran, den Kurs aufzuzeichnen. Als er das erledigt hatte, sah er auf die Uhr und stutzte: Es war neun, die Zeit war wie im Fluge verstrichen. Er knipste das Licht aus und verließ den Raum.

Als er in den Fahrstuhl stieg, entglitt ihm sanft der Fußboden unter den Füßen. Der Automat hatte die Säule ausgeschaltet, es herrschte Schwerelosigkeit. In dem von Nachtlämpchen schwach erhellten Korridor des Mittelschiffs summten die Ventilatoren ihr monotones Lied. Das schwache Licht in der Ferne flimmerte in den sich kreuzenden Luftströmungen. Pirx stieß sich von der Tür des Aufzuges ab und schwamm vor sich hin. Im bläulichen Dämmerlicht schwebte er an Türen vorbei, sie führten zu den Kajüten, in die er noch nicht hineingeschaut hatte. Die Trichter der Notausgänge, die durch rubinrote Lämpchen gekennzeichnet waren, klafften schwarz. Mit fließenden Bewegungen glitt er dicht unter der gewölbten Decke entlang, sein riesiger Schatten kroch langsam über den Boden. Durch eine halboffene Tür gelangte Pirx in die große Messe, die nie benutzt worden war. Unter ihm, in dem Lichtstreifen, stand ein langer Tisch, flankiert von Sesselreihen. Pirx schwebte über den Möbeln, er glich einem Taucher in einem versunkenen Schiff. Die Lichtreflexe in den mattglänzenden Scheiben flimmerten, zerfielen in kleine bläuliche Flämmchen und verloschen. Hinter der Messe gähnte ein weiterer Raum, in dem es noch dunkler war. Pirx’ Augen hatten sich an das Dämmerlicht gewöhnt, aber in dieser Finsternis versagten auch sie. Als er mit den Fingerspitzen eine elastische Fläche berührte, wußte er nicht, ob es die Decke war oder der Fußboden. Er stieß sich leicht ab, vollführte eine Wende wie ein Schwimmer und huschte lautlos weiter. In dem samtenen Schwarz schimmerten in einer Reihe längliche weiße Gebilde. Er ertastete eine kalte, glatte Oberfläche — es waren Waschbecken. Eines von ihnen war mit dunklen Flecken bedeckt. Blut?

Vorsichtig streckte er die Hand aus — es war nichts weiter. Wieder eine Tür. Pirx öffnete sie, er hing schräg im Raum. Im trüben Dämmerlicht bot sich ihm ein seltsamer Anblick: Gleich einem Gespensterreigen zogen Papiere und Bücher an seinem Gesicht vorbei, sie raschelten leise und verschwanden in der Dunkelheit. Er stieß sich erneut ab — diesmal mit den Füßen —, schwamm in einer Staubwolke in den Korridor zurück und schleppte die Wolke wie einen rötlichen Schleier hinter sich her. Die Nachtlichter brannten ruhig, sie wirkten wie eine lange, phosphoreszierende Schnur. Die Decks schienen überflutet zu sein, sie schimmerten blau. Eine Leine hing von der Decke herab. Pirx ergriff sie und hielt sich fest. Als er sie losließ, schlängelte sie sich träge — es war, als habe er sie zum Leben erweckt.

Irgendwo in der Nähe ertönten Klopfzeichen — jemand schien mit einem Hammer auf Metall zu schlagen. Pirx sah auf, lauschte und schwamm in die Richtung, aus der das Geräusch zu ihm gedrungen war. Das Klopfen schwoll an, wurde schwächer. Pirx bewegte sich vorwärts, so schnell er es vermochte, er flog förmlich. In den Fußboden unter ihm waren rostige Schienen eingelassen — einst waren Loren für die Laderäume auf ihnen gerollt. Das Hämmern schwoll erneut an. Pirx’ Blick fiel auf ein Rohr, das aus einem Quergang kam und unter der Decke entlanglief. Er berührte es und spürte, wie es zitterte. Die Klopfzeichen ertönten in Gruppen — jeweils zwei, drei Schläge auf einmal. Plötzlich hatte er begriffen: Jemand morste!

„A-c-h-t-u-n-g“, dröhnte es im Rohr. „B-i-n-h-i-n-t-e-r-d-e-m-s-p-a-n-t-e-n.“ Pirx reihte die Buchstaben aneinander, eine Silbe nach der anderen. „Ü-b-e-r-a-1-l-e-i-s…“

Eis…? Im ersten Augenblick begriff er gar nichts. Was für Eis? Was soll das? Wer…

„D-e-r-b-e-h-ä-1-t-e-r-g-e-s-p-r-u-n-g-e-n…“, tönte es. Pirx’ Hand lag auf dem Rohr. Wer sendet da? fragte er sich. Und wo? Man müßte wissen, wohin die Rohrleitung führt… Sicherlich zum Heck, ein unbenutzter Strang mit Abzweigungen nach allen Decks… Irgend jemand übt sich im Morsen… Schnapsidee… Der Pilot vielleicht?

„P-r-a-t-t-a-n-t-w-o-r-t-e…“ Pause…

Pirx hielt den Atem an, der Name hatte ihn wie ein Schlag getroffen. Eine Sekunde lang starrte er mit geweiteten Augen auf die Leitung, dann warf er sich nach vorn. Der zweite Pilot! durchfuhr es ihn. Er erreichte die Kurve, stieß sich ab und schwamm auf den Steuerraum zu. Über ihm dröhnte das Rohr. „W-a-y-n-e-h-i-e-r-s-i-m-o-n..“

Das Klopfen wurde schwächer, Pirx hatte das Rohr aus den Augen verloren. Er warf sich zur Seite, bog in den Quergang ein, stieß sich von der Wand ab und erblickte durch eine Staubwolke den verbogenen Stumpf des Rohres mit dem eingeschraubten rostigen Stopfen. Hier endet es…, überlegte er. Es führt also nicht zum Steuerraum. Dann kann das Klopfen nur vom Heck kommen… Aber da ist doch niemand…

„P-r-a-t-t-i-m-s-e-c-h-s-t-e-n-m-i-t-d-e-r-1-e-t-z-t-e-n…“, hämmerte es. Pirx hing an der Decke wie eine Fledermaus, die Finger umklammerten das Rohr, in den Schläfen pochte es wie wild. Eine Weile war es still, dann setzte das Morsen wieder ein.

„D-i-e-f-1-a-s-c-h-e-h-a-t-d-r-e-i-ß-i-g-m-i-n-u-s…“ Dreimaliges Klopfen…

„M-o-m-s-s-e-n-a-n-t-w-o-r-t-e — m-o-m-s-s-e-n…“ Stille…

Pirx sah sich um. Die Geräusche waren verstummt, nur die Jalousie des Ventilators schepperte leise. Ein Luftzug war zu spüren, er wirbelte flockigen Staub auf, kleine Schattensprenkel tanzten an der Decke wie große, unförmige Nachtfalter. Plötzlich hagelte es heftige Schläge. „P-r-a-t-t-p-r-a-t-t — m-o-m-s-s-e-n-a-n-t-w-o-r-t-e-t-n-i-c-h-t — h-a-t-s-a-u-e-r-s-t-o-f-f-i-m-s-i-e-b-e-n-t-e-n — ca-n-n-s-t-d-u-d-u-r-c-h-co-m-m-e-n-e-m-p-f-a-n-g.. “

Erneut heftiges Hämmern, das Rohr zitterte noch lange danach. Pause. Dutzende unverständlicher Zeichen, dann eine schnelle Serie.

„G-e-h-t-s-c-h-w-a-c-h-g-e-h-t-s-c-h-w-a-c-h…“ Stille…

„P-r-a-t-t-a-n-t-w-o-r-t-e — p-r-a-t-t — e-m-p-f-a-n-g…“ Stille… oder?

Das Rohr bebte nur leicht. Wie aus weiter Ferne war ein leises Pochen zu hören — drei Striche, drei Punkte, drei Striche: SOS. Die Klopftöne wurden immer schwächer. Noch zwei Striche… Noch einer, dann ein durchdringender, ersterbender Laut, als kratze oder schabe jemand am Rohr.

Pirx hangelte sich weiter, er glitt mit dem Kopf voran am Rohr entlang und folgte dem Strang um Ecken und Kurven, mal höher, mal tiefer schwebend. Da, der Schacht, er stand offen… Der schräge Gang… Die Wände rückten näher zusammen… Die erste, die zweite, die dritte Tür des Laderaums… Es wurde dunkler… Pirx tastete mit den Fingern über das Rohr, er wollte es nicht verlieren. Schwarzer, brandiger Staub hüllte wie ein Tuch seine Hände ein… Die Decks lagen nun hinter ihm, er schwamm in dem Raum zwischen dem Außenpanzer und den Laderäumen. An den Traversen hingen die geschwollenen Leiber der Reservetanks, hin und wieder durchschnitt ein Lichtstreifen voller Staub die Dunkelheit. Pirx schaute hinauf und erblickte in dem schwarzen Schacht zwei Lampenreihen. Ihr Licht war rostrot von dem Staub, den er in einer länglichen Wolke wie Qualm hinter sich herschleppte. Die Luft war muffig, stickig, es roch nach erhitztem Blech. Er schwebte inmitten der schwach erkennbaren Schatten der Eisenkonstruktion und hörte das Rohr hallen.

„P-r-a-t-t-p-r-a-t-t-a-n-t-w-o-r-t-e-n — p-r-a-t-t-…“ Die Leitung gabelte sich. Pirx preßte die Hände um beide Stränge, er wollte wissen, aus welcher Richtung die Geräusche kamen, aber es war vergebens. Auf gut Glück bog er links ab. Ein Eingang. Ein Tunnel, der enger wurde, schwarz wie Teer. Am Ende war ein Lichtschein zu erkennen. Pirx schwamm auf ihn zu, so rasch er konnte, und landete in der Vorkammer des Reaktors. „H-i-e-r-w-a-y-n-e — p-r-a-t-t-a-n-t-w-o-r-t-e-t-n-i-c-h-t…“, dröhnte es im Rohr, als er die erste Tür öffnete. Heiße Luft schlug ihm ins Gesicht. Er zog sich an der Plattform hoch, die Kompressoren heilten, warmer Wind zauste sein Haar. Er erblickte in verkürzter Perspektive die Betonwand des Reaktors, die Uhren leuchteten, die Signallichter zitterten wie rote Tropfen. „S-i-m-o-n-a-n-w-a-y-n-e — h-ö-r-e-m-o-m-s-s-e-n-u-n-t-e-r-m-i-r…“, hämmerte es in unmittelbarer Nähe. Das Rohr verlief im Bogen nach unten, und dort, wo es in die Hauptleitung mündete, stand Terminus, der Automat. Er hatte sich breitbeinig hingestellt, seine Arme zuckten abwechselnd vor, er schien mit einem unsichtbaren Gegner zu kämpfen. Mit vollen Händen warf er Zementteig an die Wand, klatschte ihn breit, verbesserte, modellierte und wandte sich dem nächsten Abschnitt zu. Pirx verfolgte den Rhythmus der Bewegungen. Die Arme, die wie Kolben arbeiteten, trommelten: „H-i-e-r-w-a-y-n-e-m-o-m-s-s-e-n-a-n-t-w-o-r-t-e-m-o-m-s-s-e-n…“

„Terminus!“ rief Pirx. Er starrte das metallene Gesicht an und dann die blitzenden stählernen Pranken. Das linke Auge des Roboters war schielend auf ihn gerichtet. „Ich höre“, erwiderte der Automat monoton. „Was… Was morst du da?“

„Ich plombiere das Leck“, antwortete die tiefe Stimme. „S-i-m-o-n-a-n-w-a-y-n-e… p-o-t-t-e-r — p-r-a-t-t-h-a-t-n-u-1-1… m-o-m-s-s-e-n-a-n-t-w-o-r-t-e-t-n-i-c-h-t…“ Das Eisen dröhnte unter der Gewalt der Schläge. Der schwere Zementteig troff herab, die stählernen Klauen rissen ihn hoch, hielten ihn fest, preßten ihn erneut an die Fläche. Einige Sekunden lang erstarrten die Arme in hocherhobener Stellung, dann bückte sich der Automat, schöpfte eine neue Portion metallischen Zements, und eine weitere Serie heftiger Hiebe folgte.

„M-o-m-s-s-e-n-m-o-m-s-s-e-n-a-n-t-w-o-r-t-e — m-o-m-s-s-e-n-m-o-m-s-s-e-n-m-o-m-s-s-e-n-m-o-m-s-s-e-n-m-o-m-s-s-e-n-m-o-m-s-s-e-n-m-o-m…“ Der Rhythmus wurde obstinater, rasender, die Wasserleitung zitterte und stöhnte unter dem Hagel der Schläge — es war ein Schrei, der nicht enden wollte…

„Terminus, hör auf!“ Pirx warf sich nach vor, er versuchte, die öligen Handgelenke des Automaten zu packen, aber sie entglitten ihm. Terminus erstarrte in geduckter Haltung, hinter der Betonwand heulten die Pumpen. Pirx hatte den öltriefenden Körper nun unmittelbar vor sich, an den stockartigen Beinen floß das Öl nur so herunter.

Er wich zurück.

„Terminus…“, sagte er schwach. „Was hast…“ Er stockte. Der Roboter rieb sich die Stahlklauen rasselnd aneinander. Die angetrockneten Zementreste bröckelten ab, fielen aber nicht zu Boden, sondern tanzten in der 150 Luft herum und flössen wie ein Rauchring auseinander. „Was hast du getan?“ fragte Pirx.

„Ich habe das Leck plombiert. Vier zehntel Röntgen in der Stunde. Darf ich weiterplombieren?“

„Du darfst…“, sagte Pirx.

Er betrachtete die großen Hände des Automaten, die sich allmählich entspannten. „Ja, du darfst.“

Er wartete. Terminus schien ihn nicht mehr zu sehen. Er schöpfte mit der linken Hand Zement, schleuderte ihn blitzschnell gegen die Wand, drückte ihn fest und glättete ihn: drei Schläge. Dann zuckte die Rechte vor und trommelte gegen das Rohr: „P-r-a-t-t-1-i-e-g-t-i-m-s-e-c-h-s-t-e-n — m-o-m-s-s-e-n-a-n-t-w-o-r-t-e — a-n-t-w-o-r-t-e-m-o-m-s-s-e-n…“

„Wo ist Pratt?“ schrie Pirx voller Entsetzen. Die Hände des Roboters blitzten im Licht. Er antwortete sofort:

„Ich weiß nicht…“ Während er sprach, klopfte er mit solcher Geschwindigkeit, daß Pirx nur mit Mühe folgen konnte.

„P-r-a-t-t-a-n-t-w-o-r-t-e-t-n-i-c-h-t…“ Dann geschah etwas Verblüffendes. Die rasende Serie der rechten Hand wurde von einer zweiten, schwächeren überlagert — die Finger der Linken pochten sie. Die einzelnen Zeichen vermischten sich, sekundenlang erbebte die Rohrleitung im Rhythmus eines zweifach gehämmerten, irren, allmählich leiser werdenden Wirbels: „Cl-t-h-a-n-d-ca-n-n-i-m-e-h-r…“

„Terminus…“, kam es tonlos von Pirx’ Lippen, während er zu der eisernen Treppe zurückwich. Der Automat beachtete ihn nicht mehr, sein ölglänzender Leib erzitterte im Rhythmus der Arbeit. Pirx brauchte nicht hinzuhören, er las die Zeichen an den Bewegungen der Arme ab, die im Dämmerlicht aufblitzten. „M-o-m-s-s-e-n-a-n-t-w-o-r-t-e…“

II

Er lag auf dem Rücken, fand keinen Schlaf. Vor seinen Augen erstanden Bilder, sie zuckten auf wie Blitze und wurden durch neue verdrängt… Pratt hatte sich also weiter ins Schiffsinnere gewagt…, grübelte er. Der Sauerstoff war ihm ausgegangen… Die beiden anderen hatten ihm nicht helfen können… Und Momssen?

Weshalb antwortete der nicht? Tot?… Nein, Simon hörte ihn… Er war also irgendwo in der Nähe, vielleicht hinter der Wand… Hinter der Wand? Dann muß dort Luft gewesen sein… Ja, sonst hätte er nicht gelebt…

Simon hörte etwas — aber was? Schritte? Weshalb riefen sie Momssens Namen überhaupt…? Und weshalb antwortete er nicht…?

Eine Agonie… Eine Agonie in Punkten und Strichen… Dieser Terminus… Wie war das möglich? Man hatte ihn in der Kammer gefunden, unter einem Schutthaufen… Wahrscheinlich an der Stelle, wo die Rohrleitung nach außen führte. Er war verschüttet, konnte aber das Klopfen hören… Wie lange mögen sie gemorst haben?

Der Sauerstoffvorrat war beträchtlich, sicherlich hatte er Monate gereicht… Der Lebensmittelvorrat ebenfalls…

Terminus lag also unter den Trümmern… Halt, Moment mal — die Schwerkraft fehlte doch! Was hatte ihn stillgelegt? Die Kälte wohl… Er konnte sich nicht bewegen, denn bei der niedrigen Temperatur gerann ihm das Öl in den Gelenken… Die hydraulische Flüssigkeit gefror, sprengte die Leitungen… Übrig blieb nur das Elektronengehirn, es hatte alles vernommen, hatte die Klopfzeichen, die immer schwächer wurden festgehalten, hatte sich alles gemerkt, als ob es erst gestern geschehen wäre. Und Terminus selbst… Ahnt er nichts? Wie das?

Weißer wirklich nicht, daß die Morsezeichen den Rhythmus seiner Arbeit bestimmen? Lügt er? Nein — Automaten lügen nicht… Die Müdigkeit überschwemmte Pirx wie schwarzes Was ser. Vielleicht sollte ich gar nicht hinhören, dachte er. Es war ihm unerträglich, immer wieder diesen Todeskampf mitzuerleben und jede furchtbare Einzelheit, jede Phase, jedes Signal zu analysieren, das Flehen um Sauerstoff, das Schreien. Man darf das nicht tun, wenn man nicht helfen kann…, sagte er sich. Bleiern senkte sich der Schlaf auf ihn, er war keines Gedankens mehr fähig, nur seine Lippen formten stumm, als widerspräche er jemandem: „Nein… Nein… Nein…“ Dann war nichts mehr.

In völliger Dunkelheit fuhr er hoch. Er wollte sich im Bett aufsetzen, aber die festgeschnallte Decke gab nicht nach. Tastend löste er die Gurte, schaltete das Licht ein. Die Triebwerke arbeiteten. Pirx warf sich den Mantel über und machte ein paar Kniebeugen, um den Grad der Beschleunigung zu schätzen. Sein Körper wog gut hundert Kilo. Anderthalb g etwa, konstatierte er. Die Rakete vollführte eine Wendung, deutlich war das Vibrieren zu spüren. Die Wandschränke knackten warnend, eine Tür öffnete sich mit ärgerlichem Krächzen, Kleidungsstücke, Schuhe — alle Gegenstände, die nicht befestigt waren, rutschten in Richtung Heck, urplötzlich belebt, als verbinde sie ein geheimes Streben.

Pirx trat an das Schränkchen des Interkoms und öffnete es. Drinnen stand ein Apparat, der einem altmodischen Telefon ähnelte.

„Steuerraum!“ rief er in den Hörer. Die Kopfschmerzen waren so heftig, daß er beim Klang seiner Stimme zusammenzuckte. „Erster. Was ist?“

„Kurskorrektur“, antwortete der Pilot wie aus weiter Ferne. „Wir haben eine kleine Abweichung.“

„Wie groß?“

„Sechs… Nein, sieben Sekunden.“

„Was macht die Säule?“ fragte Pirx vorsichtig. „Sechshundertzwanzig im Mantel.“

„Und in den Laderäumen?“

„In den Bordräumen je zweiundfünfzig, in den Kielräumen siebenundvierzig, in den Heckräumen neunundzwanzig und fünfundfünfzig.“

„Welche Abweichungen hatten wir, Munro? Wieviel sagten Sie?“

„Sieben Sekunden.“

„Na schön.“ Pirx warf den Hörer auf die Gabel. Er wußte, daß der Pilot log. Für eine Korrektur von sieben Sekunden hätte es nicht einer solchen Beschleunigung bedurft. Er schätzte die Kursabweichung auf mehrere Grad.

Diese Hitze in den Laderäumen…, dachte er. Möchte wissen, was sie im Heck untergebracht haben… Etwa Lebensmittel? Er setzte sich an den Schreibtisch. „Blauer Stern“ Terra-Mars an Kompo Erde — Erster Offizier an Reeder — Reaktor erhitzt Ladung — Bezeichnung des im Heck gefährdeten Ladeguts fehlt — Erbitte Hinweise — Pirx, Navigator — Ende.

Pirx schrieb noch, als die Triebwerke bereits verstummt waren und die Schwerkraft schwand. Er drückte mit dem Bleistift auf, und das genügte, um im wahrsten Sinne des Wortes in die Luft zu gehen. Verärgert stieß er sich von der Decke ab, landete wieder im Sessel und überflog noch einmal den Text des Funkspruches. Er überlegte eine Weile, zerriß dann das Formular und stopfte die Fetzen in die Schublade. Die Müdigkeit hatte er verscheucht, die Kopfschmerzen waren geblieben. Anziehen wollte er sich nicht, denn das wäre bei der fehlenden Schwerkraft zu einer komplizierten Prozedur geworden, zu wankenden Sprüngen, zu einem Ringkampf mit den einzelnen Kleidungsstücken. So, wie er war, den Mantel über dem Pyjama, verließ er die Kajüte. Im bläulichen Licht der Nachtlampen fiel einem der klägliche Zustand der Beschläge nicht so sehr ins Auge. Pirx hörte die Ventilatoren fauchen, er sah den Schmutz, der von den schwarzen Schlünden angesogen wurde wie von einem Strudel. Es war still im „Blauen Stern“, absolut still. Pirx hing nahezu regungslos über seinem eigenen Schatten, der sich schräg an der Wand abzeichnete, er lauschte und hielt die Augen geschlossen. Es kam vor, daß Menschen in dieser Haltung einschliefen, aber das war gefährlich, denn sie konnten auf den Fußboden oder gegen die Decke geschleudert werden, sobald die Triebwerke eingeschaltet wurden.

Pirx hörte die Ventilatoren nicht mehr, nicht einmal das Pochen seines Herzens. Ihm war, als könne er die nächtliche Stille, die im Raumschiff herrschte, von jeder anderen unterscheiden. Auf der Erde spürt man die Begrenztheit der Stille, ihre Endlichkeit, ihren Augenblickscharakter. Inmitten der Monddünen aber trägt der Mensch sein eigenes kleines Schweigen mit sich herum, das im Innern des Skaphanders gefangen ist. Jedes feine und feinste Geräusch schwillt ins Riesenhafte an — das Knirschen der Gurte, das Knacken der Gelenke, der Pulsschlag, ja sogar der Atem. Das Schiff verliert sich im eisigen Nichts der Finsternis. Pirx führte die Uhr an die Augen — es war gegen drei. Wenn das so weitergeht, mach ich schlapp, dachte er. Er stieß sich von der gewölbten Trennwand ab, breitete die Arme aus und landete wie ein Vogel, der seine Geschwindigkeit bremst, auf der Schwelle der Kajüte. Aus der Ferne erreichte ihn, wie aus einem eisernen Erdinnern, ein kaum spürbarer Laut. Bang — bang — bang. Drei Klopfzeichen.

Fluchend schlug er die Tür zu und warf gedankenlos den Mantel ab. Das Kleidungsstück bauschte sich auf und schwebte wie ein riesiges Gespenst davon. Er löschte das Licht, legte sich hin, bedeckte den Kopf mit einem Kissen und schloß die Augen. „Idiot! Verdammter eiserner Idiot!“ murmelte er vor sich hin. Er zitterte vor Wut, konnte sich aber deren Ursache nicht erklären. Die Erschöpfung überwältigte ihn, im Nu war er eingeschlafen. Als er die Augen aufschlug, war es gegen sieben. Benommen hob er die Hand — sie fiel nicht herab. Er zog sich an, stieß sich ab, schwebte hinaus. Draußen auf dem Gang lauschte er unwillkürlich. Es war still. Im Steuerraum herrschte Halbdunkel, grünliche Lichtreflexe spielten auf den Radarschirmen. Der Pilot lag weit zurückgelehnt im Sitz und rauchte, der Qualm hing in Schwaden vor den Bildschirmen und verfärbte sich in ihrem Licht. Ein leises Klimpern war zu hören, irgendeine irdische Melodie, die ab und zu von kosmischen Geräuschen übertönt wurde. Pirx ließ sich auf den Sitz hinter dem Piloten gleiten. Er hatte nicht einmal das Verlangen, die Werte des Schweremessers abzulesen.

„Wann geben Sie Schub?“ erkundigte er sich. Der Pilot erriet den Grund der Frage. „Um acht. Aber wenn Sie baden möchten, kann ich auch gleich anfangen — mir ist das einerlei.“

„Ach was. Halten wir uns lieber an das Programm.“ Sie schwiegen. Der Lautsprecher summte immer wieder dasselbe Motiv. Pirx kämpfte mit dem Schlaf. Hin und wieder schrak er auf, nickte aber gleich wieder ein. Große grüne Katzenaugen traten aus der Finsternis, er blinzelte — sie verwandelten sich in beleuchtete Skalen. So dämmerte er halb wachend, halb träumend vor sich hin, bis der Lautsprecher zu krächzen begann.

„Hier spricht Dejmos. Es ist sieben Uhr dreißig. Wir senden unser tägliches Meteoritenkommunique für die innere Zone. Unter dem Einfluß des Schwerefeldes des Mars ist im Schwarm der Drakoniden, der die Gürtelzone verlassen hat, eine Randstörung entstanden. Sie wird heute die Sektoren 83, 84 und 87 kreuzen. Von der Meteoritenstation des Mars wird die Wolke auf vierhunderttausend Kubikkilometer geschätzt. In diesem Zusammenhang werden die Sektoren 83, 84 und 87 bis auf Widerruf für alle Flüge gesperrt. Wir geben jetzt die Zusammensetzung der Wolke bekannt, wie sie von den ballistischen Sonden des Phobos übermittelt worden ist.

Nach neue- sten Meldungen besteht die Wolke aus Mikrometeoriten der Klasse X, XY, Z…“

„Betrifft uns nicht… Ein Glück!“ sagte der Pilot. „Würde uns schlecht bekommen, wenn ich alles in die Düsen jagen müßte… Habe eben erst gefrühstückt!“

„Wieviel haben wir?“ fragte Pirx. Er löste sich vom Sitz. „Mehr als fünfzig.“

„Wirklich? Nicht übel.“

Pirx begab sich zur Messe. Vorher kontrollierte er noch rasch den Kurs, die Uranographen und die Intensität der Durchlässigkeit — sie war konstant. In der Messe drehte sich das Gespräch wider Erwarten nicht um den nächtlichen Lärm, sondern um Lottozahlen. Sims schien mit Ungeduld auf die nächste Ziehung zu warten, er wurde nicht müde, von angeblichen Gewinnen seiner Kollegen und Bekannten zu erzählen.

Nach dem Essen suchte Pirx den Navigationsraum auf und begann die bisher zurückgelegte Strecke einzuzeichnen. Plötzlich stutzte er und bohrte die Zirkelspitze ins Reißbrett. Er zog die Schublade auf, griff nach dem Logbuch und überflog die Liste der letzten Besatzung der „Koriolan“.

„Offiziere: Pratt und Wayne… Piloten: Nolan und Potter… Mechaniker: Simon…

Eine Weile betrachtete er die schwungvollen Schriftzüge des Kommandanten, dann legte er das Buch wieder in die Schublade. Er vollendete die Zeichnung, steckte die Kopie ein und fuhr in den Steuerraum hinunter, wo er binnen einer halben Stunde den genauen Zeitpunkt der Marslandung errechnete. Als er auf dem Rückweg an der Messe vorbeikam, warf er einen Blick durch die Türscheibe. Die Offiziere spielten Schach, der Sanitäter saß vor dem Fernsehgerät mit einem elektrischen Heizkissen auf dem Bauch.

Pirx schloß sich in der Kajüte ein. Er sah die Funksprüche durch, die er vom Piloten bekommen hatte, und bei dieser Beschäftigung übermannte ihn im Handumdrehen der Schlaf… Hin und wieder fuhr er auf — ihm war, als höre er die Triebwerke arbeiten… Er bemühte sich, die Augen zu öffnen, aber es wollte und wollte ihm nicht gelingen — jedesmal überschwemmte ihn bleierne Müdigkeit. Im Traum sah er sich im Steuerraum — er war menschenleer. Auf der Suche nach den Männern kreiste er schwerelos im stockfinsteren Labyrinth der Heckkorridore umher, fand aber keinen… Als er schweißüberströmt erwachte, ärgerte er sich — er ahnte, daß er des Nachts keinen Schlaf finden würde.

Gegen Abend schaltete der Pilot die Triebwerke ein. Pirx nutzte die Gelegenheit und nahm ein heißes Bad.

Angenehm belebt ging er in die Messe, trank einen Kaffee und erkundigte sich telefonisch nach der Temperatur des Reaktors. Sie betrug tausend Grad, und es war unerklärlich, daß sie den kritischen Punkt noch nicht überschritten hatte. Gegen zehn erhielt er einen Anruf aus dem Steuerraum — sie waren einem Raumschiff begegnet, das einen Kranken an Bord hatte. Als Pirx erfuhr, daß es sich um akute Blinddarmreizung handelte, empfahl er seinen Sanitäter nicht, zumal in einer Entfernung von höchstens drei Millionen Kilometer ein großes Passagierschiff flog, das ärztliche Hilfe anbot.

So schleppte sich der Tag dahin, träge und ereignislos. Um elf wurde das weiße Licht gelöscht, das auf allen Decks brannte, mit Ausnahme des Steuerraums und der Atomsäulenkammer. Die bläulichen Nachtlämpchen flammten auf, aber in der Messe blieb es noch bis Mitternacht hell — Sims saß am Schachbrett, er spielte gegen sich selbst. Pirx fuhr in die unteren Laderäume, um die Temperatur zu kontrollieren. Unterwegs begegnete er Boman, der gerade von der Säule kam. Der Ingenieur war guter Dinge — das Leck wurde nicht größer, und die Kühlung arbeitete zufriedenstellend.

Boman verabschiedete sich, Pirx blieb im leeren Gang zurück. Ein kühler Luftzug wehte, er brachte die Spinnwebenreste zum Zittern, die sich um die Öffnungen der Ventilatoren spannten. Beiderseits des schmalen Korridors erhoben sich, hoch wie Kirchenschiffe, die riesigen Laderäume. Pirx ging noch eine Weile auf und ab. Kurz nach Mitternacht verstummten die Triebwerke — Schwerelosigkeit trat ein.

Pirx vernahm Geräusche, schrille und gedämpfte, sie drangen aus verschiedenen Richtungen an sein Ohr und verebbten allmählich. Er wußte, daß der Lärm von unbefestigten Gegenständen verursacht wurde, die sich beim Eintritt der Schwerelosigkeit in Bewegung setzten, gegen Wände, Decken und Fußböden schlugen und ein vielstimmiges Echo erzeugten. Endlich verhallte das Getöse. Stille trat ein, nur noch das eintönige Rauschen der Ventilatoren war zu hören.

Pirx fiel ein, daß das Schreibtischschubfach im Navigationsraum klemmte. Auf der Suche nach einem Stemmeisen schwamm er einen langen, darmähnlichen Flur entlang, der zwischen dem Backbordladeraum und dem Kabeltunnel hindurchführte, und geriet in die Abstellkammer, den schmutzigsten Winkel des ganzen Schiffes. Der dichte Staub bedeckte nicht den Boden, sondern schwebte im Raum. Pirx wäre um ein Haar erstickt, mit Müh und Not fand er zur Tür zurück.

Als er sich dem Mittelschiff näherte, hörte er Schritte im Gang. Schritte bei Schwerelosigkeit? dachte er. Das kann nur der Automat sein… Das Stampfen wurde lauter, die magnetischen Saugnäpfe an den Füßen des Roboters klickten. Pirx wartete. Am Ende des Flurs tauchte eine schwarze Silhouette auf, sie hob sich scharf vom schwach erhellten Hintergrund ab. Der Automat schwankte, ruderte mit den Armen.

„He, Terminus!“ rief Pirx und glitt aus dem Schatten. „Ich höre.“

Die dunkle Gestalt blieb stehen, der Körper rückte träge in die Senkrechte. „Was tust du hier?“

„Die Mäuse..“, schnarrte es hinter dem Brustpanzer, ein heiserer Zwerg schien in der Rüstung zu stecken. „… die Mäuse schlafen unruhig… Sie wachen auf… Sie laufen umher… Sie haben Durst… Wenn sie Durst haben, muß man ihnen Wasser geben… Die Mäuse trinken viel bei hoher Temperatur…“

„Und was tust du?“ fragte Pirx. Der Automat geriet wieder ins Schwanken. „Die Temperatur ist hoch… Ich bewege mich… Ich bewege mich immer bei hoher Temperatur… Ich gebe den Mäusen Wasser… Wenn sie es trinken und einschlafen, dann ist es gut.. Durch zu hohe Temperatur können Störungen entstehen… Ich passe auf… Ich gehe zum Reaktor… Ich gebe den Mäusen Wasser…“

„Du bringst den Mäusen Wasser?“ fragte Pirx. „Ja… Terminus.“

„Wo hast du es?“

„Hohe Temperatur… Hohe Temperatur…“, sagte der Automat, als habe er die Frage nicht verstanden. Die ratlose Gebärde, mit der er seine Worte begleitete, wirkte so menschlich, daß Pirx stutzte. Der Roboter hob die Greifer und führte sie nacheinander an die Augen. Die gläsernen Pupillen bewegten sich, fixierten die leeren, metallischen Handflächen und erstarrten. „Kein Wasser da… Terminus.“

„Wo ist es denn?“ fragte Pirx. Er beobachtete den Roboter unter halbgeschlossenen Lidern. Terminus, der ihn um Kopfeslänge überragte, gab mehrere unverständliche Laute von sich und sagte dann unverhofft in tiefem Baß: „Hab ver… gessen.“

Das klang so hilflos, daß Pirx nahe daran war, die Fassung zu verlieren. Eine Weile betrachtete er die schwankende Gestalt, dann sagte er: „Vergessen? Geh zum Reaktor. Aber komm wieder, hörst du?!“

„Ich höre.“

Terminus machte rasselnd kehrt und stapfte mit unsagbar steifen, greisenhaften Bewegungen davon. In der Perspektive des langgezogenen Korridors wirkte er viel kleiner als vorhin. Pirx sah, wie er über eine Stufe stolperte, mit den Armen ruderte, mühsam um Gleichgewicht rang und schließlich in einem Quergang verschwand. Es dauerte eine Weile, bis das Echo seiner Schritte verhallte. Pirx wollte umkehren, aber er überlegte es sich anders. Dicht über dem Fußboden dahingleitend, erreichte er den sechsten Ventilationsraum. Er wußte, daß es auch bei abgeschalteten Triebwerken verboten war, sich in den Schächten zu bewegen, aber er scherte sich nicht darum. Kurzentschlossen stieß er sich vom Geländer ab und landete wenige Augenblicke danach im Heck — innerhalb zehn Sekunden hatte er sieben Etagen passiert. Die Atomkammer betrat er nicht.

An der Wand, etwa in halber Höhe, entdeckte er einen länglichen Riegel. Er schwamm heran, schob den Riegel zurück, öffnete eine schmale Tür. Ein Fenster aus Bleiglas kam zum Vorschein, es war in Stahl gefaßt und bildete die Rückwand des Mäusekäfigs. Durch diese Scheibe konnte man die Tiere beobachten, ohne die Kammer betreten zu müssen. Pirx erblickte den Käfig — er war leer. Jenseits des Drahtgitters schimmerte im hellen Lampenschein der tropfnasse Rücken des Roboters, er hing fast senkrecht im Raum, die Arme bewegten sich träge. Terminus versuchte, die weißen Mäuse einzufangen, die sich auf seinem Metallrumpf häuslich niedergelassen hatten. Sie huschten über die Schulterbleche, krabbelten über den Brustpanzer, rotteten sich an den Vertiefungen des vielgliedrigen Bauches zusammen, wo sich Wasser angesammelt hatte, leckten es gierig auf, purzelten durcheinander… Terminus war eifrig damit beschäftigt, die Tierchen einzufangen, die ihm immer wieder durch die Finger schlüpften. Ihre Schwänzchen verhedderten sich, ringelten sich zu wunderlichen Arabesken — all das war so eigenartig, so komisch, daß Pirx von einem unwiderstehlichen Lachreiz gepackt wurde.

Nach und nach gelang es Terminus, die Mäuse einzufangen. Jedesmal, wenn er ein paar von ihnen in den Käfig warf, näherte sich sein maskenhaftes Gesicht dem Fenster, aber er schien das Augenpaar hinter der Scheibe nicht zu bemerken. Zwei, drei Mäuse schwebten noch im Raum. Endlich wurde Terminus auch mit ihnen fertig, er verschloß den Käfig und entfernte sich. Pirx sah nur noch seinen übermenschlichen Schatten, der über die Betonwand des Reaktors glitt.

Vorsichtig schob er die kleine Tür zu und kehrte in die Kajüte zurück. Er zog sich aus, legte sich hin, fand aber keinen Schlaf. Unschlüssig griff er nach dem Tagebuch des Astronavigators Irving, legte es jedoch nach kurzem Blättern wieder beiseite — die Augen brannten ihm, als habe jemand feinen Sand hineingestreut. Hellwach, aber mit brummendem Schädel, dachte er verzweifelt an die vielen Stunden, die ihn noch vom Tage trennten. Er warf sich den Mantel um und verließ die Kajüte. Dort, wo der Hauptkorridor den Bordgang kreuzte, hielt er inne — ein Stampfen drang aus dem Ventilationsschacht.

Er preßte das Ohr ans Gitter und lauschte. Die Geräusche kamen von unten, sie waren verzerrt — der tiefe, brunnenartige Schacht erzeugte ein vielfaches Echo. Pirx stieß sich mit den Händen vom Gitter ab und glitt, mit den Füßen voran, zum Heck hinunter. Die Schritte erdröhnten nun in unmittelbarer Nähe, sie verstummten einen Augenblick, setzten wieder ein — der Automat kam zurück. Pirx wartete, er schwebte dicht unter der Decke, der Korridor war an dieser Stelle sehr hoch. Der Tritt der schweren Sohlen wurde lauter, dann herrschte plötzlich Stille. Pirx’ Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt.. Endlich setzte das Stampfen wieder ein, und ein langer Schatten kroch über den Fußboden. Terminus stakste heran, Pirx hing so dicht über ihm, daß er das Pochen des hydraulischen Herzens hören konnte.

Der Automat ging noch ein paar Schritte, dann blieb er stehen und stieß ein durchdringendes Zischen aus. Sein Körper schwankte hin und her, es sah aus, als wolle er sich vor den Eisenwänden verneigen.

An einem finsteren Quergang unter- brach er erneut seinen Marsch und versuchte vergebens, den Kopf durch das Gitter eines Ventilationsschachts zu stecken. Zischend richtete er sich auf und stapfte weiter. Pirx hatte es satt. „Terminus!“ rief er.

Der Automat, der sich gerade bückte, hielt mitten in der Bewegung inne. „Ich höre.“

„Was suchst du hier schon wieder?“ Pirx starrte den Roboter an. Er blickte in eine abgeflachte, ausdruckslose Larve, die nichts verriet, weil sie mit einem menschlichen Antlitz nichts gemein hatte.

„Ich suche… Ich suche die Katze…“, sagte der Automat. „Waas?“

Terminus richtete sich zu voller Größe auf. Er tat es langsam, mit quietschenden Gelenken und träge herabhängenden Armen — in seiner Bewegung lag etwas Drohendes.

„Ich suche die Katze…“, wiederholte er. „Wozu?“

Der Automat ließ sich Zeit, er stand regungslos da wie eine Metallsäule. „Weiß nicht…“, sagte er leise. Pirx war verwirrt. Es war totenstill. Schwacher Lampenschein erhellte die rostigen Gleise an den verschlossenen Türen. Der Korridor wirkte wie ein stillgelegter Bergwerksstollen.

„Genug!“ sagte Pirx. „Gehe zum Reaktor zurück und rühr dich nicht vom Fleck, hörst du?“

„Ich höre.“

Terminus wandte sich um und stapfte davon. Pirx blieb allein, er hing in halber Höhe zwischen Decke und Fußboden. Die Zugluft trug ihn mit sich fort, sie trieb ihn Zentimeter um Zentimeter dem Ventilator zu. Er stieß sich mit den Füßen von den Wänden ab, kam zum Fahrstuhl, schwebte nach oben, vorbei an den schwarzen Schlünden der Schächte, die vom stampfenden Marschtritt des Roboters widerhallten wie vom Pendelschlag einer gewaltigen Uhr.

III

In den folgenden Tagen nahm die Mathematik Pirx völlig in Anspruch. Jedesmal, wenn die Säule eingeschaltet wurde, erhitzte sie sich mehr, zugleich verringerte sich ihre Leistung. Boman vermutete, daß die Neutronenspiegel am Ende waren — die langsam, aber unerbittlich ansteigende radioaktive Durchlässigkeit zeuge davon. Durch komplizierte Berechnungen versuchte er, die Zeiten für Antrieb und Kühlung zu dosieren, wenn der Reaktor ruhte, leitete er die kühlende Flüssigkeit in die Heckräume, in denen tropische Temperaturen herrschten. Dieses Lavieren zwischen gegensätzlichen Größen erforderte Geduld. Boman saß am Kalkulator und suchte entsprechend der Fehlertheorie nach der besten Lösung. So legten sie dreiundvierzig Millionen Kilometer mit nur geringer Verspätung zurück. Am fünften Reisetag erreichten sie allen Unkenrufen Bomans zum Trotz den erforderlichen Geschwindigkeitsgrad. Pirx atmete auf und gab den Befehl, den Reaktor auszuschalten — er sollte sich noch vor der Landung abkühlen. Es war eigenartig: In solch einem Frachtschiff bekam man die Sterne seltener zu sehen als auf der Erde. Pirx war nicht neugierig darauf, nicht einmal auf die kupferrote Scheibe des Mars. Die Kursdiagramme genügten ihm. Der letzte Reisetag neigte sich seinem Ende zu, das Nachtlicht flammte auf. Im trüben Schein der Lämpchen wirkten die Decks größer als sonst. Pirx fiel ein, daß er noch nicht ein einziges Mal die Laderäume besichtigt hatte, seit er an Bord war.

Er verließ die Messe — Sims und Boman spielten Schach, wie immer — und fuhr mit dem Lift ins Heck. Von Terminus hatte er seit der letzten Begegnung weder etwas gesehen noch gehört, ihm war nur aufgefallen, daß die Katze verschwunden war, als habe sie nie existiert. Im schwach erhellten Mittelschiff summten die Ventilatoren ihr eintöniges Lied. Als Pirx die Tür des Laderaums öffnete, flammten die völlig verstaubten Lampen auf. Schwebend durchquerte er den Laderaum von einem Ende zum anderen, unter sich Berge von Kisten, die an einigen Stellen fast bis an die Decke reichten. Er überprüfte die Spannung der im Fußboden verankerten Stahlbänder, die den riesigen Stapel zusammenhielten. Zugluft drang zur Tür herein, ganze Wolken von Schmutz wirbelten schwerelos auf, Staubteilchen, Sägespäne von Holzwolle wogten sanft im Wind wie Entengrütze auf dem Wasser. Pirx war bereits im Korridor, als er plötzlich Laute vernahm, die sich in regelmäßigen Abständen wiederholten. „A-c-h-t-u-n-g…“ Drei Schläge…

Er driftete eine Weile im Luftstrom, der ihn immer höher trug. Ob er wollte oder nicht — er mußte hinhören. Da verständigen sich zwei, sagte er sich. Die Signale waren schwach — die Morsenden schienen mit ihren Kräften hauszuhalten. Sie klopften mal langsamer, mal schneller, einer von ihnen irrte sich dauernd, als habe er das Morsealphabet vergessen. Hin und wieder schwiegen sie längere Zeit, dann wieder sendeten sie gleichzeitig. Der finstere Korridor mit den spärlichen Lampen wirkte endlos, er atmete eine grenzenlose Leere, wie der Wind, der in ihm wehte.

„S-i-m-o-n-h-ö-r-s-t-d-u-i-h-n…“, tönte es langsam und stockend im Rohr.

„H-ö-r-e-n-i-c-h-t-s — h-ö-r-e-n-i-c-h-t-s…“ Pirx stieß sich kräftig von der Wand ab, zog die Beine an und sauste wie ein Stein die Korridore entlang. Je weiter er kam, desto dunkler wurde es. An dem feinen rötlichen Staub, der die Lampen bedeckte, erkannte er, daß er sich dem Heck näherte. Die schwere Tür zur Atomkammer war nur angelehnt. Er warf einen Blick hinein. Kühle Luft schlug ihm entgegen. Die Kompressoren schwiegen, sie wurden zur Nacht abgeschaltet. Ab und zu gluckste es in der Rohrleitung, die in der Betonwand verborgen war. Es hörte sich merkwürdig an — fast wie eine menschliche Stimme —, wenn sich die Gasblasen einen Weg durch die zäher werdende Flüssigkeit bahnten. Terminus, von Kopf bis Fuß mit Zement bespritzt, war in seine Arbeit vertieft. Über seinem Schädel, der sich pendelartig bewegte, surrte ein Ventilator. Pirx hielt sich am Geländer fest und glitt die Treppe hinunter, ohne die Stufen zu berühren. Die stählernen Pranken des Roboters klirrten nicht allzu laut, wenn sie gegen die Wand prallten — die Schläge wurden durch die frische Betonschicht gedämpft.

„H-ö-r-e-n-i-c-h-t-s — E-m-p-f-a-n-g…“ Das Klopfen wurde immer leiser und langsamer. Woran liegt das?

fragte sich Pirx. Zufall…? Er schwebte nun dicht neben Terminus. Jedesmal, wenn sich der Roboter bückte, griffen die Gliedsegmente des Bauches übereinander, sie erinnerten an eine gekerbte Insektenhülle. In den großen gläsernen Augen flackerten die Miniaturspiegelbilder der Lampen. Pirx starrte sie an und begriff, daß er allein war in dieser Kammer mit ihren nackten Wänden — allein, ganz allein. Terminus wußte nicht, was er tat, er war eine Maschine, die festgehaltene Lautfolgen übermittelte, weiter nichts. Die Klopf töne wurden noch schwächer.

„S-i-m-o-n-a-n-t-w-o-r-t-e…“, glaubte Pirx zu hören. Die einzelnen Zeichen ließen sich kaum noch entschlüsseln. Etwa einen halben Meter über dem Kopf des Automaten führte ein Rohr entlang. Pirx streckte die Hand aus, um es zu berühren, aber als er zugreifen wollte, schlugen seine Fingerknöchel gegen das Metall.

Terminus erstarrte, die Lautfolge brach ab. Statt seiner begann nun Pirx zu morsen, er folgte einer plötzlichen Regung, es reizte ihn, sich in ein Gespräch einzumischen, das Jahre zuvor stattgefunden hatte.

„W-a-r-u-m-a-n-t-w-o-r-t-e-t-m-o-m-s-s-e-n-n-i-c-h-t — E-m-p-f-a-n-g…“ Kaum hatte er die ersten Zeichen geklopft, als auch Terminus wieder zu hämmern begann. Beide Lautfolgen vermengten sich, aber der Automat schien Pirx’ Frage verstanden zu haben, denn seine schaufelartige Hand hielt mitten in der, Bewegung inne. Sekundenlang verharrte sie regungslos, dann fuhr sie fort, den Zement gegen die Wand zu klatschen. „W-e-i-1-s-e-i-n-e-r-e-c-h…“

Pause… Terminus bückte sich, schöpfte frischen Zementbrei. Pirx hielt den Atem an. Wird er den Satz fortsetzen? fragte er sich. Der Automat richtete sich auf, schleuderte den Zement an die Wand und trommelte so ungestüm, daß es nur so dröhnte.

„S-i-m-o-n-b-i-s-t-d-u-e-s — W-e-r-s-p-r-i-c-h-t-w-e-r-s-p-r-i-c-h-t…“

Er duckte sich, zog den Kopf ein, es hagelte Schläge. „W-e-r-s-p-r-a-c-h-a-n-t-w-o-r-t-e-w-e-r-s-p-r-a-c-h-w-e-r-s-p-r-a-c-h-w-e-r-s-p-r-a-c-h-h-i-e-r-s-i-m-o-n-h-i-e-r-w-a-y-n-e-a-n-t-w-o-r-t-e…“

„Hör auf, Terminus!“ schrie Pirx. „Hör auf, hör auf!“ Der Lärm verstummte. Terminus richtete sich auf. Alles an ihm zuckte — die Schultern, die Arme, die Hände, der Rumpf. Ein teuflischer Schluckauf erschütterte den Roboter, ein Krampf, den Pirx entschlüsselte: „W-e-r-s-p-r-i-c-h-t — w-e-r — w-e-r…“

„Hör auf!“ rief Pirx ein zweites Mal. Terminus hatte ihm die Seite zugewandt, sein schwerer Leib bebte noch immer im Rhythmus der Morsezeichen. Pirx las es an den Lichtreflexen ab, die auf dem Metall tanzten. „W-e-r..“

Das Gewitter hatte sich ausgetobt. Terminus schien erschöpft, er rührte sich nicht mehr. Als er davonging, stieß er gegen ein Rohr und blieb daran hängen — es gab ein durchdringendes Geräusch. Der Roboter stand regungslos da, wie gefangen. Pirx blickte genauer hin, er sah, daß die leblos herabhängende Hand kaum merklich zitterte.

„W-e-r…“ Wie er hinausfand, wußte er selber nicht. Draußen im Gang fauchten die Ventilatoren. Er schwamm vor sich hin, gegen den kühlen, trockenen Wind, der von den oberen Decks wehte. Leuchtende Kreise glitten ihm übers Gesicht, wenn er an den Lämpchen vorbeischwebte.

Die Kajütentür war nur halb geschlossen. Auf dem Schreibtisch brannte die Lampe. Flache Lichtkeile erhellten die Wände. Die Decke war dunkel. Wer war das? grübelte er. Wer hat so gerufen? Simon? Wayne? Ach was, die sind längst tot… Tot seit neunzehn Jahren!

Wer sonst — Terminus? Der dichtet doch nur die Rohrleitungen ab… Pirx wußte genau, was er zu hören bekommen würde, wollte er ihn ausfragen: Irgendein Geschwätz über Röntgenstrahlen, über Durchlässigkeit, über Plomben… Er ahnte nicht einmal, daß der Rhythmus seiner Arbeit ein gespenstisches Echo war. Eines war sicher: Das Aufnahme- und Wiedergabevermögen des Automaten war nicht tot, die Registrierung — falls es sich um Registrierung handelte — funktionierte. Wer diese Menschen auch immer sein mochten, deren Stimmen, deren Klopfzeichen er hörte — man konnte mit ihnen sprechen. Nur Mut brauchte man, nur Mut… Er stieß sich von der Decke ab und schwamm zur gegenüberliegenden Wand. Verdammte Schwerelosigkeit! Er fühlte in sich den Drang, mit kräftigen Schritten auf und ab zu gehen, sein eigenes Gewicht zu spüren, die Faust auf den Tisch zu schlagen! Dieser scheinbar so bequeme Zustand, in dem sich der Körper in einen immateriellen Schatten verwandelte, wirkte auf die Dauer wie ein Alpdruck. Alles, was man berührte, schwamm weg, zögernd, ohne jeden Halt — alles war wesenlos, war bloßer Schein, Traum… Traum?

Moment mal… Wenn ich von jemandem träume und ihm Fragen stelle, dann kenne ich die Antwort nicht, solange er sie nicht ausspricht. Dennoch existiert dieser geträumte Mensch nicht außerhalb meines Gehirns, er ist nur isolierter Teil von ihm, zeitweilig. Jeder spaltet sich fast täglich, das heißt nachts, auf diese Weise — und verwandelt sich in Pseudopersönlichkeiten, die nur für den Augenblick geschaffen sind, für einen Traum. Es können erdachte Wesen sein — oder solche, die der Wirklichkeit entnommen sind. Träumen wir nicht manchmal von Toten? Führen wir mit ihnen nicht manchmal Gespräche? Sie waren tot. Sollte Terminus…

Pirx kreiste grübelnd in der Kajüte, er stieß sich von den harten Wänden ab, erreichte die Tür und starrte in den dunklen Gang. Ein schmaler Lichtstreif fiel in die Finsternis.

Zurückkehren und — fragen?

Es muß eine physikalische Erscheinung sein, komplizierter als eine gewöhnliche Registrierung… Ein Roboter ist schließlich keine Einrichtung zum Fixieren von Lauten… In Terminus muß eine Aufnahme entstanden sein, verbunden mit einer anatomischen Veränderung… Ein Automat, den man — es mag ein wenig verrückt klingen —, den man nur zu fragen braucht, um alles von ihm zu erfahren: Simons, Nolans und Potters Schicksal — und auch den Grund für dieses unbegreifliche, entsetzliche Schweigen des Kommandanten… Gibt es eine andere Erklärung? Kaum…

Pirx war überzeugt, daß es keine andere Erklärung gab, aber er verharrte schwebend an der Tür, als warte er auf eine Lösung.

Terminus… Was ist er schon? Ein Stromkreis in einem eisernen Kasten, weiter nichts… Ein lebendes Wesen wäre doch damals in dem finsteren, zerstörten Raumschiff zugrunde gegangen… Bestimmt, ganz bestimmt…

Soll ich vor seinen gläsernen Augen Fragen klopfen…? Sinnlos! Er würde mir keine geordnete Geschichte erzählen, sondern um Sauerstoff flehen, um Hilfe rufen… Und was könnte ich ihm antworten? Es gäbe keine Hilfe? All diese Männer seien nur Pseudopersönlichkeiten, isolierte Inseln eines Elektronenhirns, Traumprodukte, Schluckaufs? Soll ich ihm sagen, daß die Angst nur ein Echo sei und ihre Agonie, die sich jede Nacht wiederhole, so wertlos wie eine abgespielte Platte…? Pirx erinnerte sich mit Schrecken an das ungestüme Klopfen, das seine Frage ausgelöst hatte, an die Verblüffung, an die Schreie voller Hoffnung, an das endlose, hastige Flehen: „Antworte! Wer spricht? Antworte…“ Die Verzweiflung, die Hysterie dieser Klopfzeichen tönten ihm noch immer in den Ohren. Sie lebten nicht mehr…? Wer hatte ihn dann gerufen, wer hatte um Hilfe gefleht? Fachleute würden für alles eine Erklärung parat haben, sie würden von Entladungen sprechen, von der Resonanz der zitternden Bleche. Pirx setzte sich an den Schreibtisch, zog die Schublade heraus, drückte ärgerlich die Papiere an, die sich raschelnd erhoben. Endlich fand er den Vordruck, den er suchte. Sorgfältig glättete er das Blatt — er wollte nicht, daß es zitterte, wenn sein Atem es traf. Dann begann er, die Spalten auszufüllen:

MODELL: AST-Pm-105/0044

TYP: Allzweckgerät für Reparaturen

BEZEICHNUNG: Terminus

ART DER BESCHÄDIGUNG: Zerfall der Funktionen

FOLGERUNGEN…

Pirx zögerte, hielt die Feder ans Papier, zog sie wieder zurück. Er mußte an die Unschuld von Maschinen denken, die der Mensch der Vernunft beraubt und sie dadurch zu Teilnehmern seiner Wahnsinnstaten gemacht hatte. Er dachte daran, daß der Mythos von Golem, der rebellischen Maschine, die gegen den Menschen aufbegehrte, eine Lüge war — nur dazu ersonnen, damit jene, die für all das die Verantwortung trugen, ihre Schuld abwälzen konnten.

FOLGERUNGEN: Zu verschrotten

Unten auf das Blatt schrieb er mit unbewegtem Gesicht:

Pirx, Erster Navigator

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